Tannengrab - Ines Buck - E-Book + Hörbuch
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Tannengrab E-Book und Hörbuch

Ines Buck

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Beschreibung

Ein schauriger Fund im Kindergarten: Fassungslos starrt Kommissarin Karla Sommerfeld auf den Knochen, den die kleine Mathilda beim Spielen im Wald gefunden hat. Von einem Wildschwein, behauptet die Sechsjährige. Aber die Kommissarin ahnt: Dies ist ein menschlicher Knochen. Doch woher stammt er? Vom nahegelegenen Friedhof? Oder ist die Wahrheit grausamer, geht es hier um Mord? Und tatsächlich: Das Team der Kriminaltechnik findet ein im Waldboden verscharrtes Skelett. Die DNA-Analyse ergibt, dass es sich um die sterblichen Überreste einer jungen Frau handelt, die vor fünf Jahren aus der nahegelegenen Waldgemeinde Aschersried verschwand. Was ist ihr zugestoßen? Kommissarin Sommerfeld befragt aufgebrachte Eltern und schweigsame Dorfbewohner. Doch dann wird eine weitere Leiche gefunden. Und plötzlich steigt der Druck auf das Ermittlerteam, denn Sommerfeld ist überzeugt: Diese beiden Fälle müssen irgendwie zusammenhängen.

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Seitenzahl: 277

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zeit:6 Std. 47 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Claudia Schwartz

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Über dieses Buch:

 

Ein schauriger Fund im Kindergarten: Fassungslos starrt Kommissarin Karla Sommerfeld auf den Knochen, den die kleine Mathilda beim Spielen im Wald gefunden hat. Von einem Wildschwein, behauptet die Sechsjährige. Aber die Kommissarin ahnt: Dies ist ein menschlicher Knochen. Doch woher stammt er? Vom nahegelegenen Friedhof? Oder ist die Wahrheit grausamer, geht es hier um Mord?

eBook-Ausgabe Dezember 2025

Copyright © der Originalausgabe 2025 by SAGA Egmont und Ines Buck

Copyright © der eBook-Ausgabe 2025 by dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (fe)

 

ISBN 978-3-69076-130-7

 

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people . Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

 

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Ines Buck

Tannengrab

Kriminalroman

 

Wohl bin ich ein Wald und eine Nacht dunkler Bäume: Doch wer sich vor meinem Dunkel nicht scheut, der findet auch Rosenhänge unter meinen Zypressen.

Friedrich Nietzsche

PROLOG

 

Sie rannte. Immer weiter und weiter. Ihre Beine schmerzten. Die Waden brannten, und im rechten Oberschenkel spürte sie ein Ziehen, das sie bisher noch nie bemerkt hatte. Sie rannte über das Feld. Vögel flogen auf und verschwanden in den Bäumen.

Als sie den Wald erreichte, wurde es dunkel. Die warmen Strahlen der Märzsonne schafften es kaum bis auf den Waldboden hinab. Die großen Eichen und Buchen mit ihren ausladenden Ästen und herrschaftlichen Kronen waren noch kahl, aber hier standen nur Tannen, deren nadelbedeckte Zweige wenig Licht hindurchließen. In ihrem Schatten war es viel kühler als draußen, geradezu klamm.

Sie blieb stehen. Ihr Atem ging schwer, das Herz hämmerte in ihrer Brust. Wie zum Schutz legte sie beide Hände darauf und wartete, bis sich ihr Puls normalisiert hatte.

Vorsichtig lief sie ein paar Schritte zurück und lugte durch das dichte Geäst aufs Feld hinaus. Alles war still. Hinter dem Feld lag lang gestreckt ein altes Stallgebäude, das längst nicht mehr benutzt wurde. Daneben das weiße Wohnhaus, das dringend einen neuen Anstrich brauchte. Ihr eigenes Haus konnte sie von hier aus nicht sehen. Es lag hinter der Wegbiegung auf der anderen Seite der holprigen Straße im dichten Wald, direkt am Bachlauf. Das alte Mühlrad drehte sich noch, erfüllte jedoch keinen Zweck mehr. Vorausgesetzt, der Bach führte Wasser, was er zu dieser Jahreszeit üblicherweise tat.

Sie atmete tief durch und schob den Ast einer Tanne zur Seite, der ihr die Sicht auf das äußerste Ende der Lichtung versperrte, auf der der kleine Weiler lag. Da sah sie ihn. Er musste ganz außen am Waldrand vorbeigelaufen sein. Das war die einzige Möglichkeit, wie er so weit hier hatte heraufkommen können, ohne dass sie ihn bemerkt hatte. Er kam schnell näher, und er war wütend. Sie konnte es an seinem Gang erkennen, an seiner Körperhaltung, und sie wusste es.

Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, rannte sie los. Dornen kratzten an ihrer Kleidung und hielten sie fest. Sie stolperte durch das Unterholz, über Äste und Gestein. Ein scharfer Schmerz zuckte durch ihren Fuß, als sie mit dem Knöchel umknickte und stürzte. Mühsam rappelte sie sich auf, sie hatte wertvolle Zeit verloren. Jeder weitere Schritt bedeutete einen stechenden Schmerz in dem verletzten Fuß. Sie versuchte weiterzurennen, doch sie war zu langsam. Tränen traten ihr in die Augen, als sie die Ausweglosigkeit ihrer Situation begriff.

Jetzt rief er ihren Namen.

»Warte, ich will nur mit dir reden.«

Sie hörte das Dickicht hinter sich brechen. Nicht mehr lange, dann hatte er sie erreicht. Mit letzter Kraft kämpfte sie sich vorwärts. Sie wollte nicht sterben. Nicht heute. Nicht so.

KAPITEL 1

 

Mit wachsendem Grauen betrachtete Hauptkommissarin Karla Sommerfeld den Knochen, den ihr das kleine Mädchen strahlend entgegenstreckte. Es war Mathilda. Das älteste Kind von Nina Burkhard, der Nachbarin ihrer Mutter. Sie hatte dieses Kind inzwischen liebgewonnen, ebenso wie die beiden jüngeren Geschwister Leon und Ida.

Umso größer war ihr Entsetzen darüber, was ihr dieses Mädchen jetzt zeigte. Heute. Am Geburtstag ihrer Mutter. Ausgerechnet.

Andererseits wäre es wohl an jedem anderen Tag genauso furchtbar gewesen. Sie zwang sich zur Sachlichkeit, während Mathilda sie erwartungsvoll ansah.

»Wie findest du es?«, fragte sie ungeduldig zum zweiten Mal.

»Das ist ein Knochen, Mathilda«, erwiderte Karla, ohne auf die Frage einzugehen.

»Weiß ich doch.«

Mathildas Lächeln verschwand, stattdessen zog sie einen Schmollmund, der Karla unter anderen Umständen zum Schmunzeln gebracht hätte. Aber nicht heute.

»Das ist der Knochen von einem Wildschwein«, erklärte Mathilda. Sie sprach langsam und deutlich, als wäre Karla ein bisschen schwer von Begriff.

»Ach ja? Darf ich mir den mal genauer anschauen?« Karla streckte die Hand aus.

Mathilda legte den Kopf schräg und blickte sie misstrauisch an. Es war klar, dass sie ihren Fund nicht abgeben wollte. Einen Moment lang kämpfte das Mädchen mit sich, dann gab es Karla den Knochen.

Karla atmete auf.

Sie nahm den Knochen vorsichtig in die Hand und drehte ihn ein wenig, während sie ihn genauer musterte.

»Der Knochen ist ganz sauber«, stellte sie fest.

»Ja«, bestätigte Mathilda stolz. »Ich habe ihn gewaschen, im Bach.«

Karla schauderte. Sie versuchte, das Bild abzuwehren, das sich ihr aufdrängte. Ein kleines Mädchen, das an dem Bachlauf am Waldkindergarten einen Knochen reinigte. Völlig ahnungslos, was es da in den kleinen Händen hielt.

Sie versuchte, den Knochen so wenig wie möglich zu berühren, und ging damit in die Küche. Mathilda folgte ihr auf dem Fuß.

In Ermangelung eines Asservatenbeutels holte Karla eine der durchsichtigen Plastiktüten aus der Schublade, die ihre Mutter zum Einfrieren von Gemüse aus dem Garten nutzte.

Unter Mathildas skeptischem Blick ließ sie den Knochen hineingleiten und erklärte ihr, dass sie ihn zur Untersuchung mit aufs Präsidium nehmen müsse.

Wie zu erwarten, war Mathilda nicht begeistert, und die Reaktion folgte augenblicklich.

»Gib ihn mir sofort zurück«, forderte sie. Zornestränen glitzerten in ihren Augen. Ihre Wangen waren gerötet vor Wut.

»Karla hat Mathilda den Knochen weggenommen«, sagte ihr Bruder Leon und sah seine Mutter auffordernd an. Offenbar erwartete er von ihr, dass sie das Problem löste und für Gerechtigkeit sorgte.

Leon war fünf, ein Jahr jünger als seine Schwester Mathilda. Wie alle Kinder in diesem Alter verließ er sich darauf, dass seine Mutter jedes noch so große Problem, das sich ihm stellte, aus dem Weg räumte, als wäre es ein Kieselstein.

Nina unterbrach das Gespräch mit Karlas Mutter, zog die Augenbrauen nach oben.

»Warum? Mathilda hat den Knochen im Kindergarten gefunden. Vermutlich ein Wildschweinknochen. Das ist nichts Ungewöhnliches, Karla. Es ist nicht das erste Mal, dass die Kinder im Waldkindergarten einen Tierknochen finden. Die Erzieherinnen reinigen ihn. Sie legen ihn in eine Lösung ein … Ich komme gerade nicht auf den Namen. Deshalb ist der Knochen so sauber. Du musst dir keine Sorgen machen.«

»Und weil ich ihn im Bach gewaschen habe«, wiederholte Mathilda wütend.

Karla ging nicht darauf ein, sondern sah Nina an und schüttelte kaum merklich den Kopf. Nina verstand sofort. Ihre Augen weiteten sich ungläubig.

»Du meinst …?«

Eine Sekunde lang war die Szene wie eingefroren. Karla mit der Tüte mit dem Knochen in der Hand. Nina, die sie ungläubig anstarrte. Mathilda und Leon, die erwartungsvoll ihre Mutter anschauten. Karlas Mutter am Kaffeetisch, deren Blick verständnislos von einem zum anderen wanderte, und die kleine Ida auf ihrem Schoß, die von alldem nichts mitzubekommen schien.

Nina erwachte aus ihrer Starre.

»Wasch dir sofort die Hände«, fuhr sie Mathilda an.

Die zuckte zusammen, gehorchte aber, offenbar eingeschüchtert von dem harschen Ton in der Stimme ihrer Mutter und der bedrückenden Atmosphäre, die sich wie ein dunkles Tuch über die Geburtstagsfeier gelegt hatte.

Karla nahm es mit schwerem Herzen zur Kenntnis. Wie sehr hatte sie ihrer Mutter einen unbeschwerten, glücklichen Tag gewünscht. Es war so schön, dass Nina und die Kinder sie heute an ihrem Geburtstag besuchten. Wie viel Leben diese Kinder ins Haus brachten. Das war wirklich ein Glück. Gerade jetzt, wo die Demenzerkrankung ihrer Mutter weiter voranschritt und sie zunehmend einsamer wurde.

Die Krankheit ihrer Mutter war der Grund, warum sie ihre Stelle bei der Kriminalpolizei in München aufgegeben hatte und nach Birkenweiler zurückgekehrt war.

Mit dem sicheren Gefühl, etwas Bösem nahe gekommen zu sein, betrachtete Karla den Knochen in der Plastiktüte neben dem Herd ihrer Mutter. Sie fühlte sich hilflos und gleichermaßen wütend. Das war das Zuhause ihrer Mutter, ihr Elternhaus, ein sicherer Ort. Hier sollte es nicht sein, das Böse. Nicht einmal ansatzweise. Nicht einmal eine Spur davon.

Und dennoch lag hier nun dieser Knochen. In der Küche ihrer Mutter.

Der Knochen war etwa handlang und s-förmig. An der Unterseite hatte er eine Rinne und ein kleines Loch. Das war kein Wildschweinknochen. Sie hatte einen solchen Knochen schon gesehen. Es war einer des menschlichen Skeletts, den man selbst als Laie gut erkannte. Ein Schlüsselbein. Es musste mit dem Teufel zugehen, wenn sie sich täuschte.

Wenn Mathilda den Knochen im Wald gefunden hatte, mussten da noch mehr Teile eines menschlichen Skeletts liegen. In unmittelbarer Nähe des Waldkindergartens? Der Gedanke ließ sie schaudern. Sie musste von Mathilda unbedingt mehr erfahren. Und zwar, ohne das Mädchen zu erschrecken.

Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken.

»Wann kommen die anderen Gäste?«, fragte sie.

Ihre Mutter trug ein neues Sommerkleid, hatte Make-up aufgelegt und die Haare schön frisiert. Karla fand, sie sah um Jahre jünger aus als in den letzten Wochen und Monaten. Sie zögerte. Auf keinen Fall wollte Karla ihr den Geburtstag vermiesen. Die Sache mit dem Knochen war schlimm genug.

Ihre Mutter hatte niemanden einladen wollen, aber offensichtlich hatte sie das vergessen. Karla suchte nach den richtigen Worten.

»Cornelia? Sie kommt doch, oder?« Ihre Mutter schaute fragend erst sie und dann Nina an. »Ich weiß, die Anreise ist lang. Trotzdem hat sie es versprochen. Dein Vater sagt immer …«

»Setz dich.« Karla schob ihre Mutter sanft zum Tisch.

»Was ist denn?«

»Cornelia ist tot, Mama«, sagte Karla. Cornelia war ihre beste Freundin gewesen. Sie war vor zwei Jahren gestorben. »Erinnerst du dich? Du warst auf ihrer Beerdigung.«

Nina beschäftigte sich mit der kleinen Ida auf ihrem Schoß und versuchte gleichzeitig, die beiden größeren Kinder in Schach zu halten. Wieder einmal war ihr Karla außerordentlich dankbar für ihre Geduld und ihr Verständnis.

Ihre Mutter sah sie einen Augenblick lang fassungslos an.

»Ja, natürlich.« Sie lachte verlegen und wischte sich eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht. Eine Geste aus der Vergangenheit. Genauso wie vieles andere, was sich zunehmend in ihren Alltag mischte. »Tut mir leid.«

Karla brach es beinahe das Herz, sie so hilflos zu sehen. Sie schlang die Arme um den mageren Körper ihrer Mutter, der von Monat zu Monat dünner wurde.

»Das muss dir doch nicht leidtun. Außerdem«, sie ließ ihre Mutter los, setzte sich ihr gegenüber und ergriff ihre Hände, »natürlich bekommst du noch mehr Besuch. Joachim kommt später. Mit Holly.«

Seit sie Joachim Reinhard im letzten Jahr zufällig bei den Ermittlungen zu einem Fall wieder begegnet war, hatte sich zwischen ihnen eine Beziehung entwickelt, die enger und vertrauensvoller war, als sie es je für möglich gehalten hatte. Sogar seine Schäferhündin Holly hatte sie so sehr ins Herz geschlossen, dass sie sich ein Leben ohne sie kaum mehr vorstellen konnte. Sie wusste, dass es ihrer Mutter ähnlich ging. Sie hatte in Joachim schneller den Schwiegersohn gesehen, den sie sich immer gewünscht hatte, als es Karla lieb war.

»Das ist schön, das ist wirklich sehr schön«, sagte ihre Mutter. In ihren Augen glänzten Tränen. »Ich wünschte nur, dein Vater könnte hier sein.«

»Ich weiß, Mama. Ich weiß.«

Draußen klopfte der Wind an die Scheiben, es war stürmisch. Ab und an brach die Sonne durch die Wolken und warf helle Muster auf den regennassen Frühjahresboden. Obwohl es erst Ende März war, hatte sie eine beachtliche Kraft. Karla konnte es kaum erwarten, dass die Tage wieder länger und heller wurden. Es wurde Zeit, dass sich der Winter zurückzog. In diesem Jahr war er besonders hartnäckig. Jedes Mal, wenn sie sich sicher war, er wäre vorbei, rieselten Schneeflocken vom Himmel und bedeckten die Erde mit einer weißen Decke, wenn auch nur kurz. Längst blühten die Schneeglöckchen in den Gärten, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die warme Jahreszeit endlich durchsetzen würde.

Mathildas Stimme holte Karla in die Gegenwart zurück.

»Was machst du denn jetzt mit meinem Knochen?«, fragte sie.

Erleichtert stellte Karla fest, dass sie etwas versöhnlicher wirkte als noch vor ein paar Minuten. Anscheinend nahm ihr das Mädchen nicht allzu übel, dass es seinen Schatz hergeben musste.

»Ich untersuche ihn, damit wir wissen, ob er wirklich von einem Wildschwein stammt. Ist das nicht spannend?« Karla bemühte sich um einen unbeschwerten Ton. Es fühlte sich unehrlich an, aber wozu hätte sie das Mädchen beunruhigen sollen?

Mathilda sah nicht überzeugt aus.

»Vielleicht ist der Knochen ja auch von einem Reh«, fuhr Karla fort. »Oder … Welche Tiere leben denn noch im Wald?«

»Fuchs«, rief Leon.

»Richtig«, lobte ihn Karlas Mutter.

»Bär«, sagte er begeistert.

»Bären leben nicht in unserem Wald«, wies Mathilda ihren kleinen Bruder verächtlich zurecht. »Du weißt wirklich gar nichts.«

»Mathilda, bitte«, ermahnte Nina ihre Tochter. Sie wirkte abwesend, Besorgnis lag auf ihrem Gesicht. Karla ahnte, worüber sie nachdachte.

»Stimmt doch.« Mathilda schmollte.

»Wo hast du denn den Knochen gefunden?«, fragte Karla schnell. »Kannst du dich noch an die Stelle erinnern?«

»Ja, ganz genau.«

»War das nahe bei der Kindergartenhütte?«

»Nein.«

»Kannst du mir beschreiben, wo das war?«

Mathilda schaute Nina Hilfe suchend an.

»Beschreiben ist ein bisschen schwierig«, sagte Nina. »Ist das denn so wichtig?«

»Nein, nein.« Karla schüttelte den Kopf. Sie wollte das Mädchen nicht überfordern. Sie konnte sich genauso gut den Fundort von Mathilda zeigen lassen. Am besten heute noch.

Die Türklingel schrillte und unterbrach das Gespräch. Es war Joachim. Seit sie ihm im letzten Sommer bei den Ermittlungen im Fall Sophia Bergmann zufällig wiederbegegnet war, hatte er einen festen Platz in ihrem Leben eingenommen.

Ihre Mutter strahlte, als er in die Küche trat und ihr einen großen Blumenstrauß überreichte. Karla suchte nach einer Vase. Sie freute sich darüber, wie herzlich die Beziehung zwischen ihrer Mutter und Joachim in den letzten Monaten geworden war.

»Was ist los?«, flüsterte er in Karlas Ohr, als sie sich streckte, um die Vase aus dem Schrank zu holen.

Wieder einmal fragte sie sich, ob er Gedanken lesen konnte. Oder lag es an ihr? Waren ihr ihre Stimmungen so offen anzusehen?

Er stand so dicht hinter ihr, dass sie seinen Körper warm an dem ihren spüren konnte. Sein Atem kitzelte in ihrem Nacken.

»Später«, sagte sie leise.

»Alles klar«, erwiderte er und küsste sie sanft auf den Hals.

Dann wandte er sich der kleinen Gesellschaft zu, sie folgte ihm mit der Vase in der Hand.

Mathilda und Leon nahmen Holly in Beschlag, die hinter Joachim in die Küche trottete. Die kleine Ida kletterte vom Schoß ihrer Mutter, gesellte sich zu ihren Geschwistern und fuhr mit ihrer kleinen Hand vorsichtig durch Hollys dichtes Fell. Die große Schäferhündin ließ sich die Streicheleinheiten der Kinder gerne gefallen, streckte alle viere von sich und schnaubte zufrieden.

Es hätte so ein friedlicher Tag sein können, dachte Karla.

KAPITEL 2

 

Karla verfluchte die Dunkelheit, die sich zu dieser Jahreszeit so früh über Birkenweiler herabsenkte. Bereits als Joachim das Haus betreten hatte, hatte sich die Dämmerung angedeutet. Kurze Zeit später herrschte tiefste Nacht. Der Himmel war wolkenverhangen, weder Mond noch Sterne waren zu sehen.

Am liebsten hätte sie sich noch heute von Mathilda den Fundort des Knochens zeigen lassen, aber das war in Anbetracht der Umstände unmöglich. Es sei denn, sie wollte mit einer Taschenlampe und einer Sechsjährigen bei Minusgraden durch den dunklen Wald wandern. Sie zwang sich zur Ruhe. Woher der Knochen auch stammte, er musste lange dort gelegen haben. Sie musste zügig handeln, doch Eile war sicher nicht vonnöten.

Während sie mit Joachim die schmutzigen Teller und Tassen in die Spülmaschine räumte, dachte sie darüber nach, wie sie vorgehen sollte. Nina hatte sich mit den Kindern verabschiedet, als es dunkel geworden war, und ihre Mutter ruhte sich auf dem Sofa aus.

Wie lange dauerte es, bis sich Muskeln und Gewebe vollständig von einem Knochen lösten?, überlegte Karla. Sie versuchte einzuschätzen, wie lange der Knochen wohl im Wald gelegen haben musste. Unter normalen Umweltbedingungen lösten sich die meisten Muskeln und Weichteile innerhalb von ein bis zwei Monaten nach dem Tod vom Knochen. In heißen oder feuchten Umgebungen schneller und in kalten oder trockenen Umgebungen langsamer.

»Alles okay?«, fragte Joachim, während er die Spülmaschine schloss und sie einschaltete.

Augenblicklich erfüllte ein leises Rauschen den Raum. Karla mochte das Geräusch. Es gehörte zu einem Zuhause, in dem die Welt in Ordnung war.

»Ja, alles okay«, antwortete sie und log damit in zweierlei Hinsicht. In Bezug auf den Knochen und in Bezug auf ihre Mutter, deren Zustand ihr mehr zu schaffen machte, als sie sich eingestehen wollte.

Sie würde mit Joachim zu Hause über den Knochenfund sprechen. Nicht hier in der Küche ihrer Mutter, an ihrem Geburtstag. Möglicherweise dem letzten, den sie bei einigermaßen klarem Verstand erlebte.

Karla stellte sicher, dass ihre Mutter alles hatte, was sie brauchte, und trat mit Joachim den Heimweg an.

Die Fenster der Häuser in Birkenweiler waren hell erleuchtet, während es draußen stürmischer wurde. Ein eisiger Wind zog über das Dorf hinweg und machte Karlas Hoffnung auf den Frühling wieder einmal zunichte.

Inzwischen hatte sie sich an das beschauliche Leben in dem Örtchen gewöhnt. An die Langsamkeit, die Behäbigkeit, die Übersichtlichkeit und die Nähe zur Natur. Wahrscheinlich war es das, was die hippen Großstädter als Entschleunigung und Achtsamkeit bezeichneten. Wie auch immer, es war genau das, was ihr guttat. All die Erinnerungen, vor denen sie sich gefürchtet hatte, waren weniger schlimm als angenommen.

Und so reifte in ihrem Kopf langsam der Plan, sich noch einmal im Detail anzusehen, was damals geschehen war, als ihr Vater von einem Tag auf den anderen verschwunden war. Sie würde es herausfinden. Schließlich war das der Grund, warum sie Polizistin geworden war. Das ganze Dorf war damals in hellem Aufruhr gewesen. Ein geachteter, einflussreicher Richter – einfach verschwunden. Das schien unmöglich, und doch war es geschehen. Ansonsten passierte hier kaum einmal etwas.

Bis auf den Vorfall im letzten Jahr, als Sophia Bergmann auf dem nahe gelegenen Campingplatz spurlos verschwunden war. Und heute.

Joachim drehte die Heizung hoch, als sie in ihrer Wohnung in der Lilienstraße ankamen. Karla zog die grobmaschige cremefarbene Strickjacke über und holte eine Flasche Rotwein aus dem Regal.

Mit einem leisen Seufzen ließ sie sich aufs Sofa fallen und streichelte Holly, die sich zu ihren Füßen niedergelassen hatte, durchs warme Fell.

»Also doch nicht alles okay«, stellte Joachim fest, während er den Wein entkorkte. »Sagst du mir jetzt, was los ist?«

»Ninas Kinder haben einen Knochen im Wald gefunden. Angeblich von einem Wildschwein«, berichtete Karla.

Sie war froh, endlich mit ihm in Ruhe darüber sprechen zu können. Er war Polizist wie sie. Er würde sie verstehen. Sie legte großen Wert auf seine Meinung und Erfahrung.

»Und? Das kommt vor. Was bedrückt dich?« Er goss zwei Fingerbreit Wein in die bauchigen Gläser.

Karla setzte sich auf. »Es sieht eher aus wie ein menschlicher Knochen.«

Er runzelte die Stirn. »Bist du dir sicher?«

»Ja, ziemlich sicher.«

»Ziemlich?«, wiederholte er. »Wo ist der Knochen jetzt?«

»In meiner Tasche.«

»Haben sie ihn dir freiwillig gegeben?«, fragte Joachim belustigt, ehe seine Miene wieder ernst wurde.

»Na ja, ein bisschen Überredungskunst war schon nötig«, gab Karla zu.

»Das kann ich mir denken. Zeig ihn mir.«

Karla holte den Knochen und legte ihn in der Plastiktüte auf den Tisch.

Joachim betrachtete ihn, ohne ihn herauszunehmen. »Schlüsselbein, würde ich sagen.«

»Ja, das glaube ich auch.« Sie drehte die Plastiktüte mit dem Knochen vorsichtig. »Hier ist die Rinne, durch die sich der Unterschlüsselbeinmuskel zieht, und das Loch, durch das das Blutgefäß zur Versorgung des Knochens mit Sauerstoff und Nährstoffen hindurchtritt.«

Er nickte. »Wo haben die Kinder den Knochen gefunden?«

Karla zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck Wein.

»Es ist ziemlich schwierig für eine Sechsjährige und einen Fünfjährigen, eine genaue Stelle im Wald zu beschreiben«, sagte sie. »Kein Wunder, daran würden schon die meisten Erwachsenen scheitern.«

»Vermutlich«, pflichtete Joachim ihr bei. »Wie willst du vorgehen?«

»Ich gebe den Knochen morgen den Kollegen zur weiteren Untersuchung. Gleichzeitig lasse ich mir von den Kindern zeigen, wo sie ihn gefunden haben. Ich glaube nicht, dass die Untersuchung des Knochens mit einer Überraschung endet. Es ist doch eindeutig ein menschliches Schlüsselbein. Warum also nicht gleich mit den Ermittlungen beginnen?«

»Du hast recht. Allerdings sehe ich keinen Grund zur Eile. Die Person, der das Schlüsselbein gehört hat, ist mit Sicherheit vor Jahren gestorben.«

»Deshalb ist der Fall weniger wichtig?«

»So habe ich das nicht gemeint«, sagte Joachim.

»So hat es sich aber angehört.«

Obwohl sie vorher einen ähnlichen Gedanken gehabt hatte, war Karla verärgert. Sie hatte das Gefühl, dass Joachim die Sache nicht ernst genug nahm. Gleichzeitig wusste sie, dass er während der Jahre als Hundeführer im Polizeidienst so vieles gesehen hatte, dass ihn der Anblick eines einzelnen Knochens nicht aus der Ruhe brachte.

Sie war überzeugt, dass dieser Knochen dem Opfer einer Gewalttat gehörte. Wie sonst wäre er in den Wald gelangt? Und war es nicht umso wichtiger, Gerechtigkeit herzustellen, wenn der Täter bereits so lange mit dem Unrecht davongekommen war? Außerdem war es unmöglich zu sagen, wie alt der Knochen war, ohne ihn zu untersuchen. Und es gab einen weiteren Punkt, der ihr Sorgen bereitete. Wer einmal zu einer Gewalttat fähig war, der könnte es wieder tun. Sie würde jedenfalls nicht unnötig Zeit verstreichen lassen. Ihr fiel etwas ein.

»Der Friedhof liegt doch am Waldrand. Hältst du es für möglich, dass ein Tier dort einen Knochen ausgegraben und in den Wald geschleppt hat?«

Joachim schüttelte den Kopf.

»Unwahrscheinlich. Historisch gesehen gab es auf weniger regulierten und überwachten Friedhöfen solche Vorfälle. Auf modernen Friedhöfen sind die Gräber normalerweise so gut gesichert, dass so etwas kaum vorkommt. Zumindest habe ich in der jüngeren Vergangenheit nie von so einem Fall gehört. Außerdem hätte das jemand gemeldet. Es hätte eindeutige Spuren von Verwüstung auf dem Friedhof geben müssen.«

Er hatte recht. Karla hatte es auch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Trotzdem nahm sie sich vor, gleich morgen Vormittag bei der Friedhofsverwaltung anzurufen, um sicherzugehen. Mit Wahrscheinlichkeiten konnte sie nicht arbeiten. Das Einzige, was zählte, waren Fakten.

Sie beugte sich vor und begutachtete noch einmal den Knochen, der vor ihr auf dem Tisch lag. Im flackernden Licht der Kerze wirkte er unecht. Sie seufzte. Ganz egal wie lange sie den Knochen studieren würde, an diesem Abend würde er kein Geheimnis mehr preisgeben. Morgen würden sich die Kollegen von der kriminaltechnischen Untersuchung darum kümmern, dann würde sie bald klüger sein, was seine Herkunft betraf. Für heute konnte sie nichts weiter ausrichten.

KAPITEL 3

 

In dieser Nacht fand Karla nur wenig Schlaf. Unruhig wälzte sie sich im Bett von einer Seite auf die andere, während Joachim leise neben ihr schnarchte und draußen ein Sturm tobte. Der Wind rüttelte an den Fenstern, und ein schauriges Tosen ertönte jedes Mal, wenn er an Kraft zunahm.

Bilder von Wildschweinen, dunklen Tannen und schemenhaften Gestalten zogen durch Karlas Träume und ließen sie aufschrecken. Sie roch die feuchte, aufgewühlte Erde und hörte das aufgeregte Grunzen der Tiere. Die vielen Fragen und der unerträgliche Gedanke an einen Menschen, dessen Gebeine irgendwo da draußen verborgen lagen, verfolgten sie die ganze Nacht.

Als der Morgen über den Wäldern dämmerte und sich die Nacht zurückzog, ließ der Sturm nach.

Karla stand am Fenster und beobachtete, wie das erste Licht des Tages die Dunkelheit durchbrach. In der Hand hielt sie eine Tasse Kaffee, aus der sie ab und an einen Schluck trank, während sie immer wieder auf die Uhr sah. Sie konnte es kaum erwarten, die Schrecken der Nacht hinter sich zu lassen.

Sobald es hell wurde, würde sie loslaufen. Ihre Füße steckten bereits in den roten Laufschuhen mit extrastarker Dämpfung und wasserdichter Membran. Die richtige Ausstattung für diese Tage Ende März, wenn die Wiesen und Wälder morgens noch nass waren.

Kurze Zeit später lief Karla die Straße hinab und steigerte allmählich das Tempo. Seit einem Ermüdungsbruch am linken Mittelfuß vor ein paar Jahren wusste sie, wie wichtig es war, das Training ruhig zu beginnen und die Geschwindigkeit erst dann zu erhöhen, wenn die Muskeln warm waren.

Sie hielt sich eisern daran. Disziplin war eine ihrer Stärken.

Die Zehn-Kilometer-Runde schaffte sie in einer Stunde und vier Minuten. Durch das Tal, das sich unterhalb von Birkenweiler erstreckte, am Bach entlang in den Wald. Dann den Berg hinauf und vom oberen Ende wieder in die Ortschaft hinein. In den Stallgebäuden des Schindler-Hofs, der eingebettet in Wiesen und Felder in dem kleinen Tal lag, brannte bereits Licht.

Im vergangenen Sommer hatte sie die gleiche Strecke unter einer Stunde geschafft. Ihre Kondition hatte sich in den Wintermonaten verschlechtert. Sie war weniger gelaufen und nahm sich vor, die Trainingseinheiten auszuweiten.

Als sie zurückkam, saß Joachim in der Küche, trank einen Kaffee und las auf dem Handy. Die Nachrichten vermutlich. In den letzten Monaten verbrachte er mehr Zeit bei ihr als in seiner Wohnung. Seit sie sich im vergangenen Sommer unverhofft wieder getroffen hatten, war ihre Beziehung schnell enger geworden. So eng sogar, dass es Karla zuweilen etwas beängstigend fand. Sie konnte sich das Leben ohne Joachim kaum mehr vorstellen, und das nach wenigen Monaten. Das war schön und gleichzeitig verunsichernd.

Zu Joachims Füßen lag Holly, die sich schwanzwedelnd erhob, als Karla den Raum betrat und sie freudig begrüßte. Sie war zu alt, um mit ihr die zehn Kilometer zu laufen, ansonsten hätte sie die Hündin gerne mitgenommen. Karla begrüßte Joachim mit einem Kuss auf den Mund, ehe sie sich ein Glas Wasser einschenkte und sich zu ihm setzte.

Dabei erhaschte sie einen Blick auf sein Handy. Er las nicht die Nachrichten, wie er es üblicherweise am Morgen tat, sondern einen Fachartikel über Forensik. Offensichtlich hatte ihn der Knochenfund ebenso verfolgt. Bis an den Frühstückstisch.

»Was liest du?«, fragte sie und beugte sich neugierig nach vorne.

»Einen Artikel zur Bestimmung der Zersetzungsdauer von Knochen unter verschiedenen klimatischen und bodenbedingten Bedingungen, beispielsweise durch die Analyse von Spuren von Insekten oder Pilzen, die sich auf den Knochen ablagern«, antwortete er. »Ist wirklich interessant.«

»Gib mir die Kurzversion«, rief sie und war schon auf dem Weg ins Bad, um eine Dusche zu nehmen, ehe sie auf die Polizeiwache fuhr.

Er stellte sich an die offene Badtür.

»Die Zersetzung von Knochen wird von Klima, Boden und biologischen Prozessen beeinflusst«, dozierte er. »In feuchten, sauren Böden zersetzen sich Knochen schneller, während Trockenheit oder Kälte sie konserviert. UV-Strahlung kann sie spröde machen, während Mineralien im Boden entweder den Abbau beschleunigen oder konservierend wirken. Insekten wie Käferlarven und Aasfresser hinterlassen Fraßspuren, Pilze und Bakterien bauen das organische Material dagegen ab.«

Karla hörte aufmerksam zu, wusch sich dabei die Haare und stieg eilig aus der Dusche. Erst als sie nach ihrem Handtuch griff, wurde ihr bewusst, dass Joachim mit einem breiten Grinsen im Türrahmen stand und sie beobachtete. Er hatte seinen kleinen Vortrag längst beendet.

KAPITEL 4

 

Als Karla auf der Polizeiwache eintraf, war Kollege Henning Meyer noch nicht an seinem Platz. Der altmodische, schwere Stuhl mit den Rollen stand verwaist hinter seinem Schreibtisch. Karla schaltete das Licht ein und zog die Jalousien hoch. Dann drückte sie den Startknopf ihres Computers, der leise surrend hochfuhr. Sie musste dringend einen neuen Versuch unternehmen, die kleine Polizeiwache zu modernisieren. Bei den letzten Malen war sie kläglich gescheitert, was dazu führte, dass sie parallel zu dem in die Jahre gekommenen Computer ihr privates Tablet benutzte.

Der Gedanke daran, dass die Polizeiwache in Birkenweiler im Zuge der nächsten Rationalisierungsmaßnahmen geschlossen werden könnte, bereitete ihr Bauchschmerzen. Sie schob ihn beiseite und griff zum Telefon.

Im gleichen Moment betrat Polizeioberkommissar Henning Meyer den Raum. Er trug eine altmodische Winterjacke und Handschuhe. Sie grüßte ihn mit einem Nicken und deutete mit dem Zeigefinger auf den Knochen, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag, noch immer in der Plastiktüte, um ihn vor Kontaminationen zu schützen.

Er beugte sich darüber – übertrieben nah, wie Karla fand. Meyer, der Menschen auf Abstand hielt, schien bei Knochen keine Berührungsängste zu haben.

Der Kollege von der kriminaltechnischen Untersuchungsstelle, kurz KTU, nahm ab.

»Hauptkommissarin Sommerfeld«, meldete sich Karla. »Wir haben hier einen Knochenfund, den ihr euch unbedingt mal anschauen solltet.«

Sie war froh, dass sie so viele Kollegen im Umfeld kannte, das machte einiges unkomplizierter. Und tatsächlich erklärte sich der Kollege bereit, den Knochen noch heute oder spätestens morgen früh anzusehen.

»Nicht morgen, heute«, beharrte Karla. Sie wollte wissen, womit sie es zu tun hatte, und zwar schnell. »Ich brauche alle Infos, die du rausfinden kannst. Das volle Programm. Alter, Größe, Geschlecht, Herkunft, Gesundheitszustand, Todeszeitpunkt.«

»Gut«, willigte der Kollege ein. »So bald wie möglich, Karla. Bring den Knochen ins Labor, und ich schaue ihn mir an. Die forensische Untersuchung kann ich relativ schnell machen. Aber die DNA-Analyse wird ein paar Tage dauern, das weißt du ja.«

Natürlich wusste Karla das. Auch dass es beinahe unmöglich war, den Vorgang zu beschleunigen, vor allem wenn keine Gefahr im Verzug war. Und davon war hier nun wirklich nicht auszugehen. Je nach Auslastung des Labors würden die Ergebnisse erst in ein paar Tagen oder schlimmstenfalls erst in ein paar Wochen vorliegen. Der Abgleich mit den DNA-Profilen in der Vermisstendatenbank würde dann auch noch einmal Zeit in Anspruch nehmen.

Karla bedankte sich und beendete den Anruf. Der Knochen musste schnellstens nach München, doch sie verspürte nicht die geringste Lust, den halben Tag im Auto zu verbringen. Viel lieber wollte sie sich den Fundort im Wald zeigen lassen. Nun ja, manche Dinge ließen sich nicht ändern. Oder möglicherweise doch?

»Dieser Knochen muss schnellstmöglich zur KTU nach München«, erklärte sie Meyer.

»Aha.« Henning Meyer betrachtete den Knochen noch immer eingehend. »Schlüsselbein?«

»Davon gehe ich aus.«

»Woher haben Sie den?«, fragte er.

»Kinder haben ihn in der Nähe des Waldkindergartens gefunden«, berichtete Karla. »Den genauen Fundort kenne ich noch nicht.«

Meyer ging ein Stück um den Tisch herum und begutachtete den Knochen mit schräg gelegtem Kopf von der anderen Seite.

»Könnten Sie den Knochen bitte in die KTU nach München bringen?« Karla fragte sich, ob er den Hinweis eben nicht verstanden hatte oder nicht verstehen wollte. Sie vermutete Letzteres.

Meyer hob erstaunt den Kopf. »Ich?«

»Ja, warum denn nicht?«, fragte Karla.

Zwar hatte sich ihr Verhältnis zu Henning Meyer seit dem Fall Sophia Bergmann, der sie einige Nerven und schlaflose Nächte gekostet hatte, verbessert. Doch die Einstellung des Kollegen zur Arbeit hatte sich dadurch nicht wesentlich verändert. Kurz gesagt, er wartete auf die Rente. Andererseits war seit Sophia Bergmanns Verschwinden nicht mehr viel passiert in Birkenweiler, sodass die Tage recht beschaulich dahinzogen.

»Gut.« Meyer hob die Schultern. Er fügte sich in sein Schicksal.

Karla war kurz davor zu fragen, ob er sich stattdessen lieber von den Kindergartenkindern die Fundstelle des Knochens zeigen lassen würde. Aber sie kannte die Antwort ohnehin. Er würde die Fahrt ins Labor vorziehen. Wenn möglich, vermied Henning Meyer den Kontakt mit anderen Menschen, genauso wie unnötige Bewegung. Außerdem war er pingelig. Doch an all das hatte sie sich inzwischen gewöhnt, obwohl sie es kauzig fand. Sie mochte ihren Kollegen mit all seinen Eigenarten und würde ihn vermissen, wenn er sich in den Ruhestand verabschieden würde.

»Bitte.« Sie reichte Meyer die Plastiktüte mit dem Knochen.

Er nahm sie vorsichtig entgegen.

»Gut möglich, dass es länger dauert«, brummte er. »Ist bestimmt viel Verkehr auf der Straße.«

»Kein Problem«, erwiderte Karla geduldig. »Ich lasse mir derweil von den Kindern die Fundstelle des Knochens zeigen.«

Sie sah ihm zu, wie er umständlich seine Winterjacke überzog und mit der Plastiktüte in der Hand und einem säuerlichen Ausdruck im Gesicht hinaus in den kalten Morgen trat.

Dann wählte sie die Nummer der Friedhofsverwaltung.