Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit - Max Annas - E-Book

Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit E-Book

Max Annas

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Beschreibung

Jena, 1985. Ein junger Mann ist ermordet worden. Ein Punker, so nennen sich diese Gestalten, die vom sozialistischen Staatswesen so schwer auf Linie zu bringen sind. Die Ermittler der Morduntersuchungskommission um Oberleutnant Otto Castorp nehmen schnell den Vater des Opfers ins Visier, einen Antiquitätenhändler mit Westkontakt, der dem Arbeiter- und Bauernstaat feindselig gegenüber steht. Der Ermordete, das weiß Castorp, hatte sich als Informeller Mitarbeiter bei der Staatssicherheit verpflichtet. Zudem scheint der Fall auch mit einer Einbruchsserie in der Stadt zu tun zu haben. Und mit alten Geschichten. Sehr alten, sehr finsteren Geschichten - sie reichen zurück in die Zeit vor 1945.

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Max Annas

Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikoleit

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

«Wir leben in der Deutschen Demokratischen Republik. Und wir haben nicht viele Geheimnisse, die tatsächlich geheim bleiben.»

 

Jena, 1985. Ein junger Mann ist ermordet worden. Ein Punker, so nennen sich diese Gestalten, die von den Behörden so schwer auf Linie zu bringen sind. Die Ermittler der Morduntersuchungskommission um Oberleutnant Otto Castorp nehmen schnell den Vater des Opfers ins Visier, einen Antiquitätenhändler mit Westkontakt, der dem Arbeiter-und-Bauern-Staat feindselig gegenübersteht. Der Ermordete hatte sich als Informeller Mitarbeiter bei der Staatssicherheit verpflichtet. Zudem scheint der Fall auch mit einer Einbruchsserie in der Stadt zu tun zu haben. Und mit alten, überaus finsteren Geschichten. Aber auch Otto Castorp trägt eine Last aus der Vergangenheit mit sich herum. Und die droht ihn nun einzuholen.

 

«Man freut sich, dass es Krimis gibt, in denen mehr aufgeklärt wird als ein Mord.» Stern

Vita

Max Annas, aufgewachsen in Westdeutschland, hat die letzten Jahre der DDR genutzt, um sich dort umzusehen und Freundschaften zu schließen. Im Juli 1989 wurde ihm die Einreise schließlich verwehrt. Er arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane «Die Farm» (2014), «Die Mauer» (2016), «Finsterwalde» (2019) und «Morduntersuchungskommission» (2020) mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Weitere Veröffentlichung: «Illegal» (2017).

Für Matthias Domaschk (1957–1981)

Vom Tisch kommt das Nicken.

 

Julia tippt mit dem Zeigefinger das D auf dem Keyboard an und sucht den richtigen Rhythmus. Mit der anderen Hand hält sie den Lautstärkeregler fest. Ihr Herz klopft schnell. Der Finger auf der Taste hat den Beat jetzt gefunden. Sie wartet auf Sohle. Wenn er sie anguckt, kann sie die Lautstärke hochfahren, aber der ist noch damit beschäftigt, die Gitarre so vor seine Lederjacke zu halten, dass er auf die Saiten hauen kann. Biber glotzt in die Runde, er ist sowieso am Start. Die beiden Holzstäbe liegen in seinen großen Händen, als wollte er sie zerbrechen. Die Leute wundern sich oft, wie gut er damit spielen kann. Nicht, dass es wichtig ist.

Die Augen zur Seite gerichtet, bemerkt Julia das Nicken vom Tisch noch einmal. Die Leute von der Einstufungskommission werden ungeduldig. Die Freunde im Saal werden auch schon unruhig. Die paar Leute. Julias Zeigefinger bearbeitet weiter das D. Melchior ist jetzt auch so weit. Der Bass hängt so tief, dass er nur mit einem Buckel spielen kann. Aber er will es so. Und er sieht cool aus. Sohle hat die Augen zusammengekniffen und starrt sie an. Er will. Julia überprüft kurz die Lage. Biber wartet. Melchior auch. Das Nicken vom Tisch kommt schon wieder. Jetzt dreht sie langsam am Knopf.

 

Melchior beobachtet Julia, die einen Beat Pause macht, dann gibt es noch einen Ton. Und wieder von vorn. Das Ganze noch ein drittes Mal, die volle Lautstärke ist erreicht, und endlich kommt sein Einsatz. Die Bewegung beginnt in der Schulter. Wie ein Blitz fährt sein rechter Arm über die vier Saiten, die er lockerer spannt als andere. Dadurch kriegen die Töne so eine Länge. Er hört Biber und dessen knüppelharten Schlag, dann eine kurze Pause, und dann ist er mit diesem Rhythmus dabei, der oft so wirkt, als wolle er die anderen im Takt überholen. Was er manchmal auch tut. Er hat ja nur die beiden winzigen Trommeln, die sie von seinem Vater übers Militär gekriegt haben, und die Jazz-Hi-Hats, die ihm ein Onkel aus Moskau mitgebracht hat. Da ist alles hoch und hell und knallend. Nur Sohle wartet noch. Melchior blickt kurz zu ihm hinüber und sieht, wie dessen ganzer Körper zum Rhythmus zuckt. Er hat die rechte Hand schon oben und die Augen geschlossen, Melchior kann ihn mitzählen sehen. Dann öffnet er die Augen, senkt den Blick auf die Saiten und nimmt sich den Song mit diesem Solo, was er aber nicht so nennen würde. Er fährt für ein paar Takte über die anderen glatt hinweg, dehnt die unterste Saite ein paar Mal bis zum Anschlag, und dann beugen sich alle vor zu den Mikrofonen.

 

Sohle spielt einen letzten Ton und holt Luft. «Der Rotz, der fließt die Saale runter», ruft er ins Mikro. – «Der Rotz, der fließt die Saale runter», rufen die anderen ihm leicht versetzt hinterher. Auf Melodie oder so was achten sie nicht. Oder Chorgesang. – «Der Rotz, der fließt die Saale runter», ist er wieder allein dran. – «Der Rotz, der fließt die Saale runter», folgen die drei anderen ihm. Sie haben sich ganz schön viele Gedanken gemacht, wie lang genau der Abstand sein muss zwischen seiner Stimme und den anderen. Und Melchior hat einmal gesagt, dass das eigentlich viel zu kompliziert für Punk ist. Punk ist schmutzig, hat er auch noch gesagt.

Das Singen hört erstmal wieder auf. Für eine Sekunde guckt Sohle zu dem Tisch hinüber, dann zu Julia, die immer noch mit dem Zeigefinger auf das D tippt und ihn anstarrt. Gleich braucht sie mehrere Finger auf einmal, wenn Melchior und Biber fertig sind mit ihrem Interlude. Dann muss sie die Tasten im Blick haben. «Gibt kein Interlude im Punk», hat Melchior ein paar Mal gesagt. Aber mit Biber diese zehn Sekunden Krach zu machen, das fetzt schon, hat er gesagt.

Sohle guckt wieder zum Tisch. Der Mann, der eben noch genickt hat, schüttelt nun den Kopf. Julia braucht jetzt drei Finger und ihre beiden Hände. Sohle erinnert sich daran, was sie gesagt hat, als er damals meinte, sie bräuchten eine Sängerin. – «Ich tanz da nicht vor euch rum», waren ihre Worte. Und: «Nur weil ich Titten hab, glaubt das nur nicht.» Und: «Ich will auch ein Instrument spielen.» Sie konnte keins und hat das alte Keyboard gekriegt, das er bei einer Tanzkapelle besorgt hat. Jetzt drückt sie versehentlich zwei Tasten mit einem Finger auf einmal, obwohl das so gar nicht vorgesehen war. Vor allem heute nicht.

 

Biber ist wieder bei dem Rhythmus vom Anfang angekommen. Und die anderen mehr oder weniger auch. Da da da da da daa macht Julia mit dem D, dann wieder eine Pause und das nächste Da, das ihr etwas zu lang gerät. Melchior vor ihr zuckt kurz mit der Schulter. Vielleicht hat er es mitgekriegt. Sohle kommt nun wieder mit seiner Gitarrenattacke. Biber kann die Männer am Tisch genau sehen. Sie rühren sich nicht. Was immer die auch erwartet haben. Egal, da müssen die jetzt durch.

«Der Rotz, der fließt die Saale runter», schreit Sohle nach vorn gebeugt. – «Der Rotz, der fließt die Saale runter», sind alle dran. – «Der Rotz, der fließt die Saale runter», ist wieder Sohles Einsatz. Und jetzt kommt es. Die Freunde, die im Saal sitzen, kennen das schon. Die haben das im Keller der Jungen Gemeinde gehört, ohne all die Mikros natürlich, so viele wie hier gab es da ja gar nicht. Die drei beugen sich nach vorn, um ihren Teil zu singen, um Sohles Ruf wieder mit einem Echo zu kontern, aber sie tun es nicht. Das war Julias tolle Idee.

 

Julia muss immer grinsen, wenn sie an den Punkt kommen, an dem sie jetzt sind. Sie sieht die anderen an und erkennt, dass es ihnen nicht anders geht. Sie haben eine Erwartung geschaffen, und diese Erwartung dann nicht erfüllt. Wie bei einem Schlag auf die Trommel, zu dem der Fuß schon wippt, der dann aber unterbleibt. Das ist richtig cool. Sie dreht den Lautstärkeregler langsam zurück. Sohle und Biber haben schon aufgehört, nur Melchior fährt mit dem Arm noch über die Basssaiten. «Rotz!», ruft Sohle. Und wieder «Rotz!». Das Keyboard ist fast schon stumm, Melchior hat die Bewegungen aus der Schulter heraus immer langsamer kommen lassen. «Rotz!», ruft Sohle. Melchior reibt noch einmal über die Saiten. Und Sohle ruft zum letzten Mal «Rotz!».

Dann ist alles still. Wirklich still. Julia hört ein Husten aus dem Saal. Ein einsames Klatschen dann, es kommt viel zu schnell und zu heftig. Mehr Hände klatschen, aber so viele Leute sind ja gar nicht gekommen. Jetzt erst traut sich Julia, zum Tisch zu gucken. Die vier Männer sitzen so, dass sie ihre Gesichter nur schwer sehen kann. Der erste, der, der eben genickt hat, das ist der Vorsitzende der Kommission, verzieht keine Miene und rührt sich auch sonst nicht. Der Applaus wird schwächer. Die anderen drei Männer, für Julia im Schatten des ersten, versetzt hinter ihm, bewegen sich nicht. Also gar nicht. Da ist kein Zucken zu sehen, selbst die Hände liegen alle auf dem Tisch. Jetzt schreibt einer was auf den Zettel vor sich, das ist der ganz hinten. Sein Nebenmann macht es ihm nach. Dann beugt sich der dritte nach vorn und nimmt den Stift zur Hand. Nur der erste, der Nicker, der sitzt ganz still. Langsam dreht er den Kopf und sieht Julia an. Und nickt schon wieder. Sie haben ja noch ein paar Stücke zu spielen an diesem Morgen.

1 | Otto Castorp

«Genosse Castorp», sagte Heinz, als er den Wartburg stoppte. «Sehen Sie mal, hier an dieser Ecke können Sie keinen Schaden anrichten.» Die hohe Stimme des Hauptmanns der Morduntersuchungskommission klingelte in Ottos Ohr. Er öffnete die Beifahrertür des Wartburg und setzte einen Fuß auf den Asphalt. Dann drehte er sich noch einmal vorsichtig um und blickte ins Gesicht seines Leiters. Er sah Mitleid und Bedauern. Vor allem Mitleid. Er traute sich nicht, auf die Rückbank zu schauen. Da saßen Günter und Rolf und amüsierten sich über ihn. Günter räusperte sich schon so komisch.

«Schaffe ich schon», sagte Otto. Er holte tief Luft.

«Komm, jetzt mach nicht so ein Theater.» Heinz tappte mit einem Finger auf das Lenkrad. «Wenn die Kollegen von der Branduntersuchungskommission um Hilfe bitten, dann sind wir eben da. Und du hast …» Er machte eine Pause. «Komm jetzt», sagte er. «Hier an der Ecke kannst du den Alkohol ausschwitzen. Das ist so weit weg von der Wohnung, um die es geht, da wirst du dich einfach ein bisschen langweilen und kannst nicht so viel falsch machen. Irgendwann sammeln wir dich wieder ein. Raus jetzt.»

«Raus jetzt», machte Rolf das Echo.

Otto stieg aus und schlug die Tür zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. Erst als das Motorengeräusch des Wartburg verklungen war, drehte er sich um. Über sich erkannte er im Dunkel den Westbahnhof, tief unten die Saale. Hier am Anstieg trafen sich ein paar kleinere Straßen, ein Fußweg führte zu einer Unterführung, durch die man musste, wenn man zum Bahnhof wollte. Eine Möglichkeit, sich hinzusetzen, gab es weit und breit nicht. Und er wollte erst gar nicht beginnen, danach zu suchen. Es würde ihn nur wegführen von der Kreuzung, an der er platziert worden war.

Auf und ab gehen, dachte er, vielleicht hilft das. Etwas Bewegung tut mir jetzt gut. Ein Barkas der Volkspolizei kam die Straße hoch, und Otto drehte sich weg. Da waren sicher ein paar unter den uniformierten Polizisten, die ihn kannten. Niemand musste ihn in diesem Zustand sehen. Als der Barkas die Felsenkellerstraße weiter hochgefahren war, stützte er die Hände auf die Knie und versuchte, den Druck in seinem Kopf zu lokalisieren. Es gelang ihm nicht. Druck und Schmerz waren einfach überall.

Es war aber auch spät gewesen gestern. Den Wodka hatte er im Wohnzimmer noch ausgetrunken, bevor er zu Birgit ins Bett gekrochen war. Und dann hatte ihn Heinz’ Anruf geweckt.

Eigentlich war es Birgit gewesen, die vom Lärm des Telefons aus dem Schlaf geholt worden war. Und die hatte ihn geweckt. So war es verabredet gewesen. Oder das war, worum er Birgit gebeten hatte, bevor sie schlafen gegangen war. Und auch wenn die Stimmung zwischen ihm und Birgit gerade nicht gut war, in solchen Dingen konnte man sich auf sie verlassen.

«Trink die Flasche nicht aus», hatte sie noch gesagt. «Bitte.»

Birgit hatte ihn geschüttelt, und zehn Minuten später hatte er vor der Haustür auf die anderen gewartet. Die Beifahrertür des Wartburg hatten sie ihm aufgemacht. Und er hatte sich wortlos hineingesetzt. Konnie, der jüngste Ermittler der Morduntersuchungskommission, musste mit seinem eigenen Wagen unterwegs sein. Für alle fünf Mitglieder war in dem Wagen einfach kein Platz. Was war das noch einmal für ein Fall, bei dem sie aushelfen sollten?

Noch ein Barkas kam aus dem Saaletal herauf. Otto blickte auf seine Armbanduhr, um die Jungs nicht grüßen zu müssen. Gleich würde es losgehen. Wenn er Glück hatte, war er in etwas mehr als einer halben Stunde erlöst. Und hier in der Gegend standen nicht so viele Wohnhäuser, es gab also nicht so viele Fenster, aus denen heraus man ihn sehen konnte. Für die Leute, die auf dem Weg zum Westbahnhof waren, war es genauso dunkel wie für ihn.

Vielleicht erkannte ihn niemand. Hoffentlich sprach ihn keiner an. Den Rest des Tages würde er mit dem Erstellen von Akten im Büro verbringen. Oder mit Aufräumen. Irgendetwas in der Art. Hauptsache, man ließ ihn in Ruhe.

Sechs Uhr. Gleich würde eine Tür in der Nähe eingetreten, um einen Brandstifter zuzuführen. Er hatte nicht so genau hingehört. Aber der Kerl, der erst vor ein paar Tagen identifiziert worden war, hatte schon mehrere leere Scheunen in der Umgebung Jenas angezündet. Irgendwann würde jemand bei so einem Feuer sterben.

Was war das gewesen? Hatte die Frau, die gerade an ihm vorbeigegangen war, ihm zugenickt? Er drehte sich um und sah ihr nach. Sie erinnerte ihn an niemanden. Jedenfalls nicht von hinten. Otto machte jetzt längere Schritte beim Auf- und Abgehen und wünschte sich, er hätte eine Sonnenbrille dabei. Es war noch recht dunkel, aber gleich würde die Sonne aufgehen, und das Licht würde ihn schmerzen.

Einatmen, kurz so bleiben, wieder raus mit der Luft. Jetzt könnten die anderen mal kommen und ihn aufgabeln. Es war schon viertel. Wenn nicht irgendetwas schiefgegangen war, dann saß der Zündler jetzt auf der Rückbank von einem Wartburg oder in einem Barkas und sah sich die Gegend mit gefesselten Händen an.

Aus allen Richtungen kamen die Leute nun und nahmen den Pfad hoch zum Bahnhof. Otto überquerte die Straße und stellte sich so, dass die wenigsten von ihnen direkt an ihm vorüberziehen mussten. Gleich sollten sie aber wirklich kommen, die Genossen. Er hatte Hunger. Und gewaltigen Durst. Ganz kurz schloss Otto die Augenlider, öffnete sie wieder und sah auf die Uhr. Sechs Minuten vor halb sieben.

Sie hatten ihm nicht einmal ein Funkgerät in die Finger gedrückt. Es war der letzte Posten, an dem etwas geschehen sollte. Schon fast halb. Es wurden immer mehr Leute, die hoch zum Bahnhof gingen, auch Kinder und Jugendliche. Otto drehte sich so, dass sie nur seinen Rücken sehen konnten. Wahrscheinlich war das Jackett ganz faltig, weil er es gestern Abend einfach von sich geworfen hatte. Oder hatte er einen frischen Anzug aus dem Schrank genommen? Er konnte sich einfach nicht erinnern.

Ein Ruf hinter ihm. Otto ignorierte das «Ey!». Was gingen ihn die Konflikte der Leute an, die jetzt ihre Bahn kriegen mussten, um zur Arbeit oder zur Schule zu kommen. Mehr Stimmen, zwei oder drei darunter laut, er blieb stehen. Der Mann, der eben noch «Ey!» gerufen hatte, legte nach. «Das gibt es doch nicht», rief er.

Der Klang der Stimmen wurde zu einem Teppich aus Grummeln und Stöhnen. Ein Kind fing an zu weinen.

Dreh dich nicht um. Das hier geht dich gar nichts an.

Du hast nämlich eine Aufgabe. Irgendwo dahinten verhaften die Kollegen gerade jemanden und holen dich nach getaner Arbeit ab. Und du bist hier platziert worden, um … Ja, warum eigentlich? Falls irgendetwas schiefgehen sollte. Was auch immer das sein konnte.

Solange jedenfalls von dort hinten, wo diese Wohnung lag, in der der Brandstifter wohnte, nichts Auffälliges zu ihm vordrang …

Das Kind schrie immer lauter.

«Stehen bleiben», rief jetzt ein Mann.

Und «Tu was!» eine Frau. Otto drehte sich um.

Am Beginn des Weges, der hoch zum Bahnhof führte, stand eine Gruppe von Leuten. Alle von ihnen blickten hoch, ein Mann reckte seinen Arm in die Höhe, Empörung. Eine Frau bückte sich und nahm das schreiende Kleinkind auf den Arm. Mehr Leute kamen dazu. Otto stellte sich zu ihnen.

«… Polizei …»

«… unmöglich …»

«… und das Blut …»

Jetzt sah Otto den Fleck am Boden. Und dort hinten noch einen. Er drehte sich einmal um sich selbst. Auch dort, hinter ihnen, waren Spuren. Tropfen von Blut zeichneten ein Bild des Weges, den …

«Wer war das?», fragte Otto laut.

«Dieser Mann», sagte eine Frau in kreischendem Ton, ohne sich zu ihm umzudrehen, und zeigte zum Bahndamm.

Der Klang der Stimme setzte sich in seinem Ohr fest und tat irgendwo im Kopf weh. Aber die Blutspur konnte er klar erkennen. Warum waren denn alle stehen geblieben?

Eine Sirene erklang von ferne. Das mussten die Kollegen sein. Otto betrachtete die Gruppe, neben der er stand, dann die Blutspur, dann noch einmal die Leute. Die Sirene kam näher.

Verdammt, dachte er und fing im gleichen Moment an zu laufen. Das war der Kerl, den sie zuführen wollten.

Die Bewegung tat weh im Kopf. Und in den Schultern. Und im Bauch. Und die Beine wollten gar nicht gehorchen. Seine Schritte waren kurz, und alles vor ihm war so undeutlich. Die Blutflecken vor ihm verschwammen, einer bewegte sich sogar zur Seite.

Aber Otto lief weiter. Er musste aufstoßen und schmeckte den Wodka nach. Beschleunigte und erreichte den Bahndamm. Vereinzelt standen Leute herum. Ein Mann, dessen dicke Koteletten er am Rand wahrnahm, sagte was von: «Wurde auch Zeit!»

Eine Frau kniete mit dem Rücken zum Bahndamm und hielt wie ein großes Huhn ihre beiden Arme über zwei Kleinkinder. Der Blutfleck vor ihr verlief zu einem abstrakten Muster. Gleich war Otto an der Unterführung angekommen, durch die man zu den Gleisen gelangte. Er kniff die Augen zusammen und lief, so schnell er konnte.

Am Eingang zur Unterführung standen ein paar Leute und bildeten eine Gasse, als er sie erreichte. Otto drängte sich hindurch und sah einen Mann am Boden sitzen, der nicht mehr trug als Hose und Hemd. Er hatte seinen Kopf auf die Unterarme gelegt, die wiederum auf den angezogenen Knien ruhten.

Das weiße Hemd war an der Seite aufgerissen. Die graue Hose am Unterschenkel, der Riss war ganz rot. Eine Blutspur bahnte sich den Weg von einem der nackten Füße in die Mitte des Tunnels.

«Können Sie mich ansehen?», fragte Otto den Mann, als er vor ihm in die Hocke ging.

Der Mann hob langsam den Kopf. Aus der Ferne wurden Schritte lauter.

Die Augen des Mannes wirkten trüb im Licht der einzigen Laterne in der Unterführung, seine Miene war angestrengt. Er hatte die weißen Lippen über die Schneidezähne gezogen, so sehr schmerzte ihn irgendetwas.

Konnies Stimme erreichte Otto, als er dem Mann die Hand auf die Schulter legte. «Dachte ich mir, dass du hier alles unter Kontrolle hast.»

Der junge Kollege kam mit ein paar uniformierten Kräften neben ihm zum Stehen. «Der ist einfach aus dem Fenster geklettert. An der Regenrinne runter. War alles voller Blut da.»

Otto stand auf und tappte Konnie auf die Schulter.

«Mitnehmen», sagte der zu den Uniformierten. «Aber seid vorsichtig mit ihm. Und meldet euch, wenn die Verletzungen untersucht sind.»

2

«Noch nicht anfangen», rief Otto, während er den Käse aufschnitt. Er ging vor der Durchreiche in die Knie, betrachtete die Kinder und den fast fertig gedeckten Abendbrottisch. Ruth und Mike saßen schon auf ihren Stühlen, Kathrin stierte im Stehen auf den Wurstteller. Er wusste, was sie dachte. Solange der Papa noch nicht da ist, kann ich mir vielleicht eine Scheibe nehmen, ohne dass es auffällt. «Ich bin gleich da», rief er und beeilte sich mit dem Käse.

Kathrin saß mittlerweile und grinste ihn an, als er den Käseteller auf den Tisch stellte. Hatte sie doch etwas stibitzt? Der Wurstteller sah unberührt aus. Aber er wusste, dass seine Älteste pfiffig war, wenn es darum ging, etwas zu erreichen. Auf der anderen Seite würden sich die beiden Kleinen nicht solidarisch zeigen, wenn die große Schwester etwas bekam, was sie auch haben wollten.

«Anfangen», sagte er und gab Ruth eine Scheibe Brot, dazu Käse und Wurst und ein halbes gekochtes Ei. Die beiden anderen schafften das selbst. Ruth ja auch mit ihren fast vier Jahren, aber manche Dinge gewöhnte man sich nicht ab.

Birgit sollte längst hier sein, dachte er, als er die Butter auf seinem Brot verteilte. Ihre Schicht war doch schon zu Ende. Aber er hatte aufgehört zu fragen, warum sie so oft zu spät kam. Weil er es doch wusste.

Letzte Woche war sie zweimal erst zwei Stunden nach der Schicht gekommen. Am Donnerstag eigentlich sogar zweieinhalb Stunden zu spät. Das machte alles nichts, wenn sie keinen Fall hatten.

«Warum isst du nicht?», fragte Mike.

«Wo ist Mama?», kam es von Kathrin beinah gleichzeitig.

Darüber wunderte er sich doch gerade. Dann erinnerte er sich an Mikes Frage und kapierte, dass der Junge ihn meinte. Er blickte auf seinen Teller und sah, dass er die Butter auf der Brotscheibe verteilt und das Messer dann aus der Hand gelegt hatte.

Er lächelte seinen Sohn an und nahm sich Wurst und Essiggurken. «Wisst ihr, woran ich gerade gedacht habe?», fragte er in die Runde.

«Nein», sagte Ruth mit vollem Mund. Mike und Kathrin schüttelten beide den Kopf.

«Ob wir nicht noch Mayonnaise zum Abendbrot haben wollen.» Otto stand auf, bevor die Kinder antworten konnten. In der Küche blieb er kurz stehen, die Hand schon an der Kühlschranktür. Birgit sollte jetzt wirklich kommen. Sie waren schließlich eine Familie. Er wusste, dass ihre Verantwortung über die Schicht hinausging. Aber was sie noch zu tun hatte als Schichtleiter, konnte keine zwei Stunden dauern. Nicht zwei- oder dreimal die Woche. Er holte das Mayonnaiseglas aus dem Kühlschrank. Als er die Küche verließ, hörte er den Schlüssel in der Wohnungstür.

«Hallo», sagte Birgit laut, als sie die Tür gerade erst einen Spalt weit geöffnet hatte. Otto blieb stehen und betrachtete seine Frau, wie sie, die Augen auf den Boden gerichtet, ihre Tasche im Flur absetzte und die Schuhe auszog. Erst dann bemerkte sie ihn. Einen Moment lang verharrte sie in der Bewegung, dann strich sie ihr Haar zurück, kam auf ihn zu und umarmte ihn.

Otto erwiderte die Umarmung und sog ihren Geruch ein. Er spürte, dass Ruth ihnen um die Beine strich. Weder er noch Birgit reagierten auf die Kleine.

Birgit roch nach Schweiß.

Sie kam von der Arbeit, und es war ein warmer Tag gewesen, für März. Aber war es wirklich diese Art von Schweiß? Er atmete ihren Körpergeruch noch einmal tief in sich hinein. Und vermochte es nicht zu sagen. Oder traute sich nicht.

«Komm», sagte er. «Wir essen schon.»

Birgit nahm Ruth auf den Arm, küsste sie und trug sie zu ihrem Stuhl. Dann umarmte und küsste sie auch Mike und Kathrin und setzte sich an den Tisch.

Kathrin hatte den Kuss erwidert und war Birgit dann mit den Augen gefolgt. Otto betrachtete sie, eine Scheibe Brot in den Fingern. Sie holte Luft. «Du kommst immer so spät nach Hause», sagte sie, als gerade das Telefon klingelte.

Birgit ließ das Messer auf den Teller fallen und sprang auf. Sie ging die drei Schritte zum Telefon und nahm es ab.

«Hallo.»

Nach ein paar Sekunden fragte sie nach.

«Hallo?»

Es dauerte erneut ein paar Sekunden, bis sie wieder redete: «Ach, du bist es. Was ist denn los?»

Langsam drehte sie sich um, suchte Ottos Blick. Dann reichte sie ihm den Hörer und verdrehte die Augen.

Die Worte «deine Mutter» konnte Otto auf ihren Lippen sehen, ohne einen Ton wahrzunehmen.

«Mama?», fragte er und hörte nur ein flehendes Weinen am anderen Ende der Leitung.

«Mama», sagte Otto noch einmal, ahnte aber schon, was geschehen war.

«Mama?» Das Weinen wurde stockender.

Auch wenn er wusste, was Mama ihm sagen würde, konnte er es ihr nicht abnehmen. Er ging selbst in die Knie und spürte Birgits Hand auf seiner Schulter.

«Was ist denn?», hörte er Ruth im Hintergrund.

Mama hatte seit ein paar Sekunden nichts mehr von sich gegeben. Sie weinte auch nicht mehr. Otto vermochte kaum zu sagen, ob sie überhaupt noch atmete. Dann hörte er ein episch langes Luftholen.

«Papa ist gestorben», sagte sie und fing wieder an zu weinen.

3

Die Kollegen kamen gemeinsam im Wartburg. Otto beobachtete sie in der Tür stehend, eine Tasse Kaffee in der Hand.

Heinz parkte den Wagen direkt vor der Tür zur Kantine des VEB Jenapharm, wo Vater lange gearbeitet hatte. Andere Autos standen über den ganzen asphaltierten Platz verteilt. Während Heinz, Günter und Konnie mit schnellen Schritten auf den Eingang zugingen, grüßten sie Otto schweigend und verschwanden im Inneren.

Rolf schloss derweil die letzte Autotür und glotzte Otto in die Augen, während er auf ihn zukam.

«Hat es dich erwischt?», fragte Otto.

Rolf nickte nur.

«Wird schon nix passieren.» Otto zeigte über seine Schulter. «Gerade heute.»

«Einer muss ja.»

«Habt ihr Streichhölzer gezogen?»

Rolf zeigte auf die Tasche seines Jacketts, aus der ein Handfunkgerät herausschaute.

«Ich …» Otto hob die mittlerweile leere Kaffeetasse an. «Ich bleib auch trocken.» Ein paar Kinder kamen aus der Halle gerannt, Mike und Kathrin waren darunter. «Passt auf die Autos auf», rief Otto ihnen hinterher. «Die können euch ja nicht immer sehen.»

«Warum?», fragte Rolf.

«Komm.» Otto ging in die Halle, der Kollege folgte ihm. An Tischen, die in einem großen U aufgestellt waren, saßen Leute allen Alters. Einige standen herum, mit Kaffee oder Bier in der Hand. Im Hintergrund war klassische Musik zu hören, irgendetwas Altes mit Chören. Das faltige Gesicht auf dem Foto an der Wand war das von Vater. Er sah gütiger aus, als er je gewesen war. Mutter saß regungslos darunter und betrachtete die Anwesenden. Vor ihr stand ein Teller mit Essen, nicht angerührt.

«Das ist Mama», sagte Otto und zeigte auf die Frau.

Rolf nickte. «So sieht es aus», sagte er.

«Und das daneben ist Bodo.» Otto wies auf eine Gestalt direkt neben der Frau, von der nur das Haupthaar und die Anzugjacke zu sehen waren. Der Oberkörper lag auf dem Tisch, der Kopf ruhte auf einem Arm.

«Dein Bruder.»

Otto bestätigte das.

«Was hat er?»

«Er hat Wodka. Und zu viel davon.» Bodos Frau Daniela stellte gerade eine Tasse Kaffee neben ihn auf den Tisch. Sie klopfte ihm fest auf die Schulter. Vergeblich.

«Und deshalb bleibst du nüchtern?»

«Irgendwer muss sich ja um Mama kümmern.»

«Deine Frau?»

Otto blickte zur anderen Seite des U. Birgit hatte ihren Blick auf ihn und Rolf gerichtet. Ruth kam herbei gelaufen und baute sich vor ihr auf. Aber Birgit behielt die beiden Männer im Auge. Ihre Miene war nicht freundlich.

«Die hat die Kinder», sagte Otto.

«Reden?» Rolf sah sich im Saal um.

«Alle gehalten. Fest und unverbrüchlich an der Seite der Arbeiterklasse.»

«Wenn es so war.»

Eine Frau in Papas Alter kam auf Otto zu. Sie hatte kurzes, nach hinten gekämmtes Haar, in dem noch ein paar blonde Strähnen im Grau zu sehen waren. Ihr grauer Hosenanzug passte zur Frisur. «Dein Vater», sagte sie, ohne Rolf zu beachten, «war ein wunderbarer Mann. Und ein vorbildlicher Genosse.»

Otto versuchte, ihrer Fahne auszuweichen. Sie hielt ein leeres Glas in der einen Hand und legte die andere auf Ottos Kopf. Er machte sich los und zog sie zum Tisch mit den Getränken, der gleich neben der fast leeren Tafel mit dem Essen stand. Dabei sah er zu Rolf zurück, der sich lächelnd eine Zigarette ansteckte.

«Hier», sagte er zu der Frau, an deren Namen er sich nicht erinnern konnte, «davon?» Er zeigte auf die Batterie von Flaschen, vornehmlich mit Weinbrand und Wodka. Als die Frau zustimmte, griff er zum Weinbrand, hielt ihren Arm mit dem Glas so, dass er einschenken konnte, und füllte es zur Hälfte. Als sie es zum Mund führte, drehte er sich um.

Er fuhr mit der Hand kurz über Birgits Rücken, als er zum anderen Ende der Halle ging. Heinz, Günter und Konnie hatten sich an der gegenüberliegenden Seite des U niedergelassen und tranken den Wodka aus Wassergläsern. Sie waren bester Stimmung.

Der Stuhl neben Mama war frei, und er setzte sich darauf.

«Es ist schrecklich», sagte Mama, ohne ihn anzusehen.

«Ja, ich vermisse ihn auch.»

«Das meine ich nicht.»

Otto versuchte, ihrem Blick zu folgen. Er sah die Trauergäste, jetzt mehr stehend als sitzend, durch den Schleier des Zigarettenrauchs.

«Wie sie sich benehmen. Alle.» Mama legte eine Hand auf Bodos Rücken. Ihr Erstgeborener. Der Stolz der Familie.

«Es ist ein Begräbnis, Mama. Was erwartest du von den Leuten?»

«Ein bisschen Anstand.»

«Aber wir waren uns doch einig darüber, dass es genug zu trinken geben sollte.»

An der Tür lachten zwei Frauen über irgendetwas. Mama senkte die Augen. «Lass mich allein», sagte sie.

Die Musik hörte auf zu spielen. Otto stand auf und ging zum Radiorekorder. Händel stand auf der offenen Hülle. Er steckte die abgelaufene Kassette hinein und öffnete die einzige andere, die dort lag. Es begann mit Streichinstrumenten und Holzbläsern. Auf der Hülle las er, dass die Musik von Bach war. Als ein mächtiger Chor übernahm, verließ er den Saal.

Mike spielte mit einem gleichaltrigen Jungen in einer kleinen Pfütze. Die beiden stampften und sprangen herum und versuchten, einander so nass und schmutzig wie möglich zu machen. Mike lachte sich dabei in einen Rausch. Er war jetzt sieben Jahre alt, und Otto fragte sich, wie lange es her war, dass er seinen Sohn so ausgelassen gesehen hatte.

Am Rand des Parkplatzes spielte noch eine andere Kindergruppe. Aber Kathrin, die Älteste, war nicht dabei. Otto suchte sie und fand sie an den Zaun gelehnt, durch den man auf die Straße sehen konnte. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und bewegte sich nicht. Birgit und er mussten sich bald entscheiden, ob sie Kathrin in dieses Sportgymnasium geben wollten. Ihre Leistungen im Schwimmen waren wirklich immer besser geworden in den letzten Monaten. Aber dann wäre sie weit weg von zu Hause. Und da war noch eine andere Sache. Der Genosse aus der Morduntersuchungskommission in Leipzig, mit dem er vor ein paar Wochen über diese Idee geredet hatte, der hatte diesen Satz gesagt, der ihm seitdem nicht aus dem Kopf ging. «Da gibst du ein Mädchen ab und kriegst einen Mann wieder.» Daran hatte er seitdem oft denken müssen. Es war ja nicht so, dass ihm das nicht aufgefallen war. Diese jungen Schwimmerinnen, die so viele Medaillen bei den internationalen Wettbewerben holten, hatten schon tiefe Stimmen und breite Schultern. Aber er hatte nicht daran gedacht, welche Auswirkungen das für seine Familie haben könnte, bis er mit dem Genossen aus Leipzig geredet hatte. Der Leipziger Genosse und seine Frau hatten sich dagegen entschieden, ihre Tochter nach Brandenburg zur Leichtathletik zu schicken.

Das Tappen auf der Schulter riss ihn aus seinen Gedanken. Rolf stand da, das Funkgerät in der Hand. «Du glaubst es nicht», sagte er. «Ausgerechnet heute. Ich muss los. Und es ist nicht einmal weit.» Auf halbem Weg zum Auto drehte er sich noch einmal herum: «Jena», sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. «Feiert noch schön.»

Otto sah zu, wie Rolf den Wartburg aufschloss und sich auf den Fahrersitz drückte. Er justierte den Sitz, auf dem eben noch der viel kleinere Heinz gesessen hatte, und startete den Wagen. Dann schloss er die Tür und grüßte Otto durch die Windschutzscheibe.

Als sich der Wagen gerade in Bewegung gesetzt hatte, hielt Otto den Kollegen mit einer Handbewegung auf. Er lief zur Beifahrertür, öffnete sie und setzte sich hinein. «Weißt du, was?», sagte er. «Ich komme einfach mit. Hier halte ich es sowieso nicht aus.»

4 | Julia Frühauf

Angefangen hat es mit diesem Keller. Auch wenn alle was anderes sagen. Aber das war einfach das Erste, was wir gemeinsam gemacht haben. Und so wie es gelaufen ist, war es totaler Zufall. Wir waren noch nie vorher in dieser Besetzung unterwegs gewesen.

Dass Melchior und ich dabei waren, war irgendwie klar. Ich habe versucht, so viel Zeit wie möglich mit ihm zu verbringen. Und Melchior auch mit mir. Wir waren verliebt.

Damals hatten wir noch nicht miteinander geschlafen. Aber lange hat das nicht mehr gedauert, bis es so weit war. An diesem Abend hätte es sogar passieren können, aber dann ist Sohle vorbeigekommen. Wir waren in dem kleinen Zimmer hinter dem Lager, und wir hatten uns gerade geküsst, sehr schön geküsst, da haben wir das Klopfen gehört. Und weil wir beide beim Küssen gar nichts sagen konnten, also nicht nur dabei nicht, weil man ja beim Küssen nicht reden kann, sondern auch drum herum nicht, weil wir keine Worte dafür hatten, was wir getan haben, weil wir also weder darüber reden konnten, wie scharf wir aufeinander waren, noch wie schade es war, dass Sohle geklopft hat, haben wir uns auch nicht verstellen und leise sein können, sondern haben ihm einfach aufgemacht.

«Biber ist auch gleich hier», hat Sohle gesagt. Mit Biber hatten wir bis dahin nicht so viel zu tun gehabt. Er hatte immer so korrekte Kleidung an, und einen Scheitel hatte er auch, das lag bestimmt an seinem Vater. Selbst als wir die Band schon hatten, trug er noch den Scheitel.

In einer Punkband. Ein Scheitel.

Sohle war da ganz anders. Mit seinem krausen Haar hätte er auch gar nicht gewusst, wo er da mit dem Kamm reingemusst hätte.

Wir sind einfach losgegangen, ohne ein Ziel zu haben. Wir hätten bei irgendwem vorbeigehen können. Einfach, um zu gucken, ob wer da ist. Bei Tommie oder bei Anke. Es war schon eine ganze Weile dunkel, und auf der Straße war nicht mehr so viel los. Ich weiß gar nicht mehr so genau, wo das eigentlich war, obwohl ich mich an das Haus selbst noch sehr gut erinnern kann.

Sohle ist vorangegangen. Biber war ihm auf den Fersen, kurz hinter ihm. Melchior und ich gingen nebeneinander. Ab und zu haben wir uns ganz kurz berührt. Melchior hat seine Hand so gehalten, dass meine ihn streifen musste. Oder ich hab das getan. Und einmal oder zweimal habe ich seine Hand auch festgehalten. Ganz kurz nur.

Das Haus hatte noch Spuren von Rot. Der Putz war zum großen Teil längst abgefallen. Aber hier und da waren noch ein paar Reste davon übrig, meist unter den Fenstern, und weil eine Straßenlaterne flackerte, war die Farbe dann noch zu sehen. Auch wenn es kein richtiges Rot mehr war. Mehr so ein verschimmeltes Rosa. Das, was die Sonne übrig gelassen hatte.

Sohle war auf einmal nicht mehr da. Ich weiß noch, dass ich mich wunderte, als wir stehen blieben. Aber mir war es auch egal, weil Melchior und ich in dem Moment zusammen waren. Und ob wir nun standen oder gingen oder uns hinsetzten oder wo wir überhaupt genau waren, das war nicht so wichtig. Aber Sohle war nicht mehr zu sehen, das fiel mir immerhin auf.

Melchior hielt meine Hand in seiner, und als ich ihn ansah, wies er mit dem Kinn auf die Haustür. Da stand Sohle und grinste breit. Das war gut zu sehen, als das Licht der Laterne aufleuchtete.

Sohle drehte sich halb um.

Biber sagte: «Nee.»

Melchior schnalzte mit der Zunge.

Ich weiß noch, dass ich gar nicht kapiert habe, was gerade vorging.

Dann war Sohle wieder verschwunden. Biber blickte sich um, und weil er das tat, habe ich es auch gemacht. Wir waren in einer engen Straße gelandet, und weit und breit war kein Mensch zu sehen.

«Nee», sagte Biber noch einmal. Da zog mich Melchior schon in den Hauseingang. Es war überhaupt keine Haustür zu sehen, darüber hab ich mich gewundert. Ich erinnere mich noch gut daran.

Es war komplett dunkel im Hausflur. Der Widerschein der flackernden Laterne zeigte uns aber alle paar Sekunden, wo es langging. Und als ich Sohles leises «Ssssst» hörte, habe ich mich noch einmal umgedreht und gesehen, dass Biber hinter uns ins Haus gekommen war.

Melchior stupste mich an und zeigte in ein dunkles Loch, noch düsterer als der Flur. Ein gebrochener Lichtstrahl von draußen öffnete kurz den Blick auf den Eingang zum Keller.

Ich war so aufgeregt. Und als Biber von hinten kam und mir ganz kurz nur eine Hand auf die Schulter legte, wäre ich fast durchgedreht. Sohle machte sein Feuerzeug an. Das, mit dem er so oft rumspielte. Das von seinem toten Vater.

Melchior stupste mich noch einmal an. Da war ich schon auf der ersten Stufe nach unten. Es roch nach toter Katze auf der Treppe, aber das Licht von dem Feuerzeug, das fast ganz still stand, wirkte irgendwie anziehend, deswegen ging ich immer weiter. Ich habe gespürt, dass Melchior und Biber hinter mir waren, und das hat sich gut angefühlt. Da war etwas, das kann ich bis heute nicht beschreiben. So eine Vorstellung, dass wir das jetzt machen und dass wir es zusammen tun. Was auch immer wir gerade dabei waren zu tun.

Vielleicht war da noch mehr, in den paar Sekunden auf der Kellertreppe. So ein Kitzel, ein Zauber, ein Anfang von irgendetwas, was ich nicht, und bestimmt auch keiner von den anderen, benennen konnte.

Natürlich war ich aufgeregt. Was wir machten, war gefährlich. Wir sollten gar nicht hier sein. Das war nicht vorgesehen.

Der Geruch wurde nicht besser, je tiefer wir nach unten kamen. Sohle war schon weitergegangen und nur noch als Umriss vor der Flamme zu sehen. Irgendwo tropfte etwas unaufhörlich.

Als Sohle und die Flamme um eine Ecke herum verschwunden waren, verlor ich kurz die Orientierung. Aber Melchior schob mich weiter. Im Dunkeln roch es noch stärker als vorher mit dem dünnen Licht. Die verrottende Katze war noch da, aber auch irgendetwas mit Gummi und ein Hauch von etwas Verbranntem.

Sohle stand vor einem Verschlag, der mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Warum er gerade da stehen geblieben war, konnte ich nicht erkennen. Die Nägel, mit denen das Scharnier in einer der Holzlatten befestigt war, hingen krumm nach unten. Sohle zog es mit dem ganzen Schloss einfach ab. Dann öffnete er die Tür, die genauso aus alten Latten bestand.

«Also», sagte er, als er den Verschlag betrat. Daran kann ich mich noch genau erinnern. An das «Also». Schon seltsam, wie das funktioniert mit der Erinnerung. Ich bin mir ganz sicher, dass das nur mit dieser Situation zu tun hat, dass ich mich daran erinnern kann. Damit, dass sie für uns alle so besonders war.

In dem Verschlag war es natürlich zappenduster. Nur Sohle hatte das Licht in der Hand, also stellten wir uns so, dass wir ihm entweder über die Schulter gucken konnten oder an seiner Seite vorbei auf das, was er gerade betrachtete. Zuerst konnte ich ein paar Einweckgläser erkennen. Dann Kartons, die aber schon lange da standen, so feucht und modrig sahen sie aus. Nur einer wirkte neu. Aber Sohle hatte sich schon abgedreht.

An der Außenwand alte Schuhe auf Blickhöhe, Gummistiefel in mehreren Größen dazu. Sohle machte das Feuerzeug aus.

«Was?», fragte Biber.

«Zu heiß.» Wir konnten Sohle auf seine Finger pusten hören. «Und seid mal leise.»

Die Schritte kamen durch das Kellergitter von draußen. Schleifend der eine Fuß, der andere war kaum zu hören. Zwei Beine in dunklen Hosen waren kurz oben durch die Fensteröffnung und das gerissene Glas zu sehen. Melchior griff meine Hand. «Uns kann keiner bemerkt haben», sagte Sohle kaum hörbar. Dann wartete er noch ein paar Sekunden und ließ das Feuerzeug wieder aufflammen. An der dritten Wand standen alte Bretter, achtlos gegen- und nebeneinandergelehnt.

«Ein Keller halt», sagte Melchior und ließ meine Hand wieder los.

«Trotzdem …» Sohle löschte das Licht erneut.

Biber war schon wieder raus aus dem Verschlag. «Nix für ungut», sagte er ganz leise. Dann zischte er noch leiser eine Melodie, so als wäre er ganz entspannt und würde so was jeden Tag tun.

Melchior war auch schon draußen, und Sohle folgte ihm gerade. «Die neue Kiste», hab ich dann gesagt. Ein bisschen zu laut. Ich habe Sohle richtig aufschrecken gehört. Na ja, eigentlich hat er nur etwas heftiger eingeatmet. Aber dann kam er zurück, und ich habe ihn im Dunkeln zu dem Regal geführt. Er machte das Feuerzeug wieder an, und ich holte den neuen Karton aus dem Regal.

Melchior und Biber waren längst wieder zurückgekommen, als der Karton offen war. Ganz oben lag eine Jacobs-Krönung. Und darunter ein paar Tafeln Milka, sofort zu erkennen natürlich wegen der lila Packung. Ich habe tiefer in den Karton gegriffen und ein paar andere Sachen herausgefischt. Und ich erinnere mich daran, und auch hier bin ich mir total sicher, dass keiner von den Jungs irgendetwas gesagt hat. Zuerst hatte ich ein großes Glas Löwensenf in der Hand. Dann eine Büchse Bärenmarke und dann, da brauchte ich etwas, um die rauszukriegen, eine große Schachtel Mon Chéri.

«Ah», sagte Sohle und löschte das Licht.

«Heiß?», fragte Biber.

«Hmhm.»

Melchior räusperte sich. «Löwensenf und Mon Chéri.»

«Willst du die mitnehmen?» Biber fragte das so, als wäre die Idee total verwegen. «Wirklich?», fragte er auch noch.

Sohle machte das Licht wieder an. «Das ist Punk», sagte er.

Das ist etwas, woran wir uns später noch ein paar Mal erinnert haben. Alle zusammen. Da ist das Wort zum ersten Mal gefallen. Dann haben wir den Karton wieder aufgefüllt, bis auf den Löwensenf und die Mon Chéri. Und wir sind schnell zurückgegangen zu dem Raum, in dem Melchior und ich uns am Nachmittag geküsst haben. Ich hatte die Mon-Chéri-Packung unter dem Pullover. Wer den Löwensenf hatte, weiß ich nicht.

So hat das jedenfalls alles angefangen. So und nicht anders.

5 | Otto Castorp

Rolf parkte sein Auto hinter dem Streifenwagen, der vor dem Haus unweit vom Platz der Kosmonauten abgestellt war. Die kleine Ausfahrt, die irgendwann einmal für Karren gelassen worden war, stand offen, ein junger Uniformierter war in ihrer Mitte platziert worden. Das Ladenlokal zur Straße hin hatte blinde Fenster, die seit langem nicht geputzt worden waren. Otto konnte sich nicht erinnern, was für ein Geschäft da einmal gewesen war. Der Hof, der sich hinter dem Durchgang auftat, war durch eine nachträglich hingebaute Baracke aus Backstein beinah zugestellt. Während alles drum herum baufällig aussah und kaum ein Rest von Putz an den Hauswänden ringsum zu sehen war, wirkte die Baracke neu. Die Backsteine hatten noch die ursprüngliche Farbe, die erst durch Sonne und Regen irgendwann blass werden würde.

An einer schmalen Tür stand ein weiterer Uniformierter und blickte in ihre Richtung. Er wartete darauf, beachtet zu werden. Als Rolf kurz vor ihm stehen blieb, zeigte er in die Baracke hinein und sagte: «Da drin. Das hier ist der Hinterausgang. Und vorn», er wies auf das andere Ende der Baracke, «vorn, da haben die Sachen gelagert. Alte Möbel. Aber nicht mehr so viele.»

Otto prallte fast gegen Rolf, als der direkt hinter der Tür stockte. Er sah dem Kollegen über die Schulter. Vielleicht war das einmal ein Büro gewesen. Jetzt war es eine Rumpelkammer, eine modrig riechende Rumpelkammer dazu. Ein riesiges gelbgraues Sofa an der Wand, Decken und Kissen auf einem Ende zusammengerollt. Regale mit Kisten und schief stehenden, leeren Aktenordnern. Ausgetrunkene Bierflaschen standen zwischen Ordnern und gammeligen Kartons. Eine von der Decke baumelnde Glühbirne beleuchtete die Szene nur wenig.

Die Holztür an der schmalen Seite des Raumes war einen Spalt geöffnet, dahinter war es dunkel. Dort musste der größere Teil der Baracke liegen. Eine Landkarte der DDR hing in Fetzen daneben. Die Fenster in den drei Außenwänden waren winzig.

Auf dem Schreibtisch am schmalen Ende des Raumes stand ein Teller, darauf eine Brotscheibe, deren Krume vor Trockenheit aufgerissen war. Ein Messer lag halb auf dem Brot, zwei Gläser daneben waren fast so blind wie die Scheiben zur Straße hin. Eine weitere Bierflasche, nicht ganz ausgetrunken.

Die Ecke vom Schreibtisch, die der Tür am nächsten war, war rötlich eingefärbt. Eine dünner werdende Spur Blutes wies von der Ecke hin zur Mitte der Tischplatte. Kurz vor dem Teller mit dem Brot hörte sie auf.

Kopf auf Ecke, dachte Otto. Kopfhaut geplatzt, Blut gespritzt. Um mehr zu sehen, musste er sich auf die Zehen stellen. Zwischen dem Sofa und dem Schreibtisch lag in der Ecke des kleinen Raumes die Gestalt. Von seinem Platz hinter Rolf konnte er nur die Beine sehen. Schwarze Stiefel und Nietenhose, am Knie ein Riss. Rolf bewegte sich langsam vorwärts und beugte sich so nach vorn, dass Otto weiterhin die Sicht versperrt war. Deshalb hörte er zuerst, wie sein Kollege die Nase hochzog und die Prozedur kurz darauf wiederholte. Er kontrollierte selbst den Geruch, aber da war nichts, was andere frisch Verstorbene nicht ebenfalls produzierten.

Rolf gab vor ihm ein tiefes Brummen von sich, dann zog er die Nase noch einmal hoch. Kein gutes Zeichen, dachte Otto, und vielleicht nicht einmal eines, das auf schlechten Geruch hinwies.

«Ein Tramper», sagte Rolf dann und machte Otto gerade so viel Platz, dass er sich vorsichtig über die Seite des Schreibtischs beugen konnte.

Ein Mann lag da, jung, ganz in sich zusammengerollt. Gerade als Otto sich etwas mehr Beleuchtung wünschte, hatte sich Rolf abgedreht und eine Stehlampe angeknipst, die hinter dem Sofa stand. Jetzt war besser zu sehen, wie jung der Kerl tatsächlich war. Fast noch ein Kind, ein großes Kind, sicher noch Schüler.

«Ein Tramper ist das aber nicht», sagte Otto. Die Haare waren nicht lang genug. An den Schläfen waren sie zum Teil rasiert. Dafür standen oben auf dem Kopf aber einige ab. Eine fürchterliche Frisur. Eigentlich gar keine Frisur.

Über dem rechten Ohr erkannte Otto eine Wunde, die möglicherweise vom Sturz auf die Schreibtischecke stammen konnte. Aber auch auf der Stirn war etwas aufgeplatzt. Der grüne Nicki war auf der Brust voller roter Flecken. Es war immer noch nicht hell genug, um ausreichend zu erkennen, was dem Jungen geschehen sein mochte.

«Das ist ein Punker», sagte Otto und drehte sich um. Rolf stand ausdruckslos in der Mitte des Raumes und blickte sich um. «Da gab es diesen Hinweiszettel. Das ist schon ein Jahr her. Oder zwei. Haben alle Kollegen der Volkspolizei gekriegt. Erinnerst du dich nicht?»

Rolf schüttelte den Kopf.

«Jedenfalls hab ich den noch in einer Schublade. Ich bin mir ganz sicher, dass der ein Punker ist. So sehen die ungefähr aus.»

6

«Meinst du, Günter kann sich morgen früh darum kümmern?» Otto saß im Wartburg der Morduntersuchungskommission und zündete sich eine neue Zigarette an. Es war schon lange dunkel, und der vorletzte Funkstreifenwagen fuhr gerade davon. Nur einer von ihnen würde die ganze Nacht hier bleiben. Die Kollegen mussten den Auffindungsort bewachen und die Gegend im Auge behalten. Man konnte nie wissen. Manchmal kam der Täter ja tatsächlich zurück. Otto sah die ältere Frau, die den Toten gefunden hatte, ins Vorderhaus gehen. Sie hatte die Tür zum Büro offen gesehen und war ihrer Neugier gefolgt.