Tanzstraße - Gabriele Weingartner - E-Book

Tanzstraße E-Book

Gabriele Weingartner

4,5

Beschreibung

Lilian und Martin sind ein eher ungewöhnliches Liebespaar. Sie - Übersetzerin alter Handschriften - könnte seine Mutter sein, und er - ein erfolgreicher, aber gestresster Arzt - verliebt sich eher zufällig, denn anfangs ist alles nur Spielerei, nämlich eine Wette mit einem Freund. Dass er sich in eine ältere Frau überhaupt verlieben kann, überrascht ihn. Lilian aber flüchtet vor dieser Nähe in die Stadt ihrer Kindheit und begibt sich auf die Suche nach dem „Beginn ihrer Herzlosigkeit." Tanzstraße ist ein wunderbares Erinnerungsbuch, ein Kaleidoskop einer nicht ganz unbeschwerten Kindheit in der Nachkriegszeit. Denn die Wirtschaftswunderjahre sind nicht für jeden eine glückliche Zeit, im Gegenteil: hinter den bürgerlichen Fassaden in der Provinz kommen allzugern Risse zum Vorschein, die nicht so leicht zu kitten sind.

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Gabriele Weingartner

Tanzstraße

Roman

Hätten wir einen scharfen Blick und ein waches Gefühl für das alltägliche Leben der Menschen, so wäre es, als hörten wir das Gras wachsen und das Herz des Eichhörnchens schlagen, und wir würden an dem Getöse sterben, das jenseits des Schweigens herrscht.

George Eliot

1

„Sie ist regelrecht durch die Luft geflogen, es war gerade so, als ob sie eine Pirouette hätte drehen wollen.“

Margret stand vor dem geöffneten Kleiderschrank und schaute Martin kurz an, bevor sie fortfuhr, Lilians Pullover und Blusen in den auf dem Bett liegenden Koffer zu räumen.

„Dabei hätte sie sich gar nicht zu beeilen brauchen. Das Wetter war schön, rund um den Lederstrumpf-Brunnen stehen Bänke, ich konnte ganz geruhsam auf sie warten. Ich wusste ja auch, dass sie zur Unpünktlichkeit neigt. In Berlin aber hat sie anscheinend verlernt, auf Ampeln zu achten. Mir zuwinkend lief sie über die Kreuzung. Die Autos hatten Grün, sie hatte Rot. Und gleich vom ersten anfahrenden Wagen wurde sie erfasst und in die Höhe geschleudert. Ihr roter Rock wirbelte wie eine Fahne im Wind, es dauerte quälend lange, bis ich die Bremsen quietschen hörte … noch jetzt denke ich manchmal, ich hätte alles nur geträumt …“

Margret ging ins Bad und kehrte kopfschüttelnd mit einer Plastiktüte zurück, in die sie Zahnbürste, Zahnpasta und einige andere Utensilien stopfte.

„So etwas wie einen Kulturbeutel scheint Lilian nicht zu besitzen. Schon früher war sie nicht sehr organisiert. Immer verteilte sie die Dinge nur um sich herum, für Behältnisse interessierte sie sich nie. Auch nicht für Kosmetik. Ob sie je ein Parfüm benutzt hat? Oder einen Lippenstift?“

Natürlich gab Martin darauf keine Antwort. Da er und Lilian nicht zusammen wohnten, machten sie nie zur gleichen Zeit Toilette; er wusste nicht einmal, ob sie eine Zahnbürste bei ihm deponiert hatte. Wenn er um die Mittagszeit aufstand, war sie meist schon gegangen. Oder er kam vom Nachtdienst zurück und sie schlief noch. Einen Lippenstift besaß sie wohl tatsächlich nicht, was ihm, der bemalte Münder hasste, sehr entgegenkam. Margret jedenfalls schien Lilian gut zu kennen oder in ihrer Jugend gut gekannt zu haben. Auch wenn die Freundschaft anscheinend nicht so tief gegangen war, dass Lilian geglaubt hatte, ihm davon erzählen zu müssen.

Sie sei eine Kollegin, hatte die angenehm füllige, aber keineswegs dicke Frau ihm schon im zweiten Satz mitgeteilt, was immerhin darauf hinwies, dass sie von seiner Existenz wusste, seinen Beruf kannte, ja, sogar ahnte, dass Lilian und er eine Affäre miteinander hatten. So war es vielleicht auch zu erklären, dass sie noch am Unfallort oder spätestens im Krankenhaus so beherzt in Lilians Handtasche gewühlt, Martins Handy-Nummer in ihrem Notizbuch gefunden und ihn sofort angerufen hatte. Die Nachricht auf seiner Mailbox klang nüchtern und professionell, ließ aber keinen Zweifel daran, dass Lilian schwer verletzt worden war, ja, möglicherweise sterben konnte.

Das Mädchen vom Empfang kannte Margret, die Frauenärztin war und in E. eine Praxis besaß, wie sie ihm gleichfalls sofort mitteilte, und hatte offensichtlich nichts dagegen, dass sie gemeinsam Lilians Hotelzimmer ausräumten. Margret tat intim und geschäftig zugleich, Martin staunte wieder einmal darüber, wie leicht Frauen beides vereinbaren konnten. Emotionslos brachte sie Ordnung in Lilians Unordnung, entsorgte Papier-Taschentücher in den Abfalleimer, strich zerknitterte Blusen glatt, legte T-Shirts Kante auf Kante, schichtete Postkarten, Prospekte und einen Haufen Manuskript-Papier sorgfältig aufeinander, ohne einen Blick darauf zu werfen. Nur die Wollpullover und Wollsocken betrachtete sie mit Verwunderung, bevor sie sie im Koffer verstaute.

„Wie kann es sein, dass eine Sache, die nur Sekunden dauert, sich in der Wahrnehmung und später dann auch in der Erinnerung über mehrere Minuten erstreckt? Dass sinnliche und physikalische Realität derart auseinanderdriften? Mir war tatsächlich, als würde ich Einsteins Relativitätstheorie nacherleben, an diesem Brunnen in E., direkt neben der Bronzefigur des zeichnenden Max Slevogt stehend … so als ob sich Kausalität und Kontinuität in diesem Augenblick für immer voneinander verabschiedet hätten …“

Margret hielt einige Sekunden inne und gewährte Martin im Gegenlicht einen vagen Blick auf ihr Gesicht, so als ob sie ihm demonstrieren wollte, was sie meinte. Ihre philosophischen Andeutungen, die er im Übrigen nicht verstand – wie stets schaltete er ab, wenn es ihm zu abstrakt wurde –, standen in seltsamem Kontrast zur dialektalen Färbung ihrer Stimme, einer weichen, die As und noch viel mehr die Os abdunkelnden Sprachmelodie, die er auch von Lilian kannte.

„Ich will damit sagen, dass Lilian lange in der Luft war, bevor sie den Boden berührte, verstehen Sie? Dass es ewig dauerte, bis ich die Autos anhalten sah, bis ich überhaupt einen Laut vernahm. Es war wirklich so, als ob sie flog. Ja, genau so, als ob sie sich entschlossen hätte, so lange wie möglich oben zu bleiben.“

Sie schien nicht zu erwarten, dass Martin ihr half. Als er das Zimmer betrat, hatte sie ihn sofort zu einem am Fenster stehenden Korbsessel dirigiert, auf dem, wie er befürchtete, irgendwann die Nachmittagssonne durch seine Ohren leuchten würde. Aber es war ihm auch nicht unlieb, reglos und nichtssagend lächelnd sitzen zu bleiben und zu beobachten, wie die fremde Frau Lilians Sachen zusammenpackte und mit ihren abgerissenen Sätzen dem unvollständigen Bild seiner Geliebten Details hinzufügte. Gleich würde sie Lilian ihr Zahnputzzeug und ihre Handtasche ins Krankenhaus bringen, hatte sie ihm schon bei der Begrüßung erklärt, sie könne ihn mit dorthin nehmen, wenn er wolle. Zwar brauche Lilian garantiert noch nichts von ihren Sachen, sie liege im künstlichen Koma. Gewiss habe sie auch einige Knochenbrüche davongetragen. Aber Lebensgefahr bestehe nicht mehr. Und eine Schädelbasisfraktur sei Gott sei Dank nicht festgestellt worden. Sicher jedoch wolle er, Martin, in Lilians Nähe bleiben, oder? Weshalb es doch wohl besser sei, dieses Zimmer jetzt freizumachen und ein Quartier in der Nähe des Hospitals zu suchen. Auch dabei könne sie ihm behilflich sein.

„Was nicht heißt, dass Sie sich hier nicht noch schnell etwas frisch machen können“, setzte sie hinzu, „so verschwitzt und müde, wie Sie sind.“

Nein, Margret war nicht redselig, nur präzise, sie teilte ihm mit, was er wissen musste, nicht mehr. Dass sie über ihre irritierte Wahrnehmung geredet hatte, passte dazu und bewies nur ihre intellektuelle Neugierde. Gut, ein bisschen zu viel Mütterlichkeit legte sie an den Tag durch den Versuch, für seine Sauberkeit zu sorgen, fehlte bloß, dass sie „junger Mann“ zu ihm sagte. Und für ihr Machtbewusstsein sprach, dass sie ihn bei seinem Rückruf, der erst aus dem fahrenden Zug heraus erfolgte, sofort ins Hotel nach E. und nicht etwa an Lilians Krankenbett in der nahen Kreisstadt zitiert hatte. Wobei es freilich auch sein konnte, dass sie mit den behandelnden Ärzten schon Kontakt aufgenommen hatte und wusste, warum es zum Zeitpunkt seiner Ankunft unmöglich war, die Patientin zu sehen. Vielleicht kannten sich die Mediziner auf dem Land ja noch persönlich und konsultierten einander, wenn es um spezielle Fälle ging.

Vorerst war Martin Margret nur dankbar, dass sie ihm Lilians chaotische Seite zeigte, die eine Überraschung für ihn war und die Archivarin mittelalterlicher Handschriften in ein ganz anderes Licht stellte. Und auf eine fast besänftigende, überhaupt nicht lähmende Weise entlastete es ihn ja auch, die Frau aus Lilians ferner Vergangenheit gleichsam stellvertretend für sich selbst agieren zu lassen. Nach dieser schrecklichen Fahrt in einem überfüllten ICE, in dem die Kühlung ausgefallen war und die Leute zwischen den Sitzen auf dem Boden saßen, nach dieser Hatz quer durch die heiße Stadt, vom Krankenhaus zu seiner Wohnung, wo er einige Unabdingbarkeiten in seinen Rucksack warf, und von dort mit einem Taxi zum Hauptbahnhof, das keine Klimaanlage hatte und dessen Fahrer nicht zu bewegen war, seine brennende Zigarette aus dem Fenster zu halten.

Margret schien kein Problem mit der Intimität zu haben, die sich ihr plötzlich aufdrängte, ihm wäre es da gewiss anders ergangen. Unbekümmert sortierte sie Tablettenpackungen und lose Beipackzettel in die Plastiktüte, die sie statt des fehlenden Kulturbeutels benutzte, äußerte kurz ihr Erstaunen, warum Lilian Dragees gegen Seekrankheit einnahm. Füllte kommentarlos eine zweite Tüte mit Lilians Schmutzwäsche, wobei sie auch den zerknüllten Slip aufpflückte, der vor Martins Füßen auf dem Teppichboden lag, sodass er erschrocken seine langen Beine an sich zog. Als sie schließlich – nachdem sie die Schrankfächer sowie die Schubladen des Nachttisches noch einmal inspiziert hatte – den Kofferdeckel zuklappte, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und erlaubte sich ein schwaches Lächeln.

„Ihr Notebook trug Lilian übrigens bei sich. Es ist mitsamt seiner Tragetasche ebenfalls durch die Luft geschleudert worden, aber wohl ohne Schaden geblieben. Äußerlich zumindest. … Das Ding liegt vor Ihnen auf dem Tisch“, sagte sie, obwohl er längst die Hand darauf gelegt hatte. „In der Stadt wird kolportiert, dass Lilian es überall mit hingeschleppt hat, es auch auspackte und aufklappte, wo immer sie war, kein Mensch jedoch sie jemals darauf schreiben sah. Ja, ja, sie wurde erkannt. Jedermann wusste, wer sie war. Die große dunkle Sonnenbrille hat ihr nichts genützt, die war vielleicht sogar ein bisschen lächerlich.“

Margret setzte sich auf die Bettkante, fuhr sich mit allen zehn Fingern durch ihr graues, lockiges Haar, wippte kurz und stand wieder auf.

„Ich werde jetzt gehen, das heißt, noch einmal in meine Praxis fahren und Sie dann in einer halben Stunde abholen. Die Handtücher im Bad habe ich hängen lassen. Wäre nett, wenn Sie den Koffer und das Elektro-Tier mit nach unten brächten. Ohnehin müssten Sie beides an sich nehmen: wenigstens so lange, bis wir wissen, was mit Lilian geschieht. Und vergessen Sie bitte nicht, die Rechnung zu bezahlen.“

Das Elektro-Tier. Man merkte Margret an, dass sie Leute, die ohne Vernetzung nicht auskamen, herzlich verachtete. Auch die Ironie, mit der sie Martin von Anfang an behandelte, ließ sich kaum ignorieren. Sie war zweifellos das, was man patent nannte. Er kannte Krankenschwestern auf seiner Station, die ihr ähnelten, aber keine einzige Medizinerin, die waren allesamt kapriziöser. Dafür hatte Margret einen gemütlichen dicken Hintern, der ihn an seine Mutter erinnerte. Und eine milchkaffeebraune Haut, die womöglich daher rührte, dassihreMutter sich mit einem Besatzungssoldaten eingelassen hatte. … Wie aber konnte das sein, wenn sie so alt wie Lilian war? Sie musste auf einem anderen Weg zu ihrem exotischen Einsprengsel gekommen sein.

Langsam schob Martin seine Hand unter den roten Cordsamt der Tragetasche, in der sich das Notebook befand, und fühlte dessen kühle Außenhaut unter seinen klebrigen Fingern. Fast wehmütig dachte er daran, dass er es gewesen war, der Lilian nicht nur zu einem PC, sondern auch zu dieser speziellen Marke überredet hatte, einer Marke, die zwar unter seinen eitlen Freunden einen gewissen Kultstatus hatte, vor allem aber wegen ihrer Benutzerfreundlichkeit bei unpraktischen Intellektuellen, zu denen Lilian ja zu zählen war, einen guten Ruf genoss. Er hatte sich vorgestellt, dass Lilian, die in ihrem Beruf selten mit Computern arbeitete, allerhöchstens Zahlen in Tabellen tippen musste, zwischendurch freilich immer wieder mit der Hand Aufsätze für Fachzeitschriften schrieb, dadurch lockerer werden könnte, ja vielleicht aus ihrer freiwilligen Isolation zu erlösen wäre, indem man ihr die grenzenlosen Möglichkeiten des Internets eröffnete.

Gerade weil sie so ungern telefonierte und sich zum Beispiel auch strikt weigerte, das Mobiltelefon einzuschalten, das er ihr aufgedrängt hatte, war Martin nicht müde geworden, Lilian die Segnungen eines Laptops nahezubringen, hatte immer wieder die einfachsten Handgriffe mit ihr trainiert und zur Übung sogar alberne kleine Liebesbotschaften aus dem Krankenhaus geschickt, die sie aber kaum je öffnete, weil sie inzwischen nicht nur ihre Abwehrhaltung kultivierte, sondern sich doch auch sehr ungeschickt anstellte und geradezu absichtlich die falschen Tasten drückte. Dass das Notebook nun zu ihrem Gepäck gehörte, rührte Martin, ja nährte seine Hoffnung, dass Lilian mit dem Gedanken gespielt haben mochte, ihm hin und wieder eine Mail zu schreiben, wenn sie schon ihr Handy nicht aktivierte.

Martin erhob sich ächzend und humpelte ins Bad, seltsam, wie oft ihm in letzter Zeit die Beine einschliefen. Die vorsintflutliche Dusche zu benutzen, konnte er sich jedoch nicht aufraffen, sondern wusch sich nur Gesicht und Hände. Immerhin entdeckte er, dass der gründlichen Margret die Aluminium-Dose mit Lilians englischer Lavendelseife entgangen war, und als er diese vom Boden der Duschkabine aufhob, schwamm darin auch noch der schmale silberne Ring mit dem blau schimmernden Mondstein, den Lilian am Abend ihres Kennenlernens in der Toilette des Reste Fidèle in der Bleibtreu-Straße gefunden und seither stets an ihrem rechten kleinen Finger getragen hatte.

Bevor er ihn abtrocknete und in die Hosentasche steckte, unterdrückte er den Reflex, das wahrscheinlich nicht sehr wertvolle Stück einfach auf der Konsole über dem Waschbecken zurückzulassen, nicht nur, weil es interessant gewesen wäre, ob Lilian den Ring überhaupt vermisste, sondern als eine heimliche Absage an ihre gemeinsame Zukunft. Aber der böse Gedanke passte nicht zu der Zerknirschung, die ihn seit Margrets Anruf quälte, widersprach auch dem ihm seither hinter den Augen brennenden Gefühl, am Rande eines Nervenzusammenbruchs zu stehen. Margret hatte diese Gefahr mit ihrer Emsigkeit zurückgedrängt. Was aber würde weiter geschehen? Was, wenn Lilian starb? Oder nicht mehr das Bewusstsein erlangte? Dann drohte einzutreten, wovor er sich als Kind stets gefürchtet hatte: dass jemand nach einem Streit verunglückte oder stürbe ohne die Chance zur Versöhnung.

Und wie sie sich gefetzt hatten, Lilian und er, unmittelbar vor ihrer Abreise nach E., das ihre Geburtsstadt war. Er hatte sie angeschrien und beleidigt, ihr gemeine, überhebliche Sätze gesagt. Und sie hatte zwar nicht geweint, aber ihn doch kindisch genannt und etwas von Konsequenzen gemurmelt, die sie zu ziehen habe, wenn sie beide es nicht fertigbrächten, zivilisiert miteinander umzugehen. Beschämt erinnerte sich Martin daran, dass er unmittelbar an ihrem Kopf vorbei einen Kaffeebecher an die Wand geknallt hatte und überhaupt nahe daran gewesen war, sich auf sie zu stürzen. Vielleicht hatte Margrets Anruf ihn deshalb so wenig überrascht, hatte er sich deswegen so bedenkenlos schnell, ja geradezu eilfertig krankgemeldet und jede weitere Nachfrage von Kai, der Gott sei Dank den Dienst mit ihm tauschen konnte, abgewimmelt.

Beim Segeln auf dem Wannsee hatte er den Freund erwischt und ganz gewiss nicht allein, was ihn – obwohl es häufig geschah und er doch längst Übung im Ausblenden zwitschernder Frauenstimmen hätte haben sollen – wie immer wütend machte. Und jetzt stand er hier, zwischen billigen Möbeln in einem billigen Hotelzimmer mit dem Blick auf eine Fußgängerampel, und schaute Fußball spielenden Knaben zu, die auf einem direkt hinter der Durchgangsstraße gelegenen Sportplatz vielleicht um irgendeine wichtige Meisterschaft kämpften. Es war schwül und er beneidete sie nicht, obwohl er bei bolzenden Kindern schnell sentimental wurde, gern selbst mitspielte oder wenigstens den Ball zurückkickte, wenn er ihm vor die Füße rollte.

Im Grunde war Kai derjenige gewesen, dem Lilian aufgefallen war, ihre Wette hatten sie dann erst eine Woche später abgeschlossen. Meistens blieb es ohnehin folgenlos, wenn sie sich in ihrem zermürbenden Alltag gegenseitig auf gutaussehende Frauen aufmerksam machten und sich ausdachten, was passieren könnte, wenn sie mit ihnen in näheren Kontakt gerieten. Sie wollten ja nur nicht abstumpfen, erklärten die beiden Freunde jedem, der sie bei ihren manchmal in Schlüpfrigkeiten ausartenden Bemerkungen ertappte, sondern sich ihren Sinn für Schönheit bewahren, wenn sie schon gezwungen seien, in einem Krankenhaus zu arbeiten, dessen Schäbigkeit selbst Albert Schweitzer abgeschreckt hätte, wie Kai behauptete. Manchmal wechselten sie nur einen Satz oder Blick. Aber sie verstanden sich stets, und auch wenn ihr Geschmack sich deutlich voneinander unterschied, kannte doch jeder den Geschmack des anderen.

In Lilians Fall kannte Kai den von Martin sogar noch besser als dieser selbst. Er hätte Lilian wahrscheinlich keinen zweiten Blick geschenkt, schon weil er sich, was ihr Alter betraf, keiner Täuschung hingab und gegen Frauen, die sich so konsequent bis in die kleinste Schattierung hinein grau in grau kleideten, sogar häufig regelrechte Aggressionen entwickelte. Die Haltung jedoch, in der sie so selbstbewusst auf der Bettkante der schluchzenden Patientin saß, obwohl Schwestern und Pfleger dies doch bekanntlich wenig schätzten, und mit den beiden jungen Ärzten sprach, als ob es sich um ihre eigene Krankheit handle, schien zumindest seinem Freund Respekt einzuflößen. Keinerlei Besserwisserei trübte ihre Sprache, schmal und kerzengerade blieb sie sitzen, auch als sich ihre Freundin beruhigt hatte, und hörte nicht auf, sich weiter ins Gespräch zu mischen. Kai, der Anästhesist, der eigentlich nur einen Fragebogen hatte vorbeibringen wollen, beantwortete alle ihre Fragen erschöpfend und geduldig – ganz ohne jenes Automaten-Lächeln, das ihm sonst bei Patientengesprächen das Gesicht vereiste. Er war sogar bereit gewesen, auf seine Fachsprache zu verzichten und in verständlichem Deutsch zu reden, nachdem Lilian mit spitzer Stimme eine Zwischenfrage gestellt und ihn damit aus dem Konzept gebracht hatte.

Währenddessen freilich sandte er den einen oder anderen auffordernden Blick zu Martin, verdrehte die Augen, hob die Schultern und schaute an die Decke, kurz, gab ihm Zeichen, dass Lilianbedenkenswertwäre, wie sie dies auszudrücken pflegten in ihren Zwiegesprächen, ja, dass er sie sogarbezauberndfand, ein Wort, das sie sich nur in Ausnahmefällen gestatteten. Martin aber konnte an diesem Nachmittag nur konstatieren, dass diese extrem zierliche, im Übrigen nicht etwa grauhaarige Frau völlig frei von Koketterie war – im Unterschied zu ihrer nervigen Freundin – und ihm dies am besten an ihr gefiel. Ja gut, sie litt zweifellos an Osteoporose, aber dies schien ihm eine nachrangige Feststellung.

Ihre Anmut, ja ihre Grazie, was in Martins Augen nicht ganz dasselbe war, entdeckte er erst abends, am zwischen Bushaltestelle und Parkplatz gelegenen Kebabstand, den er automatisch ansteuerte, wenn er wusste, dass sein Kühlschrank leer war. Und da stand sie dann. Nein, er kannte niemanden, der sich so gekonnt, ja geradezu virtuos die türkische Spezialität einverleibte, ohne zu kleckern. Mit höchster Konzentration bewegte Lilian ihre Finger, brachte zwei oder drei Servietten gleichzeitig zum Einsatz, wischte sich erstaunlich selten den Mund ab, biss genau an jener Stelle in den Döner, wo sich die Sauce zu befreien drohte. Selbst beim Kauen bewahrte sie Disziplin, nichts schien sich zu bewegen in ihrem kleinen regelmäßigen Gesicht als nur ihr Mund, der doch auch nicht groß war, und ihre Blicke, die sie davon unabhängig spazieren führte. Als er sich neben sie an das Tischchen stellte, musste er kurzfristig daran denken, wie liebevoll sie die Hand ihrer Freundin gehalten hatte, vielleicht war sie ja lesbisch. Sie aber sagte schon lächelnd „Hallo“, bevor er überlegt hatte, sie vielleicht besser zu übersehen. Ja, wirklich, sie war frei von Verstellung. Aus Gründen, die er damals noch nicht durchschaute, kam sie ihm völlig unverfälscht vor. Und so gerieten sie ins Gespräch und beschlossen, den Abend miteinander zu verbringen, ja absolvierten sogar eine Tour durch Westberliner Kneipen, deren verstaubte Hinterzimmerromantik Martin nicht schlecht gefiel.

Unten vor dem Hotel sah er jetzt Margrets militärgrünen, schlammbespritzten Opel Astra anfahren und bedauerte, dass er keine Zeit mehr hatte, das Notebook anzuwerfen. Die ältere Kollegin, wie er sie fortan nannte, um sich wenigstens in Gedanken für die Ironie zu rächen, die er ihr mit Worten nicht heimzahlen wollte, hatte offenbar nicht vor, noch einmal auszusteigen. Während sie hupte, streckte sie nur gebieterisch den Arm aus dem Fenster und winkte. Martin sehnte sich plötzlich nach einem Brief von Lilian, selbst eine kurios verstümmelte Mail hätte ihm genügt, wenn sie ihm nur signalisierte, dass ihm seine Freundin nicht mehr grollte. Warum bloß hatte er nicht den Posteingang seiner privaten Mail-Adresse gecheckt und stattdessen nur einige Male – obwohl er es ja hätte besser wissen müssen – Lilians totes Handy angerufen? Mit der gleichen wunderbaren Konzentration, mit der sie damals den gewaltigen Döner gemanagt hatte, war sie gewiss auch fähig gewesen, die Tücken eines PC zu bewältigen. Während er sich den Koffer schnappte und den Riemen der Tragetasche mit dem Notebook über die Schulter warf, fiel ihm ein, dass Margret Lilian ja sogar unterstellte, bewusst in der Luft geblieben zu sein. Wenn man fliegen kann, muss man auch landen können, dachte Martin und hasste sich dafür, dass ihm nun doch für einige Sekunden die Augen feucht wurden. Komm schon, Lilian, gib dir Mühe. Überlebe.

2

Brief1

23. April 2004

Mein Liebster,

ich weiß ja gar nicht, was ich suchen soll. Meine Kälte soll ich suchen, hast du gesagt und mich gehen lassen. Und dich wie immer unpräzise ausgedrückt. Den Anfang meiner Kälte hast du gemeint. Den Beginn meiner Herzlosigkeit. Das wären doch viel klarere Worte gewesen.

Ich bin mir nicht sicher, ob man dafür in die Kindheit zurückmuss. Vielleicht könnte man ja einfach nur den Ort wechseln und sich mit neuen, fremden Menschen umgeben, mit Menschen, über die man noch Illusionen hat. Abwechslung reicht manchmal aus zur inneren Erwärmung. Dazu braucht man weder Mann noch Frau noch Familie. Von Liebe ganz zu schweigen oder den anderen physiologisch festgelegten Vorgängen in unserem Körper. Familien sind ohnehin nur die Eisschollen, auf denen man dem Abgrund zutreibt.

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