Diabolische List - Petra K. Gungl - E-Book

Diabolische List E-Book

Petra K. Gungl

4,4

Beschreibung

Mit teuflischer List werden am Wiener Institut für künstliche Befruchtung Menschen ermordet, um den systematischen Missbrauch von In-vitro-Embryonen zu vertuschen. Die Juristin Agnes Feder gerät bei ihren Nachforschungen selbst in Gefahr. Als mystische Träume Agnes’ Erinnerung an ein vergangenes Leben wachrufen, erkennt sie die Verstrickungen ihrer beiden Existenzen. Die einstigen Feinde bedrohen sie erneut und die junge Frau muss sich den Mördern aus dem früheren Leben stellen …

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Petra K. Gungl

Diabolische List

Roman

Impressum

Personen, Handlung und Unternehmen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen,

tatsächlichen Begebenheiten und Firmen sind rein zufällig

und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © stevart – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4422-7

Widmung

Für Johannes

Prolog

Zu einer Zeit, als alles noch EINS war und es Zeit nicht gab, wollte EINS sich selbst erfahren. So entstand ZWEI – das Helle und das Dunkle, das Weibliche und das Männliche, Gut und Böse, Vergangenheit und Zukunft; so entstanden das Leben, der Tod, die DREI und die zehntausend Dinge, alle aus EINS.

Die Trennung ließ sie die EINSHEIT vergessen. Fühlende Wesen wurden individuell und einsam, sie urteilten und richteten einander, trennten, was zusammengehörte. Die Zeit floss dahin, weg von der Quelle des Seins. Doch ein Sehnen erwachte in manch einer Seele. Erinnerungen tauchten auf. Gaben dem Sehnen einen Namen. Tao. Nirwana. Gott.

Nur wenige fanden den Weg zurück, und manche der fühlenden Wesen konnten anderen den Weg andeuten, wenngleich er nur aus eigenem Erleben zu finden war. Allzu oft wurden die Andeutungen missbräuchlich verwendet und viele Suchende gingen in die Irre. Doch das Bedürfnis nach dem Ursprung konnte ihnen nicht genommen werden und im Laufe von Äonen wurde die Welle erkennender Seelen breiter.

Ein neues Zeitalter beginnt.

Die Seelen erwachen aus dem Traum der Trennung und kehren heim, selbst wenn sie bis zum Ende aller Tage auf der Suche sind, getrieben von der großen Sehnsucht nach sich selbst.

Sie werden erkennen, dass es nichts zu suchen und nichts zu finden gibt, dass kein Weg zur EINSHEIT führt.

Die EINSHEIT war immer schon da.

Bereit fürdich.

1. Kapitel

Ulrich Wach saß an seinem Schreibtisch, den Kopf auf die eine Hand gestützt, die andere kritzelte Stichworte auf ein Blatt Papier. Es waren lediglich Anhaltspunkte für seinen großen Auftritt vor der Geschäftsführung … morgen schon.

Gründlich aufräumen, Köpfe rollen lassen, dann herrscht wieder Ordnung.

Ein letztes Mal ging er die Punkte durch, schließlich schob er die Notizen in einen Ordner und stellte diesen zurück ins Regal. Sein Blick blieb starr auf den Rücken des Ordners gerichtet. Das würde einen mächtigen Aufruhr verursachen. Die Geschäftsführung musste darauf reagieren. Und wenn nicht, gab es Freunde bei der Presse. Die Journaille würde den Brocken dankbar fressen, die Firma zerfleischen.

Ist es das wert?

Ein Seufzer löste sich aus seiner Brust. BabyStar war sein Zuhause. Das einzige, das er kannte. Sein Zuhause musste man sauber halten. Und er hatte es im Guten versucht, unter vier Augen sozusagen. Das Resultat war erbärmlich gewesen. Ignoranz und Arroganz waren ihm entgegengeschlagen.

Den Forschern von heute fehlt jede Demut vor dem Leben.

Solang er der Leiter des Bereichs Künstliche Befruchtung war, musste er diesen Respekt einfordern. Es stand ihm nicht nur zu, es war seine moralische Pflicht. Sein Ruf in der Fachwelt war ausgezeichnet, er genoss mit seinen 55 Jahren höchstes Ansehen. Wach griff sich ans Herz. Die ganze Affäre in seinem Bereich regte ihn über Gebühr auf und er mahnte sich zur Besonnenheit. Ein schwaches Herz musste gepflegt werden. Höchste Zeit, Ordnung zu schaffen, frei für die eigentlichen Aufgaben zu werden.

Seine Finger strichen über die Stirnglatze. Tief durchatmen.

Zufrieden klopfte er sich auf den Bauch, der seit seinem Herzanfall gut zehn Kilo flacher geworden war. Heute war sein Körper wieder in Form. Wohl hatte das jahrelange Rauchen Spuren hinterlassen, jedoch besaß Ulrich Wach trotz allem eine starke Konstitution.

Sein Leben war der Medizin geweiht; keine Frau, schon gar nicht Kinder hätten ihm das geben können, was er in der Welt der Zellen und der Biochemie gefunden hatte. Zumindest hatte er sich das niemals vorstellen können. Seine überambitionierten Kolleginnen reichten ihm vollauf. Wach schmunzelte über sich selbst. Kolleginnen nannte er diese Karriereweiber schon. Für Wäsche und Wohnung sorgte eine gut bezahlte Haushaltshilfe, die gegebenenfalls Besorgungen erledigte und sich jeglicher Kommentare zu seiner Person enthielt. Hin und wieder gönnte er sich ein erotisches Abenteuer mit klaren finanziellen Abmachungen. Das nannte er ein gelungenes, gut strukturiertes Leben. Und auch diese verbrecherischen Umtriebe in seiner Firma würden bald Vergangenheit sein.

Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es wieder spät geworden war, ein Zwölf-Stunden-Arbeitstag neigte sich dem Ende zu. Am Gang waren keine Mitarbeiter mehr zu hören. Wieder mal der Letzte, der die Forschungslabors verließ. Ein weiterer Tag an Mikroskop und Computerbildschirm vorüber. Jetzt noch Herz-Kreislauf-Training – ein flotter Marsch nach Hause. Der Belastung durch Kälte vorbeugend, ein Sprühstoß Nitro unter die Zunge.

Eben hatte Wach das Fläschchen zurück in den Medizinschrank gestellt und seine Daunenjacke übergezogen, als ihn ein eigenartiges Gefühl beschlich. Eine kalte Leere im Kopf und schwirrende, graue Schleier vor den Augen ließen ihn nach der Sessellehne greifen. Der Arzt in ihm beobachtete erstaunt die Symptome, zu denen nun auch ein stark erhöhter Puls kam. Massive Erweiterung der Blutgefäße. Herzflimmern?

Sein Zustand verschlechterte sich mit jeder Sekunde und der Arzt in ihm wurde von einem hilflosen Menschen abgelöst, der Todesangst litt. Kalter Schweiß stand auf Wachs Stirn. Schon überkam ihn die Schwärze einer drohenden Ohnmacht. Stöhnend ließ er sich in den Sessel fallen, zwang sich dazu, durchzuatmen. Was war bloß mit ihm los? Er vertrug das Nitro immer tadellos …, wieso sackte der Kreislauf derart in den Keller? Unerklärlich. Enge in der Brust, keine Luft …

Mein Herz … das Fenster … kalte Luft …

Er konnte nicht aufstehen … Was geschah mit ihm?

In seinem Kopf überschlugen sich Theorien – da gab es eine Kontraindikation mit Nitro, die genau diese Wirkung haben würde. Unmöglich – er war Arzt und vermied jedes Risiko. Die blaue Tablette hatte er vorgestern Abend geschluckt. Ein ausreichender Abstand. Wach verstand die Welt nicht mehr, begriff bloß, dass keine Zeit mehr blieb. Im schalen Tunnel der drohenden Besinnungslosigkeit gefangen, tasteten seine Finger nach dem Kugelschreiber, der ordnungsgemäß am Rand der Tischplatte lag. Der Stift war gewichtslos, die Finger gefühllos. War er tatsächlich zwischen den Fingerkuppen eingeklemmt? Sein Blick verschwamm. Eine blassblaue Spur zeichnete sich auf dem Papier der Schreibtischunterlage ab. Der letzte Buchstabe des einzigen Wortes, das hingehaucht dastand, war eine Linie in den Abgrund.

*

Am nächsten Morgen lief eine Putzfrau schreiend den Gang im ersten Stockwerk des BabyStar-Gebäudes entlang. Der Schwall türkischsprachiger Schreckensbezeugungen wurde sogleich von ihren Kolleginnen mit ebenso aufgeregten Worten übernommen. Gemeinsam stürzten die Frauen in das Zimmer des ärztlichen Bereichsleiters und drängten mit ängstlicher Neugierde an den Schreibtisch.

Dr. Ulrich Wach lag ausgestreckt am Boden, der Chefsessel an die Wand gedrängt. Die Augen stierten zur Decke, der Körper war längst erkaltet. Ein Kugelschreiber lag neben seiner Hand.

2. Kapitel

»Du kannst nicht so einfach gehen … Nach all den Jahren bist du mir eine Chance schuldig! Komm sofort zurück – AGNES! AGNES!« Die Männerstimme überschlug sich. Seine Schreie bohrten sich in den Rücken der Frau vor ihm, peitschten sie voran. Sie fürchtete diesen Mann, den sie vier Jahre zu lieben versucht hatte und nun endlich verließ. Er war einige Meter hinter ihr, doch sie fühlte seine physische Präsenz, als hätte er sie bereits gepackt. Sein Gesicht war unrasiert und die grauen Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Der Bürstenhaarschnitt gab ihm das Aussehen eines amerikanischen Soldaten, groß, hart und unerbittlich. Trotz des Windes, der Schneekristalle wie Glassplitter vor sich hertrieb, hatte Norman keine Jacke übergezogen, war nur in die schweren Doc Martens gestiegen und stapfte wütend den Gartenweg hinter Agnes her. Der Eiswind zerrte an seinem Flanellhemd und ließ seinen Unmut über diese Situation noch mehr anschwellen.

Agnes hatte Norman als hilfsbereiten Menschen kennengelernt, trotz seiner kalten Augen. Die andere Seite seines Wesens. Ein Jahr des Zusammenlebens war genug der Ahnung darüber.

Ein erfolgreicher Kriminalinspektor, das war Norman. Kamen Kollegen zu Besuch, scherzten sie gern, dass dies wohl an seinen Verhörmethoden liegen müsse. Norman lächelte stets über solche Aussagen, als wären sie Komplimente. Agnes kannte die Tricks, wie man, ohne blaue Flecke oder Wunden zu hinterlassen, Täter geständig machen konnte. Ob Norman das tat? Zu nassen Handtüchern oder Plastiksäcken griff? Hatte er niemals zugegeben.

Immer auf der Hut sein, Kleines.

Norman liebte es, Verdächtige auf frischer Tat zu betreten, wie er es nannte. Agnes wusste das. Blutspritzer aus Diensthemden zu entfernen, war nicht einfach. Fragen stellen, war nicht gesund. Eine besondere Behandlung ließ er Kinderschändern zukommen, denn eine Gefängnisstrafe war nach seinem Gerechtigkeitssinn für die zu wenig. In seinen Augen glänzte Befriedigung, wenn er davon sprach.

Spezialbehandlung für Schweine.

Und sie hasste sich für die Genugtuung, die sie bei dem Gedanken empfand, dass solche Ungeheuer wenigstens einmal die Gewalt zu spüren bekamen, die sie wehrlosen Kindern antaten, selbst wenn die Männer daraus nichts lernen würden und die Prügel nichts an deren Neigung änderten. Sie, eine Juristin, dem Gesetz verpflichtet, war um nichts besser.

Normans Gewalttätigkeit war stets latent spürbar gewesen. »Wenn dich ein anderer Kerl angreift, hack ich ihm die Hände ab!«, war eine Standardfloskel. Aggressionshaushalt: explosiv. Geriet Norman in Wut, flogen schon mal Gläser gegen die Wand oder er packte Agnes so fest an den Armen, dass seine Fingerabdrücke noch Stunden zu sehen waren. Dann verschwand er in den Dienst und brachte am nächsten Morgen Blumen.

Ausgebrannt durch unzählige Nachtdienste, Überstunden und eine fanatische Hingabe zum Beruf, wurde das Zusammenleben immer mehr zur Qual. In Normans Vorstellung gab es bloß noch Verbrecher oder potenzielle Verbrecher. Aus Angst vor Racheakten lagerte eine beachtliche Waffensammlung im Wohnzimmerschrank und Agnes war unter Normans Anleitung eine geübte Pistolenschützin geworden. Im Ernstfall sollte sie sich mit ihm gemeinsam verteidigen können.

Vor zwei Wochen hatte sie entdeckt, dass Norman Antidepressiva einnahm, die letzte Möglichkeit, sein Burn-out-Syndrom zu unterdrücken. Tatsächlich war er verträglicher als sonst gewesen – ihre Chance, den Absprung zu wagen. Wer konnte wissen, wie lang dieser Frieden anhielt? Bislang hatte Agnes das Risiko gescheut. Norman war vom Brüllen bis zum Zuschlagen alles zuzutrauen. Schusswaffen und Munition waren in ausreichender Menge im Haus gelagert, um ein Dorf auszuradieren. Gewiss, eine Kugel genügte, er würde treffen. Todsicher. Trotzdem wollte sie diesem Irrsinn entfliehen. Der Plan war, so zu tun, als wollte sie eine Beziehungspause einlegen, um dann nach einer angemessenen Abkühlphase endgültig Schluss zu machen. Zeit gewinnen.

Er hatte sie nun beinahe eingeholt. Angst kroch an ihr Herz. Eine Windböe wehte ihr das Haar vors Gesicht, doch sie strich die dunklen Strähnen nicht zurück, als wäre jede Geste, die der Flucht nicht dienlich war, Zeitverschwendung. Eilig öffnete sie das schmiedeeiserne Gartentor und trat hinaus auf die Straße. Glitt fast am Eis aus. Keine Fußgänger zu sehen, nicht einmal die Hunde der Gartensiedlung stimmten ihr übliches Kläffkonzert an. Dreckige Schneehaufen lagen am Fahrbahnrand, dazwischen eingekeilt standen Autos, von einer Schneedecke verhüllt. Es waren nur noch wenige Schritte bis zu ihrem Wagen.

»Wohin fährst du jetzt? Zu deinem Vater?«, rief er ihr zu. Viel zu nahe. »Bleib stehen, wir müssen reden!« Seine Stimme vibrierte aggressiv. Sie wagte nicht, sich umzuwenden. Zum Auto. Schnell. Nicht reden. Reden? Trotz der Angst hätte Agnes am liebsten lauthals über Normans Worte gelacht – reden wollte er mit ihr. Noch eine Chance wollte er haben. Seit Monaten, ach was, seit Jahren versuchte sie, mit ihm zu reden, ihm klarzumachen, dass es so nicht weitergehen konnte. Er hatte sein Junggesellenleben weiterlaufen lassen. Seine Zeit gehörte dem Beruf und die spärliche Freizeit der Couch vor dem Fernseher. Da gab es keine Kompromisse. Die wenigen Freunde waren allesamt Kollegen. Agnes’ Freunde mochte Norman nicht, an jedem fand er einen Makel, ein kriminelles Geheimnis, und sei es nur Ehebruch. Allein war sie zu Geburtstagsfeiern, Silvesterpartys und Einladungen gegangen, hatte die Nachfragen zu seinem Verbleib mit Ausreden quittiert und die mitleidigen Blicke ignoriert. Warum war sie bei ihm geblieben?

Ich hatte viel zu tun. Eine Ausrede? Das Studium war hart gewesen, auf das Tanzen und Malen musste sie dank Normans Arbeitswut nicht verzichten. Und zugegeben – sein Leben klang aufregend gefährlich, ein Held im Kampf gegen das Böse – war da ihr Verzicht auf gemeinsame Zeit nicht ein verdienstvoller Beitrag?

Kindskopf.

Die große Veränderung kam mit dem Zusammenleben. Die Hausarbeit blieb gänzlich an ihr hängen. Ihre Arbeit war zweitrangig – nein, weniger als das. Juristen waren das Letzte für Norman: Polizeijuristen nach seiner Ansicht völlig überfordert, Anwälte allesamt Huren und Richter ließen mühsam eingefangene Verbrecher wieder laufen. Mit ihrem akademischen Titel kam er definitiv nicht klar.

Eine tiefe Sprachlosigkeit hatte sich zwischen ihnen entwickelt, die Agnes einsam und bitter werden ließ. »In anderen Beziehungen läuft es genauso«, reagierte Norman auf die immer seltener werdenden Rettungsversuche von Agnes. Ein ständiger Konkurrenz- und Machtkampf, der alle Energie aus dem Leib saugte und die Partner hohl und leer zurückließ.

Warum war sie bei ihm geblieben?

Der Wind fauchte Agnes an, holte sie aus der Erinnerung. Ihn einmal richtig anbrüllen. Ohne Angst vor den Konsequenzen. Aber das ging nicht, nicht jetzt. Kühlen Kopf bewahren … freundlich sein … weitergehen … ein paar Meter noch. Um eine feste Stimme bemüht, suchte sie nach den richtigen Worten.

»Ruf mich bei Paps an, okay? Die nächsten Wochen muss ich allein sein. Abstand und Ruhe, ich hab’s dir erklärt.« Sie sah sich nicht um, ging immer weiter. Hob die Hand zum Abschied, öffnete die Wagentür, warf die Reisetasche und ihren Rucksack auf den Beifahrersitz. Im Einsteigen klopfte sie Schnee von den Stiefeln, schlug die Tür zu und stieß den Riegel hinein. Schlüssel ins Zündschloss; die Lenkradsperre klemmte, gab nicht nach, wie sehr sie auch am Lenkrad riss. Dann, endlich, freie Räder. Den Zündschlüssel im Schloss drehend, betete sie um das Wunder, dass der Motor dieses eine Mal sofort anspringen würde. Natürlich nicht – keine Wunder auf Bestellung. Der Starter heulte wie immer gequält vor sich hin.

»Spring an, komm schon … ich schwöre, eine neue Batterie zu kaufen … bitte … bevor er mich aus dem Auto zerrt … wo ist er?«, gehetzt blickte sie in den Rückspiegel, pumpte das Gaspedal. »Knarre holen?«

»AGNES!«

Sie zuckte zusammen. Er stand direkt neben ihr, zog am Türgriff. Gedämpft drang sein Schreien ins Wageninnere. Schon schlug er mit der Faust gegen die Scheibe.

»Mach sofort auf! Was soll das? Aufmachen!« Fäuste hagelten gegen die Seitenscheibe und sein Brüllen betäubte ihre Sinne. Das Glas ächzte unter dem Tritt des Stiefels.

Weg hier.

Der Motor jaulte. Der bringt mich um, schoss es ihr durch den Kopf, als das Seitenfenster unter einem weiteren Fußtritt knackte. Im nächsten Moment kam das erlösende Geräusch aus der Motorhaube und sie rammte den Retourgang hinein. Gleich den Ersten. Über eine Schneewechte mit durchdrehenden Reifen. Sie fetzten Schnee gegen Norman, sodass er zur Seite wich. Im Rückspiegel wurde Norman kleiner, stand unbewegt auf der Straße, ungläubig, dass sie tatsächlich gegangen war.

*

Agnes Feder stand zwischen Koffern, Reisetaschen und Papiertüten, die den gesamten Boden des kleinen Vorzimmers bedeckten. Drei Türen führten von hier zu den Zimmern des Hauses und am Ende des Ganges befand sich eine schmale, steile Treppe. Wie eine Fremde sah sich Agnes um. Alle Kraft hatte sie verlassen, Mut und Kampfgeist waren erloschen, die Arme hingen müde herunter und wollten die Last nicht mehr tragen. Achtlos glitt der Rucksack aus ihrer Hand zu Boden. Im Spiegel der Garderobe betrachtete sie die erschöpfte Frau, die ihr entgegenblickte.

Und jetzt?, fragte sie sich. Da war noch ein anderes Frauenbild.

Großmutter.

Das Porträt hing an der Wand hinter ihr. Eng geschnürt, gekleidet in der Mode der Jahrhundertwende, ruhte Großmutters strenger Blick auf Agnes. Die Haltung ihrer Ahnin brachte Agnes unwillkürlich dazu, die Schultern zurückzuziehen und sich aufzurichten. Großmutters Blick wirkte zufrieden.

»Agnes, da bist du ja endlich!« Eine Frauenstimme ließ Agnes herumwirbeln. »Ich war schon ganz unruhig, weil du so lang weggeblieben bist.«

»Theres.« Hinter Theres eröffnete sich der Blick in die Küche.

»Liebes, komm erst mal herein, hier im Vorzimmer ist es eiskalt. Das ganze Haus ist ausgefroren. Ich habe Tee gemacht. Danach geht es dir gleich wieder besser. Ganz blass bist du.« Theres nahm Agnes in die Arme, drückte sie und zog sie sogleich in die Wohnküche. »Ich hätte dich nicht noch einmal zurückfahren lassen dürfen, war doch klar, dass er um diese Zeit heimkommen würde. Wenn er dir etwas angetan hätte«, plapperte sie aufgeregt vor sich hin, »mein Gott, ich darf gar nicht daran denken.«

Der Tisch war gedeckt, die Teekanne stand auf einem Stövchen und daneben ein Teller mit den letzten Weihnachtskeksen. Zimt-, Nelken- und Holzgeruch lagen in der Luft. Im Bauernherd knisterte ein Feuer, dessen Wärme den Raum erfüllte. Das Knacksen der Holzscheite flüsterte: Du bist daheim. Agnes sank auf den nächsten Sessel und atmete tief durch. Theres ihr gegenüber machte immer noch ein besorgtes Gesicht. Dankbar musterte Agnes das vertraute Antlitz der Freundin, den ordentlich geschnittenen Pagenkopf, die freundlichen Augen.

»Hauptsache, vorbei«, beruhigte sich Theres.

»Ich bin weg von ihm und lebe noch«, bestätigte Agnes und ihre Hand legte sich unwillkürlich über die Kehle. »Irgendwann wäre ich sowieso mit Norman zusammengekracht.«

»Die Geschichte mit der Beziehungspause hat gewirkt?«

»Funktioniert … noch. Er wird mich zurückwollen.«

»Hast Angst?«, fragte Theres leise und Agnes nickte, die Augen starr auf den Boden gerichtet.

»Steckt in jedem Knochen. Wenn er erst mal mitbekommt, dass Schluss ist …« Ein Frösteln durchzitterte sie.

»Denk jetzt nicht daran. Einen Schritt nach dem anderen.«

»Okay.«

»Du hast immer Rücksicht genommen – einmal war er krank, dann wieder gestresst oder sonst durchgedreht. Ich konnte gar nicht verstehen, wie du das aushältst.« Theres schüttelte den Kopf, goss Tee ein, gab einen Löffel Rohrzucker in jede Tasse, fügte Milch hinzu und rührte um.

»Danke.« Agnes nahm die Teetasse aus Theres’ Händen entgegen und sah zu, wie diese es sich mit der anderen Tasse bequem machte. »Du bist ein Schatz, Theres.« Die Freundin winkte ab und nippte am Tee. »Was hätte ich ohne deine Hilfe gemacht?«, versuchte Agnes, ihre Dankbarkeit in Worte zu fassen. »In deinen Lieferwagen haben meine ganzen Sachen gepasst. Wenn ich bloß nicht die Tasche mit den Schuhen vergessen hätte.« Der Gedanke an ihre Flucht ließ die Angst anschwellen.

»Bei dem Stress – da mach dir mal keine Vorwürfe.«

»Er wird nicht aufgeben.« Agnes’ Kehle verengte sich, der Magen ballte sich zu einer Faust. Rasch was anderes denken. »Ist die Heizung im Schlafzimmer an? Sonst erfriere ich heute Nacht.« Atmen. Die Lungen gaben die gestaute Luft frei. Agnes lehnte sich zurück.

»Ja, alles erledigt.« Theres blickte sich in der alten Küche um. »Wirst du zurechtkommen? Ist nicht sehr komfortabel, das Gartenhäuschen. Warum gehst du nicht zu deinem Vater? Du wärst nicht so allein.«

»Kommt nicht infrage.«

Die Lehne im Rücken gab Halt. So wie der Tee, der die Kehle hinabrann.

Tee wärmt nicht nur Hals und Bauch.

Allmählich beruhigte sich ihr Nervensystem. Der Raum war still, nur das Feuer knisterte und von draußen drang das Rufen der Saatkrähen herein. Agnes schloss die Augen für einen Augenblick. Haltung bewahren. Als sie wieder aufblickte, konnte sie fast lächeln.

»Du weißt, wie Paps ist. Er würde innerhalb weniger Tage mein Leben kontrollieren wollen. Werde immer sein kleines Mädchen bleiben. Mit meinen fast 30 Jahren keine erquickliche Aussicht.« Theres lachte auf und Agnes stimmte kurz mit ein. »Am Riederberg habe ich es friedlich. In die Stadt ist es nicht weit, mit einer neuen Batterie wird es meine Karre noch eine Weile schaffen. Und Norman wird mich hier nicht vermuten.«

»Aber das Haus ist …«, Theres rang nach Worten, »…eine Bruchbude«, schloss sie vorsichtig an.

»Okay. Seit Mutters Tod habe ich nichts renoviert. Aber Paps hat dafür gesorgt, dass es von der Substanz her in gutem Zustand bleibt«, verteidigte Agnes ihr neues Zuhause. »Ich habe jetzt genügend Zeit und ein Einkommen. Du wirst sehen, bald ist es hier super gemütlich.«

Theres lächelte ungläubig. »Wie auch immer – du wirst nicht lang allein bleiben. Bald findest du einen netten Mann.« Was gut gemeint war, brachte Agnes in Rage. In ihren Augen glomm aufgestaute Wut.

»Hör mir damit auf! Ich habe diese Spielchen satt. Habe die Typen satt – zuerst einfühlsam, und nach einiger Zeit schleichen sich Bequemlichkeit und Selbstverständlichkeit ein. Das Leben zu zweit soll für einen Mann einfach und reibungslos funktionieren, ohne dass Mann etwas dafür zu tun braucht.«

»Aber so sind …«, versuchte Theres einzuwerfen, wurde aber von Agnes erst gar nicht wahrgenommen.

»Nur nichts investieren – weder Gefühl noch Zeit. Die Wärme, die sie zum Leben benötigen, holen sie sich beim Sex. Jede Frage in Richtung Beziehung ist schon eine Zumutung.«

»… doch nicht alle«, ergänzte Theres leise, blieb aber ungehört.

»Was ist so schlimm daran, sich ab und an in die Arme zu nehmen, einander ein paar liebe Worte zu sagen, nur um dem anderen Freude zu machen? Weißt du, was Norman einmal zu mir gesagt hat? Wenn man seine Frau zu gut behandelt, dann wächst der Baum leicht in den Himmel, und das muss Mann offenbar tunlichst vermeiden. Ist das nicht ein Wahnsinn? Wozu habe ich einen Partner sonst, als mit ihm in den Himmel zu wachsen? Stattdessen kappen sie dir die Wurzeln, bis du letztendlich umfällst. Nein, Theres, da mache ich nicht mehr mit – ich will kein Kräftemessen mehr und ich will nicht aufpassen müssen, wer mehr Macht über den anderen gewinnt. Im Job habe ich genug Stress, den brauche ich nicht noch in meiner Freizeit.« Endlich holte Agnes Luft. Trotzdem sagte Theres nichts. Sie goss Tee nach und rührte den Zucker in der Tasse um. Agnes beobachtete sie dabei. Der Dampf war raus. Hatte sie Theres niedergequatscht? Theres. Freundin seit Kindertagen. Schwester im Herzen. Theres war der Schwarm aller Burschen gewesen – kein Wunder: groß, schlank, blond und von freundlichem Wesen. Theres hatte sich nie viel aus ihren Verehrern gemacht. Sehr früh entschied sie sich für einen der Burschen und war ihm bis zum heutigen Tag eine treue Gefährtin geblieben. Nach der Schule hatten sich Theres’ und Agnes’ Wege getrennt und manchmal sah es so aus, als hätten sie sich auseinandergelebt. Aber das Band zwischen ihnen zerriss nie ganz.

»Hältst du mich jetzt für eine militante Emanze?«

»Quatsch. Du bist frustriert.«

»Na, das ist ja viel besser …«, grinste Agnes.

»Und siehst verdammt müde aus«, lächelte Theres milde. »Soll ich dir noch beim Auspacken helfen, bevor ich heimfahre? Zu zweit geht es schneller und macht mehr Spaß.«

»Okay«, nickte Agnes zustimmend. »Danke … für alles.« Sie stand auf und umarmte Theres, verbarg ihr Gesicht in deren Haar.

»Gern. Wozu sind Freundinnen sonst da?«, tätschelte Theres den Rücken ihrer Freundin. »Lass uns die Taschen gleich in die richtigen Zimmer bringen und ein paar Sachen einräumen.« Sie klang beinahe enthusiastisch.

»Gut«, riss sich Agnes aus der einsetzenden Rührseligkeit. »Ich hole mal die Sachen aus dem Auto.« Damit ging sie ins Vorzimmer, zog Winterjacke und Stiefel über und trat vor die Haustür.

Vor ihr lag der weitläufige, verwilderte Garten mit den alten Buchen, die so dick waren, dass zwei Männer sie nicht umfassen konnten, eine Birkengruppe und der hundertjährige Nussbaum. Heckenrosen wucherten ungezähmt, Flieder, Holler und viele andere Sträucher hatten die Zeit ohne Gärtner zur Entfaltung genutzt. Selbst das Haus war durch üppig rankende Mauerkatze, Schlingknöterich und Goldgeißblatt von der Natur vereinnahmt worden. Die biegsamen Zweige, welche die verwitterten, einstmals weißen Bretter der Veranda bedeckten, wiegten sich bedächtig im Ostwind. Der Weg unter ihren Füßen bestand aus Schieferplatten, führte hinaus, durch das Gartentor in die Außenwelt. Mit wenigen Handgriffen lud Agnes die letzten Taschen aus dem Wagen. Das Rauschen des Waldes ließ sie aufblicken. Der Horizont hob sich leuchtend vom Dunkel der bewaldeten Hügel ab. Es war so einsam hier. Klare Luft drang eisig in Agnes’ Lunge. Reinigend.

Du darfst dieses Land niemals verkaufen. Dies ist unsere Zuflucht. Versprich es mir.

»Ach, Mama!« Agnes seufzte und versuchte vergeblich, gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen.

*

Spätabends saß Agnes mit Füllfeder und Kalenderbuch am Sekretär ihrer Großmutter, der im Schlafzimmer nahe der Fensterbank stand. Eines der wenigen Erbstücke, die nicht verkauft worden waren.

Das war eine Persönlichkeit gewesen, ihre Großmutter. Vor den 30er-Jahren noch eine gute Partie mit ansehnlicher Mitgift, vernichtete die Wirtschaftskrise das gesamte Vermögen der Frau. Aktien waren die falsche Anlageform gewesen, musste ihr nun herzkranker Ehemann eingestehen. Nach und nach wurden Möbel und Schmuckstücke zu Geld gemacht. In den Kriegsjahren baute Großmutter Gemüse an, kochte für den Winter ein, schaffte es, alle Kinder einen Beruf lernen zu lassen. Beinahe wäre sie von den Nazis verhaftet worden, weil sie die Idioten davonjagte, die ihr das Mutterkreuz verleihen wollten. Ein Orden dafür, dass ihre beiden ältesten Söhne in Stalingrad gefallen waren? Nicht für Großmutter. Selbst mit den russischen Soldaten wurde sie fertig, verteidigte ihre Töchter wie eine Löwin.

Das Kerzenlicht des Leuchters, der auf einem Beistelltisch stand, tauchte den Raum in warmes Licht. Ein altmodisches Messingbett wartete frisch bezogen gegenüber. Es würde klamm sein – wenig verlockend. Agnes blickte in den Spiegel, der an der Wand neben ihr hing, und fuhr sich durch das Haar. Ihre dunklen Augen waren ungeschminkt, die Wangen blass und ein wenig schmäler als gewöhnlich. Musik kam aus dem CD-Player, tröstete sie. Holding back the years, raunte Mick Hucknall – die vergangenen Ereignisse vor Augen, erinnerte sie sich mit dem Song an zurückgehaltene Tränen, verlorene Chancen, verschwendete Jahre. Eine Geschichte wie die ihre, nicht besonders, fast unausweichlich.

In ihr Kalenderbuch schrieb sie: Seltsam, trotz aller Aufregung fühle ich mich wie nach einem langen Schlaf, so als hätte ich die letzten Jahre dahingedämmert. Die Trennung fühlt sich gut an, ich bin ein Schiff, das endlich auf richtigem Kurs fährt. Dabei kann ich Norman nicht einmal böse sein für die verschwendeten Jahre. Es war meine Entscheidung, sie zu verschwenden. Alles, was war, wollte einfach sein.

Sie blies die Kerzen aus und legte sich ins Bett. Die Laken waren noch kälter als erwartet. In der Dunkelheit lauschte sie den letzten Akkorden des Liedes, dem leisen Verklingen der Trompete.

Die erste Nacht in einem neuen Leben.

3. Kapitel

Um Viertel nach sieben betrat Agnes das Foyer von Baby-Star. Der Eingangsbereich glitzerte von Spiegeln und Kristalllüstern. Selbst der Boden glänzte, war mit schwarzem und weißem Marmor ausgelegt. Alles in der Halle schrie: Geld!

Eine attraktive Empfangsdame lächelte von morgens bis abends den Eintretenden entgegen, versorgte Suchende mit Informationen und verwaltete die Termine der Ambulanz. Zur Linken des Empfangspults erstreckte sich ein Wartebereich voller Perserteppiche, Lederpolstermöbel und Ölgemälde. Luxus und Exklusivität als Marketingschiene, eine zahlungskräftige Klientel gesucht für prominente Ärzte.

Irgendwie fühlte sich Agnes immer deplatziert, wenn sie in diese Welt eintrat. Es war, als beträte sie eine Bühne. Das Publikum waren die Patientinnen, aber auch zu einem Gutteil die Angestellten des Hauses selbst – man wechselte hier ständig vom Darsteller zum Applausgeber. Das Stück hieß: Wir machen die Welt besser. Und alle mussten begeistert an der Verwirklichung der Utopie Jedem Paar sein Wunschkind mitwirken, koste es, was es wolle. Nebenher standen weitere Stücke am Spielplan. Das wichtigste darunter hieß: Wir forschen für eine gesunde Menschheit. Das wurde allerdings hauptsächlich hinter den Kulissen aufgeführt. Die Labors im ersten und zweiten Stock suchten nach neuen Arzneien im Kampf gegen Unfruchtbarkeit, Alzheimer, Multipler Sklerose, Krebs und was die Menschen sonst noch plagte. Eifersüchtig hüteten die Forscher die Geheimnisse ihrer Arbeit, bis ein angemeldetes Patent die Nutzungsrechte sicherte – und die konnten Milliarden wert sein. Auch Sterilisationen, Vasektomien und vereinzelt Abtreibungen hatte BabyStar im Angebot. Niemanden schienen die Widersprüche in ihrem Tun zu stören oder auch nur der kleinste Zweifel zu quälen, dass irgendetwas falsch laufen könnte. Das Machbare wurde getan, das Unmögliche versucht. Die Labors waren eine eigene Welt voller enthusiastischer Spezialisten, fokussierter Forscher, fanatischer Workaholics.

Agnes durchquerte das Foyer zu den Fahrstühlen, führte ihre Legitimationskarte in die dafür vorgesehene Öffnung und wartete auf das Eintreffen einer Kabine. Ihr Büro lag im dritten Stock: die Rechts- und Personalabteilung.

Sobald sie in ihrem Zimmer war und sich aus den Wintersachen geschält hatte, nahm die tägliche Routine ihren Lauf: Post und Akteneinlauf aus dem Sekretariat holen, kurz mit der Chefsekretärin plaudern.

Larissa Muth war eine kleine, mollige Frau, diesen Winter mit auberginefarbenen Haaren, die gute Laune verbreitete. Eine nie versiegende Klatschquelle.

»Guten Morgen«, grüßte Agnes in den Raum.

»Guten Morgen, Frau Magister«, grüßte das Lehrmädchen Isabelle – blutjung, dünn, blondiert und stark geschminkt. Frau Muth schien Agnes bereits zu erwarten. Ihre Augen glänzten und verrieten Aufregung.

»Frau Magister, haben Sie gehört, der Bereich Künstliche Befruchtung soll eventuell von Dr. Tolf zusätzlich zum Bereich Forschung übernommen werden …«, ihre Stimme ging in ein Raunen über, »… die Dr. Schoff hat es scheinbar doch nicht geschafft, die Leitung zu bekommen. Aber Sie wissen das nicht von mir – ist nur ein Gerücht.« Ihre Stimmlage wechselte von eifrig zu sarkastisch. »Die arme Dr. Schoff, die wird sich ärgern.« Muth unterdrückte ein Kichern. »All die Mühe umsonst …, da könnte ich Ihnen Sachen erzählen, was die aufgeführt hat, um den Job zu kriegen. Man sagt, sie hätte sogar mit der Geschäftsführung, dem Dr. Rodler, … na, Sie wissen schon, was …, aber das ist natürlich nur ein Gerücht. Jetzt ist sie wieder die Nummer zwei. Wird sich mit der Tolf gutstellen müssen.«

»Die haben sich aber ziemlich gefetzt in letzter Zeit, oder?«, warf Isabelle ein. Frau Muth machte ein vielsagendes Gesicht und nickte. Von Agnes wurden ermunternde Worte erwartet. Doch sie wollte von Michelle Schoff so wenig wie möglich wissen. Dr. Wach, der frühere Bereichsleiter für künstliche Befruchtung, tauchte in ihrer Erinnerung auf.

»Haben Sie eigentlich etwas über die Autopsie an Dr. Wach gehört? Ist da was dran?«

»Dass bei Wachs Herzinfarkt nachgeholfen wurde?« Frau Muths Gesicht verdüsterte sich, als Agnes nickte. Die Augen zur Tür gerichtet, ob auch niemand Unerwünschter mithören konnte, setzte sie mit leiser Stimme fort: »Der Gerichtsmediziner soll die Leiche auf Viagra untersucht haben, das habe ich bei einem Telefonat vom Chef aufgeschnappt. Das stelle man sich mal vor – wozu soll der Wach Viagra während der Arbeit eingenommen haben? Und dann wird er es wohl selbst genommen haben, denn wer würde den Dr. Wach umbringen wollen? Mit Viagra? Als ob man an einer Erektion sterben könnte.« Das Telefon klingelte. Frau Muth streckte die Hand zum Hörer, ohne Agnes aus den Augen zu lassen und ohne mit dem Reden aufzuhören. »Der Dr. Brum erzählt leider gar nichts darüber, wie oft ich auch nachfrage. Ich sage Ihnen eines …«, Muth ließ den Zeigefinger hochschnellen, »ohne Rauch kein Feuer.« Der Gedanke schien unerträglich und das auberginefarbene Haar wurde durch heftiges Kopfschütteln aufgewirbelt. »Wahnsinn.« Bewegt von dem Gedankenspiel, nahm sie endlich den Telefonhörer ab und widmete sich dem Anrufer. Agnes packte sogleich die Tagesration Aktenordner mit beiden Armen und verschwand in ihr Zimmer.

Das Gespräch ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Die angeordnete Autopsie hatte die Gerüchteküche von BabyStar zum Brodeln gebracht. Unbehagen hatte sich breitgemacht, schwelte in Blicken, in ungesagten Sätzen. Agnes wischte die Gedanken weg. Termine des Tages. Unterlagen vorbereiten – genug Arbeit, um nicht nachdenken zu müssen. Ihre Hand griff zur Tasse neben dem Bildschirm. Leer.

Ohne Tee geht nichts.

Zweite Station der morgendlichen Routine: Teeküche.

Das Telefon läutete schrill. Agnes erstarrte, die Türklinke in der Hand. Was, wenn Norman dran war? Die Vernunft zwang sie, zum Schreibtisch zurückzukehren, den Hörer abzuheben und die übliche Begrüßungsfloskel abzuspulen.

»Agnes? Hallo, Kleines.« Ein Schlag in den Magen. »Hast du schon über alles nachgedacht?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. »Ich möchte dich sehen. Wir können über einige Änderungen reden. Wenn du willst, helfe ich dir samstags beim Einkaufen, sofern ich dienstfrei habe, und wir könnten einen Urlaub machen. Was sagst du?« Sätze quollen aus dem Hörer. Vorbereitet. Ein Überfall. Ihr Kopf fühlte sich blutleer an. Die Faust in der Magengrube bohrte tiefer.

»Norman …, es ist noch zu früh.« Ihre Stimme war viel zu schwach. Sie räusperte sich und versuchte, mit kräftigerem Tonfall weiterzusprechen. »Ich brauche eine Auszeit.« Tief durchatmen, mahnte die Vernunft. Schwachstellen orten. Schon fühlte sie Normans labile Laune durch die Leitung, in seinem Atem, in seiner Stimme.

»Wovon möchtest du ausruhen? Von deinem Bürojob? Du bist null belastbar. Was würdest du tun, wenn du meinen Job hättest und dich dann noch mit diesem Beziehungsscheiß beschäftigen müsstest?« Er unterbrach den immer aggressiver gewordenen Wortschwall und setzte neu an. »Ich will nicht mit dir streiten, Kleines. Also sag mir jetzt, wann wir uns sehen.« Agnes’ Gehirn suchte eine Ausrede. Ein Wühlen in Luft. Nichts. Nichts. Nichts. Angst kroch den Rücken hoch, die Hände wurden klamm. Zeit schinden. So ehrlich wie möglich.

»Frühestens in zwei Wochen. Es geht jetzt einfach nicht. Ich bin mit den Nerven am Ende. Du hast recht, ich bin nicht belastbar. Ich schaffe gerade noch meine Arbeit.« Gut so, dachte sie. Soll er glauben, ich bin schwach. Deutlich weniger barsch hakte Norman nach.

»Bist du krank oder was? Warst du schon beim Arzt?« Seine Verunsicherung nützte Agnes, ohne zu zögern, aus. Das Leben mit Norman hatte sie gelehrt, in jedes Schlupfloch zu schlüpfen, das sich bot.

»Nein, aber ich habe es vor – du, ich kann jetzt nicht weiterreden, habe einen Termin. Wir hören uns, okay? Tschüss.« Sie ließ den Hörer auf die Gabel fallen und sank auf ihren Sessel. Sollte das nun wochenlang so gehen – jedes Mal, wenn sie ihn hörte, würde ihr vor Angst übel werden? Und sie müsste lügen?

Wie erbärmlich war das denn, einen anderen mit Halbwahrheiten hinzuhalten. Die Vernunft meldete sich, sagte ihr, dass sich Norman an den Zustand gewöhnen musste. Erst dann durfte der endgültige Bruch erfolgen – kein Amoklauf, keine Gewalt, alles wird gut. Viel weniger enthusiastisch als noch fünf Minuten zuvor, ging Agnes zur Küche. Ihre Kollegin Megan Kalth würde schon auf sie warten.

Der Tee war bereits aufgegossen. Erwartungsvoll blickte Megan ihr entgegen. In ihrer natürlichen Eleganz stellte sie zwei Tassen neben sich ab. Agnes fand ihre Bewegungen immer erstaunlich anmutig. In Gegenwart der Britin wollte man sich instinktiv sittsam benehmen. Agnes’ Lächeln verstand Megan als Antwort auf ihre ungestellte Frage.

»Du hast es geschafft – man sieht es dir an. Das ist großartig!« Agnes’ Blässe dämpfte ihre Euphorie etwas. »Wie hast du ihn dir vom Leib gehalten? Es ist doch alles glattgegangen?« Agnes erzählte in aller Kürze die Ereignisse des Vortages und ließ auch das eben erst geführte Telefonat nicht aus. Megan blieb besorgt.

»Mein Gefühl sagt mir, dass du wirklich aufpassen musst. Er ist eine tickende Bombe.«

»Ich weiß.« Wieder zog sich ihr Magen zusammen. Das war nicht gut.

»Du warst eine Selbstverständlichkeit für ihn und jetzt wird er merken, dass seine Annehmlichkeiten mit dir verschwunden sind.« Agnes brachte keinen Ton heraus. Mit zitternden Händen goss sie Tee aus der Kanne. »Lass dich mit keinem anderen Mann sehen.«

»Mann?«, platzte Agnes heraus. »Keine Sorge, Megan, von Männern habe ich genug, außer der Märchenprinz schaut bei mir vorbei.« Ihr Lachen klang zynisch. »Also vergiss es.« Sie rührte in der Teetasse, bis sie bemerkte, dass Zucker fehlte. Megan reichte ihr die Dose mit dem Rohrzucker und blickte sie herausfordernd an.

»Du meinst, den Märchenprinzen gibt es nicht? Ha?« Agnes verdrehte die Augen, was Megan nur noch mehr anstachelte. »Es sind nicht alle Männer gleich. Aber ich gebe zu, die guten sind schwer zu finden. Umgekehrt haben es die Männer übrigens genauso schwer, die richtige Frau zu finden. Es gibt genug bösartige Ausgaben unseres Geschlechts, die einen Mann nach dem anderen verpatzen, nachhaltig. Die bleiben so gestört zurück, dass sie nie wieder einer Frau vertrauen werden.«

»Ein wenig überzeichnet, oder? Ich meine …«, erwiderte Agnes, wurde jedoch brüsk unterbrochen.

»Hallo – große Versammlung in der Teeküche? Habt ihr nichts zu tun?« Eine üppige Blondine stand in der Tür und lächelte herausfordernd. Ein blendend weißes Gebiss blitzte die Freundinnen an. Michelle Schoff war erschienen. Ihre Haut war selbst jetzt, Ende Februar, stark gebräunt, was durch einen weißen, anliegenden Kaschmirpulli mit großzügigem Halsausschnitt, der vielmehr ein Brustausschnitt war, betont wurde.

»Wenn man von der Sonne spricht …«, schmunzelte Megan. »Guten Morgen, übrigens. Du holst dir jetzt aber keinen Kaffee, sondern bist dienstlich in der Teeküche?« Megan blickte Michelle erwartungsvoll an.

»Uh – sind wir heute empfindlich«, grinste diese belustigt. »Natürlich hole ich mir einen Kaffee, unsere Espressomaschine im ersten Stock ist schon wieder kaputt und Automatenkaffee trinke ich sicher nicht. Allerdings kann ich nicht hier herumstehen und quatschen wie ihr Süßen – ich muss weiter. Arbeiten, falls ihr das Wort kennt. Weiß gar nicht, was ich zuerst machen soll. Ich muss ein ernstes Wort mit der Tolf sprechen, ich brauche einen Assistenten. Jemanden, dem ich den ganzen Papierkram aufhalsen kann. Einen Mann, jung, gefügig – mit Frauen hat man nur Probleme.« Begierig wartete Michelle auf eine Entgegnung, da jedoch niemand auf ihre Provokation einging, wandte sie sich verstimmt an Agnes.

»Übrigens ist heute um 10.30 Uhr unser Meeting im Ministerium. Vergiss es bitte nicht wieder, Agnes. Wir müssen pünktlich sein. Brauchen wir Megan überhaupt dabei?« Und ohne Luft zu holen, fuhr sie mit hochgezogenen Augenbrauen fort: »Wie viel Zucker schaufelst du noch in deinen Tee? Das waren bestimmt drei Löffel – weißt du nicht, wie ungesund das ist? Eine Frechheit, dass du trotzdem so schlank bist.« Agnes rührte demonstrativ langsam in ihrem Tee, bemüht, den aufsteigenden Ärger zu verbergen.

»Erstens habe ich diese Meetings noch nie verpasst und zweitens ist Megan als Pharmazeutin dabei unentbehrlich. Ärzte können nicht alle Gebiete abdecken – so göttlich ihr auch seid. Und zu guter Letzt sei versichert, dass mir mein Tee besser bekommt als dir deine zehn Espressi täglich.« Michelle freute sich sichtlich über das doch noch entbrannte Gefecht und machte sich daran, eine Tasse vom Espressoautomaten befüllen zu lassen.

»Wir sind göttlich genug, glaube mir. Das sieht man doch schon an unseren Gehaltsschecks!« Sie lachte über ihren Witz und sah Megan herablassend an. »Was verdient ihr Pharmazeuten denn so in England? Kann man davon überhaupt leben?«

Megan hielt den Augenkontakt. »Nun, wir kommen durch«, entgegnete sie mit sanfter Stimme. »Allerdings kann man keinen Speck ansetzen, da geht es dir als Ärztin besser.« Michelle legte unwillkürlich ihre Hand auf die Hüfte und presste die Lippen zusammen. Schuss ins Schwarze oder vielmehr in die Problemzonen Michelles. Sie erwiderte nichts, sondern sprach einfach mit Agnes weiter.

»Wir treffen einander um 10.00 Uhr im Foyer, sei bitte pünktlich. Heute könnte sogar der Minister dabei sein, da möchte ich einen guten Eindruck machen. Alles klar?« Vorsichtig hob sie ihre Kaffeetasse aus der Maschine. »Ach ja, Megan, sei so nett und nimm den Akt mit. Bis später.« Ohne sich nach Megan umzuwenden, verschwand sie und ließ eine betäubende Parfümwolke zurück.

Megan grinste übers ganze Gesicht. »Das nenne ich eine Revanche; für meine Retourkutsche muss ich nun den 20-Kilo-Akt tragen.«

»Aber das war’s wert«, lachte Agnes.

»Die ist genau so eine, von der ich vorhin gesprochen habe. Ein Mann muss für sie in erster Linie reich sein, Einfluss haben und last but not least ihr hörig werden, sonst hat sie keinen Spaß.« Agnes grinste. Im Falle von Michelle hatte Megan tatsächlich recht. Die war eine Femme fatale, wie sie im Buche stand, und entsprach dem Klischee einer stutenbissigen Kollegin in jeder Hinsicht. Seit Megan Kalth vom Mutterunternehmen in London nach Wien geschickt worden war, gab es einen täglichen Schlagabtausch zwischen ihr und Michelle. Ihr Ansehen auf dem Gebiet der In-vitro-Fertilisation und Embryonenforschung hatte die Ärztin nicht von ihrer Bösartigkeit geheilt.

»Du hast sie durchschaut und dafür hasst sie dich. Bitter für sie, dass sie sich zurückhalten muss, falls sie dich doch noch für ihre Karriere braucht. Immerhin kommst du von unserer Eigentümerin und gehst wieder zurück. Wenn sie könnte, wie sie wollte, hätte sie dich verbal zusammengebissen und bis nach London gespuckt.«

»Wenn sie könnte, wie sie wollte, wäre ich tot«, erwiderte Megan, ohne nachzudenken. Agnes blickte erschrocken auf. Gänsehaut kribbelte auf ihren Armen.

»Sag so was nicht.«

Zu viel Gerede vom Tod lockt ihn an.

Megan schüttelte nachdenklich den Kopf und blickte zum leeren Türrahmen, durch den Michelle verschwunden war.

»Da ist mehr unter der Oberfläche, als du ahnst.« Sie riss sich aus ihren Gedanken und lächelte Agnes zu. »Schau doch nicht so erschrocken! Es war nur ein Gefühl von mir, entschuldige.« Sie gingen zurück an ihre Arbeit, aber der Schatten des Unbehagens blieb.

*

Michelle, Agnes und Megan waren die letzten Sitzungsteilnehmer, die den Saal betraten. Wie es die Etikette erforderte, gingen sie um den runden Sitzungstisch und reichten jedem der Anwesenden die Hand. Da dies bereits die gefühlt millionste Sitzung in der Causa war, kannten sich alle Teilnehmer, die üblichen Juristen, Ärzte und Pharmazeuten.

Oder doch nicht? Da war ein neues Gesicht. Männlich, groß und – ja, schlichtweg beeindruckend, fand Agnes. Der Mann stand bei den Leuten des Konkurrenzunternehmens New Life. Ihr Blick wanderte auf der Runde durch den Saal immer wieder zu ihm. Jetzt waren sie endlich zur New Life-Delegation gestoßen, stellten sich einander vor. Ein Rechtsanwalt also. Siebert Thal. Er lächelte freundlich auf die Damen von BabyStar herab und streckte ihr seine Hand entgegen. Als seine Haut die ihre berührte, hob sie überrascht den Blick. Wärme und mehr als das flossen über die Handflächen zu ihr. Berührten ihr Herz. Für einige Augenblicke hielt sie den Atem an. Wie er. Über sein Gesicht huschte Erstaunen. Ihre Augen weiteten sich, schauten zu tief, zu intim. Verlegen entzog ihm Agnes ihre Hand und ließ sich willig von Michelle weiterkommandieren. Zeit, die Plätze einzunehmen, zu arbeiten. Die Delegationen trennten sich und jeder war damit beschäftigt, die nötigen Unterlagen auf den Tisch zu legen. Schon setzte der Vorsitzende mit seiner Begrüßung ein.

Agnes vernahm ein störendes Flüstern an ihrer linken Seite. Michelle langweilte sich. »Der Minister hat wieder nur den Sekretär geschickt. Verdammt. Wir sollten doch endlich fertig werden. Immer diese Juristen.« Michelle lehnte sich noch näher und zischte weiter in ihr Ohr. »Und dabei hat er mir letzten Sonntag nach dem Konzert im Musikverein versprochen, heute zu kommen. Habe ich dir übrigens erzählt, wie unverschämt er mit mir geflirtet hat? Seine Frau ist rot angelaufen vor Zorn. Das hättest du sehen sollen! Fantastisch. Ist mir ein Rätsel, warum er diese vertrocknete Hutblume geheiratet hat. Geld soll sie auch keins mitgebracht haben.«

Angewidert rückte Agnes etwas ab.

»Hast du schon mal gehört, dass manche aus Liebe heiraten?«, zischte sie dabei, doch Michelle gab ein gekünsteltes Lachen von sich.

»Red’ keinen Unsinn, du machst dich ja lächerlich«, raunte Michelle zurück. »Der Ottman kommt aus einer der besten und reichsten Familien, da wird nur aus Berechnung geheiratet.« Agnes seufzte resignierend und stellte die Ohren auf Durchzug. »Ihr Vater ist ja ein hohes Tier in der Gewerkschaft, das wird dem Ottman bei der Karriere geholfen haben.« Da keine weitere Reaktion seitens Agnes’ folgte, wechselte Michelle das Thema.

»Schau doch mal zur Delegation der Firma New Life, uns gegenüber«, stieß Michelles Ellenbogen an den ihren. »Der neue Jurist sieht klasse aus. Markantes Kinn – mag ich an Männern, sportlicher Körper, leider in einem billigen Anzug von der Stange versteckt. Und die Schuhe sehen auch nicht gerade handgemacht aus. Schade drum. Wird wohl so ein armer Schlucker aus irgendeiner Wald- und Wiesenkanzlei sein. Siebert Thal – kennt kein Mensch –, kein familiärer Background. Nichts für mich. Aber du bist ja bei Männern nicht so wählerisch, was, Agnes?« Ein herausforderndes Grinsen drängte sich in Agnes’ Blickfeld. »Hast ja was mit einem Polizisten.« Das Wort Polizist klang aus ihrem Mund wie ein Fäkalwort. Diese Frau ist die Pest, war sich Agnes sicher und tat sich verdammt leid dabei, neben dieser präpotenten Person sitzen zu müssen. Gott, wofür hielt die sich? Glaubte, jeden Mann haben zu können. Pech, dass sie noch immer kein reicher Idiot geheiratet hatte, wo sie doch schon 35 war und dabei ziemlich abgegriffen aussah. Jetzt musste Agnes grinsen. Genüsslich lehnte sie sich zurück und ließ ihren Blick über die Reihe der Sitzungsteilnehmer schweifen. Siebert Thal war sehenswert. Der Rechtsanwalt fuhr sich mit einer bedächtigen Handbewegung über das Kinn. Was für eine vertraute Geste. An wen erinnerte er sie bloß? Plötzlich sah er auf, als hätte sie ihm zugerufen.

Ihre Blicke trafen sich. Ein Stich fuhr durch ihren Solarplexus, ließ ihre Wangen aufglühen. Schnell wandte sie sich ab, versuchte, den Redner zu fokussieren. Totale Verwirrung machte sich breit. Was war das eben gewesen – sie war doch kein Teenager. Nervös schlug sie die Beine einmal links über rechts und dann wieder rechts über links. Fühlte sie seinen Blick auf sich oder war das Einbildung? Sie wagte nicht, den Kopf zu wenden, und ging in Gedanken ihr Erscheinungsbild durch. Juristinnen-Uniform wie üblich: dunkelblaues Nadelstreifkostüm, Rollkragenpulli, ein Tuch über der Schulter, Stiefel. Öde. Gott sei Dank ordentlich geschminkt. Was tat sie da? Keine Männer! Außerdem war so ein Super-Typ bestimmt schon vergeben. Stopp! Sie versuchte, die Gedanken abzuschütteln. Das musste eine Art weiblicher Reflex auf attraktive Männer sein. Die Verhandlung – aufpassen. Gleich würde ihr Beitrag dran sein.

Agnes schaffte es, ihre Rede zu halten, ohne auch nur einmal Siebert Thals Blick zu begegnen. Unmittelbar danach wurde die Sitzung für eine kurze Kaffeepause unterbrochen und sie flüchtete aus dem Saal. Mit Michelle und Megan an einem der Stehtische, nippte sie wortlos an ihrem Tee. Michelle wollte immer noch nicht mit Megan reden, also blieb es still. Bis eine sonore Männerstimme die Frauen aus ihren Gedanken riss.

»Hallo, meine liebe Kollegin!«, rief der Mann Michelle zu. »Sie sehen umwerfend aus. Ich kann nicht glauben, dass Sie immer noch nicht mit mir in dem neuen Lokal in der Bognergasse zum Essen waren.« Michelles Augen leuchteten auf und Agnes machte sich auf eine heftige Flirtszene gefasst. Als ärztlicher Leiter der Firma New Life gehörte der Mann zu Michelles Pool potenzieller Sexualpartner. Hinter ihm stand Siebert Thal, einen guten Kopf größer und 20 Jahre jünger.

»Gestatten, Siebert Thal. Wir wurden einander zwar schon vorgestellt, aber in der Flüchtigkeit der Begrüßung merkt man sich selten die Namen. Wobei, Ihrer ist Agnes Feder, nicht wahr?« Sein Lächeln war hinreißend. Kleine Lachfältchen schoben sich um seine Augen.

»Richtig«, lächelte sie zurück.

»Darf ich?« Sein Blick ruhte forschend auf ihrem Gesicht, während seine Hände eine Kaffeetasse neben der ihren abstellten. Wie ihr Herz klopfte. Konnte man das von außen sehen?

»Ja«, Agnes rückte ein Stück zur Seite, »es ist genug Platz.« Er stand nahe bei ihr, ein Duft von Sandelholz und Leder drang in ihre Nase, zog sie näher. Mit Mühe hielt sie Abstand, versuchte krampfhaft, ein Gesprächsthema zu finden.

»Ihre erste Sitzung in der Causa?«

»Ja«, antwortete er und fixierte ihr Gesicht. War etwa die Wimperntusche verlaufen?

»Sie Glücklicher. Die Verhandlungen ziehen sich endlos hin.« Bemüht beiläufig wischte sie mit dem Zeigefinger über das Unterlid. Nicht schwarz. Warum sah er sie denn so an? Bloß nicht in seine Augen sehen, sonst würde sie gar kein vernünftiges Wort mehr herausbekommen. Das war recht einfach, denn Agnes reichte Siebert gerade bis zum Kinn.

»In unserer Kanzlei grassiert die Grippe und mein erkrankter Kollege hat mich gebeten einzuspringen. Der zäheste Teil der Verhandlungen ist vorbei?«

»Ja. Fehlt nur die Feinabstimmung«, gab sie ihm recht. Über die Arbeit zu reden, war leicht.

»Schade eigentlich«, schmunzelte er und ließ seine Augen nicht von ihr. Ganz schön frech, fand Agnes und wechselte vom verunsicherten Mädchen zur Juristin.

»Schätze, maximal zwei weitere Sitzungen, dann wird alles unter Dach und Fach sein. Aber in einigen Punkten werden wir noch hart mit dem Ministerium feilschen müssen.« Sie blickte ihm herausfordernd ins Gesicht. Was für Augen. Braun mit grünen Sprenkeln. Funkelnd. Das Gespräch ging weiter. Siebert unterstützte ihre Bedenken, die sie zuvor in ihrer Rede angesprochen hatte, doch schon bald sprachen sie über eine Menge anderer Dinge, weitab des Berufes. Ferne Länder, Fremdsprachen, Gartenarbeit. Ungewöhnlich, dachte sie. Wo er doch ein Fremder ist.

Die Sitzung wurde fortgesetzt. Agnes und Siebert schlenderten als Letzte auf ihre Plätze, merkten nicht, dass sie beobachtet wurden. Megan erwartete Agnes mit einem breiten Grinsen.

»Was?«, tat Agnes gereizt, musste jedoch selbst ihr Lächeln unterdrücken.

»Angenehme Pause?« Keine Antwort. »Dein Gesprächspartner findet das ganz offensichtlich auch. Er schaut her. Dauernd.«

Siebert Thal würde doch hoffentlich ihre Freundlichkeit nicht missverstanden haben?

»Vielleicht ist ihm langweilig. Jetzt kommt ja der Pharmazeuten-Teil«, gab sich Agnes schnippisch.

Keine Hirngespinste, keine neuen Geschichten.

Die Sitzung zog sich endlos hin. Agnes konnte seine Blicke fühlen und wagte nicht, in seine Richtung zu schauen. Das hatte sie nicht gewollt. Das passte gerade ganz schlecht in ihr Leben. Als endlich der letzte Redner seinen Vortrag abgeschlossen hatte, verließ sie mit der Geschwindigkeit einer Sprinterin den Saal und drehte sich bis zum Erreichen des Foyers von BabyStar nicht mehr um.

*

Früh Schluss machen, Besorgungen erledigen, das neue Zuhause gemütlich einrichten, Speisekammer und Kühlschrank füllen – das waren Agnes’ aktuelle Prioritäten.

Menschen mit leeren Kühlschränken bekommen Depressionen.

Ein Haus war erst bewohnt, wenn es in der Küche richtig duftete, in den Regalen Honig, Haferflocken, Schokolade und Nüsse zu finden waren, der Kühlschrank mit Butter, Käse, Eiern, Gemüse und Milch gefüllt war und frisches Brot in der Brotlade liegt. Alle Schränke wurden ausgewischt, die Böden geschrubbt und die Teppiche gewaschen.

Aber wer arbeitete, musste auch jausnen. Zeit für Tee musste sein, bei aller Arbeit. Heißes Wasser löste Farbe und Aromen aus Roiboskraut, wurde leuchtend orange wie die afrikanische Sonne. Eine Brotscheibe mit Käse, eine Tasse mit dampfendem Roibos und Agnes kuschelte sich in den Ohrensessel. Der Bauernherd dicht daneben emittierte Brandgeräusche und Hitze, während der Fußschemel unter dem Gewicht der Beine ächzte. Bevor das Brot noch zu Ende gegessen war, fielen Agnes’ Augen zu. Immer tiefer sank ihr Körper mit dem Schlaf in die Polsterung, wechselte die Realitäten, stand nun am Rande hoher Felsenklippen, die Hände zum tiefblauen Himmel erhoben und die Augen in die aufgehende Sonne gerichtet. Unter ihr toste die Meeresbrandung, unzählige Möwen schrien, ließen sich leicht und anmutig vom Wind tragen, so leicht, wie sie sich selbst fühlte. Die Luft war getränkt vom Salz der See und dem Duft unzähliger Macchiasträucher. Das Herz war voll Sehnsucht, drängte hinaus zum Horizont. Laut rief sie einen Namen: »NEDDAL!«

Der Schrei weckte Agnes. Verwirrt blickte sie um sich, fühlte das Herz gegen die Rippen pochen. In den Ohren dröhnte der Name.

Wer war Neddal? Es gab keine Antwort, nur das Gefühl, in einer anderen Realität gewesen zu sein; tatsächlich Sonne auf der Haut gespürt zu haben und den Duft des Meeres in den Lungen zu tragen. Halb im Traum verfangen, versuchte sie die Einzelheiten zusammenzufügen, ehe sie der Vergessenheit anheimfielen. Worte formten sich in ihren Gedanken, ließen die Landschaft erneut vor ihren Augen erstehen. Als hätte Agnes die Kopfhörer eines poetischen Audioreiseführers auf, sprach eine Stimme in ihr. Ein Diktat. Sie brauchte unbedingt einen Stift und Papier – stand auf, ging ins Schlafzimmer an den Sekretär, wo ihr Buchkalender aufbewahrt war. Noch hielt sie die Stimme zurück, entzündete die Kerzen des Messingleuchters und machte Musik an. Dann durfte die Stimme sprechen. Während die Füllfeder zu Chopins Nocturne op. 9 über die Seiten glitt, begann sich ein Gefühl von Freude und Erwartung in ihrem Herzen auszubreiten.

Eine lang gestreckte Insel mit bewaldeten Hügeln; die Küste von einer farblichen Pracht, wie ich sie noch nie gesehen habe – das Türkis und Smaragdgrün des Wassers kontrastiert das strahlende Weiß der Sanddünen, in denen uralte sattgrüne Wacholder- und Macchiasträucher wurzeln. Die Klippen ringsum ragen majestätisch in den Himmel, zeigen stolz ihre Körper von weißem und rötlichem Granit. Riesige Steinblöcke ragen wie Finger ins Meer hinein, dazwischen liegen sichelförmige Buchten von weißem, feinem Sand, der an manchen Stellen sogar rosa schimmert. Das Licht der Sonne bricht sich an der Wasseroberfläche und lässt sie funkeln wie ein unendlich großer Brillant. Der Wind hat Wellenmuster in den Sand gezeichnet, kleine Hügel aufgetürmt und Grasbüschel so tief vergraben, dass nur noch die Spitzen aus dem Sand ragen. Hinter mir liegt eine Ebene, übersät von blühenden Büschen und Gräsern, ein Teppich von Rot, Gelb und Weiß wogt im Aufwind, der vom Meer über das Land streicht. So weit kann ich sehen; so klar ist die Luft …

Lang saß Agnes am Sekretär und genoss die Bilder der Erinnerung, wollte mehr von dieser Traumwelt sehen.

Ich rufe einen Namen – Neddal – und eine unbändige Sehnsucht ist in meinem Herzen. So wie man seinen Liebsten herbeiruft in einsamen Stunden.

Die Sehnsucht war immer noch da. Was tun, wenn man völlig aufgewühlt und durcheinander war? Badewasser einlassen.

Die Wanne war eine Antiquität mit gebogenen Standfüßen, die Fliesen im Bad teilweise zersprungen. Alles Antiquitäten. Während Wasser in die Wanne lief, begann Agnes, das Badeöl zu mischen. Die Zutaten dafür standen in einem Halbkreis um ein Glas Obers und eine Kerze. Honig rann in einem zähen Faden in die weiße Flüssigkeit. Agnes gab ihm die Zeit, die er brauchte, sich vom Löffel zu lösen, und auch in ihr löste sich in der Langsamkeit der Zeremonie alle Anspannung. Einige Tropfen Gera­nienöl folgten, das Öl der Reinigung, Beruhigung und Harmonie. Bilder von blühenden Wiesen entstanden in ihrem Kopf, ließen sie lächeln. Dazu Lavendelöl, nervenstärkend. Weite und Freiheit, satte Lilatöne beflügelten die Fantasie. Ein, zwei Tropfen Patschuli zur Abrundung, der Duft der Erde, erotisierend und harmonisierend zugleich. Weitere Tropfen fielen in das Glas und das Bouquet von Gerüchen strömte durch Agnes’ Nase ins Gehirn, legte sich von dort wie eine wärmende Decke über ihren Körper. Ätherische Öle waren faszinierend. Genau wie Räucherrituale. Harze, Wurzeln, getrocknete Kräuter, die physische Welt mit der geistigen verbinden. Was die Großmutter von ihrer Mutter gelernt hatte, war an sie weitergegeben worden. Mit Kräutern kochen und heilen, Tees und Salben zubereiten. Das Lächeln auf ihren Lippen vertiefte sich, während sie die Zutaten vermischte.

Im Bad war die Luft nun angenehm warm. Mit einer ausladenden Bewegung ließ Agnes die Emulsion in das Badewasser fließen und weiße Wolken breiteten sich aus. Ihre Hand glitt durch das weiche Nass und der aufsteigende sinnliche Duft lockte. Sie streifte die Wäsche ab, stieg in das irisierende Wasser. Die Bilder des Traums entstanden erneut vor dem inneren Auge; die Farben der Insel – das Aroma von Macchiasträuchern mischte sich in das Lila und den herbsüßen Duft. Wärme umschmeichelte ihren Leib, Honig und Öle ließen die Haut samtweich und die Seele heiter werden. Als Agnes schließlich zu Bett ging, war alles in ihr ruhig und verwurzelt, bereit für neue Träume.

4. Kapitel

Die erste Woche im neuen Zuhause verging wie im Flug. Zwar musste Agnes täglich eine Stunde früher aufstehen, aber es machte ihr nichts aus. Der Preis der Freiheit war gering. Noch.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt war es beim Aufstehen dunkel. Der Boden, die Wände, alles eiskalt, der Weg vom Schlafzimmer in die Küche glücklicherweise kurz. Bald hatte sie das nötige Geschick, das Feuer im Bauernherd rasch anzufachen, und dann dauerte es nicht lang, bis behagliches Knacksen von Holzscheiten Wärme aussandte, der Teekessel zu pfeifen begann und richtig starker Assamtee aufgegossen war.

Wenn sie das Haus verließ, dämmerte es. Eisige Winde wandelten Gehen in Laufen, eine ruhige Hand mit Eiskratzer in eine zitternde. Die Frontscheibe war stets vereist. Schließlich ging es den Berg abwärts. Laut singend. Das hatte sie bei Norman nicht gedurft. Er hasste Singen. » … a man, just can’t be trusted …« Sie schrie es hinaus. »Infidelity!« Mick Hucknall wusste, wovon er sang. Sie auch. Die stillen Vororte der Großstadt waren schnell durchfahren. Vorbei an Supermärkten, Einfamilienhäusern und bevölkerten Autobushaltestellen, bewegte sie sich in einem immer zäher werdenden Stau. Endlich teilte sich die Einfahrtsstraße und man kam wieder zügig voran. Bis zur U-Bahn-Station in unmittelbarer Nähe der Wohnung ihres Vaters jedenfalls, denn hier ereignete sich das tägliche Drama der Parkplatzsuche. Irgendwann fand sich Agnes in einem übervollen Zug mit Gratiszeitung lesenden Menschen wieder. Station Stephansplatz. Agnes nahm die Rolltreppe hinauf ans Tageslicht und tauchte inmitten des weitläufigen Platzes auf. Da das barocke erzbischöfliche Palais, dort das Palais Equitable im Historismus Stil, hier ein Glaspalast, in dem sich der Stephansdom spiegelte, das Herzstück der Stadt. Von seinen romanischen Wurzeln war das prächtige Riesentor mit den Heidentürmen erhalten geblieben, der überwiegende Rest war gotisch-spitz emporstrebend.

Agnes mochte den Dom nicht besonders. So großartig die Baukunst auch war, wirkte er dennoch abweisend und bedrückend auf sie. Hier soll Gott wohnen?, fragte sie sich jeden Morgen. Versöhnlich stimmte sie hingegen die geheime Symbolik des Riesentors und der Heidentürme – ein Turm hatte weibliche, runde Giebel und der andere eckige, männliche Giebel. Das gefiel ihr, ja es machte ihr eine diebische Freude zu wissen, dass den körper- und frauenfeindlichen Kirchenfürsten heidnische Symbole untergejubelt worden waren. Auch das Hauptportal war schließlich von einem Christus mit entblößtem Knie in einer Mandorla geziert – ein weiteres heidnisches Fruchtbarkeitssymbol, das die weibliche Vulva darstellt. Vom Stephansplatz war es nicht mehr weit zum BabyStar-Gebäude. Durch die engen Gassen der Altstadt, über unregelmäßiges Kopfsteinpflaster, in dem sich die Schuhabsätze schrecklich gern verfingen, vorbei an mittelalterlichen Häusern und Hauszeichen, die auf die alten Zünfte hinwiesen, trabte Agnes Richtung Hoher Markt und folgte der Judengasse bis zum Friedmannplatz.

An dem vierstöckigen Eckhaus mit dem Marmorportal und dem beleuchteten Vordach war ein Messingschild befestigt, das das Firmenlogo trug. Durch die Glasscheiben glitzerte das luxuriöse Ambiente des Foyers. Nüchtern und konzentriert trat Agnes täglich ihren Dienst an und folgte der Routine des Arbeitstages.

Am Ende der Arbeitswoche klopfte Megan nachmittags an Agnes’ Bürotür und brachte zwei Tassen Tee mit.

»Zeit, noch eine Tasse besten Darjeeling First Flush mit mir zu trinken?«, fragte sie in dem offensichtlichen Bewusstsein, nichts anderes als Zustimmung zu erhalten. »Ich habe ihn gestern mit der Post von meiner Nichte Anna aus London bekommen.«

»Klar.« Agnes freute sich aufrichtig über Megans Gesellschaft.

»Hattest du noch einmal diesen Traum, von dem du mir neulich erzählt hast?«, fragte die Freundin und setzte die Tassen ab.

»Nein«, antwortete Agnes und verbarg ihre Enttäuschung nicht. Das Verlangen nach dieser geheimnisvollen Traumwelt hatte sie seither nicht verlassen.

»Träume haben etwas mit dem Unbewussten zu tun«, blieb Megan dem Thema treu und setzte sich Agnes gegenüber. »Sie können prophetisch sein, aber genauso gut Erinnerungen aus deiner Vergangenheit vermitteln. Du sagtest doch, dass es sich völlig real angefühlt hat.«

»Mmh.« Agnes schnupperte an der Teetasse und genoss den Duft, der in ihre Nase stieg. Grasig, ein Berghang, in Wolken gehüllt. »Ich war seit meiner Kindheit nicht mehr am Meer. Das war Lignano – also keine Klippen, keine üppig blühenden Wiesen.« Sie nippte am Tee. Heu auf einer Bergwiese. »Damit bleibt ein prophetischer Traum. So betrachtet, hoffe ich, du hast recht. Urlaubsreif bin ich schon seit längerer Zeit.«

»Na dann …«, lachte Megan ihr zu.

»Kein Geld«, zuckte sie mit den Schultern. »Das Haus muss renoviert werden. Wie sieht es bei dir aus? Hast du etwas für den Sommer geplant?« Megans Gesicht wurde traurig. Agnes konnte sehen, dass sie an ihren Ex-Freund dachte. »Wann hast du Larry das letzte Mal gesehen?«

»Ach, das ist schon ein dreiviertel Jahr her.« Megan sah zu Boden. »In Cornwall, entsetzlich kitschig. Rosamunde Pilcher pur. Dort gibt es Felsklippen, Agnes, wie in deinem Traum, das Meer braust, die Möwen schreien, es riecht frisch und salzig, die Farben sind so intensiv, man kann das Leben mit jeder Faser seines Körpers fühlen.« Sie räusperte sich und fand einen sachlichen Tonfall für ihre Geschichte. »Es hat dramaturgisch gut dazu gepasst, dass wir gerade dort miteinander Schluss gemacht haben.«

»Ach …«

»Es war unvermeidlich. Ich musste gegen zu viele Schatten kämpfen. Du kennst ja das Problem zwischen Larry und mir.«

»Das tut mir leid«, versicherte Agnes. Dass ein Nordire und eine Britin Beziehungsprobleme politischer Natur bekommen konnten, hatte ihr in Megans Geschichte eingeleuchtet. »Ist es wirklich vorbei?«, fragte sie dennoch nach. Megan seufzte und hielt ihre Augen gesenkt.

»Endgültig.« Ehe ihr Tränen in die Augen steigen konnten, wechselte Megan das Thema. »Erzähl mir lieber, was du dieses Wochenende vorhast.« Bereitwillig gab Agnes alle Vorhaben zum Besten, vom Baumarkt über die bevorstehende Putzorgie, bis hin zu den geplanten Veränderungen im Haus.

»Mein Vater wird morgen kommen. Ein paar Reparaturen stehen an. Und ich werde ihm was Feines kochen.« Das Thema Larry war sicher weggepackt. Agnes und Megan tranken ihren Tee aus und wollten sich schon auf den Weg ins Wochenende machen, als das Telefon läutete.

»Guten Tag, BabyStar, Rechtsabteilung, Sie sprechen mit Agnes Feder«, sprudelte die Begrüßungsfloskel über Agnes’ Lippen.

»Agnes, wie schön, deine Stimme zu hören. Du fehlst mir. Können wir einander am Wochenende sehen? Ich führe dich aus.« Norman. Seine Stimme versetzte Agnes einen Schlag in die Magengrube. Abblocken. Flucht. Alle Alarmsysteme blinkten rot.