Tante Poldi und die Früchte des Herrn - Mario Giordano - E-Book + Hörbuch

Tante Poldi und die Früchte des Herrn Hörbuch

Mario Giordano

4,5

Beschreibung

Tante Poldi ist sauer: Zuerst wird ihr das Wasser abgestellt, dann auch noch der Hund ihrer Freundin um die Ecke gebracht. Kreizsacklzement! Erste Ermittlungen führen sie zum Winzer Avola. Und der ist auch noch so hammer-attraktiv, dass die Poldi nach einer heißen Nacht prompt ihre Ermittlungen vergisst.

Bis am nächsten Morgen die Polizei vor Avolas Tür steht. Denn zwischen seinen Reben wurde eine Leiche gefunden, und Commissario Montana ist alles andere als erfreut, dass ausgerechnet Poldi Avola ein Alibi geben kann. Außerdem bleibt die Frage: Wer hat Giuliana getötet - und warum?


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Inhalt

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Über dieses Buch

Tante Poldi ist sauer: Zuerst wird ihr das Wasser abgestellt, dann auch noch der Hund ihrer Freundin um die Ecke gebracht. Kreizsacklzement! Erste Ermittlungen führen sie zum Winzer Avola. Und der ist auch noch so hammer-attraktiv, dass die Poldi nach einer heißen Nacht prompt ihre Ermittlungen vergisst.

Bis am nächsten Morgen die Polizei vor Avolas Tür steht. Denn zwischen seinen Reben wurde eine Leiche gefunden, und Commissario Montana ist alles andere als erfreut, dass ausgerechnet Poldi Avola ein Alibi geben kann. Außerdem bleibt die Frage: Wer hat Giuliana getötet – und warum?

Über den Autor

Mario Giordano, geboren 1963 in München, studierte Psychologie in Düsseldorf, schreibt Romane, Jugendbücher und Drehbücher (u. a. Tatort, Schimanski, Polizeiruf 110, Das Experiment). Er lebt in Köln.

MARIO GIORDANO

Tante

PoldiUND DIE

FRÜCHTE DES

HERRN

Kriminalroman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Daniela Jarzynka

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotiv © Martina Frank, München

E-Book-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-732-52355-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1. Kapitel

Erzählt vom Wasser, Tölen, Schatten und Deliziosi und von den Sorgen der Familie um Poldis inneres Gleichgewicht. Die Poldi ist der Star von Torre Archirafi und hat Blut geleckt. Da ist der Konflikt mit Montana praktisch vorprogrammiert. Aber wenn der Ruf der Gene einmal erschallt ist, ist die Poldi auch nicht durch Hitze, Ascheregen oder schwäbische Studienreisende zu stoppen.

Irgendjemand hatte der gesamten Via Baronessa das Wasser abgedreht, und irgendjemand hatte Lady vergiftet. Durst und Mord – sprich: alles, was meine Tante Poldi hasste und ihr inneres Gleichgewicht mehr erschütterte als der Anblick eines stattlichen, tadellos uniformierten Vigile.

Lady war eine von Valéries freundlichen Tölen gewesen. Eine kurzbeinige Promenadenmischung, eine struppige Kläfferin mit Unterbiss, die mit ihrem Zwillingsbruder Oscar auf Femminamorta die Ratten verjagt und die Gäste begrüßt hatte. Jeder, einfach jeder, der sie kannte, hatte »Läddi« geliebt, denn sie hatte ihr kleines Herz freigiebig und großzügig an alle verschenkt. Bei jedem Besuch war sie schier verrückt geworden vor Kennenlern- oder Wiedersehensfreude und hatte selbst Valéries misanthropische französische Verwandte im Schwanzwedelstreich geknackt. Den ganzen Tag über hatte man Valéries Arbeiter in der Palmenplantage »Läddi! Läddi!« rufen hören und kurz darauf Läddis heisere, begeisterte Antwort. Bis man ihren kleinen struppigen Körper dann eines Morgens steif und schmutzig im Hof fand. Ein Giftköder, wie der Tierarzt diagnostizierte.

Ganz klar also, dass meine Tante Poldi, stur und bayerisch, das Gleichgewicht wiederherstellen musste. Die Dinge ins Lot ruckeln. Das Wasser wieder zum Fließen bringen. Ladys Mörder finden. Gerechtigkeit schaffen.

Zumal meine Tante Poldi, darf man nicht vergessen, ohnehin auf einem schmalen Grat zwischen Lebenslust und Schwermut balancierte. Da wollte sie wenigstens um sich herum Ordnung schaffen, denn Ordnung zu schaffen half der Poldi immer ein wenig über die Schwermutsattacken hinweg.

Meine Tante Poldi war die Frau meines verstorbenen Onkels Peppe gewesen, der im Gegensatz zu seinen Eltern und seinen Schwestern Teresa, Caterina und Luisa in den Siebzigerjahren nicht nach Sizilien zurückgegangen, sondern wie mein Vater in München geblieben war. Mein Onkel Peppe war Münchner durch und durch gewesen, kann man sagen. Ich erinnere mich an ihn eigentlich nur mit einer Maß Bier in der einen und einer Roth-Händle in der anderen Hand. Er hat nur bairisch und sizilianisch gesprochen, ein richtiges Italienisch oder Deutsch hat er nie hingekriegt. Mein Onkel Peppe war immer das schwarze Schaf der Familie gewesen, der coole Wilde mit den unzähligen Affären, den zweifelhaften Spezis, den wilden Partys, den Abstürzen, dem Job beim Film, den spektakulären Autounfällen, den Pleiten und spinnerten Geschäftsideen. Sprich, mein Lieblingsonkel. Erst die Heirat mit einer gewissen Isolde Oberreiter, genannt Poldi, hat ihn später etwas stabilisiert. Sie waren ein glamouröses Paar, der Peppe und die Poldi, dünn wie Rockstars, Kettenraucher, Trinker, großzügig und freigiebig und nach Aussage meiner Mutter die einfühlsamsten Freunde, die man sich vorstellen konnte. Das ist alles lange her. Irgendwann, erinnere ich mich, sprachen meine Eltern darüber, dass Peppe und Poldi sich scheiden lassen würden, und sie wirkten nicht sonderlich überrascht. Ein Jahr darauf heiratete mein Onkel Peppe neu, und dann starb er, und wir verloren den Kontakt zur Poldi. Von Tante Teresa hörten wir einige Jahre später, dass die Poldi ein Haus in Tansania gekauft habe, aber viel mehr wusste niemand.

Und dann war die Poldi plötzlich wieder zurück in München, erbte das Häuschen ihrer Eltern, verkaufte alles, brach sämtliche Brücken ab und zog an ihrem sechzigsten Geburtstag nach Sizilien, ins beschauliche Torre Archirafi an der Ostküste zwischen Catania und Taormina, um sich dort gepflegt zu Tode zu saufen und dabei aufs Meer zu schauen. So weit der Plan. Warum und wieso jetzt genau, wusste keiner. Nur, dass man etwas dagegen tun musste, und das »man« schloss auch mich mit ein, da ich in den Augen meiner Tanten ohnehin praktisch arbeitslos war. Seitdem flog ich einmal im Monat für eine Woche nach Sizilien, um in Poldis Gästezimmer in der Via Baronessa 29 an meinem Familienroman zu arbeiten und nebenbei die Alkoholvorräte zu entsorgen.

Der Mord an Valentino, die Begegnung mit Vito Montana, ihre Freundschaft mit Valérie und der traurigen Signora Cocuzza, die Bemühungen meiner Tanten und nicht zuletzt der Jagdinstinkt hatten der Poldi zwar einstweilen einen Strich durch die Rechnung mit dem Tod gemacht, aber man weiß ja, wie so was geht. Für den Augenblick ist Ruhe, alle atmen auf, der Drops scheint gelutscht, die Sonne bricht durch die Wolken, der Blick richtet sich erneut in die Ferne, die Zigarette schmeckt auf einmal wieder, die Luft summt nur so vor Leben, die ganze Welt ist ein heimeliger Ort, der dir aus allen Ecken nur so Versprechen und Verheißung zuraunt. Einfach herrlich, wer kennt das nicht. Doch dann – wie aus dem Nichts, zack!, keiner hat’s kommen sehen – dreht der Wind, und das Schicksal schüttet einen Kübel Unrat über dir aus und kichert sich eins dabei. Und du denkst nur: »Boah, jetzt brauch ich erst mal einen Drink.« Und der ganze Mist geht wieder von vorne los.

Kein Wunder also, dass meine Tanten ein wenig alarmiert reagierten, als die Poldi nach zwei Wochen immer noch kein fließendes Wasser hatte und dann auch noch Lady vergiftet wurde. Keine Frage, der Wind hatte gedreht, das Eis wurde wieder dünner.

»Du musst kommen!«, sagte mir meine Patentante Luisa am Telefon. »Sofort.«

»Geht nicht«, versuchte ich, mich herauszuwinden. »Ich arbeite gerade an einem super dringenden Pitch fürs Fernsehen. Vorabendserie. Krimi light. Zwar nicht ganz mein Genre, aber könnte eventuell eine große Sache werden, verstehst du?«

»Ich reich dich mal rüber.« Die Patentante seufzte und gab den Hörer ihrer Schwester Teresa, die bei uns in der Familie der Boss ist.

Klar, was das bedeutete: Ende der Diskussion, nämlich.

Durch die Leitung hörte ich Luisa etwas auf Italienisch flüstern und dann die weiche, immer noch jugendliche Stimme meiner Tante Teresa.

»Wie geht es dir, tesoro? Kommst du mit deinem Roman voran?«

Ich hatte es geahnt.

»Geht so«, druckste ich herum. »Fühlt sich eigentlich alles ganz gut an. Erstes Kapitel so gut wie fertig. Mir fehlt nur gerade ein bisschen …«

»Weil du dich verzettelst«, erklärte mir Tante Teresa sanft. »Was du brauchst, ist Konzentration aufs Wesentliche.«

Wo sie recht hatte …

»Und nebenbei könntest du ein Auge auf die Poldi haben.«

Ich schwieg, und Tante Teresa wechselte ins Italienische, was immer ein Zeichen dafür ist, dass der Luftdruck fällt.

»Sie mag dich.«

»Was?«

»Irgendwie. Wir sprechen jedenfalls oft über dich.«

»Äh, was denn?«, fragte ich misstrauisch.

Tante Teresa ging nicht darauf ein. »Diese Fernsehsache – liegt dir die am Herzen?«

Treffer, versenkt.

Am nächsten Mittag landete ich in Catania, wurde von Tante Teresa mit spaghetti al nero di seppie bekocht, beantwortete brav alle Fragen nach dem Befinden der Familie in Deutschland und saß abends bereits wieder bei meiner Tante Poldi in Torre Archirafi auf dem Sofa. Und das Seltsamste daran war: Ich fühlte mich wie nach Hause zurückgekehrt und meinem verkorksten Familienroman so nah wie lange nicht mehr.

»Du hast ein Bäuchlein bekommen«, stellte die Poldi fest, als sie mir die Tür öffnete.

»Hab ich nicht! Aber danke, ich freu mich auch, wieder hier zu sein.«

Sie ließ mich eintreten und ging zurück ins Haus. »I sag ja nur. Ein kleines Bäuchlein, des steht jedem Mann. Kompakt muss es halt sein. In der Kunst und der Erotik ist alles nur eine Frage der Proportion, merk dir des für deinen Roman.«

Ich ignorierte den Kommentar und sah mich um. Eines beruhigte mich: Das Projekt Totsaufen mit Meerblick schien vorerst immer noch on the rocks zu liegen. Ich entdeckte nirgendwo Nester mit leeren Schnapsflaschen, das Haus wirkte frisch geputzt und aufgeräumt, die Kübelpflanzen auf der Terrasse ausreichend gewässert, der Kühlschrank voller Gemüse. Kein Anzeichen von Verwahrlosung. Aber wie gesagt, schmaler Grat, ein somnambuler Tanz auf dem Vulkan. Nicht mal die Tanten erwarteten ernsthaft, dass die Poldi von einem auf den anderen Tag stocknüchtern bleiben würde, aber tatsächlich trank die Poldi nicht mehr als eine Flasche Prosecco am Tag, das halbe Weizen zum pranzo und der kleine corretto am Nachmittag mal nicht mitgerechnet. Die Poldi wirkte frisch und wie neu erblüht. Aufgetufft und duftend, im wallenden Seidenkaftan mit tüchtig Ausschnitt, die Perücke kunstvoll toupiert, flanierte sie täglich zur passeggiata den lungomare auf und ab. Montags ging sie zum Strand, dienstags begleitete sie Onkel Martino zum Fischmarkt in Catania, mittwochs Tante Luisa in den Lido Galatea. Donnerstags Tee mit Valérie, freitags legte die Poldi Commissario Montana flach, samstags dann Rommé mit Signora Cocuzza und Padre Paolo, sonntags ging sie manchmal mit Teresa und Martino in die Pilze und genoss im Übrigen ihre neue lokale Prominenz, nachdem sie den Candela-Fall auf so spektakuläre Weise aufgeklärt hatte. Was sage ich, lokal! Sogar der Augsburger Heimatkurier hatte sie dazu interviewt.

Kurz gesagt: Meine Tante Poldi hatte einen Flow. Sie war der Star von Torre Archirafi. Sie wurde allenthalben um Selfies gebeten. Sie erhielt Hochzeitseinladungen. Sie ging sogar regelmäßig sonntags zur Messe bei Padre Paolo, weil das mehr oder weniger ihrer neuen sozialen Stellung in Torre Archirafi entsprach. Sie hatte sich eine Vespa zugelegt. Und zwar nicht irgendeine, sondern ein restauriertes 125er PX-Modell, von meinem Cousin Marco, der ein Händchen für so was hat, bemalt wie ein caretto siciliano. Das traditionelle Design sizilianischer Eselskarren also, gegen das selbst indische Tuk-Tuks langweilig abstinken. Mit knallbunten Ornamenten, viel Schnickschnack und kleinen Moritatenbildern von Ritter Rinaldo und der schönen Angelica, und in diesem speziellen Fall auch kunstvollen Airbrush-Episoden der Poldi im Candela-Fall.

»Weiß schon«, sagte ich ein bisschen neidisch, als sie mir die Vespa präsentierte. »Dezenz ist Schwäche.«

»Mei, nicht, dass du denkst, i wär jetzt vollkommen überg’schnappt. I hab’s halt gern bunt. Mit Eitelkeit hat des fei gar nix zu tun. Des ist einfach ein Bekenntnis zu unseren Traditionen.«

»Unseren.«

»Sizilianer sein, des ist keine Frage der Gene, sondern des Herzens, merk dir des. Und von Herzensfragen versteh i was. I hab des immer g’wusst, dass i in einem früheren Leben eine Sizilianerin war. Massai und Sizilianerin, weißt. I spür des einfach. Des hat mir damals in Los Angeles auch die Käschrin g’sagt.«

»Äh, welche Käschrin jetzt?«

»Na, die Käschrin Hepburn, natürlich. Die hatte die Gabe, des weiß fast keiner. Tolle Frau. Überg’schnappt, aber herzensgut. Du, vielleicht geh i demnächst einmal zu einer Wahrsagerin und mach eine Rückführung, was meinst?«

Meine Tante Poldi war kein Mensch, der die Dinge gerne auf die lange Bank schob. Oder eben Durst und unaufgeklärte Mordfälle gut ertragen konnte.

Und damit fingen die Schwierigkeiten immer an.

Der Oktober ist ja einer der schönsten Monate in Sizilien. Wenn der Sommer seine Faust wieder öffnet und ein wenig Wind ins Haus und dich wieder zu Atem kommen lässt. Wenn das Licht so weich wird wie der limoncello meiner Tante Caterina und du jetzt abends wieder einen Pullover mitnimmst, nur für alle Fälle. Wenn die Bretterbuden und Holzplattformen am lungomare von Torre Archirafi verpufft sind wie der wirbelnde Spuk aus Kindergeschrei, Lachen, Geflirte, kleinen Dramen und heimlichen Blicken auf sonnengebräunte Haut. Wenn du immer noch neidische Textnachrichten aus Deutschland bekommst, wegen des Wetters. Wenn die Kellner in den Bars wieder gesprächig werden und oben am Ätna der allererste Schnee fällt. Wenn etwas weiter unten zwischen Trecastagni und Zafferana die Weinernte anläuft und wenn dich nun morgens die bange Frage in die Bar weht, ob es noch granitadigelsi gibt, Maulbeersorbet. Also, ich mag den Oktober. Aber dieser Oktober war anders. Nämlich immer noch knallheiß, eine Blase aus geschmolzenem Glas, die trotzig auf das ganze Land drückte, entschlossen, auch noch das letzte Fitzelchen Grün zu verdörren. Von Nordafrika fauchte ein Schirokko die halbe Sahara übers Meer, um Autolacke und Kehlen stumpf zu schmirgeln, und überall im Land loderten Migränen und Buschbrände. Verschärfend hinzu kam die ungebrochene Aktivität des Ätna. Seit Wochen stand eine über tausend Meter hohe Rauchsäule über dem Hauptkrater, und jede Nacht konnte man spektakuläre Eruptionen und Lavaströme bewundern. Der Mongibello,der Berg der Berge, ächzte und schnaufte im Minutentakt. Jeden Tag. Jede Nacht. Ein uralter, dumpfer Gruß aus den Eingeweiden der Erde, der an den Nerven rüttelte und jedem durch und durch ging. Wenn der Schirokko eine Pause einlegte, übernahm der Ätna, ließ Bimssteinbröckchen und Vulkanasche über Torre Archirafi schneien, die sich zentimeterhoch in die Straßen und auf die Dachterrassen legten, bis man ihnen nur noch mit dem Schneeschieber Herr wurde. Sizilien machte es meiner Tante Poldi mal wieder nicht leicht. Hinzu kam, dass eine alte Krone links oben sie in letzter Zeit mit einem hartnäckigen Pulsieren an den längst überfälligen Zahnarztbesuch erinnerte. Ein lästiges Zipperlein, nicht mehr. Aber seit die Poldi sich suffmäßig wieder besser im Griff hatte, ließ sich dieses Zipperlein leider nicht mehr mal eben in einigen strammen Martinis auflösen, sondern nur noch durch stures Ignorieren und einer halben Ibuprofen. Für einen sizilianischen Zahnarzt war die Poldi bei aller Liebe noch nicht bereit.

Und als wäre das alles nicht genug, versiegten in der gesamten Via Baronessa dann eines Morgens mit einem trockenen Husten sämtliche Wasserhähne. Normalerweise kein Grund zur Panik. Mal liegt es an den alten Leitungen, mal einfach an der Dürre. Meist dauert so ein Wasserausfall nicht mehr als ein, maximal zwei Tage, und zur Überbrückung hast du schließlich die blaue Plastikzisterne auf dem Dach. Blöd nur, wenn der Wasserausfall länger anhält. Vielleicht gar eine Woche. Oder zwei. Oder, wie in diesem Fall, bereits drei. Noch blöder, wenn die Ursache nicht gefunden werden kann und wenn es auch nur eine bestimmte Straße betrifft. Nämlich deine. Damit ist für einen Sizilianer der Fall meist klar: Die Cosa Nostra setzt gerade einen deiner Nachbarn unter Druck.

Die Gründe dafür können vielfältig sein. Vielleicht soll der Nachbar zum Abschluss eines für ihn eher unvorteilhaften Dienstleistungsvertrages motiviert werden. Vielleicht ist er bei einem bereits bestehenden Vertrag mit den Zahlungen in Verzug geraten und der Wasserausfall ist Stufe Eins des zweistufigen Mahnverfahrens. Erste Stufe: Die kaum verhüllte Warnung. Zweite Stufe: Gewalt gegen dich und deine Familie. Vielleicht will man deinem Nachbarn auch einfach nur eine Nachricht schicken, um ihm nahezulegen, in einem laufenden Verfahren besser die Klappe zu halten. Man weiß es nicht genau, aber die ganze Straße leidet in jedem Fall mit. Soll sie auch, denn das erhöht den Druck. Wasserentzug ist seit jeher eines der wirkungsvollsten Druckmittel der Cosa Nostra. Damit demonstriert sie, dass sie alles Leben vollkommen in ihrer Gewalt hat. Wer über das Wasser herrscht, herrscht über Sizilien.

Seit drei Wochen musste sich die Poldi ihr Wasser wie alle in der Via Baronessa in Kanistern von der öffentlichen Zapfstelle der alten Mineralwasserfabrik holen. Keine wirklich befriedigende Option, denn vor den vier Wasserhähnen bildeten sich den ganzen Tag über Schlangen. War die Poldi endlich dran, dauerte es ewig, bis sie ihren Kanister gefüllt hatte, und dann musste sie das Trumm auch noch nach Hause schleppen. Beziehungsweise auf die Vespa wuchten. Ein Kanister reichte so gerade für eine Person am Tag. Duschen, Toilettengang, Waschen, Kochen – alles wurde kompliziert. Der gesamte Tagesablauf drehte sich auf einmal nur noch ums Wasser, der Wasserstand des Kanisters wurde zum Maß der inneren Ausgeglichenheit, und »Voll« war nur noch ein flüchtiger Moment, ein Pünktchen auf dem Zeitstrahl.

»Einen Durst hab i, des kannst du dir nicht vorstellen«, schnaufte die Poldi und tupfte sich die Stirn.

Den Gefallen, kurz die Perücke abzunehmen, tat sie mir allerdings nicht.

»Jetzt sagst natürlich gleich, des ist bloß psychologisch, und gell, des weiß i fei selbst. Hilft aber nix, verstehst, einen Mordsdurst hab i trotzdem. Magst vielleicht noch ein Bier?«

»Nein danke«, log ich. »Und wer ist es, deiner Meinung nach?«

»Wer ist was?«

»Der Nachbar, den die Mafia unter Druck setzen will.«

Die Poldi starrte mich fassungslos an. »Gell, was soll jetzt diese bescheuerte Frage? I bin des natürlich, was denkst denn du? Des ist doch sonnenklar, dass i da jetzt ins Fadenkreuz der Mafia g’raten bin, nachdem i den Mord an Valentino aufgeklärt hab.«

»Ich dachte, die Mafia hätte nichts mit Valentinos Tod zu tun gehabt.«

»Nicht direkt halt. Aber indirekt steckt natürlich der Russo dahinter. Und der ist, des sag i dir«, raunte sie, »ein Capomafioso, Boss der Bosse.«

»Was du inzwischen beweisen kannst.«

Die Poldi sah mich mitleidig an. »Mei, i steh da freilich noch ganz am Anfang der Ermittlungen. Aber für Mafiosi, erzkapitalistische Blutsauger und Hundemörder hab i einen Instinkt, davon versteh i was.«

Die Poldi war nicht davon abzubringen, dass Ladys Tod und die Sabotage an der Wasserleitung nur den einen Zweck verfolgten: sie einzuschüchtern.

»Der Valérie hat’s fast des Herz gebrochen. Und der arme kleine Oscar ist total down. Jault den ganzen Tag vor Sehnsucht.«

»Aber warum wurde nur Lady vergiftet und nicht auch Oscar?«, fragte ich.

»Pfeilgrad des hab i mich auch g’fragt. Weil, die waren ja praktisch unzertrennlich, die beiden. Ständig haben’s um jedes Leckerli g’rauft. Also ist die einzig schlüssige Antwort welche?«

»Äh …«

»Dass die Lady gezielt ermordet wurde, natürlich. Und warum hat er die Lady herg’nommen und nicht den Oscar? Weil sie weiblich war, natürlich. Weil des eine Botschaft an mich sein sollte, verstehst?«

»Ist das nicht ein bisschen weit herge…«

Unwirsche Handbewegung. »Und wenn i den Scheißkerl nicht bald erwisch, nachert ist auch der arme Oscar seines Lebens nicht mehr sicher, des sag i dir. Jedenfalls hab i bereits erste Ermittlungen aufg’nommen.«

Und da schwante mir endlich was. »Der Jagdinstinkt, was?«

»Mei, so langsam verstehen wir uns. So langsam kommst an. Benvenuto in Sicilia.«

Klare Sache, die Poldi hatte Blut geleckt, hatte den Ruf des Schicksals und ihrer Oberreiterschen Gene vernommen und war bereit, den ihr vorstimmten Weg der Kriminalistik und der Gerechtigkeit zu gehen. Ärgerlich nur, dass es keinen neuen Mordfall in der Nachbarschaft gab. Was in Verbindung mit dem Wassermangel und der Hitze zu heftigem Durst, Zahnweh, schlimmen Schwermutsattacken und zu einer Art kriminalistischem Cold Turkey führte, einem besonderen Entzugssymptom, unter dem, meiner Tante Poldi zufolge, vor allem pensionierte und suspendierte Kriminalbeamte leiden. Man stelle sich ein Superhirn in voller Fahrt vor, und irgendwer tritt plötzlich voll auf die Bremse. Kann echt nicht gut sein.

»I mein, so ein Hochleistungssportler, der kann ja auch nicht so von einem auf den anderen Tag aufhören zu trainieren. Des macht des Herz gar nicht mit. Und dann, zack, Exitus. Siehst, und genau so geht’s dem Gehirn eines Ermittlers, wenn es nix zum Ermitteln hat. Wie einem Hund, der nix zum Jagen und Totschütteln hat. Der nimmt dann halt irgendwann deinen Pullover her. Oder einen Kinderarm im schlimmsten Fall. Und was bleibt mir?«

Wie sich herausstellte, hatte die Poldi daher, quasi als Gesundheitsvorsorge, die vergangenen Wochen seit meinem letzten Besuch damit zugebracht, Russo eine Verbindung zur Mafia nachzuweisen. Vergeblich bislang, aber auch kein Wunder, da ihr einziger Anhaltspunkt das Foto einer topografischen Karte war, über die Russo mit Patanè diskutiert hatte. Die Poldi hatte das betreffende Gelände zwar immer noch nicht gefunden, dennoch war sie überzeugt, dass Russo bereits kalte Füße bekommen hatte und ihr durch das Abdrehen des Wasserhahns und den Mord an Läddi unmissverständlich bedeutete, die Ermittlungen unverzüglich einzustellen. Andernfalls, so die Logik meiner Tante: morto sicuro.

»Aber gell, da hat er sich fei g’schnitten, der feine Herr. Seh i etwa so aus, als ob i mir in die Hosen scheiß, wenn so ein herg’laufener G’schwollschädel mir droht? I hab dem Tod schon ins Auge geblickt, des sag i dir. I weiß fei schon, dass i kurz vorm Verfallsdatum bin. Aber so lange, Burschi, lass ich’s fei noch krachen, verstehst. Amoremäßig, kriminalistisch und überhaupt. Und wenn’s dann so weit ist, nachert, weiß i auch, wie man eine Bühne verlässt. Unter Applaus, nämlich.«

Denn von Amore, Kriminalistik und Tod verstand meine Tante Poldi was. Daher ging sie ihre Ermittlungen im Fall Läddi auch total professionell an. Heißt: Jeder war verdächtig.

Und so rauschte die Poldi nun in ihrem dunkelblauen Hosenanzug, der hie und da schon etwas zwackte, in Femminamorta ein, wie so eine reinigende Riesenwelle, die an einem verschmutzten, verkommenen Gestade bricht. Stelle ich mir vor.

»War das nicht … ein wenig zu warm in dem Hosenanzug?«, fragte ich dazwischen. »Ich meine, bei der Mörderhitze?!«

»Schmarrn! Des musste so. Weil, merke: Ein blauer Hosenanzug ist der ideale No-fun-Look für jede Frau bei Vertragsabschlüssen, Verhaftungen oder Dates mit Volltrotteln aller Art. In den amerikanischen Serien tragen des immer die grantigen Latina-Detectives mit dem strengen Pferdeschwanz, schon mal g’sehen? I weiß, nicht dein Typ, eh klar. Denn diese Latina-Detectives, gell, die sind total humorlos. Ein blöder Spruch – und zack, liegst am Boden, ein spitzes Knie im Kreuz, und die Handschellen klicken.«

»Und du mit der Perücke. No fun, schon klar.«

Die Poldi seufzte und schüttelte tadelnd den Kopf.

»Und was hat Valérie dazu gesagt?«, fragte ich, um sie wieder ins Gleis zu ruckeln.

»Mei, was schon!«

»Mon dieu!« Valérie schlug die Hand vor den Mund, als die Poldi sich schwitzend und schnaufend auf einen der Plastikstühle im Garten fallen ließ, dass die Nähte des alten Hosenanzugs nur so ächzten. »Du meinst, jeder ist verdächtig? Ich auch?«

»Du natürlich nicht, Valérie!« Die Poldi seufzte und klappte schwungvoll ihren Notizblock auf, den Onkel Martino ihr kürzlich geschenkt hatte.

So einen, wie die FBI-Typen im Fernsehen ihn immer dabeihaben, obwohl dem Onkel schon klar war, dass Matula aus seiner Lieblingsserie Un caso per due natürlich niemals einen Notizblock brauchte, um sich irgendwas zu merken. Aber Matula war eben auch ein detektivisches Genie, und was meine Tante Poldi betraf, war sich Onkel Martino nicht so sicher, zumal wegen der Trinkerei.

Ich muss sagen, Poldis Beschreibungen von Femminamorta und insbesondere von Valérie hatten meine Fantasie lebhaft entzündet. Ich stellte mir das alte, rosa getünchte, jasmin- und bougainvilleumrankte Landhaus mit der verstaubten Einrichtung, der alten Bibliothek, den verblichenen Fotos und bröckelnden Fresken, den Palmen und dem wilden Garten als einen verwunschenen Ort vor, an dem die Zeit stillstand. Ein kleines Paradies, wo die Geister bourbonischer Adliger umgingen, wo freundliche Tölen herumtollten und Schicksale sich erfüllten. Und mittendrin, so stellte ich sie mir zumeist abends vor: Valérie, blass und kompliziert und sinnlich und wunderschön, mon dieu, wie aus einem französischen Schwarz-Weiß-Film. Doch obwohl Femminamorta keine fünf Autominuten von Torre Archirafi entfernt lag, schien die Poldi ihre neue Freundin und ihr kleines Paradies mit niemandem teilen zu wollen. Immer, wenn ich ganz nebenbei vorschlug, sie doch einmal dorthin zu begleiten, fand sie einen fadenscheinigen Vorwand, mich nicht mitzunehmen. Ich nahm ihr das zwar nicht übel, schließlich habe ich Geschwister, ich weiß, was Neid ist, aber umso lebhafter braute sich meine Fantasie einen magischen Ort mit einer geheimnisvollen Herrscherin zusammen, den mir Joseph Conrad oder Rider Haggard nicht dämmriger und prächtiger hätten ausmalen können. Daher fand ich es nur recht und billig, Poldis Beschreibungen für meinen verkorksten Roman zu nutzen. Und als ich Valérie und Femminamorta viel später dann doch endlich kennenlernte, war alles ganz genau so.

Valérie hatte den kleinen Hundekörper in ein Seidentuch gewickelt und neben der Weinpresse in der stillgelegten alten Kelterei aufgebahrt. Dort war es kühl und dunkel und still. Ein guter Ort für die kleine Läddi, die am Ende ihres viel zu kurzen Lebens noch so viel Agonie hatte ertragen müssen, denn dem Vernehmen des Tierarztes nach, war Läddi qualvoll erstickt. Den Eintritt des Todes schätzte der Veterinario auf etwa drei Uhr morgens. An der Stelle im Hof, wo man Läddi wenige Stunden später gefunden hatte, gab es keine Spuren des Giftköders.

Die Poldi glaubte daher nicht, dass Läddi den Köder im Hof gefressen hatte, sondern, dass Läddi später demonstrativ dort abgelegt worden war. Und genau das sprach, in Poldis Logik, für den Tötungsvorsatz. Auf der anderen Seite wusste die Poldi genau, dass den Erfolg kriminalistischer Ermittlungen nichts so sehr gefährdet wie vorschnelle Hypothesen. Daher wollte sie keine Variante ausschließen, in sämtliche Richtungen ermitteln und zunächst streng objektiv und professionell nur Fakten sammeln.

»Hatte Lady irgendwelche Feinde?«

»Pardon?«

»Ich meine, gab es jemanden, der sie nicht mochte? Den sie mal im Schreck gezwickt oder angeknurrt hat? Vielleicht jemanden, der Hunde eh nicht mag?«

»Mon dieu, nein!«

Die Poldi machte sich eine Notiz. »Ist gestern irgendwas vorgefallen? Irgendwas Ungewöhnliches?«

»Nein, wieso?«

»Denk genau nach. Jedes Detail kann wichtig sein.«

»Mon dieu, nein!«

Nächste Notiz.

Profi am Werk.

»Wann hast du Lady zuletzt gesehen?«

»Das war so gegen neun Uhr, gestern Abend. Ich habe die beiden im Hof gefüttert, danach hab ich sie noch eine Weile gehört, weil sie sich um so ein Gummispielzeug gezankt haben, das ständig quietschte.«

Noch eine Notiz. »Und danach?«

Valérie schüttelte den Kopf.

Die Poldi klappte ihr Notizbuch zu. »Dann würde ich jetzt gerne deine Gäste befragen.«

»Mon dieu, ist das wirklich nötig?«

Valérie hatte Femminamorta von ihrem Vater, einem Nachkommen des sizilianischen Landadels, geerbt und betrieb auf dem kleinen Landgut, das nach etlichen Generationen der Verschwendung, der Ignoranz und der Misswirtschaft den Rest des einst immensen Familienbesitzes darstellte, eine kleine Palmenzucht. Was bei Weitem nicht reichte, um die laufenden Kosten zu decken. Also führte Valérie zusätzlich und nicht ganz offiziell ein kleines Bed & Breakfast und vermietete die zahlreichen leerstehenden Zimmer des Hauses an Gäste, denen sie ein eigenwilliges Frühstück aus Milchkaffee, getoastetem Brot, Keksen, frischen Avocados und quietschsüßen französischen Marmeladen und Familiengeschichten servierte.

Alles andere Land ringsum gehörte inzwischen genau jenem Italo Russo, den die Poldi auf dem Kieker hatte und dem sie alles Schlechte auf der Welt zutraute. Auch Russo züchtete Palmen, aber in sehr viel größerem Stil, und nicht nur Palmen, sondern auch Olivenbäume, Zitronen- und Orangenbäume, Bougainville, Strelizien und Oleander, und belieferte damit Hotels und Eigentümer größerer Anwesen. Piante Russo war ein Gartenimperium, in den Augen meiner Tante jedoch eine Seuche, die sich immer weiter über das Land ausbreitete und alles daransetzte, sich auch noch Femminamorta einzuverleiben.

»Denn das«, erklärte mir die Poldi einmal, »wäre der endgültige Triumph eines skrupellosen Aufsteigers über den degenerierten Adel gewesen.«

Ich habe nie erfahren, ob Russo nicht im Grunde nur Valérie wollte. Verständlich genug wäre es gewesen, trotz des Altersunterschieds, aber Valérie stritt dies stets lebhaft ab, und nach allem, was später passiert ist, habe auch ich inzwischen meine Zweifel. Auf der anderen Seite kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendjemand ein Schmuckstück begehrt, ohne den Juwel zu wollen. Aber zurück zur Ermittlung.

»Erzähl mir was über deine Gäste«, sagte die Poldi.

»Es sind Deutsche«, antwortete Valérie. »Aber, mon dieu, absolut delizioso!«

Für Valérie, ähnlich wie für die Poldi, besaß das Glück eine einfache binäre Struktur, spannte sich alle menschliche Existenz zwischen zwei mehr oder weniger weit entfernten Polen auf. Zwischen Himmel und Abgrund, zwischen Liebe und Ignoranz, Verantwortung und Ballast, Pracht und Krempel, Wesen und Gedöns. Und in diesem dualen kosmischen Gefüge existierten eben nur zwei Sorten von Menschen: die Deliziosi und die Spaventosi, die Reizenden und die Schrecklichen. Einfache Regel: Hausgäste, Freunde und Tölen immer Deliziosi, der Rest Spaventosi. Jedenfallsbis zum Nachweis des Gegenteils.

»Weil«, erklärte mir die Poldi einmal, »die Valérie hat halt verstanden, dass des Glück eine simple Gleichung ist. Nämlich: Glück gleich Realität minus Erwartung. Wenn du nicht viel erwartest, wirst nachert weniger enttäuscht und bist schneller glücklich, verstehst? Umgekehrt, logisch, wenn du zu viel erwartest …« Sie sah mich an. »Na ja, wem erzähl i des.«

Meine Tante Poldi war eben eine Meisterin der positiven Verstärkung.

Die Deliziosi hatten jedoch angeblich nichts gehört oder gesehen, und auch weder Turi noch Mario, die sich auf Femminamorta um die Palmenschößlinge kümmerten, konnten mehr als ihr Bedauern über Ladys Tod zur Aufklärung beitragen.

»Des isch arg«, stellte die ältere Dame, die sich der Poldi als Doris vorgestellt hatte, nüchtern fest. »Aber jetzt müsset wir weiter, wir machet doch heute die Gipfeltour zum Ätna.«

Doris war die graue Eminenz einer fünfköpfigen Gruppe schwäbischer Deliziosi. Ehemalige Realschullehrerinnen aus Bad Cannstatt auf Studienreise, geführt von einem pensionierten Oberstudienrat aus Filderstadt. Aber wie gesagt, das Wort führte meist Doris, eine sportliche Endsechzigerin in praktischer Funktionskleidung, Wanderschuhen, mit wachsamen Augen und klarer Weltordnung. Und ein toter Hund war nichts, was diese Ordnung groß erschütterte. Die anderen vier Deliziosi wirkten zwar weniger sportlich, trugen aber ebenfalls Funktionskleidung und Rucksäcke, als ginge es ins Herz der Finsternis. Die kleine Reisegruppe und ihr Tourguide belegten seit drei Tagen fast alle freien Zimmer in Femminamorta und hatten sich auf Valéries Bitte im Garten eingefunden, damit die Poldi sie befragen konnte.

Der Poldi war sofort klar, dass diese Deliziosi eine echte Herausforderung an ihre kriminalistische Neutralität und Herzensgüte darstellten.

»Weil sie Windjacken-Spießer waren?«, plapperte ich dazwischen, als sie mich am Abend meiner Ankunft auf den Stand der Dinge brachte. Vielleicht hoffte ich bloß auf ein klitzekleines Zeichen des Einvernehmens, ich weiß nicht, was mich da geritten hat. Aber wie gesagt, Glück gleich Realität minus Erwartung.

Die Poldi sah mich nur tadelnd an, wie einen jungen Hund, der die einfachste »Platz«-Übung immer noch nicht geschnallt hat. »Geh Schmarrn!« rief sie fassungslos. »Wer andere Spießer nennt, ist bloß selbst einer, merk dir des. I mein, es geht doch nicht um Mode oder G’schmack oder Lebensentwürfe!«

»Sondern?«

»Um die Schatten der Vergangenheit! Weil, des hab i doch sofort g’schnallt, dass diese Doris genau die Sorte Besserwisser und Pessimist war, die mich mein Leben lang verfolgt und g’schurigelt hat.«

Da war man baff.

»Aber, äh …« Ich suchte nach Worten. »Das kann dir doch völlig egal sein! Ich meine, du bist doch …«

»Jetzt redest schon wie die Teresa.« Sie stöhnte. »Ja freilich kann mir des Wurst sein. Ist es blöderweise aber eben nicht, schnallst des nicht? Weil, des nennt man eine Backstory Wound! Merk dir des für deinen Roman. Ohne eine krachlederne Backstory Wound sind deine Figuren bloß Kasperletheater. An jedem von uns, im Leben wie im Roman, pappt halt immer ein Schatten dran, der flüstert dir dauernd zu: ›Werd so wie ich, dann geht’s dir gleich besser!‹ Dagegen kannst nix machen, und aussuchen kannst dir deinen Schatten schon lange nicht. Und an mir …« Die Poldi schnappte sich meine halbvolle Flasche Bier. »… pappt halt schon mein ganzes Leben lang eine Doris. Prost, Namaste, lecktsmialleamarsch.«

Kriminalistisch trat die Poldi also praktisch auf der Stelle, und das setzte ihr ziemlich zu.

»Und sonst so?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. »Wie läuft’s mit Montana?«

»Meinst jetzt im Bett oder ganz allgemein?«

»Allgemein reicht mir fürs Erste.«

»Mei. Kompliziert halt.« Sie räusperte sich. »Er ist eifersüchtig.«

»Äh … Auf wen jetzt?«

»Auf meine kriminalistischen Erfolge natürlich. Und …« Sie druckste herum. »… na ja, auf den Achille halt.«

Meine Tante Poldi. Ich fasste es nicht.

»Welchen Achille denn jetzt?«

»Magst noch ein Bier? Oder ein panino vielleicht?«

»Jetzt lenk bloß nicht ab!«

»Und du, gell, hetz mich nicht. I bin eine alte Urschel mit einem Sprung in der Schüssel und außerdem fei immer noch deine Tante. Also quasi Respektsperson, gell!«

Kurzes Schweigen, dann wuchtete sie sich ächzend aus dem Sofa heraus, schlurfte ohne weiteren Kommentar in die Küche und kam mit einer Flasche Rotwein zurück, die sie vor mir auf den Tisch knallte.

»Danke, lass mal.« Ich winkte ab.

»Die sollst auch nicht trinken, sondern anschauen. Fällt dir nix auf?«

Ich sah mir die Flasche an. Ein Nerello Mascalese vom Ätna namens Polifemo von einem Weingut namens Avola. Sagte mir beides nichts, aber ich bin auch eher nicht so der Weinexperte. Ich drehte die Flasche ratlos hin und her. Das Etikett zeigte eine Art topografische Karte des Weinbergs, der Schriftzug und die ganze Typo sollten wohl klassisch wirken, sahen aber tatsächlich aus wie von einem Schülerpraktikanten einer Provinzwerbeagentur kurz vor der Mittagspause hingehudelt. Nun ja.

»Hübsches Etikett.«

»Gell!« Die Poldi strahlte. »Des hat der Vito auch g’sagt. Na ja, und dann hab i den Achille kennen g’lernt, und alles ist ein bisserl kompliziert g’worden.«

2. Kapitel

Erzählt von der reifen Liebe, von Restposten und Brusthaaren, von Asche und Wein, von verträumten Orten, dem Geschmack von Mordwaffen und von Montana und seinem aktuellen Fall. Die Poldi erhält eine Abfuhr und kriegt es mit der Wut. Sie stößt auf eine erste Spur, trifft zwei alte Bekannte und kriegt es wieder mit der Wut. Sie wird gerettet, steht in Flammen und – nein, kriegt es nicht mit der Wut, sondern lügt nur ein bisschen, was sich kurz darauf schon rächt.

Bis vor einigen Wochen hatte Vito Montana noch mürrisch und einigermaßen verbittert dem Ende seines Berufslebens als Kriminalkommissar für Tötungsdelikte bei der Polizia di Stato in Acireale entgegengesehen. Mürrisch, weil das eben seine Natur war, verbittert, weil ein römischer Senator, dem er im Zuge einer Mordermittlung ein wenig auf die Füße getreten war, seine Versetzung von Mailand nach Sizilien erwirkt hatte, um den hartnäckigen Commissario auf stumm zu schalten. Und obwohl Vito Montana aus Giarre stammte, hasste er Sizilien mit der Inbrunst eines Großinquisitors. Dann hatte er meine Tante Poldi kennengelernt. Und auf eine seltsame, rührende Art und Weise wirkten die beiden wie füreinander bestimmt. Zwei etwas angestoßene Ladenhüter vom Trödelmarkt des Lebens, mit Gebrauchskratzern und Sprüngen, die ein übermütiges Schicksal zum Ausverkauf noch einmal zusammen in die erste Reihe gestellt hatte. Letzte Gelegenheit, bitte einmal genau hinsehen! Hier der untersetzte, aber nach Poldis Maßstäben kompakt proportionierte Endfünfziger Montana mit dem graumelierten Vollbart, den zerknitterten Anzügen und der ewigen Zornesfalte zwischen den grünen Augen. Seines Zeichens hartnäckiger Ermittler und, meiner Tante Poldi zufolge, sexuelle Naturgewalt. Und dort, eccola, gleich neben ihm und unübersehbar: meine Tante selbst. Nur wenig älter, eine glamouröse, barocke Erscheinung mit ihrer Perücke und dem Nofretete-Make-up und trotz Suff und Schwermut immer noch lodernd vor Lebenslust und einer kerngesunden bayerischen Wut. Ein dramatisches, unbequemes Paar, diese beiden. Kompliziert gar kein Ausdruck. Zwei aufgeladene Elementarteilchen, vom Ringbeschleuniger des Schicksals mit Lichtgeschwindigkeit aufeinandergeschossen. Stellte ich mir so vor. Also ähnlich wie bei meinem Urgroßvater Barnaba und seiner unerträglich schönen Eleonora in meinem Roman, mit dem ich in den letzten Wochen irgendwie nicht mehr so recht vorangekommen war. Das musste sich dringend ändern.

Jedenfalls reagierte Montana ein kleines bisschen gereizt auf Poldis Ermittlungen im Fall Läddi.

»Natürlich ist das furchtbar mit der kleinen Lady. Aber, Madonna, in diesem Land werden jeden Tag Hunde vergiftet. Seit der Antike legen die Bauern Giftköder aus, um Streuner von ihrem Land fernzuhalten. Wir haben eben nicht so ein sentimentales Verhältnis zu Tieren wie ihr.«

Sie lagen nebeneinander in Poldis großem Bett in ihrem abgedunkelten Schlafzimmer. Freitagabend. Die Klimaanlage schaufelte Schwüle hinaus und Kühle hinein. In der Ferne ächzte der Ätna, Palmen knisterten im Ascheregen, und irgendwo gegenüber überschlug sich die Stimme eines hysterischen Quizshow-Moderators, vermischt mit künstlichem Gelächter und Applaus, als ob da draußen ein Studiopublikum jeden erotischen Höhepunkt, jeden Seufzer, jedes geflüsterte Wort aus der Nummer 29 verfolge und kommentiere.

Die Poldi hörte auf, mit dem Finger kleine Löckchen in Montanas Brusthaar zu zwirbeln, raffte sich die Bettdecke vor die Brust und richtete sich ein wenig auf. »Und damit willst du mir jetzt was sagen, Vito?«

Montana sagte gar nichts, rollte sich nur ein wenig zur Seite und zündete sich umständlich eine Zigarette an.

Erschöpft und milde gestimmt nach Eruptionen der Leidenschaft und der Verschmelzung zweier Magmaströme reifer Libido, betrachtete die Poldi Montanas behaarten Rücken und überlegte, ob sie diese Unterhaltung, die eine unerfreuliche Wendung zu nehmen schien, nicht besser durch eine sanfte Massage im Keim ersticken sollte. Aber dann war sie erstens doch neugierig und zweitens außerdem auf Krawall gebürstet.

»Was?!«

»Dass du wieder dabei bist, dich in etwas zu verrennen«, knurrte Montana schließlich. »Du wirst dir nur einen Haufen Ärger einhandeln.«

»Und den größeren Zusammenhang, die Intrige siehst du nicht?«

Montana rauchte und zögerte mit der Antwort. »Was für eine Intrige? Sieh dich doch um. Alle lieben dich.«

Die Poldi sah ihn prüfend an. »Alle?«

»Ich meine, warum genießt du es nicht? Du hast einen Mord aufgeklärt. Mit meiner Unterstützung, natürlich. Das ist immer ein Kick, ich weiß, wovon ich rede. Und nachher fällt man dann in ein Loch.«

»Was für ein Loch? Wovon redest du da überhaupt, Vito?«

»Versteh mich nicht falsch, Poldi, ich kenne das. Man will sofort weitermachen, will gleich den nächsten Kick.«

Die Poldi drehte sich zufrieden auf den Rücken. »Vielleicht mache ich ja eine kleine Detektei auf. Ich werde schon überall deswegen angesprochen. Agenzia Investigativa Oberreiter, wie klingt das?«

Montana zerquetschte die Zigarette, die er sich eben erst angesteckt hatte, in Poldis schwerem Glasaschenbecher, als ob ihm irgendetwas die Lust aufs Rauchen vermiest hätte, und sah meine Tante an. »Es wird keinen weiteren Mordfall geben. Es wird überhaupt keinen Fall mehr geben, Poldi. Sieh der Realität ins Auge. Du bist nicht die Polizei. Und im Grunde weißt du das auch, also versucht dein Unterbewusstsein, einen Mord zu konstruieren.«

»Ach, tut es das.«

»Und es wäre besser für dich, damit aufzuhören.«

»Du glaubst also, ich leide an Realitätsverlust? Dass ich verrückt bin? Dass ich überall Verschwörung wittere?«

Montana schnalzte mit der Zunge und ruckte kurz mit dem Kopf. Der sizilianische Urlaut für ein lässiges Nein oder auch ein weniger lässiges: »Blödsinn, so habe ich das nicht gemeint!« Er streckte eine Hand unter der Decke nach ihr aus. »Du bist eben ein Mensch mit viel Fantasie, Poldi.«

Womit er zwar recht, aber definitiv nicht den richtigen Ton getroffen hatte.

Die Poldi schob diese geliebte, schöne, warme Hand brüsk beiseite und richtete sich ganz im Bett auf. »Ja, leckmiamarsch, du g’scherter Hammel, was bildest du dir eigentlich ein?«

»Könntest du bitte Italienisch mit mir sprechen, Poldi? Ich versteh gar nicht, warum du jetzt so sauer reagierst.«

Mit einem ärgerlichen Schnaufen verließ die Poldi ihre satinbezogene Insel der Lust. Nackt und nicht mehr taufrisch, ohne Make-up, ohne Perücke, aber auch ganz ohne Scham, so stelle ich mir vor, stand sie vor ihm wie eine lebendige Steinzeitvenus von Willendorf.

»Ich bin nicht sauer. Ich finde nur, du solltest jetzt gehen.«

Ganz ruhig, geradezu hanseatische Selbstbeherrschung.

»Ach komm, Poldi! Du weißt genau, wie ich das …«

Noch ehe er den Satz zu Ende gebracht hatte, flogen ihm sein Anzug und sein Hemd entgegen. »Und zwar sofort. So kannst du vielleicht mit deiner Alessia reden, aber nicht mit mir.«

Das war zwar jetzt ein bisschen hässlich nachgetreten von der Poldi, aber emotional völlig verständlich. Jede Beziehung, auch die aufgeklärteste und längste, die ruhige wie die stürmische, führt schließlich ein Sediment aus unausgesprochenen Erwartungen, kleinen Verletzungen, kleinlichen Ängsten und unbeantworteten Fragen mit sich. Alles gut, solange alles fließt. Bis sich dieses Sediment irgendwann zu einer Sandbank anstaut, den Fluss zerteilt, gefährliche Strudel bildet, den Strom im schlimmsten Fall ganz zum Erliegen bringt. Alessia war die Sandbank im Strom von Poldis Liebe zu Vito Montana. Alessia war die Kollegin aus der Verwaltung. Alessia war Montanas Freundin, Alessia war fünfundzwanzig Jahre jünger, Alessia war schön und klug und temperamentvoll und hundert andere Dinge, mit denen sich die Poldi herumquälte, wenn sie wieder mal alleine gegen den Durst, die Schwermut und das Verlangen nach einem zünftigen Vollrausch ankämpfte. Alessia war Montanas bequemer Notausgang, aber meine Tante Poldi blieb tolerant. Ich habe mich oft gefragt, warum sie vor Eifersucht nicht einfach durchdrehte. Aber vielleicht, stelle ich mir vor, wollte die Poldi nur ein Mal in ihrem Leben nicht finden, sondern gefunden werden.

Obschon Sizilianer, also schnell beleidigt, nahm Montana den Rausschmiss sportlich. Textnachrichten – aufgebrachte, beschwichtigende, verletzte, besänftigende, genervte, schmutzige und zärtliche – wogten wenig später und in den nächsten Tagen hin und her wie Gezeiten an die entgegengesetzten Gestade eines stürmischen Ozeans, und am Freitag darauf landeten die beiden wieder in der Kiste wie zwei Teenies.

Und so hätte es ewig weitergehen können, wenn … ja, wenn das Leben nicht ewiger Wandel wäre und wir dagegen machtlos. Irgendwann ist jeder Bogen halt überspannt oder erschlafft, irgendwann ist die Luft raus, oder frischer Wind weht herein. Irgendwann dreht sich das Rad einfach weiter, da bildeten Montana und die Poldi keine Ausnahme. Aber ich greife vor.

Also, der nächste Freitag. Montana und die Poldi fallen übereinander her wie die Tiere, alles läuft wieder rund, eine Feuersbrunst der Lust, kennt man ja, kleine Verschnaufpause, Montana raucht eine, die Poldi füttert ihn mit Mortadella-Häppchen, sie teilen sich ein Bier, und die Poldi quetscht Montana nach seinem aktuellen Fall aus. Denn logisch, wenn sie schon selbst nicht weiterkam im Fall Läddi, wollte sie wenigstens am Honigtopf einer laufenden Mordermittlung schnuppern, schon ihrer inneren Ausgeglichenheit wegen. Und Montana, schließlich auch nicht blöd, verstand das. Außerdem war er froh, gewisse Sandbänke und heikle Beziehungsthemen auf diese Weise umschiffen zu können.

»Ich darf eigentlich nicht darüber reden.«

Die Poldi nickte ernst. »Natürlich nicht.« Sie sah Montana an. »Madonna, jetzt erzähl schon. Dai!«

Eine Staatsanwältin aus Catania war tot in ihrer Zweitwohnung in Acireale aufgefunden worden. Von hinten erschlagen, mit einer vollen Weinflasche. Die Poldi sofort elektrisiert. Wein und Mord – praktisch ihr Thema.

»Hast du Fotos?«

Montana zögerte. »Kein schöner Anblick.«

»Sieh mich an, Vito. Seh ich so aus, als ob mich noch irgendwas aus der Bahn werfen könnte?«

Montana seufzte. »Nicht hier, nicht im Bett.«

Das gefiel der Poldi. Dass Montana Respekt vor den Toten hatte. Dass er kein Zyniker war, obwohl er sich gerne so gab.

Sie zogen sich rasch etwas über. Montana breitete einige Abzüge der Tatortfotos auf dem Küchentisch aus und holte sich ein Bier. Die Poldi sammelte sich kurz und sah sich dann die Bilder an.

Das erste Foto vom Tatort zeigte die Leiche der Staatsanwältin in einem eingetrockneten See aus Blut und Rotwein und Glasscherben. Ihr Name war Elisa Puglisi, alleinstehend, kein Mann, kein Exmann, keine Kinder, Eltern bereits verstorben. Eine Single-Frau Mitte vierzig, die ihre Karriere offenbar über alles gestellt hat. Die Putzfrau hatte sie erst einen Tag nach ihrer Ermordung gefunden.

»Dabei war sie hübsch!«, rief die Poldi aus, als Montana ihr ein Foto von Elisa aus besseren Tagen zeigte.

Eine zierliche Frau mit einem schmalen, blassen Gesicht. Sie sah direkt in die Kamera, und alles an ihr – ihre leicht vorgebeugte Haltung, das blaue Kostüm, die Art, wie sie ihre Aktentasche hielt, der abgespreizte kleine Finger, der strichförmige Mund – drückte Entschlossenheit und Missbilligung aus. Alles, bis auf die schwarzen Locken, die Elisa Puglisi dicht und voll und ungebändigt bis über die Schultern fielen.

Die Poldi drehte das Foto im Licht ihrer Küchenlampe hin und her, als könne sie auf diese Weise hinter Elisas Maske blicken. Einen Blick auf ihre Backstory Wound erhaschen. Auf ihren Mörder.

»Weil, merk dir des«, erklärte sie mir einmal, »als Ermittler musst dich immer fragen: Was will mir des Mordopfer sagen? Jetzt denkst natürlich, was soll mir ein Toter schon noch groß sagen? Aber Irrtum, eine ganze Menge nämlich. Du musst ihm halt die richtige Frage stellen. Zum Beispiel: Was hat dich zum Mordopfer g’macht?«

»Willst du damit sagen, Mordopfer sind im Grunde immer selbst schuld?«

»Geh, Schmarrn! Schuld ist immer der Mörder, merk dir des. Aber bis zum Mord kann viel passiert sein. Was hat des Opfer g’sagt, getan oder unterlassen, dass irgendwer auf einmal hingegangen ist und es umgebracht hat? Die Backstory, verstehst? Die musst immer kennen.«

Aber die strenge Elisa auf dem Foto gab ihr Geheimnis nicht preis. Tatzeugen gab es keine, niemand hatte irgendwas gehört oder gesehen. Der Täter hatte mehrmals mit der Flasche von hinten zugeschlagen, bis die Flasche zerbrochen war. Aber zu diesem Zeitpunkt war Elisa Puglisi bereits tot gewesen.

»Weil, so eine Weinflasche, weißt, die ist stabil«, erklärte mir die Poldi fachmännisch. »Nicht so wie im Film, wo sie gleich zerspringt, und der Cowboy schüttelt sich nur, und gut ist. Vergiss des. Im wahren Leben gilt meist: Der zweite Schlag ist schon Leichenschändung.«

Die Polizia Scientifica hatte weder Fingerabdrücke noch DNA-Spuren an der Flasche gefunden. Auch an der Leiche und in der Wohnung gab es kaum Spuren.

»Ein Profi«, vermutete Montana.

Die Poldi runzelte die Stirn und breitete die Tatortfotos auf dem Tisch aus. »Welcher Profikiller tötet mit einer Weinflasche?«

»Vielleicht sollte es nach einer Beziehungstat aussehen.«

Die Poldi war nicht überzeugt, zumal sie Montanas Unbehagen spürte.

»Sie hatte ein paar Stunden vorher noch Sex gehabt«, sagte er.

»Mit wem?«

»Wir arbeiten dran.«

Die Poldi dachte nach. »Staatsanwältin, ja? Da macht man sich ja leicht mal Feinde. Hast du ihre Fälle überprüft?«

»Wir sind dran.«

»Geht’s vielleicht auch ein bisschen konkreter?«

Montana stöhnte. »Ich darf dir das nicht sagen, Poldi.«

Die Poldi sah ihn an. »Aber?«

Montana trank sein Bier, bevor er antwortete. »Elisa Puglisi leitete die DDA der Provinz Catania.«

»Die was?«

»Direzione Distrettuale Antimafia, die Antimafia-Staatsanwaltschaft.«

»Leckmiamarsch!«, rief die Poldi begeistert aus. Und auf Italienisch weiter: »Dann ist doch alles klar.«

»Nichts ist klar, solange nichts klar ist«, knurrte Montana. »Wir ermitteln einstweilen in alle Richtungen. Aber gut möglich, dass mir demnächst ein paar schneidige Jungs aus Rom von der Direzione Investigativa Antimafia den Fall abnehmen.«

»Schöne Scheiße.«

»Du sagst es.«

»Du brauchst meine Hilfe, Vito.«

»Vergiss es, Poldi.«

»Ich meine, ich könnte doch …«

»Ich sagte, vergiss es!«

Er wollte die Fotos wieder an sich nehmen, aber die Poldi war noch nicht ganz fertig. Irgendetwas an den Bildern hatte sie irritiert. Und zwar nicht der Anblick der Leiche, sondern ein Detail, das ihr kurz ins Auge, aber noch nicht ganz ins Bewusstsein gesprungen war. Gründlich betrachtete sie ein Foto nach dem anderen.

Bis sie es entdeckte.

Um ein Haar hätte sie aufgeschrien, aber sie hatte sich gerade noch so im Griff. Sie drehte das Foto einmal um neunzig Grad und zeigte es dann Montana. »Was sagst du dazu?«

»Was meinst du?«

»Die Weinflasche. Hast du dir die genau angesehen?«

Montana nahm das Foto in die Hand und betrachtete es genauer. »Ein Etna Rosso«, sagte er schulterzuckend. »Hübsches Etikett. Was ist dir daran aufgefallen?«

Die Poldi überlegte kurz, ob sie es ihm sagen sollte. Aber dann fand sie, dass sein Ton vorhin ihr dann doch ganz und gar nicht gefallen habe. »Ach, vergiss es«, flötete sie. »Ein sehr hübsches Etikett, finde ich eben auch. Und so eine originelle Idee mit der topografischen Karte des Weinbergs. Kennst du dieses Weingut Avola?«

Montana sah die Poldi misstrauisch an. »Was soll diese Frage, Poldi?«

Aber da war die Poldi bereits aufgestanden, ließ ihren Seidenkimono fallen und ging zurück in Schlafzimmer. »Genug ermittelt, Vito. Namaste, das Leben ruft!«

»Erklärst du’s wenigstens mir?«, fragte ich, als sie mir die Episode später dann erzählte.

»Hast du’s fei immer noch nicht g’schnallt!«, rief sie fassungslos. »Mei, des liegt doch so was von auf der Hand!«

»Dann bitte einmal für die Unterbelichteten zum Mitschreiben.«

Die Poldi ging kurz ins Schlafzimmer und kam dann mit einem Foto zurück, das sie vor die Weinflasche legte. Das Foto zeigte eine topografische Karte, die mir entfernt bekannt vorkam. Und dann verstand auch ich es endlich.

Das Etikett der Weinflasche zeigte die gleiche topografische Karte, über die Russo und der inzwischen verhaftete Patanè damals gesprochen hatten, als die Poldi die beiden im Fall Valentino observiert hatte.

»Forza Poldi!«, flüsterte ich beeindruckt.

»Des ist gar kein schlechter Wein, dieser Polifemo«, sagte sie triumphierend. »Ein echter Etna Rosso! Kräftig, dunkel und elegant, mit Halt und Wumms, einem spektakulären Abgang und einer zarten, geheimnisvollen Mandelnote. Flüssiger Commissario, sozusagen. Vierundneunzig Parker-Punkte, so einen Stoff kriegst nicht im Supermarkt. Eine Sauerei, so einen edlen Tropfen als Tatwaffe zu missbrauchen. Magst jetzt vielleicht doch einen Schluck probieren?«

»Lass mal«, winkte ich ab. »Ich trink halt nicht so gerne aus Mordwerkzeugen.«

»Sind wir heute im Karl-Valentin-Modus, oder was? Aber gell, du siehst schon, dass damit die Verbindung natürlich klar war? Staatsanwältin – Mafia – Russo – Mord.«

»Findest du das nicht ein bisschen … ich meine, weit hergeholt?«

»Die Fantasielosigkeit ist die kleine Schwester des Kleinmuts. So wird des nie was mit deinem Roman.«

Wirklich, meine Tante Poldi meinte es nur gut mit mir.

»Und wie hängt das nun mit diesem Achille und Montanas Eifersucht zusammen?«

Die Poldi tippte auf das Weinetikett.

»Mei, der Achille, des ist halt der Winzer.«