Tale of the Heart Queen - Nisha J. Tuli - E-Book

Tale of the Heart Queen E-Book

Nisha J. Tuli

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Beschreibung

Spicy, actionreich, magisch: Das große Finale der actionreichen Fantasy Romance, über die ganz BookTok spricht! Lor hat den größten Fehler ihres Lebens begangen und ist nun auf der Flucht vor dem Aurorakönig. Doch ein neuer Feind bringt das Schicksal von ganz Ouranos ins Wanken und Lor muss sich endlich ihrer Bestimmung stellen, ob sie will oder nicht. Lor ist bereit zu kämpfen: Für ihre Freunde, für das Reich und für ihren geliebten Fae Nadir – auch wenn sie sich dafür dem gefürchteten Aurorakönig und einer tödlichen Prüfung stellen muss. Große Gefühle, knisternde Spannung und jede Menge Action! Im vierten Band des TikTok-Erfolgs der romantischen Fantasy-Reihe erwartet dich: - eine slowburn enemies-to-lovers Fae Romantasy - morally grey Charaktere - politische Intrigen am Hof machthungriger High Fae - eine Königsfamilie auf der Flucht - eine Liebe, die Grenzen überwindet - und natürlich jede Menge Spice!Die kanadische Autorin Nisha J. Tulis hat mit ihrer unterhaltsamen, romantischen New-Adult-Fantasy direkt einen Hit auf TikTok gelandet: Leser*innen vergleichen die Fantasy Romance mit »Das Reich der sieben Höfe« von Sarah J. Maas oder »The Serpent and the Wings of Night« von Carissa Broadbent. Das perfekte Buch für den Book Hangover nach »Fourth Wing« und »Iron Flame«! »Die Artefakte von Ouranos« erscheinen in folgender Reihenfolge: - Trial of the Sun Queen - Rule of the Aurora King - Fate of the Sun King - Tale of the Heart Queen

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Seitenzahl: 865

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nisha J. Tuli

Tale of the Heart Queen

Die Artefakte von Ouranos 4

Aus dem amerikanischen Englisch von Paula Telge und Janika Krichtel

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Er war nie mein Untergang. Er war meine Rettung.

Lor hat den größten Fehler ihres Lebens begangen und ist nun auf der Flucht vor dem Aurorakönig. Doch ein neuer Feind bringt das Schicksal von ganz Ouranos ins Wanken und Lor muss sich endlich ihrer Bestimmung stellen, ob sie will oder nicht. Lor ist bereit zu kämpfen: Für ihre Freunde, für das Reich und für ihre Liebe – und sie setzt alles daran, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.

Slowburn Enemies-to-Lovers Romantasy, atemlose Action und grausame Fae: das große Finale der actionreichen Fantasy Romance!

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Karte von Ouranos

Vorwort

Triggerwarnung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Danksagung

Für alle, die auf ihren Regenbogen am Ende des Sturms warten.

Vorwort

Liebe Leser*innen,

 

ich freue mich wahnsinnig, euch ein letztes Mal in Ouranos willkommen zu heißen, um diese Reihe abzuschließen, die mein Leben eingenommen und es vollkommen verändert hat. Ich weiß, ich habe euch am Ende von Fate of the Sun King an einem gemeinen Punkt hängen lassen, und das tut mir sehr leid, aber ihr werdet bald sehen, warum ich das getan habe, und wie sich nun alles zusammenfügt.

Tale of the Heart Queen war für mich bisher das schwierigste Buch. (Ich glaube, das habe ich beim letzten auch schon gesagt, aber es hat sich herausgestellt, dass es nicht so leicht ist, eine Reihe zu beenden, wie gedacht.) Es ist auch das längste Buch, das ich jemals geschrieben habe, aber ihr werdet sehen, dass wir einiges vollenden mussten.

Ich habe jedes einzelne Wort mit dem Ziel und in der Hoffnung geschrieben, dass ihr die Reihe bis zur allerletzten Seite lieben werdet. Genauso wie ich sie liebe, und ich bin sehr glücklich mit dem Ende, das ich den Figuren beschert habe.

Lor bricht zu ihrem bisher größten Abenteuer auf, also haltet euch gut fest, denn es wird ein wilder Ritt.

Es folgt die Triggerwarnung für diesen letzten Band der Artefakte von Ouranos. Vielen Dank, dass ihr mich auf dieser Reise begleitet habt.

Ich habe euch ein Happy End versprochen … hier ist es also.

Alles Liebe

Nisha

Triggerwarnung: In diesem Buch findet ihr viele Themen aus den vorherigen Bänden wieder, darunter Erwähnungen vergangenen Missbrauchs, sowohl sexuellem als auch körperlichem, Erwähnungen von Traumata, Selbstmordgedanken, Alkoholmissbrauch, Berührung ohne Konsens und Kindesmissbrauch. Außerdem wird das Thema Schwangerschaft aufgegriffen und damit verbundene mögliche Komplikationen, doch es geht alles gut.

Die Hunde sind in Sicherheit. Ihnen passiert nichts, und ihnen wird auch nie etwas passieren. Sie sind beide ganz brave Mädchen.

Kapitel 1

Lor
Irgendwo außerhalb Aphelions

Mein Herz lebt jetzt außerhalb meines Körpers, verblutet auf der festgetretenen Erde, wo ich auf dem unerbittlichen Boden knie.

Schluchzend klammere ich mich an Nadir, presse mein Ohr an seine Brust, wünsche mir nichts sehnlicher, als dass sein Herz wieder schlägt. Es bleibt still und regungslos, wie Holz, das von Lauffeuern verkohlt wurde und bar jeden Lebens langsam prasselnd zu Asche zerfällt.

Die Bänder meiner dichten purpurnen Magie pulsieren durch seine Glieder, versuchen, nach irgendetwas in der gähnenden Leere seiner Brust zu greifen. Es hat keinen Sinn. Er entgleitet mir, und ich versuche mit aller Kraft, an den Überbleibseln seiner Seele festzuhalten, bevor sie vom Boden aufgesogen werden.

Wenn ich nicht nachgebe, riskiere ich, die Kontrolle über meine heilende Magie zu verlieren und in die elektrischen Fäden meiner Blitze abzurutschen, womit ich noch mehr Schaden anrichten würde.

Es ist schwer zu glauben, dass ich es noch schlimmer machen könnte.

Ich schreie. Ich weine. Ich lasse den Tränen freien Lauf. Ich flehe den Himmel an. Ich flehe die Göttin an, ihn zu retten. Ich verhandle mit dem Himmel. Ich biete meine Seele an, im Tausch für sein Leben. Ich würde alles dafür tun.

Meine Sicht verschwimmt an den Rändern, und mein Magen rumort, Galle steigt in meiner Kehle auf. Schweißtropfen bilden sich auf meiner Stirn, als meine Umgebung zu schwanken beginnt. Meine Schreie vibrieren durch jeden Nerv, greifen meine Ohren an und die feinen Haare auf meinen Armen und in meinem Nacken. Meine Haut tut weh. Meine Haare tun weh. Der Schmerz in meiner Brust fühlt sich an, als würden riesige Hände an mir ziehen, meinen Körper in entgegengesetzte Richtungen zerren, bis ich beinahe entzweigerissen werde.

Entfernt registriere ich, dass Rion und seine Armee noch immer in der Nähe sind. Auch wenn wir hier vor Blicken verborgen sind, muss ich wachsam bleiben. Schon bald werden sie unter meiner Kuppel aus Blitzen erwachen, außer es ist mir gelungen, sie ebenfalls umzubringen. Aber irgendetwas sagt mir, dass es nicht so einfach sein wird, mich endlich von dem Aurorakönig zu befreien.

Er hat den Anker von Herz in seinem Besitz. Erst vor wenigen Tagen habe ich zum ersten Mal davon gehört, aber dieser Anker gehört mir. Und ich will ihn zurück. Etwas sagt mir, dass ich ihn zurückhaben muss.

Ich erinnere mich daran, wie er aussah, als er in meiner ausgestreckten Hand gelandet ist. Was das Empyrium mir in der Evaneszenz erzählt hat. Virulenz. Der schwarz glitzernde Stein, den ich so oft vor Augen hatte, als ich von der Leere aus zu dem Bergfried von Aurora hinaufgestarrt und mir geschworen habe, ihn irgendwann restlos zu zerstören.

Sind die Anker aus dem gleichen Material geschaffen?

Die Erinnerung an Rions würgende schwarze Magie taucht zwischen meinen umherwirbelnden Gedanken auf. Was für eine schattige Kraft fließt durch seine Venen? Mit welchen Kräften hat der Aurorakönig gespielt? Ist es das, worum es die ganze Zeit ging?

Der Herr der Unterwelt war der erste Aurorakönig des zweiten Zeitalters. Er hat mithilfe von Virulenz versucht, Zerra zu vernichten, und jetzt hat Rion den Anker von Herz. Hat er vor, mich damit zu zerstören? Aber warum? Oder bin ich nur eine weitere Sprosse auf einer Leiter mit einem ganz anderen Ziel?

Ist Rion bewusst, dass er in einem Bett, umgeben von dunkler Magie schläft?

Könnte Virulenz Nadir zurückbringen? Ich würde – wenn nötig – sogar auf allen vieren in das Herz des Beltza-Gebirges kriechen.

»Nadir«, schluchze ich, liege noch immer auf ihm und tränke sein Oberteil mit Rotze und Tränen. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«

Ich habe das getan. Ich war leichtsinnig und impulsiv, habe nicht darüber nachgedacht, wer in der Nähe sein könnte, als ich explodiert bin. Rion und seine Wachen mussten dafür bezahlen, dass sie wieder Hand an mich gelegt haben.

Vielen Dank, dass du mir verraten hast, wo ich sie finde.

Rions Worte schießen mir wieder durch den Kopf – diamantharte Klarheit auf fein geschliffenem Stahl.

Doch ich weigere mich, sie zu glauben. Falls Nadir mich verraten hat, gab es einen Grund dafür. Er hätte das niemals freiwillig getan. Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, muss ich das glauben. Ich habe ihm mein Vertrauen geschenkt, und ich weigere mich, bei dem ersten Test ins Wanken zu geraten.

Schluchzend kralle ich mich an Nadirs Tunika, frage mich, wie ich noch weitermachen soll. Wie soll ich jemals ohne ihn existieren können?

Meine Magie sprudelt unter meiner Haut, angezogen von ihm wie Finger in der Wüste, auf der Suche nach einem Tropfen Flüssigkeit. Es ist das gleiche gewaltige Ziehen, das ich immer gespürt habe, bevor wir uns eingestanden haben, was wir füreinander sind. Spürt meine Magie seinen Verlust ebenfalls?

Noch nie wurde ein Herz in so viele Stücke zerbrochen wie meins in diesem Augenblick. Keine Zahl ist hoch genug, um die Scherben unter meiner Haut zu zählen. Ich wurde beraubt. Wurde in die Wellen eines grundlosen Meeres geworfen, in dem ich immer weiter sinken werde bis in alle Ewigkeit.

Mein Seelengefährte.Ich habe meinen Seelengefährten umgebracht.

»Hilfe!«, schreie ich, als könnte irgendjemand dafür sorgen, dass das hier nicht real ist. Mein Magen zieht sich zusammen, und mein Puls dröhnt in meinem Schädel, kratzt an seinen brüchigen Wänden. »Nimm mich auch«, flüstere ich.

Ich kann nicht weiterleben in dem Wissen, dass ich ihm das angetan habe.

Mein Herz lebt jetzt außerhalb von meiner Brust, entblößt und roh offenbart es der Menschheit, welch Monster aus mir geworden ist.

Ich weine und weine, bis mir die Seele aus der Brust schmilzt und jegliche Emotion meine Glieder verlässt, bis ich schließlich taub und hohl und gebrochen zurückbleibe.

Kapitel 2

Ach, hör doch auf mit deinem Geplärre«, ertönt eine scharfe Stimme. »Das ist so unglaublich … müßig.«

Ich bin so überrascht, dass ich erstickt verstumme. Mein Kopf schnellt hoch, und ich stelle fest, dass wir nicht mehr in dem Wald sind, in den ich Nadir gezerrt habe. Wir sind in einem riesigen runden Raum, der Boden besteht aus einem glänzenden Material, das Marmor sein könnte, nur ist es eine durchgehende Fläche ohne erkennbare Unterbrechungen. Fenster umgeben uns und lassen ein weiches, weißes Licht herein, das beinahe zu summen scheint. Ich spüre es mehr, als dass ich es sehe, sogar in meinen Zähnen klingt eine schwache Vibration nach.

Obwohl es nicht der Raum ist, in dem ich das Empyrium getroffen habe, ahne ich, dass ich zurück in der Evaneszenz bin, doch ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist.

Bei meinem Glück in letzter Zeit ist es vermutlich verdammt beschissen.

Vor mir steht eine Frau in einem silbernen Kleid, das sich in luftigen Falten über den Boden ergießt. Ihre bronzenen Arme sind nackt, und ihre blonden Haare locken sich fast bis zu ihrer Taille, gekrönt mit einem silbernen Kronreif, umrahmt es ihr herzförmiges Gesicht. Ein paar stechende aquamarinblaue Augen starren mit einer kalten Distanziertheit auf mich herab.

Sie kommt mir vertraut vor, und es dauert einen Moment, bis ich einordnen kann, woher. Sie ist die ehemalige Königin Aphelions, die ihrem Volk die Hilfe versagt hat und als »Freiwillige« auserkoren wurde, eine Göttin zu werden.

»Zerra«, flüstere ich.

Sie neigt den Kopf, sieht auf mich herab, als wäre ich Mist, der an ihrer Schuhsohle klebt. »Du hast mich gerufen.« Würdevoll hebt sie mit nach oben zeigenden Handflächen ihre Arme. »Also, hier bin ich.«

Ich suche meine Umgebung nach dem Empyrium mit seinem sich stets wandelnden Körper ab, dessen unterschiedliche Gesichter abwechselnd zum Vorschein kommen – doch es scheint, als wären nur wir drei in dem Raum.

»Das ist der Mann, mit dem du verbunden bist«, sagt Zerra mit gerümpfter Nase und lässt sich elegant auf ihre Fersen sinken, um ihn von Kopf bis Fuß zu betrachten.

Es dauert einen Moment, bis ich ihre Worte verarbeitet habe. Weiß sie, wer ich bin? Wer Nadir ist?

Ich strecke den Arm nach ihr aus und berühre ihr schmales Handgelenk. Sie fühlt sich so zart an wie ein Vogel, aber die Luft um sie herum trägt den strengen Geruch von Chaos, und mir wird klar, dass ich sie auf keinen Fall unterschätzen sollte.

»Kannst du ihm helfen?«, frage ich, als sie ihre Hand wegzieht.

Sie ist eine Göttin. Wenn irgendjemand das hier in Ordnung bringen kann, dann sie.

»Bitte. Ich habe versagt. Ich habe die Kontrolle über meine Magie verloren, und ich …«

Zerras Nasenflügel beben, bevor sie sich wieder aufrichtet und zwei vorsichtige Schritte rückwärtsgeht, um Distanz zwischen uns herzustellen. »Ich kann ihm helfen«, erwidert sie nüchtern, als hätte sie mir nicht gerade eine Rettungsleine, gewoben aus goldenem Garn, angeboten.

»Danke«, sage ich, bereit, mein eigenes Leben dafür zu geben, oder was auch immer sonst sie verlangt. »Bitte. Ich tue alles, wenn du ihm helfen kannst.«

Zerras Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln, das mich nervös macht. »Ja. Das wirst du, Lor.«

Ich blinzle, wieder fällt mir der unheilvolle Biss ihrer Schönheit auf, und ich warte auf die Bedingung, die sie an meine Zukunft binden wird. Unsere Zukunft. Ich berühre Nadir, hoffe, er weiß, dass ich alles in meiner Macht Stehende tue, um das hier wieder in Ordnung zu bringen.

»Was?«, frage ich schließlich, während sie mich weiter mit diesem herabschauenden Blick mustert. »Er atmet nicht. Uns bleibt keine Zeit mehr. Was willst du?«

Sie winkt ab. »Keine Sorge. Solange er bei mir ist, ist er in einem Schwebezustand. Ihm wird es gut gehen, sobald ich beschließe, ihn wiederzubeleben. Es wird so sein, als hättest du ihn niemals umgebracht.«

Diese Worte lösen den Pfeil, der in meiner Brust steckt, in Luft auf, aber so einfach kann es nicht sein. Ich bin mir sicher, dass ich noch einige Brücken überqueren muss, bis das hier vorüber ist. Ich klammere mich fester an ihn, spüre, wie kalt er bereits geworden ist, sehe, wie sehr seine Haut verblasst ist. Ich fahre mit meinem Daumen über den Bogen seine Augenbraue, streichle seine Wange, und Tränen brennen in meinen Augen. Als ich mich wieder Zerra zuwende, beobachtet sie uns, eine Falte zwischen ihren strahlend blauen Augen.

»Was würde dich dazu bewegen, ihn wiederzubeleben?«, frage ich und beiße meine Zähne ungeduldig zusammen.

Sie faltet die Hände vor ihrer Hüfte und geht dann ein paar Schritte nach links und dann rechts, bevor sie sich wieder ganz mir zuwendet. Das Herz klopft mir bis zum Hals, als ich gegen das Bedürfnis ankämpfe, sie anzuschreien, dass sie sich verdammt noch mal beeilen soll.

»Die Anker«, sagt sie wenige Augenblicke später, und die Puzzleteile fangen an, sich zusammenzufügen.

»Die Anker. Cloris Payne hat uns von ihnen erzählt.«

»Hohepriesterin Cloris«, sagt sie. »Du wirst ihrer Position Respekt zollen und sie adressieren, wie ihre Stellung es verlangt.«

Ich lockere meine Schultern, weil ich sonst meine Augen verdrehen würde. Ich werde der verdammten Cloris Payne erst dann Respekt zollen, wenn sich Schweine in Einhörner verwandeln.

»In Ordnung. Hohepriesterin Cloris hat mir davon erzählt.«

Zerra senkt ihr Kinn, als würde ihr das gefallen. Jedoch nur ein bisschen. Ihr ganzes Verhalten erinnert an ein personifiziertes höhnisches Grinsen. Das ist die Göttin, die unser aller Leben in der Hand hat? Diese kleine, kleinkarierte Frau?

»Ich habe den Anker von Herz nicht, falls es das ist, was du willst.«

»Alles zu seiner Zeit.«

Ich entscheide mich, nicht allzu genau darüber nachzudenken, was das bedeuten soll, denn in diesem Augenblick ist Nadir alles, was zählt.

»Der König von Alluvion hat einen Anker in seinem Besitz«, fährt Zerra fort.

Ich seufze, spüre, wie sich Druck hinter meinen Schläfen aufbaut, weil ich genau weiß, worauf das hinauslaufen wird.

»Ich will, dass du ihn mir bringst«, sagt sie.

»Natürlich willst du das. Und dann erweckst du Nadir wieder zum Leben?«

Sie presst ihre Lippen zusammen und nickt. »Ja.«

»Was, wenn ich ihn nicht finde?«

Sie rümpft die Nase und neigt ihren Kopf in einer geschmeidigen katzenartigen Bewegung. »Dann wird dein Seelengefährte sterben.«

Bei diesen Worten zieht meine Brust sich zusammen, als wären meine Rippen von dicken Eisenketten umschlossen.

»Bring ihn jetzt zurück«, flehe ich sie an. »Er kann mir bei der Suche helfen. Und wenn wir ihn nicht finden, finden wir dafür einen anderen Weg, unsere Schuld bei dir zu begleichen.«

Zerra geht noch ein paar Schritte in die andere Richtung, lässt sich Zeit. Mich beschleicht das Gefühl, dass sie mich zappeln lassen will, und ich tue mein Bestes, um meine Wut zu zügeln. Sie ist die einzige Hoffnung, die ich gerade habe, ich muss mich also mit ihr gut stellen.

Wenn das überhaupt möglich ist.

Allein diese eine Interaktion und mein kurzer Blick in ihre Vergangenheit lassen mich vermuten, dass die gute Seite dieser zur Göttin erwählten High-Fae-Königin schon vor langer Zeit angezündet und in Asche verwandelt wurde.

»Nein«, erwidert sie. »Ich halte nichts von der Idee.«

»Aber Nadir weiß mehr über die Herrschenden und ihre Reiche als ich. Er wäre mir eine große Hilfe bei der Suche. Ich würde den Anker viel schneller finden.«

Ich versuche, meiner Stimme einen selbstsicheren Klang zu verleihen, während meine Innereien sich zu einer rohen Lache der Reue verflüssigen.

»Und ich soll damit zulassen, dass ihr zwei euch gegen mich verschwört?«

Ich runzle die Stirn, als ich mich erinnere, was das Empyrium mir gesagt hat. Sie wollen Zerra ersetzen … in dem Moment brechen ihre letzten Worte mit der Kraft einer Flutwelle über mich herein.

Eine Königin ohne Königinnenreich.

Sie wollen, dass ich den Job übernehme. Glaube ich zumindest.

Weiß Zerra das? Bin ich jetzt eine Bedrohung für sie? Kann es ein Zufall sein, dass Zerra mich wenige Augenblicke danach gefunden hat? Das Empyrium hätte es ihr doch mit Sicherheit nicht erzählt? Und falls doch, warum?

Ich schüttle den Kopf, tue so, als wüsste ich nicht, wovon sie spricht. »Ich weiß nicht, was das heißen soll. Warum sollten wir uns gegen dich verschwören?«

Ich will diese Rolle nicht. Das ist das Letzte, was ich will, genau wie bei den ursprünglichen Herrschenden, die dieses Schicksal ebenfalls abgelehnt haben. Sie wollten nach Hause zurückkehren und ihren Familien dabei helfen, sich von den Katastrophen, die ihre Länder heimgesucht hatten, zu erholen. Das ist es, was ich will. Ich will nach Herz zurückkehren und meinen Platz einnehmen, von dem ich sicher bin, dass ich dorthin gehöre.

Ich ignoriere die kleine, strafende Stimme in meinem Kopf, die sagt, dass das vielleicht nie wirklich mein Schicksal war, auch wenn es das ist, was ich will.

Aber ein Problem nach dem anderen, nehme ich an.

Soll ich ihr sagen, dass ich nicht vorhabe, sie zu ersetzen? Würde sie mir glauben? Was, wenn sie überhaupt nichts von alldem weiß und ich es ihr damit erst offenbare?

»Das würden wir nicht«, sage ich. »Ich wüsste nicht mal, wie wir das machen sollten.«

Sie macht ein Geräusch, das verrät, wie wenig sie mir glaubt. »Das sind meine Bedingungen. Du wirst nach Alluvion reisen, dich bei Cyan einschmeicheln und herausfinden, wo sich sein Anker verbirgt.«

»Das ist alles?«, frage ich, Hoffnung steigt in meiner Brust auf.

Das schaffe ich.

»Nein, das ist nicht alles«,stößt sie aus, als wäre ich wirklich die dümmste Person, die ihr je begegnet ist. »Dann wirst du ihn für mich klauen.«

Ich unterdrücke einen weiteren leidenden Seufzer, der droht den gesamten Raum ins Schwanken zu bringen. Alle wollen etwas von mir. Rion. Atlas. Cloris. Und jetzt … diese Göttin, die irgendwie ein Miststück zu sein scheint. Aber schlimmer als das ist, dass sie offensichtlich gefährlich ist. Ein Schwert, das über meinem Kopf schwebt.

»Und dann erweckst du ihn wieder zum Leben?«

»Ja. Entscheide dich. Diese Unterhaltung ermüdet mich. Ich kann ihn genauso gut jetzt gleich sterben lassen. Es ist mir wirklich egal.«

Sie sagt es gleichgültig, aber es schmeckt wie eine Lüge.

Das Empyrium hat erzählt, wie sehr sie sich in der Vergangenheit darum bemüht hat, die Anker zu finden. Nichts von alldem hätte sie getan, wenn sie nicht wichtig wären. Sie hat ganz Ouranos auseinandergenommen, um sie aufzustöbern, und jetzt will sie wieder nach ihnen suchen.

Warum glaubt sie, ich könnte schaffen, woran ihre Priesterinnen gescheitert sind? Warum fragt sie mich? Hat sie ihre Chance gewittert, als ich sie gerufen habe, in dem Wissen, dass sie Nadir als Druckmittel einsetzen kann? Oder ist das alles ein großer Zufall?

Aber ist irgendetwas davon gerade wichtig, wenn sein Leben auf dem Spiel steht?

»Wo wird Nadir sein, wenn ich in Alluvion bin?«

»Genau hier bei mir. Hast du eine Parade für ihn erwartet?«

Der bittere Geschmack von Wut steigt in meiner Kehle auf. »Ich muss nur wissen, dass er sicher ist.«

Sie verdreht die Augen. »Du hast nicht wirklich eine Wahl, liebe Lor. Entweder du nimmst mein Angebot an, oder ich schicke dich zurück nach Ouranos, und du kannst gucken, wie du allein zurechtkommst. Aber er wird dann fort sein. Das muss dir bewusst sein.«

Ich könnte in eine Falle tappen, falls sie wirklich von den Plänen des Empyriums weiß, und ich habe keine Ahnung, ob sie ihr Wort halten wird, aber ich bin mir durchaus bewusst, dass ich nicht viel zu bieten habe. Wenn ich es nicht versuche, wird Nadir auf jeden Fall sterben.

Sie wedelt mit der Hand über seinen Körper, als wäre er ein umgestürzter Baumstamm, der ihren Weg blockiert. Wie kann eine Göttin so gleichgültig sein? Ich rufe mir in Erinnerung, dass sie eine verwöhnte junge Königin war, die in diese Rolle gezwungen wurde. Sie ist kein gütiger Geist, wie uns allen weisgemacht wurde. Sie hat das Potenzial, das das Empyrium in ihr gesehen hat, nie erfüllt. Möglicherweise kennt sie es nicht anders.

»Einverstanden«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen aus.

Die Mission ist zum Scheitern verurteilt, aber ich werde alles tun, um meinen Seelengefährten zu retten.

Und mal ehrlich, wir schlimm kann es sein?

Ich reibe mir über das Gesicht. Wann bin ich so gut darin geworden, mich selbst zu belügen?

»Ich wusste, dass du das sagen würdest«, sagte sie mit einem einfältigen Lächeln. »Du hast fünf Tage.«

»Was? Das ist nicht genug Zeit!«

Aber im nächsten Augenblick geht meine Umgebung in einem weißen Lichtblitz auf, und ich finde mich auf einem warmen Stückchen Sand wieder, ein starker Wind wirft meine Haare zurück und zerrt an meiner Kleidung.

Ich spucke Sand aus, drehe mich um und entdecke einen kristallblauen Ozean, der die Weite des Horizonts erfüllt. Ich setze mich auf, sehe mich um und realisiere, dass Zerra mich in Alluvion hat erwachen lassen.

Zumindest hat sie mir diesen Gefallen getan. Sie muss diesen Anker wirklich dringend wollen.

»Dieses Miststück.«

Ich wische mir den Sand vom Mund, aber das führt nur dazu, dass noch mehr feine Körner auf meiner Zunge landen. Ich versuche, sie auszuspucken, aber es befinden sich noch mehr zwischen meinen Zähnen und in meiner Kehle.

Ich zucke bei dem Schmerz in meinen Gelenken und Muskeln zusammen. Nach dem Kampf und der Verfolgungsjagd im Sonnenpalast, dem Versuch, Nadir zu heilen, und der emotionalen Last, meinen Seelengefährten zu verlieren, fühle ich mich, als wäre ich mit tonnenweise Blei gefüllt.

Mein Ziel ragt vor mir in der Ferne auf. Ein schimmernder Palast, der aus etwas geschaffen wurde, das wie Meerglas aussieht, thront am Ufer und glitzert in der Sonne – das Zuhause des Königs von Alluvion.

Ich starre es an, überlege, wie ich meine Mission angehen soll. Hingehen und mich ankündigen? Cyan erzählen, wer ich bin? Würde er mir glauben? Und wenn ja, wird er mich willkommen heißen oder mich für die Taten meiner Großmutter anfeinden? Vielleicht wird er genau wie alle anderen versuchen, mich zu benutzen. Kann ich ihm meine Geheimnisse anvertrauen? Wissen die Herrschenden von Ouranos, dass die Erbin von Herz aufgetaucht ist?

Stolpernd richte ich mich auf, klopfe den Sand von meiner Uniform des Sonnenpalasts. Ich denke an Nadir in seiner schwarzen Kleidung und wie er sich während unserer Reise zu dem Spiegel geweigert hat, die Uniform zu tragen. Ein Schluchzer zerreißt meine Brust, und ich drücke meine Hand dagegen, als könnte ich mein Herz so davor bewahren, herauszusickern und durch meine Rippen zu bluten. Aber ich muss mich um seinetwillen zusammenreißen.

Ich versuche, meine zerknitterte Kleidung zu glätten und mit den Fingern die Knoten aus meinen Haaren zu kämmen. Mit fahrigen Händen reibe ich mir über das Gesicht, als würde mich das irgendwie salonfähiger machen. Vermutlich sehe ich so aus, als hätte mich der Ozean ans Ufer gekotzt.

»Hättest du mir nichts Sauberes zum Anziehen geben können?«, schreie ich Richtung Himmel, doch ernte nur ein aggressives Schweigen.

Zerra beobachtet mich wahrscheinlich gerade und genießt jeden Augenblick.

»Verdammte Göttinnen«, murmle ich vor mich hin, während ich mir einen Weg durch den weichen Sand bahne, der auch schon in meine Stiefel geraten ist und auf meiner Haut scheuert.

Ich erinnere mich an die Strände Aphelions und an den Tag, an dem sie mich an einem Seil darüber haben baumeln lassen. Ich habe beschlossen, dass ich Strände und Sand und vielleicht sogar den Ozean hasse, so schön er auch sein mag. Der hier ist vermutlich ebenfalls mit tödlichen, fleischfressenden Kreaturen gefüllt.

Ich ziehe meine Schuhe aus und fluche, als der heiße Sand sofort meine Füße verbrennt.

Ja, ich hasse den verdammten Strand.

Verabscheue ihn, um genau zu sein.

Ich bewege mich schnell, versuche, Erlösung zu finden von diesem verfluchten Stück lodernden Sands.

Schließlich taucht ein steinerner Weg auf, windet sich zum Palast. In der Ferne erkenne ich ein paar Wachen, die einen Eingang flankieren.

Es scheint, als hätte ich keine andere Wahl, als einfach hinzugehen und mich vorzustellen. Ich könnte nach einem Weg suchen, mich reinzuschleichen, mir vielleicht einen Job als Bedienstete suchen, wie Willow in Aphelion, aber die Zeit läuft, und ich habe nur fünf Tage. Das erfordert Direktheit.

Ich folge dem Pfad. Die Steine sind warm, aber zumindest verbrennen sie nicht meine Füße. Als ich in Sichtweite des Tors gerate, halte ich inne, versuche erneut, meine Haare zu bändigen, um mich ein bisschen mehr wie die Königin erscheinen zu lassen, die ich anscheinend bin. Doch ich bin mir sicher, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen ist.

Ich überlege, meine Schuhe wieder anzuziehen, aber meine Füße sind von Sand bedeckt und die Vorstellung wirklich nicht ansprechend.

Also nehme ich meine Schultern zurück, versuche, Selbstsicherheit auszustrahlen.

Einfach Selbstbewusstsein vortäuschen, dann wird das schon.

Ich habe das Gefühl, als würde ich kurz davorstehen, die größte Hochstaplerin der Welt zu werden.

Ich atme schwer aus und marschiere dann mit den Stiefeln in der Hand und erhobenem Kinn auf das Tor zu, klammere mich an das Versprechen meines bevorstehenden Scheiterns.

Kapitel 3

Der Kristallpalast: Alluvion

Ich humple den Weg hinauf, während die Wachen Alluvions mich mit nachvollziehbarem Misstrauen beäugen. Sie tragen helle Kleidung – blaue Stoffbahnen hängen über ihrer breiten Brust, die Teile ihrer sonnengeküssten Haut frei lassen, und knielange Röcke sind um ihre Hüfte gewickelt. Silberne Schulterplatten, Armschienen und Schienbeinschoner vervollständigen ihre Rüstung.

Beide halten einen Speer in der einen Hand und tragen ein Schwert auf dem Rücken. Meine Blitzmagie summt unter meiner Haut, und es wäre mir ein Leichtes, diese zwei Hindernisse aus dem Weg zu räumen, aber das ist nicht die Art von Ankunft, die ich vor Augen habe. Cyan wird mir nie den Aufenthaltsort des Ankers anvertrauen, wenn ich losgehe und seine Wachen ohne Provokation verstümmle.

Der Palast funkelt im Sonnenschein, die Reflexion so hell, dass sie meine Netzhäute versengt. Die Augen der Wachen werden von einem Paar ovaler Linsen vor dem grellen Licht geschützt.

Als ich nur noch ein kleines Stück entfernt bin, bleibe ich stehen. Wir mustern uns gegenseitig, sie gucken mich an und dann an mir vorbei, als würden sie herausfinden wollen, wo ich herkomme. Berechtigte Frage, immerhin befindet sich hinter mir nichts als kilometerweiter Sandstrand und Ozean. Ich frage mich, warum dieser Eingang dann bewacht wird, aber das spielt vermutlich keine Rolle. Vielleicht zählt Cyan zur paranoiden Sorte.

»Hi«, sage ich und winke wie eine Idiotin, während die beiden mich weiterhin wortlos anstarren. Ich lasse meine Hand sinken, plötzlich nervös, und eine Hitze steigt in meinem Nacken auf, die nichts mit der Temperatur zu tun hat. »Ich bin hier, um Euren König zu sehen.«

Oh, supergeschmeidig, Lor. Das wird sie bestimmt überzeugen. Ich versuche, eine autoritäre, selbstsichere Haltung anzunehmen, aber scheitere offensichtlich, denn der linke Wachmann starrt mich an, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen.

»Sofort«, füge ich hinzu, hoffe, dass ich herrisch genug klinge. So würde eine Königin sich verhalten, oder?

Er kneift seine strahlend blauen Augen zusammen. »Wer bist du?«

»Ich bin …«

Was soll ich sagen? Ich kann nicht einfach herausposaunen, dass ich die Herzkönigin bin. Erstens, wer würde mir glauben? Zweitens sehen zu viele Leute in Ouranos meine Familie in einem wenig schmeichelhaften Licht. Es ist wahrscheinlicher, dass ich mit einem Pflock ausgeweidet und den Geiern zum Fraß überlassen werde, als dass mir ein herzliches Willkommen bereitet wird.

»Ich bin Serces Enkelin«, sage ich in der Hoffnung, dass es vage und doch konkret genug ist. Ich warte auf ein Zeichen, dass die Worte den beiden etwas sagen.

»Wer ist das?«, fragt der rechte Wachmann. »Und warum sollte uns das interessieren?«

Ich stoße einen Atemzug aus und kratze meinen Hinterkopf. »Bitte. Würdet Ihr das Eurem König ausrichten? Er wird wissen, was das bedeutet.«

Der Linke schnaubt. »Hau ab, Süße, außer du willst die Nacht im Kerker Seiner Majestät verbringen.«

»Nur weil ich eine Frage gestellt habe?«

»Wegen Ruhestörung.«

Ich sehe mich demonstrativ um, blicke auf die leere Fläche, die uns umgibt, auf den verlassenen Strand, wo sich keine Seele umtreibt, und ziehe dann mit einem vielsagenden Blick die Augenbraue hoch.

Er räuspert sich. »Nichtsdestotrotz verlangt niemand eine Audienz beim König.«

»Ich verlange nicht. Ich erbitte. Sehr höflich sogar.«

Er seufzt und schüttelt den Kopf, bevor er einen Blick mit seinem Gefährten wechselt.

»Also gut«, sagt der andere. »Folge mir.«

»Wirklich?« Ich traue mich kaum, mein Glück zu glauben. Das heißt noch nicht, dass Cyan mich sehen wird, aber es ist zumindest ein Fortschritt. »Ich meine … ja, okay. Gut. Bringt mich zu Eurem König.« Ich ziehe wieder meine Schultern zurück, versuche, so zu tun, als würde ich hierhin gehören.

Ich kann ihm ansehen, dass er am liebsten die Augen verdreht hätte, doch er fängt sich, wie der gut ausgebildete Soldat, der er ist. Er öffnet die dunkelblaue Tür, die aus irgendeiner Art schimmerndem Material geschaffen wurde, und bedeutet mir, einzutreten.

»Lauf direkt vor mir, und fass nichts an«, sagt er.

Ich nicke, hebe meine Hand, um mein Versprechen zu beteuern, bevor ich in das kalte Innere des Palasts geleitet werde. Ich blinzle, während meine Augen sich an die Umgebung gewöhnen. Obwohl genügend Licht durch hohe Fenster fällt, ist es eine jähe Umstellung nach dem gleißenden Licht draußen.

Die wasserblauen Fliesen sind kalt unter meinen Füßen, und ich zucke zusammen, als die glühend heißen Sohlen wegen des starken Temperaturunterschieds zu brennen beginnen. Ich hebe die Haare in meinem Nacken an, versuche, dort etwas kalte Luft abzubekommen, genieße die Pause von der prallen Sonne.

»Lauf«, sagt der Kerl, bevor wir dem Gang folgen, durch einen Türbogen auf ein riesiges Gemach zu. Als wir uns dem Ende nähern, ruft er: »Halt!«

Er eilt an mir vorbei. »Warte hier.«

Zwei weitere Wachen stehen vor dem Eingang. Eine männlich, eine weiblich, beide in starrer Habachtstellung. Mein Begleiter wechselt ein paar leise Worte mit der High Fae, und ich spitze die Ohren. Sie blickt kurz mich und dann wieder ihn an, bevor sie ein Zeichen mit dem Kinn macht.

Dann geht er an mir vorbei, zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind, und schüttelt den Kopf, als hätte ich seinen ganzen Tag ruiniert.

»Es war ebenfalls schön, Euch kennenzulernen«, rufe ich seinem sich entfernenden Rücken zu.

Wenig überraschend antwortet er nicht oder erkennt auch nur meine Existenz an.

»Folge mir«, sagt die High Fae, als ich mich wieder ihr zuwende.

Ihre Nase und ihre Wangen sind stark gebräunt, vermutlich weil sie zahlreiche Stunden in der Sonne verbracht hat. Ihre braunen Haare sind zu einem hohen geflochtenen Zopf zusammengebunden, was die harten Linien ihres Gesichts betont, und ihre dunkelgrünen Augen funkeln vor Zorn. Ich kann nicht genau sagen, ob es an mir liegt oder ob sie einfach einen schlechten Tag hat.

Ich werde durch den Palast und seine sich windenden Gänge geführt, höre die krachenden Wellen des Ozeans in der Ferne. Sonst ist es ruhig hier, wir begegnen niemandem auf unserem Weg. Die High Fae starrt stur geradeaus, während sie flotten Schrittes voranmarschiert. Wir passieren hohe Fenster aus Buntglas in Blau und Grün und Wände, in die Fossilien von Muscheln und anderen Meerestieren eingelassen wurden, alle mit glitzerndem Silber bestäubt. Als wir einem weiteren langen Gang folgen, erkenne ich noch mehr Wachen an dessen Ende.

Wir gehen auf sie zu.

»Ergreift sie«, ruft die High Fae.

Bevor ich die Möglichkeit habe, zu reagieren, packen zwei riesige High Fae in alluvischer Rüstung grob meine Arme.

»Was tut Ihr?«, frage ich, als eine Tür aufschwingt und sie mich hindurchzerren. »Ich verlange, Euren König zu sehen!«

Die weibliche Wache läuft vor uns. »Dir wurde gesagt, dass du im Kerker landest, wenn du weiter darauf bestehst, die Wachen zu belästigen«, ruft sie mir über die Schulter zu.

»Was?«

Doch in dem Moment begreife ich. Dieser Mistkerl hat mich ausgetrickst und mich dazu gebracht, ihm hinein zu folgen, und ich habe genau das getan, wie ein naives kleines Entlein.

Meine Magie sprüht Funken unter meiner Haut, fleht mich an, befreit zu werden. Es bräuchte nur einen Wink, und alle drei wären tot. Aber wen würde ich sonst noch töten?

Mein Herz gerät ins Stocken, als ich mich an Nadirs lebloses Gesicht am Boden erinnere. Daran, wie es sich angefühlt hat, als sein Herz aufgehört hat, zu schlagen, und mir nur noch schmerzverzerrte Schreie über die Lippen gekommen sind. Ich glaube nicht, dass ich das noch ertragen würde – selbst wenn diese Fae alle Fremde sind, die mich einsperren wollen.

Ich balle die Hände zu Fäusten, als die Wachen mich zwingen, eine Wendeltreppe runterzulaufen, wobei stolpern die bessere Bezeichnung wäre.

Sie machen nur ihren Job. Mir wurden immense Kräfte gewährt, auf die ich jederzeit zugreifen kann, und ich habe auf die harte Tour erfahren, dass ich lernen muss, mit dieser Verantwortung umzugehen. Ich kann nicht einfach rumlaufen und alle in die Luft jagen, die mich wütend machen.

Eine frühere Lor hätte das vielleicht getan, aber ich versuche, besser als mein früheres Ich zu sein.

Außerdem habe ich es so zumindest in den Palast geschafft. Ich werde einen Weg finden, sie davon zu überzeugen, mir eine Audienz bei Cyan zu gewähren, obwohl mir schmerzlich bewusst ist, dass jede Minute, die ich im Kerker verbringe, eine Minute weniger für Nadirs Rettung bedeutet.

Ich hole tief Luft, versuche, meine Nerven zu beruhigen. Ich muss einen klaren Kopf bewahren. Ich tue ihm keinen Gefallen, wenn ich panisch werde und das hier vermassle. Ich muss Cyans Vertrauen gewinnen. In meinem Inneren kämpft mein Verstand darum, logisch zu denken, während mein Herz immer weiter zerfällt. Ich war immer eine Meisterin darin, meine Emotionen von mir abzuschotten, aber selbst ich habe meine Grenzen.

Schließlich erreichen wir das untere Ende der Treppe, und die High Fae führt uns an einer Reihe Zellen vorbei, einige sind bereits belegt, während andere leer stehen. Dann bleibt sie stehen und zeigt auf eine bestimmte.

Ich werde mit solcher Wucht hineingeschubst, dass ich stolpere und meine Stiefel fallen lasse, die ich noch immer in meiner Hand gehalten habe. Jemand kickt sie hinter mir in die Zelle, und die Tür knallt zu, bevor sie abgeschlossen wird.

»Lasst mich hier raus!«, rufe ich, greife nach den Gitterstäben und schüttle daran. »Ich habe nichts Falsches getan!«

Die weibliche Wache steht hinter dem Gitter, und in diesem Moment fällt mir die Verzierung ihrer Rüstung auf – sie ähnelt der der Männer hinter ihr, aber ihre Schulter und Armschienen sind mit detaillierten Schnörkeln versehen, die vermuten lassen, dass sie von höherem Rang ist. Schlank und so muskulös, sieht sie aus, als könnte sie mich mit ihrem kleinen Finger allein überwinden.

Irgendetwas an ihr kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, was es ist.

»Sei still«, sagt die Frau mit so vehementer Autorität, dass ich tatsächlich ganz still werde. »Serces Enkelin ist hier nicht willkommen.«

Die Kälte in ihren Augen lässt meine Nackenhaare zu Berge stehen. Shit. Vielleicht war das der falsche Zug.

Aber wer ist diese Frau, und woher kannte sie meine Großmutter?

»Ich weiß nicht, welch niederträchtiges Vorhaben dich hergebracht hat, aber ich lasse dich einzig und allein deswegen am Leben, damit Seine Majestät dich zuerst noch befragen kann.«

Dann mustert sie mich von Kopf bis Fuß, kneift ihre Augen kaum merklich zusammen, eine stillschweigende Drohung, bevor sie auf dem Absatz kehrtmacht.

»Kommt«, sagte sie zu den anderen Wachen, und sie verschwinden, lassen mich allein in meiner Zelle zurück, während Zerras Uhr in meinem Kopf tick-tick-tickt.

Kapitel 4

Gabriel
Der Sonnenpalast: Aphelion

Mein Schwert hängt schlaff von meiner Hand und erzeugt ein dumpfes Kratzen, während es mit der Spitze über die Straße schleift. Es kommt mir vor, als würde es hundert Kilo wiegen. Vielleicht auch tausend. Ich steige über eine Leiche, nehme kaum Notiz von ihr, meine Beine schwer und bleiern, und laufe weiter auf den Palast zu.

Ich starre auf das Blutbad um mich herum, die Luft schwer von Rauch und Asche. Und Tod. So viel Tod. Mehr, als ich mir je vorgestellt hätte, viel mehr, als ich erwartet hätte.

Als ich den Plan geschmiedet habe, der Welt zu offenbaren, dass Tyr noch am Leben ist, wusste ich, dass es uns brechen würde. Ich wusste, es würde alten Groll neu entfachen und das Fundament unserer Existenz erschüttern, aber ich hatte trotzdem gehofft, dass es nicht ganz so schlimm werden würde.

Was für ein naives Arschloch ich doch war.

Nach einem schier endlosen Tag und einer schier endlosen Nacht des Kampfes erhellt sich schließlich aufs Neue der Himmel. Die Sonne in der Morgendämmerung strahlt so blutrot wie die Straßen, auf denen ich unterwegs bin.

Götter, ich habe es echt verkackt.

Ich will mir mit einer Hand durch die Haare fahren, verheddere mich jedoch mit den Fingern in den Strähnen, die ganz verklebt sind von Schweiß und Blut. Und Zerra weiß, was sonst noch.

Endlich ist die Wahrheit ans Licht gekommen, Tyr ist am Leben und Atlas ein Hochstapler.

Ich habe so viele Jahre mit diesem Geheimnis gelebt, doch seine Enthüllung bringt mir nicht die erhoffte Erleichterung. Stattdessen wurde mir eine völlig neue und unbekannte Bürde auferlegt.

Tyr ist am Leben, doch er ist nicht wirklich hier. Und Atlas ist ein Hochstapler. Er war schon immer ein Hochstapler.

Er hat mich verflucht, als sie ihn weggezerrt haben, hat geschrien und mir eine Bezichtigung des Verrats nach der anderen entgegengeschleudert. Ich habe versucht, mir auch nur einen Funken Mitgefühl für ihn abzuringen. Ich habe ihn zu einem unabwendbaren Schicksal verurteilt, doch ist das auch das Ende? Ich habe so lange in Atlas’ Schatten gelebt, als Opfer seines Ehrgeizes und seiner Grausamkeit, doch ich bin mir nicht sicher, ob ich genug Stärke besitze, mich dem zu stellen, was mir bevorsteht. Verräter werden in Aphelion hart bestraft. Es gibt klare Regeln. Und aus welchem Grund sollte irgendjemand Milde mit ihm walten lassen? Ich hoffe nur, man zwingt mich nicht dazu, diese Entscheidung zu treffen.

Mein einziger Trost ist, dass ich Tyr in Sicherheit bringen konnte, bevor die Kämpfe eskaliert sind. Ich bin mir nicht sicher, was genau sie ausgelöst hat. Die Luft war zum Zerreißen gespannt, die Leute wütend und verunsichert, doch ich weiß nicht, was genau das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wahrscheinlich war es nicht nur eine Sache. Sicher waren es tausend winzig kleine Momente, jeder einzelne pulsierend vor Blut und Zorn und Betrug, Funken sprühend, bis der Flächenbrand nicht mehr einzudämmen war.

Ein Stück Papier bleibt an meinem Fuß hängen. Ein zerrissenes Plakat mit Atlas’ Gesicht darauf. Ich bücke mich, um es aufzuheben, und blicke in sein Antlitz. Die Verbrechen gegen die Low Fae sind darunter in knallroter Tinte aufgelistet. Nicht nur, dass er sie in der Umbra abgeschottet und sich geweigert hat, ihren Forderungen nachzukommen oder sich diese auch nur anzuhören, nein, er hatte noch nicht einmal die Befugnis dazu.

Es ist alles zu viel geworden.

Donner grollt über den Himmel, dunkelgraue Wolken türmen sich übereinander. Ein Windstoß reißt mir das Plakat aus der Hand, und ich beobachte, wie es durch die Luft gleitet wie das letzte Blatt im Winter.

Es fühlt sich an wie ein Omen.

Der goldene Sonnenpalast erhebt sich matt vor dem grauen Himmel, und ich frage mich unwillkürlich, ob er je wieder so funkeln wird wie zuvor.

Ich betrachte die Umgebung, suche sie nach meinen Brüdern ab. Ich erspähe ihre Flügel in der Ferne, die Schultern gebeugt. Drex und Syran bewachen Atlas im Kerker, während wir noch versuchen, all das hier zu begreifen.

Mein Blick wandert zum Palast und dem eingestürzten Dach des Thronsaals. Die Kuppel, die einst über Aphelion aufgeragt ist, ist verschwunden, jedes einzelne Körnchen zu Staub zerfallen.

Diese atemberaubende Machtdemonstration könnte der Funke gewesen sein, der das Chaos entfacht hat. Als rote Blitze über den Himmel gezuckt sind, wurden Fesseln gesprengt, die viel zu lange viel zu fest geschnürt gewesen waren. Lor. Sie hat es bis zum Spiegel geschafft. Doch was ist dann mit ihr passiert? Die Tatsache, dass ich sie bisher noch nicht wiedergesehen habe, liegt mir wie ein Stein im Magen. Aber was interessiert es mich überhaupt?

Irgendwann hat es angefangen, mich zu interessieren, auch wenn ich weiß, dass das gefährlich ist. Auf Interesse folgt immer Enttäuschung. Das musste ich auf die harte Tour lernen, unzählige Male. Doch ich erkenne das Gute in ihr. Sie ist mutig und stark und loyal. Sie hat sich in diese barbarischen Prüfungen gestürzt und ist nie gestrauchelt.

Selbst ich bin nicht zynisch genug, um das nicht zu würdigen.

Sie wäre dem Volk von Herz eine würdige Königin.

Ich schüttle den Kopf und fahre mir mit der Hand übers Gesicht. Shit, seit wann bin ich denn so rührselig?

Ich seufze und humple weiter Richtung Palasttore, die lose in ihren Angeln hängen, wobei sich mein Knie bei jedem Schritt verdreht. Ich erinnere mich nicht, wie ich mir die Verletzung zugezogen habe, aber sie ist schwer genug, um mich in meiner Beweglichkeit einzuschränken und einen stechenden Schmerz zu verursachen, der mir bis in die Hüfte schießt.

Überall lodern kleine Brände, die Straße ist übersät mit Trümmern, und Asche wirbelt in der Luft umher, die alles in Tod hüllt.

Was für eine verdammte Schweinerei.

Meine Gedanken wandern von Lor weiter zu ihrer Familie und zu Nadir, der auch verschwunden ist. Mael und Lors Bruder, an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann – Tyler? –, haben im Palast geholfen, so gut es ging, haben versucht, die Aufstände einzudämmen und das Chaos unter Kontrolle zu bringen.

Ihre Schwester – bei der ich mir ganz sicher bin, dass sie eine von Apricias Zofen war, die, die mir so bekannt vorgekommen ist – war nicht bei ihnen, und ich hoffe, sie konnte sich in Sicherheit bringen.

Sie haben offensichtlich nach einem Weg gesucht, in den Palast zu gelangen, und ich kann nicht anders, als ihre Durchtriebenheit zu bewundern, auch wenn es wirklich viel verlangt war, sich als eine von Apricias Zofen auszugeben. Vielleicht haben sie auch mich ausspioniert. Ich könnte es ihnen nicht verübeln. Ich habe unzählige Geheimnisse.

Hatte. Sie wurden alle gelüftet.

Ich hole tief Luft und zucke zusammen, als mir ein heftiger Schmerz in die Lunge fährt. Als Tyr mich schließlich von Atlas’ Befehlsgewalt entbunden hat, hatte ich zum ersten Mal seit hundert Jahren das Gefühl, wieder richtig atmen zu können. Doch es war nur von kurzer Dauer, weil … na ja, man muss sich hier doch nur mal umschauen. Ich habe bloß ein Problem gegen ein anderes ausgetauscht.

Langsam bewege ich mich auf die Palasttore zu, fürchte mich vor dem, was sich dahinter befindet.

Die Adligen hatten keine andere Wahl, als zu kämpfen, und manche von ihnen haben Magie eingesetzt und offenkundige Spuren davon auf Wänden und Böden hinterlassen. Die Aufständler hat es nicht gekümmert, wen sie verletzten. Ihnen ging es nur um Blutvergießen. Sie wollten einzig und allein den High Fae Schmerz zufügen. Und darunter sind auch genügend, die jedes Fünkchen Rache verdient haben.

Im Innern des Palastes erwartet mich eine Kulisse der Zerstörung: ausgerissene Teppiche, zerschlagene Spiegel, zerbrochenes Glas, das unter meinen Stiefeln knirscht, mit Blut beschmierte Wände. Genau das, was ich erwartet habe. Ich hoffe nur, dass Tyr weiterhin in Sicherheit ist. Ich werde in Kürze nach ihm sehen, doch zunächst habe ich noch etwas anderes zu erledigen.

Als meine Fae-Heilkräfte endlich einsetzen, wird mein Gang entschlossener. Und je tiefer ich in den Palast vordringe, desto unversehrter finde ich ihn vor. Ich komme an einigen Leichen vorbei, wende jedoch den Blick ab – nicht, weil mich der Anblick des Todes stört, sondern weil ich jetzt noch nicht bereit bin, mich ihm zu stellen.

Als ich den Eingang zum Kerker erreiche, finde ich ihn unbewacht vor, und mir stellen sich die Nackenhaare auf. Ich betrete die dunkle Wendeltreppe und steige hinab in die Tiefe. Es ist zu still. Als ich das Ende der Treppe erreiche, brüllt mir steinerne Stille entgegen. Ich höre nichts, nicht einmal das leise Gemurmel oder ein gelegentliches Wimmern der Gefangenen.

Ich hebe mein Schwert, richte es in die Dunkelheit und erkenne, dass jede Tür offen und jede Zelle verlassen ist.

Sind die Rebellen etwa hier heruntergekommen, um ihre Freunde zu befreien?

Ich bewege mich den schmalen Korridor entlang, und das unbehagliche Gefühl in meinem Bauch sagt mir, dass mehr dahintersteckt. Was, wenn sie Atlas hier unten entdeckt und ihn in Stücke gerissen haben? Meine Gefühle für ihn sind kompliziert, doch das würde ich ihm niemals wünschen.

Ich laufe weiter, sehe in jede leere Zelle, und als ich die letzte erreiche, stockt mir der Atem. Ein goldenes Hemd liegt dort fein säuberlich zusammengelegt auf dem Boden. Darauf gebettet, wie eine Opfergabe, eine reich verzierte goldene Krone.

Nein, keine Opfergabe. Eine Botschaft. Der unumstößliche Beweis, dass Atlas hier war und jetzt … nicht mehr. Ich erkenne die Krone und das Hemd als die, die er während der Präsentation getragen hat, als ich meine Heimat entzweigerissen habe.

Ich wirble herum, frage mich, wie er entkommen ist, und mir kommt die Galle hoch.

Drex und Syran, die beiden Wächter, die ich zu Atlas’ Bewachung abgestellt habe, hängen vor mir an der Wand, ihre weißen Flügel von eisernen Stiften durchstoßen und ihre Kehlen zu klaffenden Wunden zerschlitzt. Goldenes Blut tropft von ihren Federn, und ihre goldene Rüstung ist rot befleckt. Ihre Köpfe hängen herab, ihre Körper sind schlaff.

Und Atlas …

Der verfluchte Hochstapler ist verschwunden.

Kapitel 5

Lor
Der Kristallpalast: Alluvion

Ich sitze in meiner Zelle und warte. Ich habe schon Tausende von Möglichkeiten durchdacht, wie ich mich aus diesem Verlies befreien kann, aber keine davon ergibt Sinn. Klar, ich könnte mit meiner Magie ein Loch in diese Wand sprengen, aber ich muss Cyans Vertrauen gewinnen. Der Anker liegt nicht einfach irgendwo rum, wo jeder ihn finden könnte, und ich muss den König dazu überreden oder austricksen und ihn so dazu bringen, mir den Aufenthaltsort zu verraten.

Ich habe bereits einen ganzen Tag damit verloren, in diesem Kerker vor mich hinzuvegetieren, und ich versuche nicht, an Nadirs fahles Gesicht zu denken, doch ich sehe es immer vor mir, sobald ich meine Augen schließe. Sehe vor mir, wie er ausgesehen hat, jetzt, da er auf der messerscharfen Kante der Rettung schwankt. Weiß er, was passiert ist? Denkt er, dass ich ihn bei Zerra zurückgelassen habe?

Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Ich starre den Ring an, den er mir zum Geburtstag geschenkt hat, und erinnere mich daran, wie er mir damit die Ewigkeit versprochen hat. Ich packe mir an die Brust bei dem Gedanken, ihn zu verlieren. Ich kann das nicht. Ich kann ihn nicht verlieren. Ich habe ihn gerade erst gefunden. Ich hole tief Luft und atme wieder aus, versuche, nicht in eine Spirale aus Reue und Selbsthass zu geraten.

Allein mit meinen Gedanken, kann ich auch nicht anders, als an die Menschen zurück in Aphelion zu denken. Mein Bruder und meine Schwester. Amya. Mael. Selbst Gabriel. Götter, wie sehr ich mir wünsche, sie zu sehen. Sie in meine Arme zu schließen und sicherzustellen, dass es ihnen gut geht.

Für den restlichen Tag sind die einzigen Besucher schmallippige Wachen, die winzige Mengen Wasser und eine Art Fischeintopf bringen, der mit kleinen Tentakelstücken versehen ist, die ich nicht wiedererkenne. Dann verschwinden sie wieder und tun so, als würde ich nicht existieren. Eine verlassene Schüssel steht zu meinen Füßen, verwaist, nachdem ich einmal daran gerochen habe und beinahe angefangen hätte, mich zu übergeben.

»Bitte!«, schreie ich, während ich mich an die Gitterstäbe klammere. »Ich muss den König sprechen!«

Ich habe mir noch nicht wirklich überlegt, was ich ihm sagen werde, wenn er mir eine Audienz gewährt, aber ich setze auf die »Alle hassen Rion«-Karte und hoffe, dass er ebenfalls keine Liebe für den Aurorakönig übrighat. Ich werde ihm einfach einen Teil der Wahrheit erzählen – nämlich, dass Rion mich gefangen genommen hat und ich entkommen bin, aber mich dann verirrt habe und so auf seiner Türschwelle gelandet bin.

Es ist nah genug an der Wahrheit, um glaubhaft zu sein. Hoffe ich.

»Bitte!«, schreie ich. »Bitte!«

Hört mich irgendjemand? Vielleicht die Soldatin mit der schicken Rüstung. Sie sah wichtig aus und wie jemand, der Entscheidungen über Gefangene trifft. Sie hat gesagt, der König würde mich befragen, doch anscheinend hat sie mich vergessen.

Oder sie hat mich ganz und gar nicht vergessen.

Wie sie mich angefaucht hat, als sie mir erzählt hat, dass Serces Enkelin hier nicht willkommen ist, hat sich … persönlich angefühlt? Ich erinnere mich an den brodelnden Zorn in ihren Augen, womöglich nutzt sie die Zeit, um sich den besten und qualvollsten Weg zu überlegen, meine Innereien zu zerstückeln und meinen Kopf aufzuspießen.

»Bitte!«

»Halt die Fresse!«, ruft ein anderer Insasse. »Ich versuche zu schlafen!«

»Wie unhöflich«, sage ich und fange wieder an zu schreien.

Irgendwann versagt meine Stimme, und ich sacke gegen die Steinwand und sinke zu Boden, beobachte durch das kleine, hoch gelegene Fenster, wie die Sonne untergeht. Ich kann nicht länger hier drinnen darauf warten, dass Cyan mich empfängt. Also krieche ich hinüber zu den Gitterstäben und presse mein Gesicht dazwischen, versuche herauszufinden, wie viele Gefangene sich hier drin befinden.

Ich wollte nicht darauf zurückgreifen, aber es ist an der Zeit, ein Loch in diesen Kerker zu sprengen. Nichtsdestotrotz weigere ich mich, irgendjemanden in dem Prozess zu verletzen. Wenn ich genau hinhöre, kann ich durch den dicken Stein das Donnern des Ozeans ausmachen, und entscheide, dass die Rückwand die sinnvollste Wahl ist.

In der Ferne erklingen Schritte, hallen durch den Kerker. Vermutlich ist es an der Zeit für das, was sie hier unter Abendessen verstehen. Ich krabble zurück und rolle mich auf dem Boden zusammen, nicht interessiert an ihrem Fraß, auch wenn mein Magen sich vor Hunger zusammenzieht.

Sobald die Wachen wieder verschwinden, werde ich ausbrechen. Wenn ich dann frei bin, suche ich einen anderen Weg in den Palast. Das bedeutet, dass ich den Anker nicht auf diplomatischem Wege finden werde, aber zumindest bin ich hier raus und kann anfangen, einen neuen Plan zu schmieden.

Ich kneife die Augen zusammen, als die Schritte näher kommen, aber dann fällt mir auf, dass die Geräusche von achtlos hingeworfenen Essentabletts ausbleiben. Stattdessen verstummen die Schritte vor meiner Zelle, und langsam öffne ich meine Augen.

»Ich habe gehört, du machst hier ganz schön Krawall«, ertönt eine tiefe Stimme.

Dort steht Cyan, der alluvische König. Ich erinnere mich an den Ball der Sonnenkönigin, als er in unbekümmerter Haltung auf seinem Glasthron gesessen und sich möglicherweise gedacht hat, dass er überall lieber wäre als auf dieser überzogenen Party, die als glitzernde Maskerade für die gestorbenen Tribute diente.

Damit wären wir schon zu zweit gewesen. Na ja, zu dritt, wenn man Nadir mitzählt.

Seine Haut ist so blass, dass sie beinahe blau ist, und in einem langen Strom von Indigo fallen seine Haare über seine nackten, muskulösen Schultern. Obenrum trägt er nichts, sondern präsentiert seine definierten Bauch- und Brustmuskeln. Unten kann ich enge Shorts aus einem dünnen, weißen Material erkennen, das sich eng an seine massiven Oberschenkel schmiegt. Dunkelblaue Augen blicken mit einer Mischung aus Neugier und vielleicht einem Hauch von Humor auf mich herab.

»Eure Majestät«, sage ich und wische die Haarsträhne aus meinem Gesicht. »Ich habe gehofft, Euch sprechen zu können.«

Ich nutze die Wand als Stütze und richte mich auf. Die letzten Tage habe ich kaum gegessen und geschlafen, und meine Glieder zittern, so erschöpft bin ich.

»Das hast du sehr deutlich klargemacht«, sagt Cyan, während er mich von Kopf bis Fuß mustert. Neben ihm steht die Wache, die mich hier reingeworfen hat, überraschend eng neben ihrem König, während sie mir den gleichen vernichtenden Blick zuwirft. »Bitte nenn mich Cyan.«

»Warum?«, frage ich, sofort alarmiert wegen dieser zur Schau gestellten Vertrautheit.

»Hast du meinen Wachen nicht erzählt, dass du Serces Enkelin bist?«

Die Wache knurrt und spuckt dann auf den Boden, ihre Augen verdunkeln sich vor Zorn.

Ich gucke sie finster an, bevor ich mich wieder Cyan zuwende. »Stimmt. Ich habe gehofft, dass das deine Aufmerksamkeit erregt.«

»Also ist es wahr?«

»Es ist wahr«, unterbricht die Wache, ihre Stimme von Gift durchzogen. »Sieh sie dir doch nur an.«

Cyan hebt eine Hand. »Linden, bitte. Lass das Mädchen reden.«

Linden schließt ihren Mund widerstrebend, versiegelt die Lippen, als wären die Scharniere verrostet, doch nicht, bevor sie mir einen weiteren scharfen Blick zuwirft, der versucht, mich dem Boden gleichzumachen.

Ich mache mir eine gedankliche Notiz, Abstand von ihr zu halten.

»Ich bin Serces Enkelin«, bestätige ich und halte die Luft an.

Cyan kneift die Augen zusammen, versucht, mich im dämmrigen Licht des Kerkers abzuschätzen. Vielleicht sollte er ein paar zusätzliche Lichter in Erwägung ziehen. Vielleicht eine Pritsche zum Schlafen und Essen, das nicht nach verschwitzten Socken mit einer Note von verwesendem Müll schmeckt.

Er schüttelt den Kopf. »Ich sehe es nicht«, sagt er und kratzt sich das Kinn.

»Wie bitte?«, erwidere ich.

»Ich sehe deinen Großvater«, antwortet er.

Ich muss heftig blinzeln.

Linden wird leuchtend rot. Sie presst ihre Lippen so fest zusammen, dass ich überrascht bin, dass sie sie nicht mit ihren Zähnen abtrennt.

»Ja. Ich bin auch Wolfs Enkelin.«

Etwas an diesen Worten bleibt zwischen uns in der Luft hängen, wie ein Rauchsignal, das sich an einem klaren Tag vor dem blauen Himmel windet.

»Ich werde sie umbringen!« Linden verliert offensichtlich die Kontrolle über ihre Emotionen und zieht die Klinge an ihrer Hüfte.

»Das wirst du nicht«, sagt Cyan, hebt wieder die Hand und starrt mit einem spitzen Blick auf sie hinab. »Zumindest nicht, bevor wir verstehen, warum sie hier ist.«

Mit einem Funkeln in den Augen wendet sich Cyan mir wieder zu.

Ich schlucke meine Nervosität herunter. Vielleicht war es ein Fehler, meine Identität zu verraten. Aber wie sonst hätte ich an ihn herankommen sollen? Zumindest ist er endlich aufgetaucht, und ich war nicht gezwungen, drastischere Maßnahmen zu ergreifen.

»Öffne sie«, befiehlt Cyan einer Wache, die im Schatten wartet. »Ich werde dich nicht fesseln«, sagt er an mich gewandt, »vorausgesetzt, du machst keinen Ärger.«

»Klar. Ich bin nicht hergekommen, weil ich Ärger machen will.«

Na ja … das ist zumindest mehr oder weniger die Wahrheit. Jeglichen Ärger, den ich hier verursache, geht komplett gegen meinen Willen. Also zählt das doch, oder?

Die Wache öffnet meine Zelle, und Cyan bedeutet mir, ihm zu folgen, bevor er und Linden sich in Bewegung setzen. Ich tue wie geheißen, und zwei weitere Wachen bilden hinter mir den Abschluss.

Aha, so behandelt man also einen Gast.

Wir erklimmen die gleichen Treppen, die ich zuvor runtergezerrt wurde. Cyan und Linden unterhalten sich in gedämpften Stimmen, ihre Körper immer noch seltsam nah, seine Hand ruht auf ihrem unteren Rücken, aber ich kann ihre Worte nicht verstehen.

Als wir den hell erleuchteten Palast betreten, bleibt Cyan stehen und wendet sich an mich. »Komm, das Abendessen wartet.«

Er sagt es herzlich, als wäre ich wahrhaftig ein eingeladener Gast, aber ich werde nicht so schnell vergessen, wie er Linden gesagt hat, dass sie mich noch nicht töten soll.

Ich beäuge ihn misstrauisch, aber sein schiefes Lächeln gerät nicht ins Schwanken. Linden wiederum wirft mir immer wieder Blicke zu, die unangenehmer sind als das Wasser, das wir in Nostraza genutzt haben, um die Bettwäsche zu waschen.

»Okay«, sage ich, bevor er nickt und weiterläuft, seine nackten Füße leise auf dem glatten Boden.

Wir passieren ein paar gläserne Bogentüren, die hinaus auf einen riesigen Balkon mit einer weißen Laube führen. Sie ist mit durchscheinenden weißen Stoffbahnen dekoriert, die im Wind wehen. Der Ozean erstreckt sich vor uns, kristallblau und funkelnd. Das Meer in Aphelion war atemberaubend, doch dieser Ozean hat etwas Besonderes. Die Wellen sind von farbenprächtiger Qualität, und wie sie übereinanderrollen, erinnert an ein zum Leben erwecktes Gemälde.

In der Mitte des Balkons steht ein langer weißer Tisch, der übersät ist von weißem Geschirr, gefüllt mit farbenfrohem Essen.

Cyan nimmt seinen Platz am hinteren Ende ein, Linden lässt sich zu seiner Linken nieder.

»Ah, du bist hier«, ertönt eine fröhliche Stimme, und einen Moment später erscheint eine weitere High Fae. Ihre Haut ist ein dunkles, sattes Braun, und ihre Haare fallen in langen türkisen Locken herab. Sie trägt eine durchsichtige blaue Robe, die sich an ihren Körper schmiegt – ich kann ihre dunklen Nippel durch den Stoff sehen –, und eine knappe weiße Hose. Während sie läuft, offenbart der Schlitz in ihrer Robe ein Stück ihres glatten Beins, das im Licht schimmert.

»Anemone«, sagt Cyan mit sanfter Stimme zu der Frau. »Komm und iss mit uns zu Abend. Unser Gast ist angekommen.«

Sie bleibt stehen, stützt eine Hand in die Hüfte und mustert mich eingehend. »Das ist sie also?«, fragt sie. Es liegt keine Gefahr in ihren Zügen, doch sie haben etwas Berechnendes.

»Ja«, sagt Linden und beißt die Zähne zusammen. »Das ist der Abschaum, der es gewagt hat, unsere Schwelle zu überschreiten.«

»Entschuldige mal«, erwidere ich, langsam reicht es mir mit ihrer Feindseligkeit. »Was genau ist dein Problem? Ich weiß, dass wir uns noch nie begegnet sind.«

Lindens grüne Augen funkeln, ein Knurren kommt ihr über die Lippen.

»Linden«, tadelt Anemone sie. »Lass uns nicht unhöflich zu unserem Gast sein.« Mit diesen Worten bewegt sich Anemone die Länge des Tisches hinab, fährt mit ihren Fingern über die Oberfläche, bis sie Cyan erreicht und sich in seinen Schoß fallen lässt. Sofort findet seine Hand ihren nackten Oberschenkel.

»Ich werde mich nicht dazu herablassen, mit ihr zu Abend zu essen«, zischt Linden.

»Was habe ich getan?«, will ich wissen. Ich habe diesen Scheiß offiziell satt.

»Lor«, sagt Cyan, sein Ton mild. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich dir meine stellvertretende Befehlshaberin vorstelle.«

»Okay?«

»Linden ist die ehemalige Prinzessin der Waldlanden, und ich glaube, das macht sie zu deiner … Großtante.«

Kapitel 6

Oh. Ohhh.

Es dauert einen Moment, bis ich Cyans Worte vollständig verarbeitet habe. Linden, mit ihren braunen Haaren und grünen Augen sieht so anders aus als die Bewohner Alluvions. Alle anderen haben silberne oder blaue Haare und Augen, die sich zwischen fast Weiß über Dunkelgrau bis Marineblau erstrecken.

Ich betrachte sie genauer, und da erkenne ich die Ähnlichkeit mit Cedar, dem König der Waldlanden, in der Neigung ihrer Nase und dem Bogen ihrer Lippen.

»Sie hat meinen Bruder umgebracht«, faucht Linden mit genug Gift in der Stimme, um ein Loch in den Boden zu brennen.

»Ich hatte nichts damit zu tun«, erwidere ich, verspüre das Bedürfnis, mich zu verteidigen. »Das war Hunderte von Jahren vor meiner Geburt.«

Linden kommt einen Schritt auf mich zu, und ich weiche zurück. Ich könnte so tun, als hätte ich keine Angst vor ihr, aber ich bin kurz davor, einzuknicken wie ein billiger Papierfächer. Sie hingegen sieht aus, als wäre sie bereit, mich in einen Topf zu kippen, zu verspeisen und mit einem Glas Wein zu genießen. Oder vielleicht einem Kelch, in dem mein Blut schwappt, während meine Seele von ihrem Kinn tropft.

»Deine ganze Familie ist verantwortlich«, zischt sie. »Sie hat ihn getäuscht. Ihn benutzt. Und ihn dann zerstört.«