Tannenglühen - Petra K. Gungl - E-Book

Tannenglühen E-Book

Petra K. Gungl

4,9

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Diese Weihnachten will Franziska Ferstl ihre Strafverteidigerkarriere an den Nagel hängen, doch dann wird in der Kanzlei einer der Partner erdrosselt. Weil ihr bester Freund als Hauptverdächtiger in U-Haft genommen wird, wirft Franziska nochmal ihr ganzes Können in die Waagschale und jagt den Mörder. Dabei stößt sie auf dubiose Offshore-Geschäfte, die Russen-Mafia und Liebesaffären. Viele hatten Grund, Siegfried Fürstenstein zu töten und je näher Franziska der Lösung kommt, desto gefährlicher wird es für sie...

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Seitenzahl: 484

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Petra K. Gungl

Tannenglühen

Bitterböse Weihnachten

Zum Buch

Schmutziges Geld Die Wiener Strafverteidigerin Franziska Ferstl wollte sich diese Weihnachten zur Ruhe setzten, doch als ihr Kollege Siegfried Fürstenstein erdrosselt aufgefunden wird und zudem Franziskas bester Freund Max, Seniorpartner der Kanzlei, unter Mordverdacht gerät, muss sie noch einmal ihr ganzes Können aufbieten, um ihn zu verteidigen. Gemeinsam mit dem jungen Rechtsanwalt Kurt Thesch deckt sie dubiose Offshore-Geschäfte eines russischen Oligarchen auf und stöbert in amourösen Affären. Viele Leute hatten Grund, Fürstenstein zu hassen – ein Netz aus Geheimnissen umgibt den Toten, und Franziska muss tief graben, ehe die prächtige Fassade der feinen Gesellschaft Stück für Stück unter ihren Nachforschungen zerbröckelt. Die Suche nach dem wahren Mörder wird zum gefährlichen Spiel mit dem Feuer …

Petra K. Gungl ist gebürtige Wienerin. Beruflich setzte sich die Juristerei gegen Kunst & Germanistik durch, und die promovierte Juristin arbeitete in den unterschiedlichsten Bereichen, darunter auch am Wiener Straflandesgericht. Das Verfassen von Texten war von jeher ein elementarer Teil ihres Lebens, und so nutzte Gungl eine berufliche Auszeit, um ihren ersten Roman zu schreiben. Seither sind bereits mehrere Werke der Autorin erschienen. Nach Familie und Schreiben ist das Training im Shaolintempel Austria ihre wichtigste Kraftquelle.

Besuchen Sie Petra K. Gungl auf www.petrakgungl.com oder www.facebook.com/PetraK.Gungl/ und erfahren Sie mehr über die Autorin & ihre Bücher!

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Diabolisches Spiel (2016)

Diabolische List (2014)

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

ISBN 978-3-8392-5486-8

Haftungsausschluss

Der Inhalt des vorliegenden Romans, seine handelnden Personen, Namen, die erwähnten Firmen und Gesellschaften sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich lebenden oder verstorbenen Personen sowie real existierenden Firmen und Gesellschaften wäre Zufall und ist von der Autorin nicht beabsichtigt. Äußerungen zu Personen des öffentlichen, politischen Lebens basieren auf Medienberichten.

Zitat

»Recht hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun.«

(Prof. Robert Walter, Zitat/Vorlesung: »Einführung in die Rechtswissenschaften«, 1986)

SAMIRA

Niemand mag den Montagmorgen.

Ganz besonders nicht mit einem Brummschädel vom Weihnachtspunsch und abgefrorenen Fingern, die kaum den Schlüssel spüren, der in den schmalen Schlitz des Schlosses gesteckt werden soll.

Ihr Blick fällt auf das Messingschild, auf dem in schnörkeliger Schrift »Frank, Fürstenstein & Ferstl, Rechtsanwälte und Verteidiger in Strafsachen« steht. Wieder ein Jahr vorbei, ohne in ihrem Lebensplan weitergekommen zu sein. Samira seufzt. Wenn man in Wien Samira Dinic heißt, glauben alle, man ist Putzfrau oder Friseurin. Samira jedoch hat etwas aus sich gemacht – hat die Sekretärinnenakademie besucht, einen guten Job an Land gezogen und endlich auch Aussichten auf eine gute Heirat. Wobei, das mit der Heirat ist zum Problem geworden. Egal. Das neue Jahr wird ihr Neubeginn. Keine Spielchen mehr, dafür Nägel mit goldenen Köpfen machen.

Licht an, die Bühne ist bereit für das alltägliche Theaterspiel der Justiz. Mantel an den Haken, Mütze und Handschuhe zum Trocknen auf den Heizkörper. Er ist brennheiß. Im ganzen Vorraum kocht die Luft. Muffig, mit einem leichten Anflug von Fäkalien. Die Tür zur Toilette war geschlossen, und die Porzellanmuschel ist sauber, trotzdem betätigt Samira zur Sicherheit die Spülung. Diese Hitze! Der Thermostat ist auf 30 Grad Celsius eingestellt; kopfschüttelnd tippt sie eine 20 ein, klappt das Kästchen zu. Es fehlt an Sauerstoff, Schweiß klebt die Bluse unter ihren Achseln fest. Sie geht ins Sekretariat, lässt Winterluft hereinströmen, atmet auf. Radio an, gerade noch die Acht-Uhr-Nachrichten erwischt. Es bleibt kalt. Zeit für Kaffee.

In der Teeküche ist die Spüle randvoll mit Geschirr. Also haben die Anwälte am Wochenende gearbeitet und wie üblich den Geschirrspüler nicht gefunden. Sie füllt den Tank der Espressomaschine mit frischem Wasser und lässt Kaffeebohnen durch das Mahlwerk rasseln. Nebenher wird der Geschirrspüler ausgeräumt. Im Kühlschrank finden sich zwei Milchpackungen. Einem Caffè Latte steht nichts im Weg, dieser Montag ist gerettet.

Mit dem Kaffeeglas in der Hand macht Samira ihre Runde durch die Büros ihrer Chefs, öffnet die Fenster, nimmt unterwegs eine schmutzige Kaffeetasse mit und geht damit in die Teeküche. Bis zum Erscheinen des ersten Anwalts um 9.30 Uhr hat sie noch reichlich Zeit.

»Der Weihnachtsbaum also«, spricht sie mit sich selbst. Siegfried Fürstenstein hat zwar versprochen, das alljährliche Baumschmücken zu übernehmen, doch in den fünf Jahren ihrer Tätigkeit für die Anwaltskanzlei hat am Ende immer sie selbst den Baum aufgeputzt.

Vorraum oder Besprechungszimmer sind die möglichen Standorte für die Tanne, und dieses Jahr hat sich wegen der extrem ausladenden Zweige das Besprechungszimmer durchgesetzt. Kein Wunder, der Raum ist riesengroß, größer als Samiras eigene Wohnung. Bei Bedarf übernachten die Anwälte hier. Es gibt zwei Schlafsofas, einen Flachbildschirm, Barbereich und einen ovalen Besprechungstisch. Ein dicker Wollteppich liegt auf dem Eichenparkett wie eine verirrte Wolke. Sogar ein eigenes Bad steht zur Verfügung. Und immer noch reichlich Platz für einen Dreimeterbaum.

Samira nimmt einen Schluck Kaffee und stößt die Tür auf. Beißender Gestank, durch die hohe Temperatur im Raum verstärkt, raubt ihr den Atem – eine Mischung aus Ammoniak, Schwefel und Buttersäure – haben sich die Tore der Hölle geöffnet, just in der heiligsten Zeit des Jahres? Wenn, dann treffsicher in einer Rechtsanwaltskanzlei, verzieht Samira angewidert das Gesicht und hält sich den Arm vor Nase und Mund, hastet auf ein Fenster zu, um es aufzureißen. Erleichterung setzt ein, als die frische Luft ins Zimmer strömt.

Im Nacken fühlt sie ein Befremden, ein Prickeln und Nagen; sie möchte sich umwenden, scheut jedoch davor zurück. Das dämonische Gefühl entwickelt ein Eigenleben, bläht sich wie eine Kröte auf, droht zu platzen. Irgendetwas stimmt heute ganz und gar nicht, und ohne es zu wissen, ist sie dem Epizentrum der Ungeheuerlichkeit ganz nahe gekommen, das weiß irgendeine geheime Instanz in ihrem Kopf. Samiras Härchen an Armen und Beinen richten sich auf, sträuben sich gegen die Vorahnung, die jede Zelle ihres Körpers erfasst. Das Kaffeeglas in der Hand zittert in der eisigen Luft, die ihre Frisur zerzaust. Aus dem Radio im Sekretariat schmettert »Last Christmas« herüber, ganz normal, ganz alltäglich. Alles nur Einbildung, Fantasterei, redet sie sich gut zu. Samira dreht sich um, sieht zuerst die silberne Spitze der Tanne, folgt mit dem Blick der Lichterkette, die nur eine Hälfte der Zweige bedeckt.

Die untersten Äste berühren Männerbeine, das Gesicht ist im zentimetertiefen Wollteppich verborgen, die Arme sind angewinkelt, die Hände zum Hals ausgerichtet. Der Hals … Samiras Brust hebt sich, saugt Luft in die Lungen, atmet gegen das Schwarz an, das in sie eindringen will. Diesen dunkelblonden Haarschopf kennt sie, der weiße Hemdkragen, das Muttermal hinter dem Ohrläppchen … Sie hat es tausendmal geküsst, weil es ihn stets erregte und zu neuen Taten anstachelte. Jetzt zieht ein dünnes Kabel eine tannengrüne Trennlinie rund um den Hals, und Splitter von Glaslämpchen schneiden in die lila Haut. Darm und Blase haben ihre Dienste längst eingestellt und sich entleert. Marionettenfäden zwingen sie näherzukommen. Die Beine bewegen sich mechanisch. Sie sieht den Körper auf der weißen Wolke. Kein Arzt der Welt kann ihm mehr helfen – sie weiß es. Ihre Hände sind taub, das Glas entgleitet, verspritzt seinen Inhalt über Leiche und Teppich.

»Siegfried?« Ihre Stimme krächzt den Namen des Geliebten. »Siegfried?« Auf Knien kauert sie über seinem Leichnam. Berührt sachte seine Schultern, sein Haar, starrt wie hypnotisiert auf das Kabel, das um seinen Hals läuft. Ihre Kehle ist trocken. Er ist tot. Tot, ohne Zweifel, ohne Rückkehr. Das kann nicht sein. Jetzt rüttelt sie an seinen Schultern, hört sich »Nein« schreien, zieht und zerrt, bis er sich herumwälzen lässt und ausdruckslose Augen sie anstarren. Alles in ihr bäumt sich auf, Säure in ihrer Kehle lässt sich nicht aufhalten. Kaffee und heller Frühstücksbrei ergießen sich über das Unfassbare. Keuchend liegt sie auf die Unterarme gestützt neben ihm, fühlt nur die Krämpfe in Magen und Gedärm. Alle Gedanken sind abgeschnitten, dumpfer Wahnsinn breitet seine Schwingen über ihren Verstand. Er wird an Siegfrieds statt bei ihr bleiben.

Kapitel EINS 1. Adventwoche

Ganz Wien war weihnachtssüchtig.

Im August Lebkuchen, ab September Lametta, und spätestens der Oktober brachte Adventskalender und Nikoläuse in jeden Supermarkt; Weihnachten hatte den Vorlauf einer Fußballweltmeisterschaft. Mitte November schossen die Punschstände und Christkindlmärkte aus jedem unbebauten Flecken Asphalt mitsamt den dazugehörigen, dicht gedrängten Pulks an Menschen. Man musste schon einen starken Glauben haben, um das auszuhalten – welchem man auch immer frönte – lediglich an die Vernunft der Menschheit zu glauben, reichte jedenfalls nicht aus.

Franziska schob die Mütze tiefer in die Stirn und zog den Reißverschluss ihrer Jacke ganz nach oben. Die letzten zwei Geschenke einkaufen, und Weihnachten wäre erledigt, dann stand einem vollständigen Rückzug aus den Einkaufsstraßen und Marktplätzen für die kommenden vier Wochen nichts mehr im Wege. Ein weiterer Pluspunkt ihres Entschlusses, mit kommendem Jahr auszusteigen und sich einen vorzeitigen Ruhestand zu gönnen. Keine panischen Weihnachtseinkäufe am 23. Dezember mehr, sondern am Vormittag shoppen, wenn alle anderen arbeiteten. Wenigstens war es in dieser ersten Adventwoche eiskalt. Nichts war schlimmer, als bei plus 15 Grad Celsius an jeder Ecke den Geruch von Glühwein einzuatmen und unentrinnbar von Weihnachtsliedern beschallt zu werden. Aber was soll die ganze Nörgelei, Ziska, rief sie sich selbst zur Raison, ist die Alternative vielleicht verlockender? Durchgehende Düsternis von Oktober bis März? Dann schon lieber Lichterzauber und Glitzerkram mangels echtem Schneefall. Das grimmige Grinsen in Franziskas Gesicht weckte das Interesse eines Zettelverteilers an der Ecke zur Rotenturmstraße.

»Kommen S’ zum Stadtheurigen. Ein Punsch gratis!«

»Nicht mal wennst mir einen Liter spendierst, Burschi«, zwinkerte sie dem Jungen im Vorbeigehen zu und nahm den Gutschein nicht entgegen. Er schmunzelte und ließ den Zettelarm sinken.

»Du kennst di’ aus, Omi.«

»Pass auf, was d’ sagst!«, drohte sie ihm mit dem Zeigefinger und lachte amüsiert auf. Omi, sagt der zu mir. Junghupfer! Ich bin doch erst … Franziska dachte an ihr Geburtsjahr und schürzte die Lippen. Rein rechnerisch gesehen war sie fast 60, aber mental – höchstens 28. Sie blickte nach oben; die überdimensionalen Glitzerkugeln der Rotenturmstraße baumelten, roten Planeten gleich, träge im Wind. Als wäre das alles ein großes Bordell – und mit diesem Bild im Kopf genoss Franziska den Einkaufsbummel gleich um ein Vielfaches.

»Guten Morgen, Frau Doktor!«, rief ihr die Betreiberin des Teeladens in der Wollzeile entgegen, kaum dass sie den Fuß über die Schwelle setzte. »So früh haben S’ ja noch nie die Weihnachtspackerln abgeholt.« Ausgewählte Spirituosen kombiniert mit einer speziellen Teemischung kamen jedes Jahr gut bei der Stammklientel der Kanzlei an.

»Das geht auch nur, weil ich die Juristerei an den Nagel gehängt habe. Ein bisserl unterstütze ich noch die Kollegen …« Franziska bemerkte die Wehmut in ihren Worten und senkte den Blick auf die Hände der Ladenbesitzerin. Aus einer Teekanne goss diese jadefarbigen Tee in zwei Schalen.

»Ein China Oolong, ganz neu hereinbekommen. Den werden Sie lieben. Würzig und fruchtig, voller Körper.« Sie hielt ihr die dampfende Schale hin. Vorfreude erfüllte Franziska bei dem Gedanken, die steif gefrorenen Finger daran zu wärmen. »Nicht zu fassen, dass Sie mit dem Ruhestand ernst gemacht haben. Sie waren doch mit Ihrem Job verheiratet«, ergänzte sie und schob einen Porzellanteller voller Miniaturkekse näher zu Franziska. »Zimtstern?«

»Gesundheit geht vor.« Franziska nahm einen kräftigen Schluck und genoss die sich ausbreitenden Wellen an Wärme und Wohlgefühl. »Ich mache seit sechs Monaten täglich Sport. So fit war ich mit 20 nicht.« Was so eine Brustoperation alles auslösen konnte. Ein gesamtes Lebenskonzept war mit einem Streich hinfällig geworden. Sie hatte sich neu erfinden müssen, feilte nach wie vor an dieser ungewohnten Form ihrer selbst. »Allerdings, aus einem Fiakergaul macht man nicht von heute auf morgen einen Lipizzaner.«

Die Ladenbesitzerin gurrte das Lachen der Solidarität. »Sie sind mein Vorbild, Frau Ferstl. Noch zwei Jahre und ich übergebe das Geschäft meinem Nachfolger. Dann genießen mein Mann und ich endlich, was wir uns aufgebaut haben. Bevor es zu spät ist.«

»Genau das habe ich auch vor«, stimmte Franziska zu, »im Frühling geht’s auf nach Südfrankreich.«

»Ernsthaft?« Der Nachsatz – in ihrem Alter – hing zwischen den Frauen. »Mit dem Motorrad?«

»Kein Motorrad – auf meiner Harley Davidson. Ein feiner, alles entscheidender Unterschied.« Einer Burgtheater-Inszenierung gleich ertönte just im selben Moment aus Franziskas Handtasche die Hymne »Born to be wild«. »Pardon«, entschuldigte sie sich und kramte das Handy hervor. Die Ladeninhaberin wandte sich ab, holte die vorbereiteten Tragetaschen aus der Abstellkammer.

Am Display stand das Wort »Kanzlei«.

»Ferstl«, meldete sich Franziska gewohnt scharf.

»Frau Doktor, sind Sie in der Nähe?« Das Lehrmädchen war am Apparat, Franziska erkannte sofort den schwerfällig-schleppenden Tonfall mit dem zarten Lispeln. Ein schlechtes Zeichen allemal, die Kleine ließ man nur in Notfällen telefonieren.

»Nathalie, was ist los? Ist wer krank?«

»Krank? Wieso?«, kam es verwirrt von der anderen Seite der Leitung, und Franziska verdrehte reflexartig die Augen zur Decke. »Nein, Frau Doktor. Es ist viel schlimmer. Kommen S’ bitte. Gleich. Ich weiß einfach nimmer, was ich tun soll …« Die Verbindung riss ab. Franziska lauschte dem Besetztzeichen nach und versuchte, sich einen Reim auf diese wirre Ansage zu machen. Nathalie Pospischil konnte man durchaus als eigenartiges Mädchen bezeichnen. Sie hatte schwarz gefärbtes Haar, kajalschwarze Augen, natürlich gleichfarbigen Nagellack. Die Tattoos immerhin waren grau und genauso düster, wie kleine Totenköpfe und Drudenfüße nun eben mal aussehen. Derart seltsam wie eben hatte Franziska sie jedoch noch nie erlebt.

Die Rechnung war rasch beglichen, und Franziska verabschiedete sich von ihrer Teefreundin mit einem kurzen Gruß, in Gedanken schon in der Kanzlei.

»Die anderen Taschen holt das Lehrmädel?«, fragte die Ladenbesitzerin.

»Wenn sie nicht komplett übergeschnappt ist, jedenfalls. Ich schau mal besser nach.« Damit trat Franziska zurück auf die Straße, nur wenige Gassen von ihrer ehemaligen Kanzlei und einer Katastrophe biblischen Ausmaßes entfernt.

*

Es brauchte keine fünf Minuten in die Rosenbursenstraße – von Weitem schon sah Franziska den Einsatzwagen der Spurensicherung und fluchte. War das Mädel also nicht übergeschnappt, sondern hatte die Wahrheit gesagt.

»Verdammter Mist«, entfuhr es ihr neuerlich, diesmal lauter, sodass sich ein alter Mann vor ihr auf dem Gehsteig angesprochen fühlte. So gut er es noch konnte, war er zur Seite gesprungen und drehte sich mit erhobener Faust zu ihr um.

»He, Sie! Was fällt Ihnen ein! Sind S’ narrisch worden?«

»Aber ja!«, fauchte sie zurück und hielt auf die Haustür zu. Im Treppenhaus waren Stimmen zu hören. Ein Mann, eine alte Frau. Im Hochparterre wohnte Frau Hohenfellner – war sie der Grund des Einsatzes? Franziska schämte sich für die Hoffnung, die sie bei diesem Gedanken überkam. Nicht, dass sie der alten Schreckschraube ein Unglück an den Hals wünschen würde, aber ein normaler Mensch wünscht sich naturgemäß, dass der Blitz beim Nachbarn einschlägt und nicht im eigenen Haus. Selbst wenn die Kanzlei eigentlich nicht länger in ihre Zuständigkeit fiel. Eigentlich.

Franziska stapfte die Treppen hoch, fühlte, wie das Gewicht ihrer Einkaufstaschen links und rechts nach unten zog. Jetzt wurde die Unterhaltung deutlicher, und nur deswegen verlangsamte sie ihren Schritt.

»Ich danke Ihnen für Ihre Aussage, Frau Sektions­chefin Hohenfellner.«

»Nicht der Rede wert, junger Mann! Das ist meine Staatsbürgerpflicht, nicht wahr? Aber wegen des Protokolls – Sie sehen ja selbst, wie schlecht ich gehe, zu Ihnen aufs Präsidium schaffe ich es nicht.«

»Ein Beamter wird vorbeikommen, machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«

Franziska stand am Treppenabsatz und beobachtete die betuliche Gestalt mit dem lila Haargespinst auf dem Kopf. Der Chihuahua auf ihrem Arm hatte die Figur einer Elefantenrobbe mit Kaninchenvorfahren.

Kaum bemerkte Hohenfellner Franziska, weiteten sich ihre Augen und das Kinn wies in ihre Richtung. Die von Adern durchzogene Hand griff nach dem Türknauf. »In­spektor Sutel, jetzt kommt eine der Anwälte«, warnte sie den Mann auf dem Schuhabstreifer, ohne Franziska aus den Augen zu lassen. »Grüß Gott, Frau Doktor«, sagte Hohenfellner mit dieser Mischung aus süßlicher Arroganz und Neugierde im Unterton.

Besagter Inspektor drehte sich herum und nickte ihr zu. »Na endlich.«

Franziska hob eine Augenbraue und machte sich nicht die Mühe, ihren Ärger zu verbergen. »Kann ich Ihnen helfen? Was ist hier überhaupt los?«, forderte Franziska zu wissen. Hohenfellners Gesicht verriet höchste Anspannung, ein Tremor machte sich bemerkbar und der Hund begann zu kläffen. Was er stets tat, sobald er Franziskas Stimme hörte. »Ich kann dich auch nicht leiden.«

Hohenfellner kniff die Lippen zusammen, machte einen Schritt zurück in ihre Wohnung, konnte sich aber nicht dazu entschließen, die Tür zu schließen. »Ruhig, Cicero, ruhig«, tätschelte sie die Kaninchenrobbe. In dem Höllenlärm machte es keinen Sinn, die Unterhaltung mit dem In­spektor fortzuführen. Franziska deutete ihm, ihr zu folgen und stapfte die Treppen weiter hinauf. Als sie im 1. Stock vor dem Eingangsbereich der Kanzlei standen, fiel unten die Tür ins Schloss und das Gekläffe verstummte.

»Na endlich«, seufzte sie und blickte stirnrunzelnd auf das Absperrband, das sich zwischen den Türrahmen spannte.

»Wieso Cicero?«, fragte der Inspektor, und Franziska drehte sich nach ihm um. Der Mann hätte gut und gern US-Soldat sein können, so groß und breitschultrig, wie er vor ihr stand. Sie schätzte ihn auf 35 und nahe einem Burn-Out, nach der Tiefe seiner Augenringe zu schließen.

»Sie war vor 100 Jahren Professorin für Latein auf einer Allgemeinbildenen Höheren Schule.« Sein Lächeln währte eine ganze Sekunde.

»Inspektor Sutel, Kriminalpolizei. Sie sind die Frau Doktor Ferstl?«

»Bin ich – und jetzt klären Sie mich auf!« Im selben Moment wurde die Tür aufgerissen, und ein junger Mann trat in den Türrahmen.

»Wir sind hier fertig«, sagte er und riss das Band weg.

»Gut.« Sutel trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen. »Ich will den Bericht so schnell wie möglich.«

»Mal was Neues.«

Eine Karawane Männer und Gerätschaften bewegte sich an Franziska vorbei. Was zum Teufel war hier los?

»Die Spurensicherung – in meiner Kanzlei?« Sie hörte, wie schrill ihre Stimme klang. Der Inspektor hob beschwichtigend die Hände und wies ins Innere der Wohnung. Franziska stürmte hinein und blickte sich in Erwartung umgekippter Möbel, ausgeraubter Vitrinen und ausgeleerter Laden um. Aber da war nichts, alles sah aus wie immer, und doch …

»Frau Doktor Ferstl, wann haben Sie Ihren Kollegen Doktor Fürstenstein zuletzt gesehen?«

»Fürstenstein? Was ist mit ihm?«

»Beantworten Sie bitte meine Frage, Frau Doktor.«

»Von wegen! Was war hier los?« Franziska lief ins Sekretariat, wo Nathalies voluminöse Gestalt zusammengesunken auf ihrem Platz saß und in die Luft starrte. Kein ungewöhnlicher Anblick, für Nathalie war diese Pose völlig alltäglich, jedoch war weder ein PC angestellt noch befanden sich Lautsprecherknöpfe in Nathalies Ohren, und das war zutiefst beunruhigend. Langsam drehte sich das Mädchen ihr zu. »Nathalie! Kindchen, wie sehen Sie denn aus?« Kajalschlieren quer über die Wangen gaben dem blassen, runden Gesicht etwas Gespenstisches.

»Der Herr Doktor ist tot!«

»Der Fürstenstein?«

»Ja, der. Erwürgt.« Nathalie fasste sich an den eigenen Hals, um den ein schwarzes Lederband mit Silberring befestigt war. »Unterm Christbaum!« Sie bleckte die Zähne wie ein verschrecktes Hauskätzchen, zeigte dabei die durchsichtigen Brackets ihrer Zahnspange, über die sie gewohnheitsmäßig mit der Zunge strich.

Franziska wirbelte zum Inspektor herum. Im ersten Reflex schien er »Was kann ich dafür!« sagen zu wollen, räusperte sich jedoch rechtzeitig.

»Augenscheinlich«, bestätigte er fürs Erste die Aussage des Lehrmädchens. »Sie müssen mir jetzt ein paar Fragen beantworten.«

»Moment mal.« Franziska hielt ihn sich mit ausgestreckter Hand auf Distanz und konzentrierte sich auf Nathalie. »Heißt das, Sie haben ihn gefunden?«

Das Mädchen nickte, wandte sich ab und begann an ihrem Fingernagel zu kauen.

Franziska fühlte, wie Blut in ihrem Kopf pulsierte, die Wangen heiß wurden und die Zornesfalten zwischen den Augenbrauen tiefe Kerben zogen. Aufgebracht wandte sie sich an Sutel. »Und es ist kein Arsch von Psychologe hier, um eine offensichtlich traumatisierte Zeugin von gerade mal 17 Jahren zu betreuen?«, polterte sie los, spürte, dass sie sich einbremsen sollte … »Was ist das für ein Scheißverein!« Sie stürzte auf Nathalie zu und blieb abrupt vor ihr stehen. Unbeholfen begann sie, deren Schultern zu tätscheln. »Schätzchen, ich bin ganz schlecht in solchen Dingen. Was machen wir nur mit Ihnen? Was kann Ihnen helfen? Ich persönlich könnte jetzt einen Bourbon vertragen …«

»Ist schon gut«, blickte Nathalie aus Alice-Cooper-Augen zu ihr hoch. »Auf Bourbon muss ich kotzen seit meiner letzten Whisky-Cola-Vergiftung.«

»Frau Ferstl, jetzt hören Sie mir mal zu«, mischte sich Sutel ein. »Sie wissen genau, wie knapp die Ressourcen sind. Wir mussten erst mal die andere Sekretärin versorgen. Das Fräulein hier schlägt sich prima, das ist eine ganz mutige Person.« Er nickte Nathalie anerkennend zu. »Wir beide waren schon eine Zigarette rauchen, und ich hätte sie nicht allein gelassen, bis sich jemand um sie kümmert. Zuallererst brauche ich jetzt Ihre Aussage, das hat Priorität.«

Franziska blickte von den errötenden Wangen ihres Lehrmädels auf die angespannte Miene des Inspektors. »Kommen Sie mir nicht so«, knurrte sie ihn an. »Nathalie bekommt auf der Stelle eine Krisenintervention.«

»Lassen Sie, Frau Doktor, ich warte sowieso, bis Doktor Thesch kommt.« Auf einmal wirkte Nathalie lebhaft und völlig klar bei Sinnen, ja sogar das Lispeln klang charmant. »Er wird in einer Dreiviertelstunde da sein. Jemand muss ihm doch mit den ganzen Terminen helfen, die jetzt der Doktor Fürstenstein nicht wahrnehmen kann.«

Daher weht der Wind, nickte Franziska über ihre plötzliche Erkenntnis. Natürlich! Das Kind war ja seit dem ersten Tag im Dienste der Anwaltskanzlei in Kurt Thesch verschossen, machte große Kuhaugen, wenn er durch den Raum ging, und freiwillig Kaffee, wenn er welchen verlangte.

»Er braucht mich jetzt, wo die Samira im Spital ist …«

Schon wieder eine Katastrophenmeldung. Samira im Spital, Fürstenstein erwürgt, das traumatisierte Lehrmädel, den Inspektor im Genick … die Informationen drehten sich in ihrem Kopf wie ein Ringelspiel unter Starkstrom.

»Wo ist Maximilian, ich meine, Doktor Frank?«, fragte sie schärfer als beabsichtigt.

»Er hat heute Vormittag Verhandlungen am Straflandesgericht«, berichtete Nathalie, den Rücken stolz durchgedrückt. »Er kommt gegen 14.00 Uhr. Der Inspektor hat gemeint, ich soll ihn nicht anrufen.«

»Wieso?«, schoss Franziska augenblicklich Sutel an und warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.

»Sie werden ihn ebenfalls nicht verständigen, Frau Doktor«, erwiderte er und sein Tonfall indizierte den Befehl dahinter. »Ich werde ihn selbst von den Vorfällen unterrichten.«

Das Kitzeln einer Schweißperle, die in aller Langsamkeit ihre Schläfe entlang lief, erinnerte Franziska daran, endlich die Mütze abzunehmen. Mit einem ergebenen Seufzen riss sie sich das wollene Ungetüm vom Kopf und streifte die Handschuhe ab. Mit den Fingern strich sie durch ihre Salz-und-Pfeffer-Locken.

»Süße, wir warten hier mit Ihnen, bis die Psychologin kommt. Hören Sie in der Zwischenzeit ihre seltsame Musik oder spielen Sie »Bloodline« oder »Solitär«, mir egal. Ich koche uns heiße Schokolade und rede mit diesem Inspektor. Wenn Ihnen komisch zumute ist, kommen Sie zu mir.« Ganz bewusst stellte sich Franziska vor Nathalie und sah ihr fest in die Augen. »Notfalls kann ich Sie auch in den Arm nehmen oder was man halt tun muss, in solchen sch… ähm, blöden Situationen. Verstanden?«

Nathalie lächelte sie verschüchtert an, vermutlich fürchtete sie nichts mehr, als von der großen, barschen Frau Doktor Ferstl in den Arm genommen zu werden.

»Und jetzt kommen Sie mit, Inspektor. Teeküche. Da erzählen Sie mir, was passiert ist.«

*

Die Teeküche war ein kleiner, schlauchartiger Raum, allerdings modernst ausgestattet. Während Sutel sich auf einen der Barhocker setzte und auf der schmalen Eichenbar abstützte, bediente Franziska die Chromteile der Kaffeemaschine und wärmte nebenbei auf dem Ceranfeld Milch.

»Ich hasse die Mikrowelle – am liebsten koche ich auf richtigem Feuer.« Mit einem Schneebesen rührte sie Kakao in die aufsteigende Milch ein. »Was war hier los?«

Sutel musterte sie eingehend, das konnte Franziska trotz abgewandtem Gesicht fühlen. Wahrscheinlich würde er, wie die meisten anderen Leute, einer Anwältin ohne Kostüm und Perlenhalskette nicht über den Weg trauen. Sie war nun mal der sportliche Typ, meist in Jeans und Lederjacke unterwegs, trug statt Stöckelschuhen lieber Stiefel, an denen Ölspuren ihres Bikes klebten. Wimperntusche und Lippenstift verwendete sie lediglich an Heiligabend, im Theater oder für Termine bei Gericht. Sie blinzelte über die Schulter und war von seinem anerkennenden Blick erstaunt.

»Sie sind eine energische Frau.«

»Ich setze mich in einem Männerberuf durch, da kommen Sie ohne Ellenbogen nicht weit.« Sutel seufzte, und Franziska meinte etwas wie ein Schmunzeln auf seinen Lippen zu entdecken.

»Sie würden ja doch keine Ruhe geben. Gut. Ihr Kollege Siegfried Fürstenstein wurde heute Morgen von der Sekretärin Samira Dinic tot aufgefunden. Im Besprechungsraum, unterm Tannenbaum. Frau Dinic erlitt einen Nervenzusammenbruch und war nicht in der Lage, die Polizei oder Rettung zu verständigen. Erst nachdem das Lehrmädchen Nathalie Pospischil die Räume der Kanzlei auf der Suche nach Frau Dinic abgesucht hatte und diese völlig außer sich vorfand, wurden wir eingeschaltet. Der Tatort war eine einzige Katastrophe: Dinic hatte Kaffee quer über die Leiche gegossen, sich danach übergeben und alles angegriffen, was in ihrer Nähe war. Als wir sie antrafen, war sie völlig von Sinnen. Der Notarzt hat sie augenblicklich sediert, und obwohl ich sie nicht mehr vernehmen konnte, war ich heilfroh darüber.«

Franziska ließ sich auf dem Barhocker gegenüber nieder und starrte den Inspektor an. Sutels Worte hatten lebendige Bilder in ihren Kopf gepflanzt, von denen sie nicht glauben wollte, dass sie sich tatsächlich hier, in den vertrauten Räumlichkeiten ihrer Kanzlei, abgespielt hatten. Ihre Hand tastete verstohlen nach der Stelle seitlich der linken Brust, wo die Operation eine tiefe Delle hinterlassen hatte.

»Mein Gott, die arme Frau.«

»Mit der Spurensicherung sind wir jedenfalls fertig. Die persönlichen Sachen von Fürstenstein bin ich bereits durchgegangen.« Sutel verlagerte das Gewicht, kam ihr ein Stück entgegen. »Hatte Frau Dinic ein Verhältnis mit Siegfried Fürstenstein?«

»Woher soll ich das wissen?«, murmelte Franziska und konnte ihre Gedanken nicht von der Vorstellung der durchdrehenden Sekretärin über Siegfrieds Leiche lösen. »Das letzte Dreivierteljahr war ich hauptsächlich mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt.«

»Sie waren krank?«

»Warum fragen Sie, wenn Sie es längst wissen?«

Sutel verbarg nicht, wie sehr ihn ihre brüske Art verstimmte. »Ist Ihnen davor etwas aufgefallen?«

»Nein.« Franziska antwortete rasch und begann im selben Moment zu zweifeln, versuchte, sich an Begebenheiten zu erinnern, in denen die beiden miteinander gesprochen, Blicke getauscht oder sich ein Lächeln geschenkt hatten – es hatte in der Tat Geplänkel gegeben.

»Sie haben viel miteinander gelacht«, sagte sie. Das war doch das Netteste an einem Mann, wenn er eine Frau zum Lachen brachte.

»Interessant«, reagierte Sutel sofort und kritzelte etwas in sein Notizbuch. »Wie war seine Ehe?«

»Fragen Sie das gefälligst seine Frau«, knurrte sie ihn an. Dachte er, sie sei ein Tratschweib? »Woran ist Siegfried gestorben?«

Indigniert stieß Sutel Luft aus und lehnte sich zurück. Mit zusammengekniffenen Augen und vor dem Körper verschränkten Armen fixierte er sie. »Mit der Lichterkette erdrosselt, wie’s aussieht. Wollte den Baum schmücken und wurde dabei unterbrochen.«

Franziskas Gesicht blieb unbewegt, während sich ihre Fantasie ein weiteres Bild ausmalte, in dem ihrem Kollegen rücklings ein Kabel um den Hals geschlungen wurde und er verzweifelt versuchte, seine Finger darunter zu schieben. Fast hörte sie sein Krächzen und das Röcheln am Ende, kurz bevor es vorbei war. Ein abscheulicher Tod. Sie hasste ihre blühende Fantasie.

»Keinerlei Hinweise auf einen Einbruch. Und wenn wir schon dabei sind: Wo waren Sie am Sonntag, zwischen 15.00 und 18.00 Uhr nachmittags?«, riss Sutel sie aus ihren düsteren Gedanken.

Augenblicklich nahm sie die Hand von ihrer Narbe, räusperte sich und schlüpfte zurück in die Rolle der Anwältin. »Im Haus meiner Schwester Gertrude Strebersberger in Purkersdorf«, gab sie zur Antwort. »Wir haben den ganzen Nachmittag lang Kekse gebacken und Glühwein getrunken.« Sutels amüsierter Blick reizte sie. »Glauben Sie nicht, dass ich backen kann?«, herrschte sie ihn an, musste jedoch schmunzeln. »Ehrlich gesagt bin ich vor allem eine moralische Unterstützung für meine Schwester und hauptsächlich für den Glühwein zuständig. Mein Spezialgebiet. Die Adventsonntage laufen seit Jahrzehnten so ab. Nur schwere Krankheit wird als Entschuldigung akzeptiert.«

»Wer könnte sonst gestern in der Kanzlei gewesen sein?«, bohrte Sutel nach. »Doktor Frank?«

»Hören Sie, von mir werden Sie keinerlei Spekulationen zu hören bekommen. Ich gebe gern Auskunft über Fakten, halten Sie sich daran!«

Jetzt sah sein Gesicht einer Tomate verteufelt ähnlich. »Das ist eine polizeiliche Ermittlung, kein Plauderstündchen. Geben Sie gefälligst Antwort auf meine Fragen!«

Franziska verschränkte ihrerseits die Arme vor der Brust und zog eine Augenbraue hoch. »Ich arbeite seit über 30 Jahren mit Dieben, Mördern, Vergewaltigern, Betrügern, sowie Polizisten, Staatsanwälten und Richtern. Glauben Sie allen Ernstes«, sie deutete dabei mit dem Kinn in seine Richtung, »forsche Worte machen bei mir Eindruck?«

Für unendlich lange Sekunden hindurch blickte Sutels Tomatenschädel sie wütend an. Dann begannen sich die schmalen Lippen allmählich zu entspannen und auch der Hautton normalisierte sich. Na bitte, geht doch, dachte Franziska und lächelte versöhnlich. Der arme Junge konnte einem ja auch leidtun, wenn er mit einem alten Pitbull wie ihr klarkommen musste.

»Können wir auf Neustart gehen?«, fragte Sutel und klang kein bisschen herrisch dabei, auch wenn Franziska merkte, wie schwer es ihm fiel. Gut. Der Junge hatte was drauf, er konnte sich auf einen mühsamen Gesprächspartner einstellen. Sie nickte ihm aufmunternd zu und er apportierte brav das geworfene Stöckchen.

»Sie sind Partner in der Kanzlei – seit wann?«

»Ich bin mittlerweile nur mehr formal Partner. Aufgrund gesundheitlicher Probleme scheide ich mit Jahresende aus. Wir haben diesbezüglich eine Übergangsregelung getroffen. Vor einem Dreivierteljahr haben wir einen jungen Anwalt ins Team geholt, Doktor Thesch. Er kümmert sich um meine Fälle.«

Sutel hielt den Kugelschreiber über seinem Notizbuch bereit, wartete auf mehr Infos. Als sie verstummte, um den Kakao in eine hohe Porzellantasse zu gießen und ihn mit einem Milchschaumhäubchen zu krönen, hakte er sofort nach. »Wie lange war Fürstenstein hier Partner?«

»Zehn Jahre. Begonnen haben Maximilian Frank und ich vor 31 Jahren. Beruflich gesehen sind wir ein altes Ehepaar. Fürstenstein kam dazu, als unser früherer Partner, Reinherr, einem Herzinfarkt erlegen ist. Das ist kein der Gesundheit zuträglicher Job, können Sie mir glauben.« Mit dem Kakao in der Hand verschwand sie Richtung Sekretariat und war wenige Minuten später wieder zurück bei einem zunehmend ungeduldigen Inspektor, wie sie aus zwei tiefen Kerben zwischen seinen Augenbrauen und einem gebrummten »Na endlich« messerscharf schloss. Seelenruhig ignorierte sie den Inspektor und machte sich an der Espressomaschine zu schaffen. Die Kaffeebohnen rasselten ohrenbetäubend durch das Mahlwerk. Erst als sie dem fertigen Kaffee ein Milchschaumhäubchen aufsetzte, drang Sutel weiter auf Antworten.

»Frau Doktor Ferstl, was können Sie mir über das letzte Wochenende erzählen?« Sutel trommelte mit dem Stift einen galoppierenden Rhythmus auf die Tischplatte. »Wussten Sie, dass Fürstenstein am Sonntag hier war?« Franziska schob Sutel die Kaffeetasse hin. Sein »Danke« kam so tonlos zurück, als hätte er längst nicht mehr mit dieser netten Geste gerechnet.

»Es ist nicht ungewöhnlich, dass am Wochenende gearbeitet wird«, überging Franziska seine momentane Verlegenheit und wandte sich wieder der Espressomaschine zu. »Wochentags ist oft zu viel Trubel durch Gerichtstermine, Klientenbesprechungen und Telefonate. Jetzt, vor Weihnachten, ist sowieso die Hölle los.« Das Mahlwerk kreischte auf, und für ein paar Sekunden war eine Unterhaltung unmöglich. Es knappste und klackte, als griffen riesige Zahnräder ineinander, ehe heißes Wasser mit Hochdruck durch das Kaffeepulver gepresst wurde und schaumige Brühe in die Tasse floss. Dieser Moment der aufsteigenden Röstaromen war fast das Beste am ganzen Kaffeetrinken und lenkte für eine Zehntelsekunde von der Realität ab. Sie warf Sutel einen Blick über die Schulter zu, um sich davon zu überzeugen, dass sie seine volle Aufmerksamkeit hatte. »Soweit ich informiert bin, musste Siegfried heute Früh zum Flughafen, um zu einer Tagung in Brüssel zu fliegen. Da schläft er öfter mal in der Kanzlei. Man ist von hier rascher am Flughafen als von dem Kaff aus, wo er wohnt.«

»Die Fürstensteins haben ein Anwesen in Niederösterreich, das ist bekannt«, überlegte Sutel laut. »Ist Siegfried Fürstenstein ein Sohn des alten Fürstenstein? Ich hab’s nicht so mit dem Adel.«

Das Geständnis des Inspektors amüsierte Franziska. Ehe sie der Versuchung erliegen konnte, ihm das Studium einschlägiger Magazine bei Zahnarzt oder Friseur vorzuschlagen, besänftigte sie ihn mit ein paar Fakten. »Vor der Eheschließung hieß er Siegfried Müller«, stellte Franziska klar. »Seine Schwiegerleute nennen – ach, nannten«, sie fühlte einen kleinen Stich in der Brust bei diesem Zeitfehler, der ihr noch einige Male passieren würde, bis Siegfrieds Fehlen unter den Lebenden endgültig Normalität wäre, »sie nannten ihn stets ›den Müller‹ – jedenfalls, wenn er nicht in Hörweite war.« Trotz aller Tragik konnte sie sich einen gewissen Zynismus bei diesem Thema nicht verkneifen. Siegfrieds Beweggründe, den Namen seiner Frau seinerzeit anzunehmen, beruhten schließlich nicht im Geringsten auf edlen emanzipatorischen Prinzipien.

»Also hat er in die Familie eingeheiratet – na, das wird nicht ganz gemütlich gewesen sein.« Sutel nuckelte an seinem Stift und blickte erwartungsvoll Franziska an.

Sie strich sich eine ihrer widerspenstigen Haarlocken hinters Ohr und konzentrierte sich auf ihre Kaffeetasse, schlürfte Milchschaum und leckte sich über die Oberlippe. »Kann sein«, zuckte sie mit den Schultern und entschloss sich dazu, dem Jungen weiterzuhelfen. »Auf sein Geld waren sie jedenfalls scharf genug, um der Eheschließung zuzustimmen. Er war ein Spitzenanwalt.«

Der Inspektor starrte auf seine Notizen. »Auf seiner Wange war eine Narbe; wissen Sie, woher die stammte?« Sutel war aufmerksamer, als sie angenommen hatte. Es war völlig klar, worauf die Frage abzielte. Sutel wusste Bescheid und wollte sie aushorchen.

»Siegfried war in einer schlagenden Studentenverbindung. Deutschnational. Mir gegenüber hat er sich wohlweislich zurückgehalten.« Was hatte sie diesen ewig gestrigen Mist schon auf der Uni gehasst! Doch nach Reinherrs Tod brauchte die Kanzlei dringend neue Klienten, und Siegfried hatte die Reichsten an der Hand gehabt. »Das ist doch Schnee von gestern«, hatte Max zu ihr gesagt. »Jugendsünden.« Franziska schüttelte den Kopf, wollte nicht darüber nachdenken.

»Zu Ihrer ursprünglichen Frage, Inspektor Sutel: Ich kann Ihnen keine Auskunft geben, wer an diesem Wochenende in der Kanzlei war. Ich war es jedenfalls nicht. Aber Kurt Thesch wird in Kürze eintreffen, Maximilian Frank ebenfalls, dann können Sie die Dinge bestimmt abklären.« Ein Kribbeln in der Magengegend meldete sich. Ein sicheres Zeichen, dass sie woanders mehr gebraucht wurde. »Ich gehe zu Nathalie. Da drüben ist es verdächtig still.«

Ohne ersichtliche Gemütsregung blickte Sutel auf seine Armbanduhr und nickte zustimmend.

»Eine Frage noch: Wie war das Verhältnis unter den Partnern – Frank und Fürstenstein, Fürstenstein und Sie, Thesch und Fürstenstein?«

Franziska konnte ein verärgertes Stöhnen nicht unterdrücken. Sie stand auf und trug die Tasse zum Geschirrspüler. »Wir hatten hier alle miteinander ein korrektes Verhältnis. Sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, durchaus diametrale politische Einstellungen – aber was die Arbeit anging, waren wir eine Mannschaft. Und darauf kommt es schließlich an.« Sie waren in der Tat ein gutes Team gewesen, hatten Erfolge gefeiert, positive Resonanz in den Medien gefunden und damit stets über eine beneidenswerte Auftragslage verfügt. Selbst mit Siegfried war sie nach einiger Zeit klargekommen. Er hatte das Geschäftsfeld der Kanzlei erweitert, vertrat Investmentfirmen und ausländische Klienten, die er nicht zuletzt aufgrund seiner familiären Beziehungen akquirierte. Im Grunde focht jeder der Anwälte seine eigenen Schlachten und besprach im Team lediglich Organisatorisches. Über knifflige Fälle tauschte sie sich höchstens mit Max aus und genauso hielt Max es. Siegfried war das fünfte Rad am Wagen gewesen. Man hatte höflichen Umgang gepflegt, ohne sich persönlich allzu nahezukommen, und jetzt war es zu spät, Siegfried Fürstenstein besser kennenzulernen. Man würde seinen Leichnam in die gefrorene Wintererde senken und bald vergessen. Seine Kinder würden vielleicht noch eine Weile an ihn denken, aber das väterliche Gesicht würde auch für sie verblassen, seine Gestik, sein Lachen und Wortwitz würden auf einer Fotografie erstarrt ihr Leben begleiten. Wieder legte sich ihre Hand seitlich an die Brust, aktivierte das Körpergedächtnis an Skalpell und Todesangst. Sie hatte einen Aufschub erhalten, durfte dem Leben noch ein paar gute Momente abringen – Siegfried nicht. Wieso war das so? Sie mit fast 60, kinder- und partnerlos, bekam eine Chance; Siegfried dagegen war gerade mal 48 geworden, hatte drei kleine Kinder und eine Frau, bekam die Rote Karte und musste vom Platz. Vor drei Monaten erst hatte er genau an diesem Platz gestanden, neben der Espressomaschine, hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt, und etwas gesagt wie: »Menschenskind, Ziska, ich beneide dich echt nicht wegen der Krankheit, die du auszustehen hast. Aber die Entscheidung, ein neues Leben zu beginnen – weißt du, das hat was.« Gänsehaut hatte sie bekommen. Verdammte Sch…

»Fürstenstein war allseits beliebt?«, riss Sutel sie aus ihren Reminiszenzen.

»Beliebt? Ein Anwalt? Sie machen Witze.« Ihr höhnisches Lachen verstummte genauso rasch, wie es eingesetzt hatte. »Wir machen uns täglich neue Feinde. Neidische Kollegen, enttäuschte Klienten, nicht zu vergessen die gegnerische Seite, die Verbrechensopfer, die sich mitunter ungerecht behandelt fühlen – und wissen Sie was, ich kann es ihnen nicht verdenken.« Sutel stand im Türrahmen und blockierte den Weg. Seine abschätzige Handbewegung erregte ihre Streitlust. Sie trat auf ihn zu, ganz dicht, und fixierte mit ihrem Blick sein arrogantes Gesicht. »Haben Sie Ihren Job damals begonnen, um für mehr Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen?« Seine Augen wurden schmal. Natürlich hatte er das. »Was bleibt davon über, so nach zehn, 15 Jahren?« Franziska beobachtete, wie Sutels Kehlkopf in einer Schluckbewegung auf und ab hüpfte. Mein Gott Franziska, jetzt frustrier’ doch nicht dauernd die jungen Leut’, schimpfte sie mit sich. Die Gerti würde dir jetzt was erzählen. Aber wozu sonst waren die Alten gut, wenn nicht dafür, die Jungen aufzurütteln? Dieser Inspektor hatte Potenzial, da machte es Sinn, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken.

»Ein dampfender Haufen Mist, den man Realität nennt.« Sutel machte einen Schritt zur Seite, hielt aber Franziskas Blick stand.

»Trotzdem machen Sie weiter.«

»Irgendjemand muss es schließlich tun.«

Sekundenlang starrten sie einander an. Schließlich schob Franziska das Kinn vor und nickte ihm anerkennend zu.

»Sie haben meine Unterstützung.« Das versprach sie selten einem Kriminalbeamten, normalerweise zog sie ihr Ding alleine durch. Irgendetwas an dem Jungen gefiel ihr, erinnerte sie an sich selbst vor 30 Jahren. Das plötzliche Glimmen in Sutels scheinbar so kalten grauen Augen verriet ihr, dass ihm ihre Worte etwas bedeuteten. Sie hatte sich nicht in ihm getäuscht. Noch nicht.

*

Im Vorraum fiel die Eingangstür schwer ins Schloss, und hastige Schritte näherten sich dem Sekretariat. In Nathalies Gesicht las Franziska wie in einem offenen Buch – das Mädchen war erbarmungswürdig! Pure Vorfreude wechselte sich mit einer Leidensmiene ab.

»Was zum Teufel heißt: Es ist zu schrecklich, um es per Handy erzählen zu können!« Kurt Thesch stand in der Tür in Erwartung einer Erklärung. Sein Blick fixierte Nathalie, die ihm entgegensprang und damit Franziska die Sicht verstellte.

»Ich bin ja so froh, dass Sie da sind, Herr Doktor!« Franziska traute ihren Augen nicht, hatte sich Nathalie doch tatsächlich in Theschs Arme geworfen – dieser seit Jahr und Tag stille Teenager in den schwarzen Klamotten, der kaum den Mund aufmachte und ständig »Jimmy Eat World« hörte, war völlig entfesselt! Für Theschs Gesicht hätte sie zudem Eintritt verlangen können. Wann sah man schon einen eloquenten, gewitzten Mann vollkommen ausgebremst? Sein Mund stand offen, die Arme hielt er seitlich abgespreizt und seine Augen, so weit aufgerissen wie Notausgänge bei Feueralarm, suchten verzweifelt nach ihrer Unterstützung. Es kostete alle Willenskraft, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen, sondern ihn stattdessen mit großem Ernst und eindeutiger Gestik zur Erwiderung der Umarmung aufzufordern. Franziskas Marionettenfäden sorgten dafür, dass sich männlich starke Arme um Nathalie legten, genau, was das Mädel brauchte und von Franziska nicht bekommen hatte. So war es jedenfalls um vieles besser für die Kleine gelaufen und dazu auch noch ein lang gehegter Traum wahr geworden. Eigentlich war es der jungen Frau nicht zu verdenken, dass sie wenigstens einmal an der Brust dieses stämmigen Jungen liegen wollte, sie selbst hätte nur zu gern durch seinen dunkelblonden Haarschopf wuscheln wollen.

»Ähm, Nathalie, könnten Sie …«, begann Thesch nach einigen langen Sekunden. »Sie wollten mir etwas sagen – erinnern Sie sich – unser Telefonat.« Dabei schob er sie sanft von sich, legte den Arm um ihre Schultern und führte sie zum Sessel. Mithilfe von Augenaufschlägen und Augenbrauenzucken bedeutete er Franziska, ihm zu helfen. Seine Lippen formten ein: »Was ist los?«, als sein Blick auf den Inspektor fiel, der eben vom WC zurückkam.

»Doktor Thesch, nehme ich an. Mein Name ist Inspektor Sutel, Kriminalpolizei. Können wir in Ihrem Büro ungestört sprechen?«

Thesch blickte von Sutel zu Franziska und dann auf das Mädchen in seinem Arm. »Nathalie, kann ich Sie für eine Weile bei Doktor Ferstl lassen? Oder wollen Sie vielleicht nach Hause gehen – ich bin den Rest des Tages hier und kann mich um die Anrufe kümmern.« Wieder blickte er Hilfe suchend zu Franziska.

»Nathalie wollte noch auf Sie warten, Doktor Thesch. Ich denke, Sie können sie beruhigt der Krisenintervention überlassen, sobald die mal auftaucht.«

Sutel verschränkte unter Franziskas Blick die Arme vor der Brust und zog die Lippen kraus. Gut so, hab ein schlechtes Gewissen.

Ein Beben ging durch Nathalie, riss die Aufmerksamkeit auf sich. »Nein!«, stieß sie empört aus, und Thesch zog erschrocken seine Hand von ihren Schultern. Nathalies Rücken wurde kerzengerade, als hätte sie durch Theschs Nähe übernatürliche Kräfte getankt. »Ich halte die Stellung und kümmere mich um alles. Gehen Sie nur mit dem Inspektor, ich bringe Ihnen einen Kaffee, wie immer.«

Von der Bandbreite weiblicher Emotionen erschlagen, trat Thesch die Flucht an. »Hier entlang«, wies er dem Inspektor die Richtung und wandte sich mit Dackelblick zu Franziska. »Bleiben Sie noch?« Dieser Tag war noch lange nicht bewältigt.

»Auf alle Fälle«, bestätigte sie, nicht ohne Hintergedanken.

*

Kein Band und kein Siegel verwehrten ihr den Zutritt zum Tatort, und doch würde der Besprechungsraum von nun an nie mehr unbefangen genutzt werden können. Franziska machte einen ersten Schritt über die Türschwelle und nahm den Geruch von Exkrementen wahr. Eigentlich wollte sie zu den Fenstern hinüberlaufen und für Frischluft sorgen, doch da wurde ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Tanne gelenkt. Entlang der rechten Seite schlängelte sich eine Lichterkette mit kleinen Lämpchen, die andere Seite war schmucklos. Am Wipfel prangte eine Silberspitze. Zwei große Kartons, gefüllt mit Weihnachtsschmuck, standen an der Kaminwand; silberne Girlanden hingen über den Kartonrand, und einige Schachteln der Swarovski-Kristallsternkollektion lagen obenauf. Die Holzkassette mit verschiedensten Miniaturdarstellungen der Krippenszene, Engeln und Glöckchen lag umgestürzt auf der Seite. War Siegfried im Todeskampf dagegen getreten?

Ihr Blick glitt über den winterweißen Wollteppich. Hier hatte Siegfried seinen letzten Atemzug getan. Franziskas Finger strichen, ohne den Teppich zu berühren, über den von der Spurensicherung gekennzeichneten Bereich. Nach Fäkalien stinkend war hier der Mann verreckt, der selbst nach einem 15 Stunden Tag Parfumduft verströmte. Zutiefst angewidert fühlte sie den eigenen Mageninhalt sauer aufstoßen. Sie hielt es nicht länger auf dem Teppich aus, erhob sich, machte die wenigen Schritte zum Fenster, riss es auf, sog frostige Luft ein.

»Das hat sie auch getan, die Samira.« Das zarte Lispeln kam von der Tür. Erschrocken fuhr Franziska herum und sah Nathalie im Türrahmen stehen. Sie stemmte sich gegen den Türstock, versuchte, nicht weiter in den Raum zu treten. »Ich glaube, sie hat erst danach Doktor Fürstenstein entdeckt.« Das Mädchen starrte Franziska an, mied den Blick in Richtung Tanne.

»Es muss ganz entsetzlich für Frau Dinic gewesen sein, Nathalie. Aber dich bewundere ich sehr – bist so viel stärker, als ich dir zugetraut habe.« Franziska wagte nicht, sich zu bewegen. Nathalie erinnerte sie an ein Reh, das aus dem schützenden Wald hinaus in die Lichtung getreten war.

»Samira hat über ihm gelegen und geschluchzt. Das war …« Die Stimme brach mitten im Satz. Franziska wollte nicht, dass die Tränen, die jetzt die Augen des Mädchens füllten, den Damm der Selbstbeherrschung zum Bersten brachten. »Krass.«

»Verstehe«, erwiderte sie mit erhobenen Händen und ging langsam auf Nathalie zu. Schokoladenduft stieg ihr in die Nase, eigenartig beruhigend. Mit linkischer Geste streichelte sie über Nathalies Rücken. »Hat Samira irgendwas Vernünftiges von sich gegeben?«

»Sie wiederholte ständig, wie sehr sie Siegfried geliebt hatte, dass er tot sei und dann …« Nathalie sah über ihre Schulter, als befürchtete sie, jemand könnte sie belauschen.

»Was denn?« Franziska konnte dieses Zögern nicht aushalten, und ihr Griff an Nathalies Schulter wurde fester. Das war vielleicht nicht sonderlich nett, verschaffte Franziska jedoch die neuerliche Aufmerksamkeit des Mädels.

»Sie schrie es – war ein komplett verrückter Tonfall …«

»Um Himmels willen, Nathalie, was hat sie geschrien?« Franziska meinte, vor verhaltener Ungeduld zu zerspringen. Nathalie schob ihr Gesicht näher an Franziskas Ohr.

»Immer und immer wieder«, flüsterte Nathalie ihr ins Ohr. »›Frank hat ihn ermordet!‹«

Franziskas Kopf drehte sich so rasch herum, dass sie mit Nathalie zusammenstieß. »Frank? Unser Maximilian Frank?« Und da wusste Franziska, nichts würde jemals wieder so sein wie vor diesem Montag.

*

Im Vorraum wurden Stimmen laut.

»Vielen Dank, Doktor Thesch«, hörte Franziska Sutel sagen. »Ich werde Maximilian Frank kaum verfehlen, dafür war er zu oft in den Zeitungen. Es wird am Straflandesgericht nicht viele Typen geben, die wie der Schauspieler Sky du Mont aussehen.«

Die Türglocke schrillte.

Franziska schob Nathalie ungeduldig vor sich her, in Richtung Vorzimmer. Zu Sutel und Thesch hatte sich eine weitere Person gesellt, die mit dem Inspektor sprach. Endlich sah sie, was vorging.

»Nathalie Pospischil, das Lehrmädchen«, begann Kurt Thesch, die Anwesenden vorzustellen. »Frau Magister Sonja Pleider von der Krisenintervention.« Die Psychologin streckte Nathalie die Hand entgegen. Franziska entgingen nicht deren wachsamer Blick und kontrolliertes Gebaren. Die Frau war bereits in ihrer Therapeutenrolle und entsprach auch äußerlich den Vorstellungen einer Psychologin. Dezent geschminkt, die Haare in einem Pferdeschwanz zusammengefasst, flache Stiefel und einen olivgrünen Parka.

»Sie können sich in meinem Büro unterhalten«, schlug Franziska den Frauen vor. »Es liegt abseits und ist gemütlich.«

»Ich muss dann auch los«, warf Sutel ein, in der offenen Wohnungstür stehend. »Auf bald, Frau Doktor Ferstl.«

Thesch und sie blieben allein im Vorzimmer übrig. Sie sahen einander an und seufzten gleichzeitig.

»Schöne Scheiße«, begann er und rieb sich über die Stirn.

»Damit haben Sie den Tag tadellos zusammengefasst«, stimmte Franziska ihm zu. Der Anwalt war kaum über 30 und sprühte zumeist vor Charme und Witz, unterhielt alle mit Anekdoten und war zudem auch noch ein guter Jurist. Heute allerdings war seine Heiterkeit versiegt und er wirkte verloren unter dem Kristallluster, inmitten der kühlen Pracht von Seidentapeten und Biedermeierkommoden. Franziskas Gedanken flatterten im Raum wie aufgebrachte Spatzen, kehrten dabei immer wieder zu Max zurück. Sutel würde ihn am Landesgericht abfangen, ehe er in die Kanzlei zurückkehren konnte. So unvorbereitet konnte sie ihn nicht ins Messer laufen lassen.

»Was hat der Inspektor gesagt, was hat er vor?«, fragte sie in die Stille hinein.

»Er will Frank befragen. Klang nach Routine«, bekam sie zur Antwort. Franziska schnappte sich ihre Handtasche, brummte unwirsch und folgte Thesch in sein Zimmer. Ein Schreibtisch, ein altes cognacfarbenes Ledersofa mit zwei Fauteuils, farbenfrohe Bilder an der Wand – der Raum spiegelte Theschs Persönlichkeit perfekt wider. Franziska ließ sich aufs Sofa fallen und begann, ein SMS zu tippen.

»Für Frank?«

Sie nickte und drückte auf Senden. »Habe dem Inspektor bloß versprochen, nicht anzurufen«, zwinkerte sie Thesch zu. »Bei den Verhandlungen hat er das Handy sowieso im Flugmodus.«

»Sutel ist den Umgang mit Ihnen noch nicht gewohnt«, grinste Thesch, und Franziska hob eine Augenbraue, erwiderte aber sein Lächeln.

»Das nehme ich mal als Kompliment. Inspektor Sutel hat keine Handhabe gegen meine Telefonate.«

»Was haben Sie Frank geschrieben?«, fragte Thesch nach. Franziska hielt ihm das Handy entgegen.

Fürstenstein ist ermordet worden. Inspektor Sutel sucht dich gleich auf. Möglicherweise wirst du verdächtigt. Ich halte mit Thesch die Stellung in der Kanzlei. F

»Er sollte nicht unvorbereitet damit konfrontiert werden«, schloss sich Thesch ihrer Meinung ungefragt an. »Hat er Sie auch nach einem Alibi für gestern gefragt? Ich war zum Glück mit Freunden in Graz, damit hat er mich gleich mal von der Liste gestrichen.«

»Ja, hat er. Ich komme ebenfalls nicht infrage.« Nathalies Worte spukten in ihren Gedanken herum. Frank hat ihn ermordet. Himmelherrschaftszeiten – nie und nimmer! Sie kannte Maximilian seit über 30 Jahren – dieser Mann war ein Gentleman durch und durch. Sie hatten gemeinsam studiert, gefeiert und gearbeitet – keiner außer seiner 90-jährigen Mutter kannte ihn besser als sie – also: Max ein Mörder? Das war die Wahnvorstellung einer vom Schmerz umnachteten Irren. Das Licht am Smartphone ging an und »Born to be wild« dröhnte los. »Max?«, meldete sie sich sofort. Seine Stimme tat ihr gut. Sonor, vertraut, kein bisschen aufgeregt.

»Ich nehme an, du scherzt nicht, Mädchen.«

»Kluger Junge. Wir haben hier eine komplett surreale Situation. Frau Dinic ist durchgedreht, nachdem sie Fürstenstein tot gefunden hat. Sie belastet dich.«

»Was?«, rief er durch den Lautsprecher. Franziska hielt das Handy von ihrem schmerzenden Ohr weg.

»Stell dich darauf ein, Max. Und mach dir keine Sorgen wegen Terminen, Thesch und ich haben alles im Griff.«

»Danke, Ziska«, antwortete er knapp, und Franziska bemerkte nun doch ein Vibrieren in seiner Stimme. Wer konnte es ihm verdenken bei einer solchen Nachricht? »Geht es dir halbwegs gut?«, fragte er sie.

Fürsorglicher Max, dachte sie gerührt. Er wusste haargenau, dass sie das Thema Tod beschäftigte. »Alles gut, mach dir keine Gedanken«, beruhigte sie ihn und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme sanft wurde. Das passte so gar nicht zu ihr, es ärgerte sie. »Mach nicht zu lange mit dem Inspektor. Wir sehen uns später, ich warte auf dich.«

»Ist gut. Ich muss wieder in den Verhandlungssaal. Servus, Ziska.«

Franziska warf das Handy zurück in die Tasche und lehnte sich zurück.

Kurt Thesch saß vor dem PC und fixierte den Bildschirm. »Ich habe Fürstensteins Termine gecheckt. Nachdem er heute auf der Tagung sein sollte, haben wir wenigstens keine Verhandlungen versäumt. Morgen und Mittwoch ist auch nichts, Donnerstag kann ich bis auf einen alles übernehmen, Freitag sind zwei offen – Frank könnte den einen am Donnerstag übernehmen, sehe ich gerade, die Freitagtermine muss ich absagen, oder können Sie?«

Franziska nickte. »Geht klar. Schicken Sie mir die Termine an meinen Outlook-Kalender, und die Akten brauche ich auch zur Vorbereitung.«

»Perfekt. Danke, Doktor Ferstl.«

Franziska verdrehte die Augen ob dieser Förmlichkeiten. Wie es aussah, musste sie die nächste Zeit mit anpacken, und für das ganze Frau-Doktor/Herr-Doktor-Geplänkel hatte sie einfach weder Zeit noch Geduld. »Ab jetzt Franziska. Geht das für Sie?«

»Gern. Fühle mich geehrt, Madam«, erwiderte Kurt und deutete eine kleine, charmante Verbeugung an. Er sah tatsächlich geschmeichelt drein, und Franziska musste auflachen. Zwei Zimmer weiter war ein Kollege ermordet worden, und sie lachte. Scheiße auch. »Ich könnte einen Schluck zur Stärkung vertragen«, fuhr Kurt im munteren Plauderton fort. »Meine Nerven beginnen zu flattern.«

»Bin dabei«, erwiderte Franziska und bemerkte, wie ihr eigenes Nervenkostüm Risse bekam. Kurt Thesch stellte zwei Whiskeygläser auf den Couchtisch und goss Bourbon ein. In Franziska breitete sich eine Leere aus, die sie für besiegt gehalten hatte. Sie griff nach dem Whiskey.

»Kurt, eins musst du unbedingt wissen«, begann sie, während die Gläser gegeneinander stießen. Der Bourbon brannte seine feurige Spur bis in den Magen hinab. Sie bemühte sich, ihre Stimme fest und überzeugend klingen zu lassen, wehrte die Gravitationskräfte des Schicksals entschieden ab. »Der Tag, an dem du mich ›Franzi‹ nennst, wird der Letzte sein, an dem du mit tiefer Stimme sprechen konntest. Wir verstehen uns?«

Kurt grinste übers ganze Gesicht. »Habe schon davon gehört. Keine Sorge, es bleibt bei Franziska.«

*

Nach einigen Stunden des Aktenstudiums hatte Franziska die Nase voll vom Warten. Nathalie war längst bei ihren Eltern, welche bei Franziska in hellem Aufruhr angerufen hatten, um ihr immenses Entsetzen bei irgendjemandem abzuladen. Fast kam es ihr vor, als wollten diese beiden Glucken – ja, auch der Vater war mehr Huhn als Hahn – ihr die Schuld an dem Mord und der sich daraus ergebenden negativen Erfahrung für ihr heiß geliebtes, einziges Kind geben.

»Der arme Max wird sich was anhören können«, murmelte sie und warf einen Blick auf das Handydisplay. 18.00 Uhr und keine Nachricht von Max – er war weder aufgetaucht noch hatte er sich telefonisch gemeldet. Franziska griff nach ihrem Handy und tippte ein SMS ein. Bin dann unterwegs – Thesch ist noch da. Melde dich. F

Am Ring entlangzuschlendern war im Sommer ein Vergnügen, bei den frostigen Temperaturen, die derzeit vorherrschten, wurde der Weg Richtung U-Bahn-Station Landstraße zur Nordpolexpedition im Kampf gegen die Naturgewalten. Wenngleich kein Schneegestöber, war es ein durchaus als bösartig zu bezeichnender Wind, der ihr über den breiten Boulevard entgegenfegte, sich einer Kreissäge gleich durch alle Kleidungsschichten biss, und ihr Tränen in die Augen trieb. Immerhin vertrieb die Vielzahl an Lichterketten an Lokalportalen, in Baumkronen und Oberleitungen über der Fahrbahn ein Stück der Dunkelheit und verhalf Franziska zu einer halbwegs erträglichen Gemütslage. Wobei – Lichterketten? Verdammt nochmal, wenn sie nur das Gedankenringelspiel abstellen könnte! Weder an Siegfried wollte sie denken noch an seine Frau Hannelore, die mittlerweile wohl von einem fremden Menschen aus den Reihen der Polizei erfahren hatte, dass ihr Mann nie wieder heimkehren, nie wieder sie oder die drei Kinder in den Arm nehmen würde. Hannelore anzurufen wäre ein netter Zug gewesen – allerdings vermutete Franziska, dass diese im Augenblick auf ihre Beileidsbekundungen verzichten konnte. Was für Probleme schlugen über diese zarte Frau herein, so unerwartet und unvorstellbar … Franziska ging den Stadtpark entlang und sah die Fürstin vor sich auf ihrem Anwesen in Niederösterreich, vielleicht im Kreise ihrer Eltern und Kinder, blass und ungläubig, womöglich mit einem Funken Hoffnung, dass das alles bloß ein Albtraum war, aus dem sie in Kürze erwachen würde. »Ich rufe in ein, zwei Tagen an«, murmelte sie in eine Windböe. Selbst wenn sie einander nie besonders sympathisch gewesen waren und keinerlei Kontakt gepflegt hatten, abgesehen vom traditionellen Weihnachtsdinner aller Partner mit Anhang und den obligatorischen Feiern zu runden Geburtstagen, zumindest das verlangte die Höflichkeit.

Zufrieden mit ihrem Entschluss ließ Franziska dieses eine Mal die Buchhandlung vor dem Abgang zur Station Landstraße unbeachtet und lief die Treppe abwärts. Warme Luft strömte ihr aus dem Tunnelsystem entgegen und ließ die Wangen prickeln. Jetzt erst merkte sie ihre hochgezogenen Schultern, lockerte den Schal um ihren Hals und richtete sich auf. Daheim warteten Heimtrainer und eine Power-Yoga-DVD auf ihren Einsatz. Eine physische Sehnsucht erfasste sie nach der Matte am Boden, dem Sitzkissen und den Anweisungen der Yogatrainerin. Eineinhalb Stunden vollkommen in der Körperlichkeit aufgehen, ohne quälende Gedanken und Grübeleien. Dreimal die Woche war sie im Fitnessstudio zum Training, einmal Selbstverteidigungskurs, und die restlichen drei Tage wurde daheim trainiert, beziehungsweise ein Lauf absolviert. Das war besser als jede andere Therapie, das war ihr Weg zurück, und wenn sie sich etwas vornahm, gab es keine Widrigkeit, die sie von ihrem Ziel abhalten konnte.

Ich habe diese eine Chance, ich nutze sie, wiederholte Franziska ihr Mantra.

»Born to be wild« tönte aus der Handtasche. Die Fahrgäste des halben U-Bahn-Waggons drehten sich zu ihr um, der junge Mann gegenüber lächelte amüsiert, die alte Frau rechts vorne gaffte sie zuerst an, nur um sich mit einem demonstrativen Kopfschütteln von ihr abzuwenden. Alte Frau? Die war höchstens fünf Jahre älter als sie selbst! Franziska grinste und nahm das Gespräch an, erleichtert, dass sie Max’ Namen am Display gelesen hatte.

»Hey Max, bist du gleich nach Hause zu Herd und Ross?«, fragte sie, ohne seine Wortmeldung abzuwarten, mit der vertrauten Stichelei. Biancas Gestüt war der Mittelpunkt des fränkischen Universums.

»Franziska«, begann er, und ihr fuhr ein Stich durch den Solarplexus. Das letzte Mal, als er sie mit ganzem Vornamen angesprochen hatte, folgte eine ellenlange Ausführung über seinen Beziehungsstatus, die in der Verkündung des Hochzeitstermins mit Bianca mündete. Natürlich konnte Franziska die männliche Logik dahinter verstehen: Bianca war eine wunderschöne junge Frau, geschäftstüchtig und schlau. Selbst an dem enormen Altersunterschied von 29 Jahren hätte sie sich nicht gestört, wäre es nicht derart offensichtlich gewesen, dass Bianca dringend einen Sponsor für ihre Pferde brauchte und Max der Idiot war, der sein ganzes Geld in »Leberkäse auf vier Beinen« stecken sollte.

»Max, wo bist du?«

»In Verwahrungshaft. Haben mich gar nicht mehr gehen lassen.« Die Worte kamen abgehackt durch das Handy, gedämpft durch die banalen Geräusche der Menschen ringsum. In Franziskas Kopf surrte es. Hatte sie richtig gehört? Mit zusammengekniffenen Augen fixierte sie die beiden Gören schräg gegenüber, die pubertär kicherten. Am liebsten hätte sie lauthals losgeschrien, dass alle im Zug die Klappe halten und weiter in ihre dämlichen Handys starren sollten, um den Facebook-Status zu checken.

»Die können dich doch nicht einbuchten!«, raunte sie und hatte jetzt immerhin die Aufmerksamkeit der umsitzenden Passagiere. »Ich komme sofort zu dir …«

»Nein. Hör zu, du nimmst morgen Akteneinsicht. Check die Aussage von Friederike Hohenfellner …«

»Was hat die alte Hexe jetzt schon wieder behauptet?«, unterbrach Franziska. An ihrer Schläfe pochte eine Ader, das konnte sie deutlich spüren. Vermutlich lag ihr Blutdruck im Supergaubereich.

»Mich am Sonntag gesehen zu haben.«

»Max!«

»Aber ich bin viel früher gegangen, als sie behauptet. Sprich mit Bianca, sie kann bestätigen, dass ich um 15.40 Uhr daheim war. Kapiert? Als Erstes Bianca. Erkläre ihr alles. Ich muss Schluss machen. Bis morgen, Franziska. Hol mich raus, hörst du?«

Franziska schluckte, starrte das Handy an. Max im Gefängnis. Verdammte Scheiße. Max hatte ihr den Auftrag mit Bianca nicht von ungefähr erteilt, irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Wenn er es selbst nicht geschafft hatte, die Haft abzuwenden, saß er ernsthaft in der Klemme. Das Schild der Station Unter-Sankt-Veit zog an ihrem Fenster vorüber, dann hielt der Zug an. Franziska verließ die U-Bahn, überquerte die zweispurig befahrene Wientalstraße und rannte den ganzen restlichen Weg bis zu ihrem Wohnhaus. Die untere Etage der Villa mit Parkanlage bewohnte sie nun seit 30 Jahren und hatte es nicht übers Herz gebracht, die Räume für die Zeit ihrer Frankreichreise unterzuvermieten. Lieber würde sie ihrem Neffen Leo den Schlüssel überlassen, als Fremde darin wohnen zu sehen. Diesmal ging sie jedoch nicht durch den Park zum Haus, sondern öffnete das Garagentor. Der Platz, an dem früher ihr Wagen gestanden hatte, war bis auf einen Ölfleck am Boden völlig verwaist.

»Rosinante.« Franziska hatte nur Augen für ihre Harley, den hochglanzpolierten Tank, der an geschliffene Granat-Steine erinnerte, die blankpolierten Chromteile. Ihr Motorradfahrerherz schlug bei diesem Anblick verlässlich höher. Diesmal hielt sie sich aber nicht mit einer Inspektion ihres Babys auf. Hastig legte sie den Parka ab, holte einen Motorradoverall aus dem Schrank in der hintersten Ecke der Garage, und schlüpfte in die von Kälte steife Montur. In die Brusttasche kamen Fahrzeugpapiere, Geld und Handy, dann zog sie eine Helmmütze über und drückte den Sturzhelm auf ihr Haupt. Mit einem Ruck war die Harley vom Ständer gehievt, aus der Garage geführt und das Tor versperrt. Gemächlich ließ Franziska den Motor an, für diesen Augenblick unterbrach sie ihr zielstrebiges Handeln und genoss den satten Klang der Maschine, das Vibrieren des Metalls, fühlte nach, wie es sich auf ihren Körper übertrug und aufforderte, den ersten Gang einzulegen, um endlich mit tiefem Bass davonbrausen zu können. Ja, Rosinante, wir fahren nach Wolfsgraben und sehen nach dem Rechten, flüsterte sie in Gedanken ihrer Harley zu. Es war Franziska bewusst, wie albern ihr Verhältnis zu der Maschine für Außenstehende wirken mochte – für jene, die selbst keine Harley besaßen. Dieses Baby sorgte dafür, dass sie sich wie Don Quijote fühlte, das Leben selbst spürte, und genau das hatte ihr in Krisenzeiten das Durchhalten ermöglicht.

»Sehen wir mal, was Bianca für einen Mist gebaut hat«, sprach Franziska in den dumpfen Raum ihres Helms und zog Handschuhe über. 260 Kilo Metall lehnten sich schwer gegen die Innenseite ihres Beins. Der erste Gang glitt mit einem Ruck an seinen Platz, die Maschine nahm Gas an und entfesselte die Kraft von 70 Pferdestärken unter ihrem Gesäß.

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