Tanz im Dunkel - Max Annas - E-Book

Tanz im Dunkel E-Book

Max Annas

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Beschreibung

Adi, Hagen und Gisela hören Rock ’n’ Roll wie viele andere auch im Köln des Jahres 1959. Und sie verfolgen Salz, den Mann, mit dessen BMW ihr Freund Karl überfahren worden ist. Dass Salz’ Sohn Hakenkreuze an die Wände der Stadt pinselt, irritiert sie sehr, aber mehr noch verstört sie das Desinteresse der Polizei.

Zur gleichen Zeit lauert Reinhard Clausen Herren mittleren Alters auf. Er wundert sich über die Jugendlichen, die diesem Salz auf der Spur sind. Denn der Mann steht auf seiner Liste. Er hatte damals den ersten Stein ins Schaufenster des elterlichen Bekleidungshauses geworfen, in jener Nacht im November. Reinhard Clausen heißt gar nicht Reinhard Clausen. Und in Köln ist er nur, um seine Familie zu rächen.

Kriminalhauptkommissar Siegfried Hartmann steht kurz vor der Pensionierung. Er kriegt die Fälle, die niemanden mehr interessieren. So den des jungen Mannes namens Karl, der nach der Demonstration gegen die Wiederbewaffnung getötet worden ist. Er fragt sich, woher er diesen Salz kennt, der den dicken BMW fährt. Und langsam beginnt er sich zu wundern über die vielen Morde in der Stadt …

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

Max Annas

Tanz im Dunkel

Thriller

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5461.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildungen: Franz Hubmann/brandstaetter images/Getty Images (Gebäude), James Wragg/Trevillion Images (Mann)

eISBN 978-3-518-78070-1

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Köln, Herbst 1959

Adi, Gisela und Hagen

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Adi

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Gisela

Gisela, Adi und Hagen

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Mein Dank

Informationen zum Buch

Tanz im Dunkel

Köln, Herbst 1959

Adi, Gisela und Hagen

1

»Frieden …«, war von Weitem noch zu hören.

Und »Waffen«. Oder war es »Bewaffnung«? Die Worte waren hastig gesprochen und wurden durch die Lautsprecher verzerrt. Und vielleicht auch durch den Regen gedämpft, durch den sie gerade liefen. Die Straßen leerten sich vor ihnen.

»Wiederbewaffnung …« Den Begriff erkannte Adi, obwohl sie sich schon so weit entfernt hatten von der Demonstration. Die würde sowieso gleich vorbei sein. Das war die letzte Rede. Um zwei Ecken waren sie schon herum, gingen in Richtung Ebertplatz, jetzt um eine weitere, gleich würden sich ihre Wege trennen.

Der Regen wurde noch stärker. Es roch nach Kälte. Das war der frühe Winter.

Karl drehte sich kurz um und schüttelte den Kopf. Er strich sich über den dünnen Bart, der ihm auf der Oberlippe wuchs.

»Ich glaube, ich komme nicht noch mal«, sagte Adi zu ihm.

»Warum?«, fragte Karl und blickte erneut hinter sich.

»Es ändert doch nichts. Man müsste vielleicht etwas anderes tun.«

Sie bogen noch einmal ab. Eine Straßenlaterne vor ihnen flackerte. Die schmale Gasse war menschenleer.

»Man muss ja was tun.« Karl blickte sich schon wieder um. »Irgendwas. Man muss sich doch zeigen. Vor allem«, sagte er und zog die Nase hoch, »ich glaub, ich krieg eine Erkältung. Vor allem muss man sich zeigen. Was willst du auch sonst tun?«

Adi drehte sich kurz nach hinten. Da war nichts. »Weiß nicht«, sagte er. »Eine Demonstration interessiert doch niemanden mehr.« Das flackernde Licht der Laterne setzte kurz aus, dann leuchtete es einen Moment lang hell auf und wurde schließlich ganz dunkel. »Aber man müsste mal etwas ganz anderes versuchen. Was ist denn?«, fragte er und wies mit dem Kopf kurz nach hinten.

»Der Barockengel«, sagte Karl, »der war eben schon hinter uns.«

Adi hatte keinen Wagen gesehen, schon gar nicht diesen protzigen BMW, den nur die reichen Pinkel fuhren.

»Ich hatte das Gefühl, dass der uns folgt.«

»Und wenn …«, sagte Adi, als hinter ihnen ein tief brummender Motor zu hören war. Er drehte sich erneut um und sah durch den Regen die starken Scheinwerfer. So geblendet, wie er war, konnte er nicht einmal die Farbe erkennen.

»Siehst du?«, sagte Karl. »Da ist er wieder.«

Der Motor röhrte kurz auf. Karl drehte sich noch einmal um. »Was immer der auch von uns will.«

Sie waren nun allein in der Gasse. Nur ein einzelner VW-Käfer stand ein paar Meter vor ihnen, die Gasse war wie ausgestorben und ziemlich dunkel. Adi konnte den Regen auf das Dach des Käfers prasseln hören. Er zog die Anzughose hoch, die am Saum unten schon nass und schwer war. Der Motor röhrte erneut. So ein Angeber.

»Komm.« Karl packte ihn am Ellbogen und schob Adi voran. »Beeilung. Mir ist nicht ganz wohl hier.«

Der Motor heulte schon wieder auf. Dann hörte Adi, wie die Reifen auf dem nassen Asphalt durchdrehten. Er wandte sich nach hinten. Mit zerrendem Motorkreischen kam der Wagen auf sie zugerast. Adi sprang hinter den Käfer und sah im Fallen noch, dass Karl wie festgefroren stehen blieb.

Er blieb so lange stehen, bis ihn der BMW erwischte. Karl knickte ein, prallte mit Oberkörper und Kopf auf die runde Motorhaube, flog dann wie eine Puppe zur Seite und gegen die Kante eines Hauseingangs. Der Wagen war längst weg. Adi hörte noch, wie die Reifen schlitterten, als er irgendwo um eine Ecke fuhr.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er in der Lage war, aufzustehen. Als er es geschafft hatte, falteten sich die Knie weg. Er hatte etwas Bitteres im Mund und wankte dann hinüber zu Karl. Irgendwer rief irgendetwas. Doch Adi verstand kein Wort, als er sich zu Karl hinabbeugte. Dessen Kopf war eingedrückt, Blut floss aus einem Auge und auch aus dem Mund. Der Hals wirkte, als sei er wie ein Streichholz zerbrochen worden.

Stimmen kamen näher. Adi wusste, dass er sich entscheiden musste.

2

»Adi ist nicht da.« Hagen stand im Eingang des Wohnhauses, die Tür hinter ihm war offen. Gisela sah ihm dabei zu, wie er den Regenschirm ausschüttelte.

»Er hat uns noch nie warten lassen.« Sie machte einen Schritt hin zum Bordstein und blickte unter ihrem Schirm hinweg an der beinah putzlosen Fassade hoch. Die meisten Fenster zur Straße hin waren hell erleuchtet. Abendessenzeit. Sowohl Adis Onkel als auch dessen Freund Erich und seine Familie im zweiten Stock waren daheim. »Dabei steht sein Moped doch da«, sagte sie und zeigte zur Hauswand, wo die Kreidler aufgebockt war.

Gisela klemmte ihre Ledertasche zwischen die Knie und spürte, wie ihre Strumpfhose nass wurde, dann zog sie den Ärmel des Mantels zurück und blickte auf die Armbanduhr. Sie hatte Mühe, die Zeiger in der Dunkelheit zu erkennen. »Es ist schon fünf nach«, sagte sie. Um sechs Uhr hatten sie sich bei Adi treffen wollen.

In der Toreinfahrt neben der Haustür erschien ein Wagen. Die Scheinwerfer warfen ein grelles Licht in den Regen, das Klopfen des Motors hallte nagelnd im Durchgang. Als der Wagen auf der Straße war, machte Gisela ein paar Schritte in die Einfahrt hinein. Gerüche von Diesel und Öl wehten aus dem offenen Tor der Autowerkstatt, jemand hämmerte auf Metall. Am Ende des Durchgangs drehte sich Gisela um und warf einen kurzen Blick auf das Fenster zwischen der ersten und der zweiten Etage. Es war dunkel, natürlich, denn Adi war nicht zu Hause, sonst hätte er ihnen geöffnet.

»Er ist nicht da«, sagte sie zu Hagen und stellte sich zu ihm in den Hauseingang. Dabei klopfte sie ihren Schirm an die Außenwand. Sie sah, wie Hagen es ihr gleichtat, er machte ausladende Bewegungen mit seinem Schirm, den er doch schon sorgfältig von Regentropfen befreit hatte, und rückte einen Zentimeter näher an Gisela heran. Sollte er nur nicht glauben, dass sie das nicht merkte. Aber sie ließ es geschehen, blickte dabei auf die Straße. Der Regen ließ nach.

»Was hast du denn mitgebracht?«, fragte Hagen.

»Little Richard.« Gisela hatte nicht viel Aufhebens gemacht, als sie im Zimmer ihres Bruders ein paar Schallplatten aus dem Ständer für die Singles genommen hatte. »Unter anderem«, sagte sie. Bei seinem letzten Besuch hatte er so viele davon im Gepäck gehabt, dass sie noch ein paar Wochen beschäftigt sein würden, sie alle durchzuhören.

»Hoffentlich sind es welche, die wir noch nicht kennen.« Hagen rückte wieder einen Millimeter näher zu ihr, als er sprach.

»Da.« Gisela hatte nur den Schatten eines Kopfes gesehen, aber Adi erkannt.

»Was?«, fragte Hagen.

Adis Kopf erschien wieder hinter der nahen Hausecke. Blickte in alle Richtungen, kam hervor, drehte sich, schaute zurück, dann zu ihnen, kam endlich auf sie zugerannt. Er war völlig außer Atem.

Sie machten ihm Platz, er drückte die Tür mit dem kaputten Schloss auf. »Lasst das Licht aus«, rief er und lief schon die Treppen hoch.

Erst im Licht des Zimmers wurde Gisela klar, dass Adis Anzug nicht nur nass war. Am Bein war ein Riss, ein Ärmel war am Ellbogen durchgescheuert, und was die dunklen Flecken verursacht hatte, konnte sie nur erahnen.

Bis Adi das Jackett auszog. Auch auf dem Hemd waren Flecken. Ein helles Rot, verwaschen und zerlaufen.

»Das ist …«, sagte Gisela.

»Die Polizei?«, fragte Hagen. »Gab es Senge?«

»Es ist nicht sein Blut«, sagte Gisela. »Oder?«

»Karl ist tot.« Adi war aufgestanden und begann, die Hose auszuziehen. »Der Kollege.« Unter allen anderen Umständen hätte Gisela sich abgedreht. Aber sie hielt die Augen auf ihn gerichtet, als er redete.

»Als ich begriffen habe, dass er nicht mehr lebt, bin ich abgehauen.« Adi stand in der Unterhose da. So wenig bekleidet hatte sie ihn noch nicht gesehen. Am Badesee vielleicht, aber da war er in der Badehose gewesen, das war etwas anderes. Sie sah die Hühnerbrust, die straffen Muskeln am Oberarm, die Andeutung von O-Beinen. Er setzte sich in der Unterhose wieder hin und legte den Kopf in die Hände.

»Ich hab nicht nachgedacht«, sagte er durch die Finger hindurch. »Doch, natürlich habe ich nachgedacht. Aber ich konnte ihm nicht mehr helfen. Und als die Leute kamen … Und die Polizei war nicht weit … Und die hätten mich auf jeden Fall … Ich bin einfach gelaufen.« Er zitterte am ganzen Körper. »Er war doch tot.«

Gisela öffnete ihren Mantel, zog ihn aus, legte ihn über das schmale Bett, stellte sich neben Adi und legte seinen Kopf an ihren Bauch. Sie spürte das Beben in seinem Körper, das stärker wurde, bis er endlich anfing zu weinen.

Adi weinte lange, während Gisela seinen Kopf streichelte und Hagen aus dem Fenster guckte.

3

Die Reste in den Kühlschrank, das Geschirr schnell gespült, kurz die Küche überprüft, alles sauber, Papa würde nicht mehr kommen, jedenfalls nicht zum Essen. Gisela knipste das Deckenlicht aus. Er hatte es so oft erklärt, dass sie an der Wahrhaftigkeit der Begründung zweifelte. Die wichtige Stellung, die Verantwortung, ein Arbeitstag endet nicht einfach, du bist schon groß. Als stellvertretender Oberpostdirektor hatte Papa wahrscheinlich viel zu tun, aber dass er mehr und mehr abends wegblieb, hatte andere Gründe. Biertrinken mit Kollegen, er roch manchmal am Morgen, eine Frau womöglich, er war der einzige Witwer in der Familie, einsame Spaziergänge am Rhein, Papa erzählte nicht viel. Vielleicht war es von allem etwas. Vielleicht ging er zu Frauen, die Geld erwarteten, wie diese Rosemarie, über die es im letzten Jahr den Film im Kino gegeben hatte. Sowieso war Papa ganz schön mit sich selbst beschäftigt. Er fragte kaum einmal nach, wie es in der Schule lief. Und darüber, was danach sein sollte, hatte er noch nie gesprochen. Allen Mädchen in der Klasse war schon klar, was auf sie zukommen würde. Ein Jahr noch, dann das Abitur, danach irgendetwas im elterlichen Betrieb, eine Ausbildung oder eine Arbeit ohne, bis irgendwann die Heirat anstand. Nur Gisela wusste nicht so genau, was sie wollte. Vielleicht studieren. Vielleicht Hagen. Oder Adi?

In ihrem Zimmer zog sie die Vorhänge zu und knöpfte den Rock auf, als das Telefon im Flur läutete. Sie ließ den Rock fallen und eilte heraus.

»Ja?«

»Er ist da.«

»Adi?« Er war atemlos.

»Innerwerkstatt.«

»Was?«

»In der Werkstatt.«

»Wer ist da?«

»Der Wagen.«

»Welcher Wagen?«

»Der BMW.«

Als sie nicht reagierte, redete Adi weiter. »Der Barockengel, die Demonstration, Karl, ich habs doch erzählt, ihr habt mich doch gesehen, ihr wart doch da.«

»Aber …« Gisela wusste immer noch nicht, was Adi auf dem Herzen hatte. »Es ist dunkel. Wo bist du überhaupt?«

»In der Telefonzelle. Und der Wagen ist in der Werkstatt. Sie reparieren ihn. Ich kanns doch sehen. Vom Fenster aus. Das Oberlicht.«

»Die Mechaniker?«

»Ja, die Werkstatt ist geschlossen, aber sie arbeiten noch. Der Meister und der Geselle.«

»Und das kannst du durchs Oberlicht sehen?«

»Das ist direkt unter meinem Fenster. Es ist der Wagen.«

»Aber es gibt viele davon.«

»Doch nicht mit der Delle. Vorn links. Genau da, wo …«

»Es ist derselbe?«

»Vorn links. Sie haben eben den Kotflügel ausgetauscht. Wirklich, er ist es.«

»Und? Was machen wir jetzt?«

»Ihr müsst kommen.«

Gisela zog den Rock wieder an und öffnete den Vorhang. Das Fenster von Hagens Zimmer war hell erleuchtet. Sie nahm den kleinsten der winzigen Kiesel, die sie auf dem äußeren Fensterbrett abgelegt hatte, und holte tief Luft. Vor ein paar Wochen hatte sie viel zu hoch angesetzt und ein Fenster bei den Poppelmanns in der zweiten Etage getroffen. Ganz schnell hatte sie das Licht ausgeschaltet und sich versteckt. Jetzt musste es aber klappen. Der Hof zwischen den beiden Hausflügeln war weit, aber sie machte das nicht zum ersten Mal.

Ausholen, einatmen, werfen.

Tack. Das Geräusch war das richtige, aber war es auch die richtige Scheibe?

Hagen erschien sofort am Fenster.

Gisela hielt den Mantel, den sie gleich anziehen wollte, am ausgestreckten Arm und zeigte mit der anderen Hand hinter sich. Hagen brauchte ein paar Sekunden für eine Reaktion. Dann verschwand er für wenige Momente, kam mit seiner gestreiften Jacke zurück, zog sie an und schaltete das Licht aus. Kurz darauf trafen sie sich vor der Haustür.

4

Warten.

Warten und beobachten.

Er hatte schließlich Zeit.

Und er wunderte sich über diese Kinder.

Er saß in seinem DKW und beobachtete das Haus. Die waren doch wirklich fast noch Kinder.

Was machten die da überhaupt?

Zuerst war da dieser dünne Hering gewesen mit dem beinah schwarzen Haar und der beinah rausgewachsenen Tolle. Er war aus dem Haus herausgekommen und hatte sich ganz bedächtig eine Zigarette angezündet. Dann einen ganz langen Hals gemacht, um in die Toreinfahrt hineinzublicken. Die Zigarette hatte er weggeschnipst, ohne sie zu Ende zu rauchen, und war, so als würde er im Park flanieren, ganz beiläufig hineinspaziert in die Einfahrt. Ein paar Schritte nur, war wieder rausgekommen, rennend beinah und um die nächste Ecke verschwunden.

Und selbst wäre er beinah ausgestiegen aus seinem Wagen und ihm hinterhergelaufen.

Weil es ihn interessierte.

Und weil es ihn möglicherweise auch anging.

Er betrachtete das Haus. Selbst im Dunkeln konnte man die Kriegsschäden erkennen. Wie faule Zähne ragten die Reste einer dritten Etage aus der Struktur heraus. Den Krieg erkannte man noch überall hier. Schuttgelände, Ruinen, manche sogar noch bewohnbar, wie diese, und hinter mancher Reklametafel verbarg sich eine Brache mit Kriegsschutt.

Da kamen noch zwei von denen. Ein Mädchen und ein Junge. Viel war nicht zu erkennen von ihnen in der Dunkelheit. Sie trug einen blauen Mantel zum blonden Pferdeschwanz, er, groß war er, eine gestreifte Jacke, sehr schick, die nicht zu seinen steifen Bewegungen passte und erst recht nicht zum straff gezogenen Scheitel im farblosen Haar, der selbst im matten Licht der Straßenlaternen zu erkennen war.

Der Dünne öffnete ihnen persönlich die Haustür, er trug jetzt eine Lederjacke, mehr Prolet als Halbstarker, und zeigte mit dem Daumen in die Einfahrt hinein. Dabei erzählte er ihnen etwas, ohne wirklich die Lippen zu bewegen. Das Mädchen stellte sich daraufhin mitten in die Einfahrt, trippelte ein Stück hinein und war verschwunden. Die beiden Jungs hielten sich im Hauseingang verborgen. Gerade als sich der Große aufmachte, dem Mädchen zu folgen, kam es herausgerannt. Sie drängte die beiden Jungs in den Hauseingang und sich selbst gegen deren Körper, als ein Mechaniker auftauchte. Einen großen Schraubenschlüssel in der Hand, stand er auf dem Trottoir und blickte die Straße zuerst hinauf und dann herunter.

Die drei im Eingang rührten sich nicht. Als sich der Mechaniker wieder umdrehte, verschwanden sie im dunklen Hausflur.

Was zum Teufel hatten die vor? Was hatten die mit der Werkstatt zu schaffen? Und warum taten sie so heimlich?

Zeit, sich selbst eine Zigarette anzuzünden. Er wusste, dass er damit gegen jede Vernunft und gegen jede Regel handelte. Im Dunkel der Nacht, im Wagen, und dann ein langer Zug. Aber erstens war die Straße leer. Zweitens waren die Leute, für die er sich interessierte, im Hinterhof zugange. Und drittens hatte wirklich niemand von ihnen auch nur die leiseste Ahnung, dass er ihnen auf der Spur war.

So war das in Westdeutschland im Jahr 1959. Niemand hatte eine Ahnung. Und natürlich nie eine gehabt.

Ein Lichtschein in der Einfahrt. Langsam kam der Kegel näher, er startete den Motor schon einmal und warf die Zigarette halb geraucht aus dem Fenster. Da kam der Dünne aus dem Haus gesprungen. Das Mädchen folgte ihm auf dem Fuß. Der Dünne trat das Moped an, das neben der Tür stand, und das Mädchen saß schon hinter ihm, die Arme fest um seinen Oberkörper gelegt.

Der BMW kam aus der Einfahrt gerollt und war unterwegs zur Neusser Straße. Das Moped fuhr ihm hinterher. Was sollte das? Was hatten die denn mit dem Salz zu tun?

Salz gehörte doch ihm.

Er ließ den DKW langsam anrollen, als das Rücklicht des Mopeds gerade um die Ecke verschwand. Eile hatte er nicht, wusste er doch genau, wo es hingehen sollte. Salz kannte er schließlich gut. Was er nicht wusste, war, wo sich der BMW diese Delle geholt hatte, wegen der er in dieser Werkstatt vorgefahren war.

5

»Kein Licht«, sagte Adi, als er die Tür hinter den beiden zumachte und zum Fenster lief. »Das war ganz schön mutig.« Hagen drückte die Nase ans Fenster und sah in den Hof hinunter.

Gisela betrachtete die beiden von hinten. Ihr Herz schlug noch in schnellem Takt. Sie hatte nur einen Blick auf die Autowerkstatt geworfen, als sich eine Seitentür öffnete und ein großer Mann im grauen Kittel herauskam. Sie war sich nicht ganz sicher, ob er sie eher gesehen oder doch sogar gehört hatte, denn sie war auf Zehenspitzen in den Hof geschlichen. Vielleicht war es auch eine Eingebung gewesen, so ein Misstrauen, das man eben hat, wenn man etwas Geheimes tut. Wie zum Beispiel so einen Wagen zu reparieren, anstatt die Polizei zu rufen. Dass mit dem Kotflügel etwas faul war, mussten die in der Werkstatt doch wissen. Sonst würden sie nicht um diese Uhrzeit noch daran arbeiten.

»Da«, sagte Adi und zeigte auf etwas oder jemanden.

»Hm?« Hagen rückte näher zu ihm hin.

Gisela schob die beiden auseinander und stellte sich zwischen sie.

»Da«, sagte Adi noch einmal. »Der Mantel.«

In der Ecke des Oberlichts war der Saum eines schweren Kleidungsstücks zu sehen. Feine Lederschuhe darunter. Langsam bewegte sich der Mantel weiter ins Bild. Aber mehr als den dicken Stoff und die Schuhe war nicht zu erkennen. Ein blauer Kittel kam hinzu, zwei Hände, ein paar Geldscheine, die den Besitzer wechselten.

»Die sind fertig«, sagte Adi.

»Wir müssen sie aufhalten«, sagte Gisela.

»Wir sollten uns das Kennzeichen merken und zur Polizei gehen.« Hagen.

»Keine Polizei.« Adi.

»Und wenn wir sie verfolgen?«, fragte Gisela.

Adi reagierte sofort. »Komm«, sagte er und griff ihre Hand. Dann blieb er stehen und sah Hagen, der sich ebenfalls zur Tür wandte, aber schnell auch wieder stehenblieb.

»Geht nur«, sagte Hagen.

»Jetzt macht«, sagte er noch. »Sonst sind sie doch weg.«

Sie saßen schon auf dem Moped, als der BMW aus der Einfahrt rollte. »Wenn der aufdreht, verlieren wir ihn.« Adi trat das Pedal durch und folgte dem BMW, Gisela klammerte sich an ihn. Auf der Neusser Straße hielt der Wagen sich nicht lange auf, sondern bog ab und fuhr in Richtung Zoo und Flora. Adi nahm sogar Tempo heraus, das war am Ton des Motors zu erkennen, der wieder tiefer wurde, nachdem er zuerst ganz schön gekreischt hatte. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, den BMW im Blick zu behalten. Mit Mühe konnte sie im kalten Wind den Hut des Fahrers ausmachen. Am Zoo bog er in eine Nebenstraße ein und wurde immer langsamer. Vor fast jedem Haus stand ein Auto in der Einfahrt, so reich waren die Leute hier. Adi fuhr an den Bordstein und blieb stehen.

Der BMW hielt vor einer zweistöckigen Villa, in der mehrere Räume hell erleuchtet waren. Gisela hörte, wie die Autotür quietschend geöffnet und dann zugeschlagen wurde.

Sie ließen das Moped stehen und näherten sich dem Haus langsam auf dem gegenüberliegenden Trottoir. Im Parterre sahen sie den Mann im Mantel, wie er ihn auszog und einer Frau im Kittel reichte. Die Entfernung war zu groß, um viel von ihm zu erkennen. Vielleicht fünfzig Jahre. Korpulent. Halbglatze. Über dem Hemd trug er Weste und Fliege. Das war es, denn er wandte sich ab und verschwand durch eine Tür.

Adi zog sie an der Hand über die Straße, hin zu dem Haus, Gisela ließ es geschehen, fragte, als sie innehielten: »Was machen wir jetzt? Wo wir wissen, dass er hier wohnt?«

»Wir beobachten ihn.«

»Und dann?«

»Wir müssen doch wissen, wer es war.«

»Aber was machen wir mit dem Wissen?«

»Und warum …«, sagte Adi, »das auch.«

Als Gisela die nächste Frage stellen wollte, wurde die Vordertür der Villa geöffnet. Gisela spürte, wie Adi ganz starr wurde, der Griff seiner Hand viel zu fest. Nacheinander kamen zwei Männer aus der Tür, blieben kurz stehen, tauschten ein paar Silben aus, stapften dann direkt auf den Gehweg zu.

»Den kenn ich«, sagte Adi tonlos.

Gisela holte tief Luft, drehte sich zu Adi, nahm dessen Kopf in die Hände und küsste ihn auf die Lippen.

Adi wurde kein bisschen lockerer, während sie das tat, aber er hielt still. Die beiden Männer hatten sie beinah erreicht. Im Augenwinkel beobachtete Gisela, dass beide mit offenem Mund starrend an ihnen vorübermarschierten. Der kleinere der beiden war halb verdeckt von dem anderen, sicher fast zwei Meter groß, Mittelscheitel über knapper Topffrisur und eine Augenklappe, die von einem dünnen Band gehalten wurde. Für einen kurzen Moment nur begegneten sich ihre Blicke, sein freies Auge weit aufgerissen. Gisela wurde ganz kalt dabei.

6

Warten.

Er hatte Zeit.

Er stand am Neumarkt und wartete.

Da war er endlich, der Arzt. Er verließ das große Haus mit der Praxis, blickte sich dabei um, als gehörte ihm die Welt, das Kinn nach vorn gereckt, die Schultern nach hinten gezogen, die Augen überall und nirgends. Der Mittagsgang samt Tischreservierung war obligatorisch. Dem Arzt zu folgen ein Kinderspiel.

Hier an dieser Ampel könnte er ihn aus einer großen Gruppe heraus vor einen Lastwagen stoßen. Eine Hand auf dem Rücken und … Die Leute würden zuerst herumschreien, dann den Toten bedauern und sich erst danach fragen, wie der Herr mit der auffälligen dunkelgrauen Frisur unter die großen Räder gekommen war.

Ein paar von ihnen würden sich erinnern. Da war einer hinter dem. Der hat irgendetwas getan oder gesagt. Aber jetzt ist er weg. Sie würden ihn beschreiben.

Sie würden ihn falsch beschreiben.

Der Arzt, Himmelreich war sein Name, überquerte den Neumarkt, um zu dem Brauhaus zu gelangen, in dem er zu Mittag zu speisen pflegte, beinah immer das Tagesgericht, wie heute den Sauerbraten.

Der Kellner nahm zuerst die Bestellung des Arztes auf und dann seine. »Ich nehme die Rouladen«, sagte er zu dem Kellner. Während er den Arzt dabei beobachtete, wie er sich die Tageszeitungen bringen ließ, dachte er an diese jungen Leute, die den Salz verfolgt hatten. Was sie sich für ein Schauspiel geleistet hatten vor dessen Haus. Der improvisierte Kuss, ganz sicher war er das gewesen und nie im Leben geplant, aber schlau. Bedauerlich, dass er nicht schlau wurde aus ihnen. Welches Interesse mochten sie haben, Salz zu folgen? Wenn sie Salz auf den Fersen blieben, würde er es irgendwann begreifen.

Im Brauhaus bot sich ebenfalls eine ausgezeichnete Gelegenheit, den Arzt um sein Leben zu bringen. Unmittelbar nach dem letzten Bissen suchte der Arzt die Toilette auf. Ein Mann der Gewohnheiten. Im Glas befand sich dann noch ein Rest Bier, das er im Stehen zu sich nahm, bevor er das Lokal verließ. Beiläufig am Tisch vorübergehen und die paar Tropfen eines Gifts oder die eine schnell lösliche Tablette im Glas versenken.

Ein sofort wirkendes Mittel, das ihm sofort den Garaus machte, das ihn auf der Stelle fällte. Oder eines, das ihn erst beim Überqueren des großen Platzes umhaute. Möglich, wie gesagt. Aber zu wenig auffällig. Zu wenig dem Gedanken der Rache verpflichtet. Und zu anonym. Ein Blick in die Augen war obligatorisch.

Gleich war Himmelreich wieder in der Praxis. Die Treppen rund um den beeindruckenden Lichthof nahm der Arzt stets federnd, zwei Stufen auf einmal, beeindruckend eigentlich für einen beinah sechzig Jahre alten Mann. Damit hatte er durchaus geliebäugelt. Ihn übers Geländer zu stoßen. Immerhin hatte Himmelreich vier Stockwerke zu nehmen, und vom dritten an war der Sturz auf den Marmorboden im Foyer nicht nur tödlich, sondern auch spektakulär und blutig.

Was ihn daran beunruhigte, war allerdings, dass der Rückzug eher wenig berechenbar war. Zu viele Türen öffneten sich hin zum Treppenhaus, zu wenig Fluchtwege boten sich an. Zwei Fahrstühle, die große Treppe und eine Tür zum engen hinteren Treppenhaus. Die hatte er vor einigen Tagen verschlossen vorgefunden.

Auf dem Weg in die vierte Etage überholte er Doktor Himmelreich. Dort hielt er ihm die Tür höflich auf, mit einem Nicken, das einer leisen Verbeugung schon sehr nahe kam, lächelnd natürlich. Der Arzt schritt wort- und grußlos vorüber und zog sich sofort ins Sprechzimmer zurück.

»Ich habe einen Termin bei Professor Doktor Himmelreich«, sagte er, als er sich vor dem Empfang platzierte und daran dachte, dass der Doktor Himmelreich schon bald in den Himmel auffahren würde.

Die ältere Dame hinter dem Schreibtisch, sie war die Gattin des Arztes, hob den Blick. »Name bitte.«

»Clausen«, sagte er. »Reinhard Clausen.« Der Name gefiel ihm ganz besonders, denn er hatte sehr viel Ähnlichkeit mit seinem richtigen. Er würde sich den Internisten gleich aus der Nähe ansehen und bald entscheiden, auf welche Art er ihn töten würde.

7

In der Werkstatt war es immer noch taghell, so viel war zu sehen durch das Oberlicht. Doch nur der Meister war noch bei der Arbeit. Herr Kucharski schlich herum, Adi konnte ihn manchmal sehen, mitunter nur seinen Schatten. Über Paul, Kucharskis Sohn, wusste er eigentlich nichts. Was man so mitkriegt, wenn man Leute häufiger sieht, aber nie mit ihnen redet. Paul war eines von zwei Kindern, aber Adi konnte nicht sagen, wer ihm das erzählt hatte. Da war noch eine Tochter, der er nie begegnet war. Paul hingegen tauchte manchmal in der Werkstatt auf. Er war in Adis Alter, arbeitete nicht dort, stand aber zum Feierabend schon mal bei den Gesellen mit der Bierflasche in der Hand herum. Geredet hatte er noch nicht mit Paul, aber ihn eindeutig erkannt, als er mit dem Einäugigen aus der Villa von diesem Salz gekommen war.

Als Gisela ihn geküsst hatte.

»Das hier kennt ihr sicher«, hörte er sie gerade sagen. Sie schaltete den Plattenspieler ein, dessen Lautsprecher ein lautes Bubb von sich gab. »›Hard Headed Woman‹ heißt das Lied.«

Das war die Vereinbarung. Sie brachte die Schallplatten mit, die sie sich von ihrem abwesenden Bruder lieh, und nur sie spielte sie ab. Fass die nicht an, musste er irgendwann gesagt haben. Wehe, da ist was verkratzt. So etwas. Und dann standen sie einfach da herum in dessen leerem Zimmer, so ungenutzt, so herausfordernd.

Ach ja. Elvis Presley. Die ersten Worte, mehr gesprochen als gesungen, schneller Rhythmus, die Blasinstrumente jagten hinterher. Wenn Adi nur mehr verstehen würde. Aber sein Englisch war nicht so gut, in der Schule hatte er es nicht gelernt. Verstehen sollte er auch, was Paul mit dem BMW-Fahrer zu tun hatte.

»Aus dem Film«, sagte Hagen schon. Er erkannte so was immer ganz schnell.

»Aus welchem Film?«, fragte Gisela. Herr Kucharski schaltete gerade das Licht aus. Adi drehte sich zu den anderen beiden. Gisela stand an der Kommode, die Hülle der Platte zwischen den Fingern der einen Hand, die andere suchte nach ihrem Platz. Hagen saß direkt neben ihr auf dem Stuhl, Hände auf den Knien, bei ihm war immer alles in Ordnung.

»›Mein Leben ist der Rhythmus‹.« Hagen natürlich.

»Ah«, sagte Gisela, »den hab ich nicht gesehen.«

»Besser als Peter Kraus.« Adi hatte den Film gesehen. Aus dem Lautsprecher konnten sie die Gitarre hören, die ihm ganz gut gefiel. Der Film hatte ihm nicht gefallen. »Das ist eine der Situationen, wo sie alle zusammen tanzen.« Das war ihm schon komisch vorgekommen. Dass alle, die bislang in einem Café zusammengesessen haben, aufhören, miteinander zu reden, und dann mit Elvis tanzen und in die Hände klatschen. Oder um ihn herum. Oder um Peter Kraus, wie in den deutschen Filmen. Wie unrealistisch das war. Jedenfalls widersprach ihm niemand wegen Peter Kraus. Wie auch?

Hagen sagte nichts mehr. Das war nicht ungewöhnlich. Das tat er oft. Nichts sagen.

Auch Gisela guckte zu Boden. Adi wusste, dass sie schon einen Film mit Peter Kraus gesehen hatte. Also hätte sie darüber auch was sagen können. Tat sie aber nicht.

Wahrscheinlich lag es aber nicht an Elvis Presley. »Sollen wir noch mal zu diesem Herrn Salz fahren?«, fragte sie.

Salz war der Name auf der Türklingel gewesen. Adi war schnell dorthin gelaufen an dem Abend, nachdem die beiden Männer um die nächste Ecke verschwunden waren. Hatte sie Hagen eigentlich von dem Kuss erzählt?

»Und dann?« Hagen richtete sich auf. »Was haben wir davon, dass wir ihn verfolgen?« Er sagte auch nichts zu Elvis.

»Was sollen wir sonst tun?«

»Die Polizei …«

»Nein«, sagte Adi. »Keine Polizei.«

»Ich weiß«, sagte Hagen. »Ich weiß. Keine Polizei. Nur weil sie dich ein paar Mal mitgenommen haben.«

»Ich traue ihnen eben nicht. Sie sind nicht auf unserer Seite.«

»Sie sollen auf keiner Seite sein«, sagte Hagen. »Das ist die Idee.«

Die Musik lief aus. Die Nadel kratzte auf der letzten Rille. Sie schwiegen sich eine Weile an.

Gisela nahm die Platte vorsichtig in die Hand und steckte sie wieder in die Hülle. Dann legte sie die nächste auf. »Das hier kennt ihr bestimmt nicht.«

Eine Männerstimme, irgendwas mit Nacht, der litt ganz schön, der Sänger, Geigen dann, mehr Stimmen im Hintergrund, dann ging der Rhythmus los mit Gitarre und Blasinstrumenten. Gisela bewegte die Finger an beiden Händen im Takt. Hagen tippte schon mit dem Fuß leise auf den Boden. Das hatte auch was. Er kannte das Stück aus dem Radio.

»Der Sänger heißt Lloyd Price und das Lied ›Stagger Lee‹.« Gisela drehte sich zum Plattenspieler, während sie redete, so als müsste sie das alles ablesen, dabei wusste sie es bestimmt auswendig. Am Ende gab es ein sehr lautes Saxofon, und wenn er tanzen könnte, dachte Adi, dann dazu.

Wieder schwiegen sie. »Aber irgendwas muss doch passieren«, sagte Gisela. »Wegen Karl. Und dem Wagen.« Sie hatte Karl zwei Mal getroffen. Einmal hatte Adi ihn in ein Café mitgebracht, in dem sie sich zu mehreren getroffen hatten. Karl hatte dabeigesessen und nicht viel gesagt. Das zweite Mal war ganz anders gewesen. Da war sie zu Adi gekommen, und Karl hatte bei ihm gesessen. Die beiden hatten über Politik geredet, über Adenauer und die neue Bundeswehr, und Karl hatte sie manches Mal angelächelt. Adi war nicht klar gewesen, ob er sie aufmuntern wollte, an dem Gespräch teilzunehmen, oder ob mehr dahinter war.

»Wir könnten der Polizei einen Brief schreiben«, sagte Hagen. »Ohne Absender.«

Weder Gisela noch Adi antworteten.

»Habt ihr eigentlich gemerkt, dass das ganz anders gespielt worden ist als beim letzten Stück?« Hagen wieder. »Ich meine … Bei dem Lied von Elvis Presley hat doch jeder Ton gestimmt. Das war so genau, so präzise, ja, irgendwie präzise. Die haben das vom Blatt abgespielt. Jedenfalls hat es sich so angehört.«

Er machte eine Pause. »Habt ihr das denn nicht gemerkt?«

Adi hütete sich, auf die Frage zu antworten. Erstens brauchte es schon etwas, um Hagen dazu zu bringen, in mehr als einem oder zwei Sätzen zusammenhängend zu reden. Und dann war er auch ganz froh, dass es nicht mehr darum ging, die Polizei einzuschalten. »Für mich«, sagte Hagen, »hat es sich so angehört, als wenn bei Elvis Presley jemand wie ein Dirigent dasteht und mit seinem Stab die Töne abwinkt, ihr wisst schon, der Taktstock, mit so einer Volte, da gibt es sicher einen bestimmten Namen für, aber ich kenne den nicht. Und bei dem Stück gerade ist das einfach anders. Ich weiß gar nicht, wie ich das sagen soll. Da fransen die Töne an den Rändern aus. Das ist schon was ganz anderes.«

Hagen ließ eine kleine Pause. »Oder?«, fragte er.

Gisela guckte ihn an, schon bewundernd. Hagen konnte aber auch kluge Sachen sagen, da wurde Adi manchmal ein kleines bisschen neidisch. Und dann guckte ihn Gisela eben so an. Was konnte man da schon machen? Hagen holte tief Luft, um noch mehr zu sagen. »Aber das mit der Polizei …«

»Ich spiel einfach noch ein Stück«, sagte Gisela und wechselte erneut die Schallplatte. Als die neue auf dem Teller lag, guckte sie noch einmal darauf. »Der Sänger heißt Wilbert Harrison und das Lied ›Kansas City‹.«

Da war ein Klavier zu hören, und dann gab es einen rollenden Rhythmus, und dann sang einer über Kansas City. Die Musik wirkte so, als würde man gerade zu Fuß gehen. Und das Stück zu hören, war wie mit dem Sänger unterwegs zu sein. »Rock ’n’ Roll ist das nicht«, sagte Adi. Er überlegte, wo er so etwas Ähnliches schon einmal gehört hatte. War das Blues? Er traute sich nicht zu fragen.

»Na und«, sagte Gisela. »Gefällt es dir nicht?«

»So hab ich das nicht gemeint. Und Jazz ist es auch nicht. Oder?«

»Was ist in Kansas City?«, fragte Hagen.

»Vielleicht ist es da schön«, sagte Gisela.

»Hm«, brummte Hagen, als ein Gitarrensolo anfing.

»Jetzt hört es sich aber doch ein bisschen nach Rock ’n’ Roll an«, sagte Adi. Das war stark, das Solo. Und hatte Hagen nicht recht? Die Töne waren wirklich nicht so sauber wie bei Elvis Presley. Bestimmt hatte das etwas zu bedeuten.

»Vielleicht sollten wir uns einfach einmal bei diesem Salz vor die Tür stellen und gucken, was passiert.« Gisela ließ die Platte auslaufen und drehte sie um.

»Das Stück heißt ›Listen, my Darling‹«, sagte sie, als sie den Tonarm aufsetzte. Das konnte sogar Adi übersetzen. Und der Gedanke gefiel ihm auch.

8

Die Schallplatten waren alle wegsortiert, die Tasche für die Schule war gepackt, als sich Gisela auf ihr Bett setzte, um die Schuhe auszuziehen. Sie dachte nach über Hagens Eindruck von der Musik Elvis Presleys. An den Dirigenten mit dem Taktstock …, als das Telefon klingelte.

Gisela sprang auf, lief in den Flur und nahm den Hörer ab.

»Ja?« Leise.

»Sie sind in der Werkstatt.« Adi.

»Wer?«

»Die …«

»Warte.«

Sie schlich zur Schlafzimmertür und horchte. Papas Schnarchen sagte ihr, dass er erstens zu Hause und zweitens alkoholisiert war. Auf dem Weg zurück zur Kommode und zum Telefon warf sie einen Blick auf die Uhr in der Küche. Viertel vor zwölf. Beinah Mitternacht.

»Wer ist in der Werkstatt?«

»Die beiden Kerle.«

»Welche beiden Kerle?«

»Paul …« Adi holte tief Luft. »Und … und der Einäugige.«

»Der mit der Augenklappe?«

»Der und der andere. Beide. Das sage ich doch.«

»Aber was machen sie da?«

»Ich weiß es nicht.«

Gisela war klar, dass sie fragen sollte, warum Adi überhaupt angerufen hatte, aber im Grunde wusste sie es.

»Du musst kommen«, sagte Adi.

Und nach einer kleinen Pause, deutlich leiser: »Und Hagen auch.«

»Warum?«

»Die haben irgendwas vor.«

»Und was sollen wir da tun?«

Adi überlegte schnaufend. »Das wissen wir, wenn es passiert.«

»Gut«, sagte Gisela. »Ich komme.«

Während sie sich anzog, blickte sie in das dunkle Fenster, hinter dem Hagen schlief. Bis auch der wach und bereit war, aufzubrechen, würde es dauern. Das Einfachste war, so bald wie möglich zu Adi zu laufen und bald wieder im Bett zu liegen. Was immer Adi auch erwartete, dachte sie, als sie die Stufen im Treppenhaus leise nahm, lange würde sie nicht unterwegs sein.

Die Haustür bei Adi war sperrangelweit offen, der Flur dunkel. Gisela war atemlos vom schnellen Laufen, konnte aber Adis Stimme schon hören.

»Komm rein.« Er zog sie hinter die Ecke, an der die Treppe zu den Etagen begann. »Sie sind noch da«, sagte er, als schon Schritte in der Einfahrt zu hören waren.