Tapas, Vino, Valentina - Herbert Bopp - E-Book

Tapas, Vino, Valentina E-Book

Herbert Bopp

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Beschreibung

Jahrzehntelang war Konrad Lauer ein gefeierter Reporter. Wenn er seine Geschichten zum Besten gab, hingen ihm die Menschen an den Lippen. Doch das Alter ist nicht gut zu ihm. Bitterkeit macht sich breit. Der einst so lebensfrohe Konrad wird zum besserwisserischen Kotzbrocken, dem keiner mehr zuhören will. Eines Tages taucht Valentina in Konrads Stammcafé in Palma de Mallorca auf, die erste große Liebe seines Lebens. Es wird ein schicksalhaftes Wiedersehen, das den alternden Konrad auf die Idee bringt, mit siebzig noch einmal neu durchzustarten. In diesem Roman werden sich Leserinnen und Leser wiederfinden, die sich auf der Zielgerade ihres Lebens befinden. Auch Mallorca-Liebhaber kommen auf ihre Kosten. Das Buch ist ein amüsanter Ratgeber für Ältere, die einen Neubeginn wagen. Es ist aber auch ein Mutmacher für junge Menschen. Zu jedem der Nebenschauplätze gibt es Geschichten - tragische, skurrile, erotische, aber immer unterhaltsame. Erzählt von einem Vollblut-Journalisten, der das Leben verstanden hat und die Kunst des Storytelling beherrscht. Das Buch handelt von Jugend und Alter, von Freiheit und Abenteuer, von Liebe, Sex und Sehnsüchten. Es ist ein Wohlfühlroman der alten Schule, der aber wunderbar in unsere Zeit passt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Herbert Bopp

Tapas, Vino, Valentina

Ein Roman über die Kunst des Alterns

Älterwerden ist das größte Abenteuer das Lebens. Lore und Cassian begleiten mich seit mehr als drei Jahrzehnten dabei. Ihnen ist dieser Roman gewidmet.

Inhaltsverzeichnis

Impressum

1. KAPITEL

„Un cortado, por favor.“ Wenigstens bis hierher reicht sein Spanisch noch. Einen Kaffee bestellen, das wird ja wohl noch gehen. Früher, da hätte er noch in mindestens vier Sprachen Revolutionen anzetteln können. Englisch fließend, Französisch fließend, Spanisch flüssig. Deutsch sowieso. Nähme man noch Schwäbisch dazu, wären es sogar fünf.

Aber wer wird schon auf Schwäbisch eine Revolution anzetteln wollen? Der Schwarze Vere vielleicht, der eigentlich Franz Xaver Hohenleiter hieß, aber seit 200 Jahren tot ist? Er war ein Räuberhauptmann, seine Gefolgschaft ein liederliches und arbeitsscheues Volk. Ein Blitzeinschlag hatte Hohenleiters Räuberlaufbahn spektakulär beendet. Der Schwarze Vere saß angekettet in seiner Zelle, als ein Gewitter aufzog. Von einem Kugelblitz getroffen, sackte der Gangster in sich zusammen.

Die Eisenketten hatten ihn mit gerade mal 31 Jahren zum Schmoren gebracht – ausgerechnet im Siechenturm zu Biberach, weit weg von der „Bar Bosch“, wo Konrad Lauer auch heute wieder seinen täglichen Cortado trinkt und Hof hält. Seitdem er einen Teil seines Ruhestands auf Mallorca verbringt, ist die „Bar Bosch“ in Palma so etwas wie sein Home-away-from-Home.

Konrad Lauer liebt schwäbische Legenden und wenn er ehrlich ist, hofft er darauf, irgendwann selbst als so eine Legende in die Geschichtsbücher einzugehen. Am besten als der Handwerkersohn, der es als Starreporter aus der Tiefe Oberschwabens in die große Welt geschafft hat.

Aber da es mit der Legendenbildung bisher nicht so richtig geklappt hat, begnügt er sich eben damit, seinem Ruf als begnadeter Geschichtenerzähler gerecht zu werden. Als einer, der schon fast alles erlebt hat und auch im Ruhestand nichts lieber tut, als seine Geschichten an den Mann zu bringen oder besser noch: an eine Frau.

Konrad Lauer liebt Geschichten und er liebt die Frauen. Wenn er auch nur eine von ihnen mit seinen Geschichten beglücken kann, war es ein guter Tag für ihn.

Doch es gibt Tage, da beißt er sich bei seinen Zuhörerinnen die Zähne aus. So wie heute, als er seiner Tischnachbarin, einer Rothaarigen mit Rosenranke auf dem linken und Dornen-Tattoo am rechten Arm, versucht, die Legende vom Schwarzen Vere zu verklickern.

„Wäre eine tolle Story gewesen, das mit dem Schwarzen Vere“, sagt Konrad und erzählt ihr jetzt von traurigen Gestalten, die auf ihren Raubzügen durch Oberschwaben die Bauern verschonten und die Jungfrauen, die ihnen über den Weg liefen, beschützten.

„Ein besserer Mensch war er deswegen noch lange nicht“, philosophiert Konrad und streicht sich dabei über seinen eisgrauen Stoppelbart. Sein Gegenüber, Mitte 20, scheint von seiner These nur mäßig beeindruckt.

„Tschuldigung, wer war weswegen noch lange kein besserer Mensch?“, hakt sie im breitesten Ruhrpottslang nach.

„Der Schwarze Vere natürlich!“, schießt es aus Konrad und er wirkt jetzt ungehalten. „Sagen Sie mal, hören Sie mir eigentlich zu?“

Konrad Lauer ist jetzt eindeutig auf Krawall gebürstet. So viel Ignoranz für seine Geschichten muss bestraft werden. Er nimmt sich vor, seine Gesprächspartnerin vorzuführen. Dafür stellt er ihr eine Frage, mit der er schon manche Barbekanntschaft entlarven konnte, weil sie ihn nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit beachtet hatte.

„Mal was anderes“, verleiht er dem Gespräch jetzt eine süffisant-siegessichere Note: „Wie würden Sie eigentlich meine Haarfarbe beschreiben?“

„Keine Ahnung, was unter dem Hut ist. Runter damit!“, fordert ihn die junge Frau auf. Im Gegensatz zu dem Alten ist ihr gar nicht nach Attacke zumute. Schließlich ist sie im Urlaub. Lange genug hatte sie für diese Woche „auf Malle“ sparen müssen. Sie will das Gespräch jetzt schnell zu Ende bringen und den komischen Kauz mit seiner Griesgrämigkeit einfach nur loswerden.

Konrad nimmt den breitkrempigen Fedora mit ausladender Geste ab.

„Und? Farbe?“

„Salz und Pfeffer“, sagt die Frau mit den Tattoos.

„Sehr gut“, antwortet Konrad geschmeichelt von der Aufmerksamkeit, die sie ihm offensichtlich doch schenkt. Doch ganz ungeschoren will ihn seine Bar-Bekanntschaft dann doch nicht davonkommen lassen.

„Mehr Salz als Pfeffer“, sagt sie und freut sich, als sie Konrads enttäuschte Miene sieht.

„Wie charmant“, sagt Konrad und setzt den Fedora wieder aufs pfeffergraue Resthaar.

Dabei hat die Rothaarige ja nicht unrecht. Konrad geht auf die 70 zu. Da haben es Männerhaare, falls noch vorhanden, so an sich, dass sie ihre Farbe wechseln.

Sein Gegenüber, klein, dick und frech, hat den Alten jetzt endgültig satt, steht mit ungelenkigen Bewegungen auf und verabschiedet sich.

„Tschüsske“, ruft sie Konrad immerhin noch zu. Dann navigiert sie schwerfällig durch die engen Tischreihen der „Bar Bosch“, hinaus auf den Paseo Borne, wo die einsetzende Dunkelheit ihren ungeschmeidigen Körper verschluckt.

Konrad kommt ins Grübeln. Dass sie vor seinen Geschichten davonlaufen, wäre ihm früher nie passiert. Jetzt macht selbst so ein Rotfuchs mit Dortmund-Käppi schon einen Bogen um ihn.

Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass sie dem ehemaligen Starreporter Konrad Lauer an den Lippen hingen, wenn er die Story vom verschollenen Aussteiger in der Wildnis von Alaska zum Besten gab, die er für den Playboy geschrieben hatte. Für seine Reportagen über 9/11 gab es sogar einen Preis. Sein New Yorker Tagebuch sei mit das Beste gewesen, das es in den deutschsprachigen Medien zu diesem Thema gab, hieß es damals in der Begründung. Keine Frage: Als Journalist spielte Konrad Lauer in einer Liga für sich.

Garantiert klebten sie ihm an den Lippen, wenn er vom Sauerzehcocktail im Yukon erzählte. Den zu trinken, das ist nichts für Zartbesaitete. Das ist für Erwachsene, eine Mutprobe vom Feinsten ist das. Wer ist schon verrückt genug, in einer Golddigger-Bar in Dawson City einen verschrumpelten menschlichen Zeh vor den Augen der anderen Kneipenbesucher in einem Schnapsglas mit der Zunge zu berühren, nur um hinterher den Whisky umsonst zu bekommen?

Konrad Lauer ist verrückt genug gewesen. Eine, ja, man kann es so sagen, „lebende Reporterlegende“, die heute kaum noch einer beim Namen kennt und gleich gar nicht vom Aussehen.

Gestern war nicht nur mehr Lametta, es war einfach mehr los.

„Die guten Geschichten liegen auf der Straße, man muss sie nur finden“, erzählt er jungen Kollegen manchmal, die auch heute noch seinen Rat suchen. „Wir sind mediale Trüffelschweine“, sagt er dann und ist sich des rhetorischen Effekts bewusst.

Lauer weiß, wie man Gesprächspartner in seinen Bann zieht. Manchmal genügt ein Wort und schon hören sie ihm zu. „Trüffelschweine“ ist so ein Wort. Lauer verwendet es gerne und oft. Alle Reporter müssten mit der Suchfunktion des Trüffelschweins an ihre Themen herangehen, dann stünde es besser um seinen Berufsstand. Gute Journalisten wie Lauer sind Edelfedern, keine Fake-News-Schleudern. Und sie sind Trüffelschweine.

Das Ende des Paseo Borne, oder auch den Anfang, je nach Perspektive, bildet Konrads Stammlokal, die Bar Bosch. An ihr führt in Palma de Mallorca kein Weg vorbei. Wer sehen und gesehen werden will, setzt sich im Winter unter einen der Wärmepilze und wünscht sich, die Kellner würden nie Feierabend machen.

Im Sommer, wenn Millionen Touristen einfallen, um „in Malle“ zu feiern oder auch nur gepflegt Urlaub zu machen, können selbst Stammgäste wie Konrad von Glück reden, wenn sie noch einen Stuhl unter einem der riesigen Sonnenschirme ergattern.

Konrad hasst diese Ungerechtigkeit. „Da kommen diese Ballermänner mit ihren rosaroten All-Inclusive-Armbändchen für einen Abend von Arenal in die große Stadt und parken ihre fetten Ärsche auf unseren angestammten Plätzen“, jammert er seinem neuen Tischnachbarn vor. Der schaut kurz auf sein Armband und wünscht noch einen schönen Abend.

„Unfassbar“ murmelt Konrad zu sich selbst. „Sind die eigentlich alle total verrückt geworden?“

Auf die Idee, dass er es sein könnte, der mit seinen Alterslaunen oft schlecht auszuhalten ist, würde er nie kommen. Nicht er! Auf die Knie gehen müssten sie vor ihm, der ein Leben lang die Welt bereist hat, um über Trapper, Goldgräber, Filmstars, Rockstars, Spitzensportler und Präsidenten zu berichten und dabei Länder besucht hat, die die meisten Leute nicht einmal mit dem Zeigefinger auf der Landkarte finden. Wissen die eigentlich, wer ich bin?

So richtig wissen sie es nicht. Nur noch selten kommt es vor, dass sich jemand an sein Gesicht aus dem Fernsehen erinnert.

„Menschenskind, Sie sind doch der, Verdammtnochmalwiewargleichdername?, naja, jedenfalls der, der damals über diesen schrecklichen Eissturm in Kanada berichtet hat!“

„Stimmt“, lobte Konrad den Touristen aus Leutkirch wie jemanden, der seine Hausaufgaben gemacht hat. „Der bin ich. Das war vielleicht eine Katastrophe, sage ich Ihnen!“

Bis ins Detail musste sich der arme Allgäuer jetzt anhören, was er offensichtlich schon wusste. Wie sich auf den Elektroleitungen eine 15 Zentimeter dicke Eisschicht gebildet hatte und die Überlandmasten umknickten wie Streichhölzer. Wie die Menschen nichts mehr zu essen hatten und ihnen das Bargeld ausging, weil ja ohne Strom kein Bankautomat mehr funktionierte. Wie sie nicht mehr Auto fahren konnten, weil die Zapfsäulen kein Benzin mehr hergaben.

„Eigentlich bin ich nicht so der Fernsehtyp“, sagt Konrad Lauer, „was man ja unschwer an meinem Radiogesicht erkennt.“ Hahaha. Keiner lacht. Schon wieder einen Witz vor die Wand gefahren.

Neuer Versuch: „Also, dann mit der Fernsehcrew im Ü-Wagen raus und voll in die Katastrophe rein.“ Nur so seien die spektakulären Bilder zustande gekommen, an die sich der Leutkircher doch sicherlich noch erinnern könne.

„Ja klar“, antwortete der eine Spur zu höflich, um wirklich interessiert zu klingen. „Und als dann das Militär anrückte, um die Menschen vor den heruntergestürzten Elektroleitungen zu schützen. Wow!“

„Tja“, sagte Konrad sichtlich beeindruckt, von der Unterhaltung, die er gerade führte. „Und jetzt sitzen wir hier und trinken einen drauf“, freute er sich über seine nette Tischbekanntschaft und schickte sich an, beim Kellner mit dem Goldkettchen am linken Arm gleich noch zwei Rosados zu bestellen.

„Für mich bitte keinen“, sagte der freundliche Zuhörer aus dem Allgäu. „Ich habe noch eine Verabredung.“

„Das glaube ich jetzt einfach nicht“, nuschelt Konrad kopfschüttelnd vor sich hin, wünscht dem Mann aus Leutkirch dann aber doch noch schöne Ferien.

2. KAPITEL

Die Kellner der Bar Bosch müssten seine Geschichten vom Mithören eigentlich alle auswendig kennen, so oft hat er sie schon erzählt. Aber keiner von ihnen kann „Deutsches Bier haben wir leider nicht“ sagen. Dabei bräuchten sie gerade diesen Satz bestimmt ein Dutzend Mal am Tag. Wenn der Mallorca-Tourist dann stöhnt: „Dat jibt et doch nich! Keen deutschet Bier nich?“ und der Camarero no. 13, der mit seinem Backenbart ein bisschen wie ein Werwolf aussieht, wieder einmal bedauernd mit der Schulter zuckt, schämt sich Konrad jedes Mal fremd.

„Fremdschämen“ – gab es dieses Wort eigentlich schon, als er noch in Deutschland lebte? Damals, als er mehrmals in der Woche im Biberacher „Rebstöckle“ oder im „Heustadel“ in Waiblingen verhockte?

Konrad ist da schon ein anderer Kerl. Für ihn muss sich keiner fremdschämen. An dem Tag, an dem er sich als erster deutscher Auslandskorrespondent für Kanada und Alaska in Montreal niederließ, hatte er den Staub der schwäbischen Provinz endgültig hinter sich gelassen. Wer braucht schon deutsches Bier? Gegrillte Ameisen hat er vertilgt, damals im nördlichen Afrika, als ihm seine glutäugige Gastgeberin eine besondere Delikatesse servieren wollte.

Aber auch dafür interessiert sich heute keiner mehr. Weder an die Ameisen noch an eine glutäugige Gastgeberin, die zum Nachtisch sich selbst anbietet.

Auf YouTube habe sie gesehen, wie jemand eine lebendige Kröte verschluckt, musste er sich neulich von einer Zwanzigjährigen anhören, die sich für einen Moment an seinen Tisch gesetzt hatte, den einzigen, der noch frei war.

„Kröte? Auch nicht schlecht“, sagte Konrad. Aber gegrillte Ameisen, das müsse ihm erst einmal einer nachmachen. Das sei das Schrägste, das er je gegessen habe. „Sieht man einmal von den gekochten Entenfüßen ab, die ich in einer Hutterer-Kolonie in Manitoba verdrücken musste.“

„Hä? Hutterer? Wer?“, stutzte die junge Frau, zeigte sich aber unbeeindruckt.

Also holte Konrad eben etwas weiter aus. Unter den wachsamen Augen der schwarz gekleideten Brüder und Schwestern auf ihren Farmen, die sich „Christliche Archen im Meer der weltlichen Sünde“ nennen, sei ihm bei seinen Recherchen „für diesen Dokumentarfilm von mir, den Sie vielleicht gesehen haben“, Blömmelwein statt deutsches Bier serviert worden.

„Blömmelwein?“, hakte die Zwanzigjährige nach. „Wat denn datt?“

„Die Milch des Löwenzahns“, antwortete er und gibt sich Mühe, jetzt nicht den Oberlehrer zu spielen. „Sie muss so lange gären, bis Alkohol daraus entsteht“, erklärte Konrad der jungen Frau mit einem klaren Satz einen komplizierten Fermentierungsprozess. Schwierige Zusammenhänge kurz und knapp zu verklickern, das war schon als Reporter seine Stärke. Er hat es nie verlernt.

„Richtigen Alkohol dürfen die armen Teufel ja nicht trinken, das verbietet ihnen der liebe Gott“, beschrieb er die bizarren Bräuche dieser Sektierer, noch immer mit der Leidenschaft des Storytellers. Ein ganzes Buch könnte er über die Begegnungen schreiben, die er mit diesen so wunderbar bigotten Wiedertäufern an der kanadisch-amerikanischen Grenze hatte.

„Fällt mir gerade ein“, setzte Konrad seinen Monolog unbeirrt fort, „so ein Making-of-Buch über meinen Hutterer-Film wäre sicher keine schlechte Idee.“

„Über wen?“ Seine Zuhörerin verstand nur Bahnhof und Konrad gab auf.

3. KAPITEL

Worüber reden eigentlich die jungen Leute heute? fragt sich Konrad. Für die alten Geschichten interessieren sie sich nicht und was Neues haben sie nicht erlebt.

Eine Frau um die 30 berichtete ihm neulich ganz angeregt von ihrem „bisher größten Abenteuer“. Sie habe vorigen Sommer doch tatsächlich die Freiheitsstatue von innen erklommen. „Sämtliche Stufen! Bis ich der alten Dame aus den Augen schauen konnte.“ Ein unbeschreibliches Gefühl sei das gewesen. „Ein richtiges Abenteuer“, sagte sie noch und man sah ihr den Stolz auf das Geleistete an.

Konrad hörte aufmerksam zu, das gehört sich so. Außerdem interessieren ihn solche Geschichten wirklich. Aber Abenteuer? Lachhaft.

„Schön für Sie“, sagte er zu der Frau, nachdem sie die Story mit der Freiheitsstatue umständlich zu Ende brachte. „Aber haben Sie schon mal in einem verlausten Knast in Acapulco übernachtet?“

„Nö“ sagte die Frau kleinlaut, „das nun nicht.“ Sie stand auf und ging.

Schade, dachte sich Konrad, der jetzt immer öfter seinen Arschlochfaktor ausspielte, wie sein Kumpel Olli das nennt. Dabei war das damals wirklich eine tolle Geschichte.

Er hatte ein Auslandssemester in Manitoba absolviert und nebenher für einen deutschsprachigen Lokalsender gearbeitet. Irgendwann musste er einen coolen Typen namens Bernie interviewen, Profikicker für die „Blue Bombers.“ Ganz große Nummer im Westen Kanadas. Mit ihm freundete sich Konrad an. Zusammen fuhren sie im goldfarbenen VW-Käfer, Special Edition, die viereinhalbtausend Kilometer von Winnipeg bis runter an die mexikanische Pazifikküste.

Dort kümmerten sich zwei Chicas so raffiniert um die Boys aus dem Norden, dass ein Kerl derweil unbemerkt den VW-Käfer klauen konnte. Ohne Papiere und ohne Kohle standen sie jetzt in der Badehose da und wurden auch prompt eingekastelt, weil sie sich als Ausländer ohne Pass bei der mexikanischen Polizei nicht ausweisen konnten.

Konrad kann schlecht damit umgehen, dass es auch andere Menschen mit Geschichten gibt. Sicher, seine Geschichten sind rund und bunt und er hat eine Gabe, sie packend zu erzählen. Das gehört schließlich zu seinem Job. Und wenn die Pointe beim ersten Mal nicht angekommen ist, dann darf’s auch ein bisschen mehr sein.

Aber im Großen und Ganzen hält er es mit Egon Erwin Kisch, der wahren Reporterlegende. Von ihm stammt der Satz: „Nichts ist aufregender als die Wahrheit.“ Aber wenn die Wahrheit nicht aufregend genug ist, darf man auch mal ein Sahnehäubchen draufsetzen, findet Konrad. Frei nach dem Motto seines Stuttgarter Reporter-Kumpels Olli, mit dem er früher – da ist es wieder, dieses früher - öfter mal auf Reportage war: „Wenn mer jetzt aufhöret mit recherchiera, gibt’s no a guate G’schicht.“

4. KAPITEL

Von Januar bis Juni wohnt Konrad Lauer auf Mallorca. Den Rest des Jahres verbringt er in Kanada. Dorthin hatte es ihn zunächst als Student und dann, nach dem Studium, erneut als jungen Reporter verschlagen. Als es dann an der Zeit gewesen wäre, seine Zelte abzubrechen und wieder in den deutschen Sprachraum zurückzukehren, wo deutsche Journalisten nun mal am besten aufgehoben sind, weigerte sich Konrad und blieb.

Nicht, weil er sich in das Land Kanada verliebt hätte, sondern weil für ihn Montreal, wo er inzwischen lebte, schlicht die spannendste Stadt der Welt ist. Und er hat viele Städte im Leben gesehen.

„Wo sonst findest du diese Mischung aus französischem savoir vivre und American way of life? Bestimmt nicht in Bielefeld!“ schwärmt er im Gespräch mit einem anderen Palma-Touristen.

„Wo du Recht hast, haste Recht“, sagt der und verschwindet kurz danach in Richtung Paseo Borne. Er war aus Bielefeld.

Vielleicht sollte Konrad einfach gnädiger im Umgang mit anderen Menschen sein. Aber noch ist der Leidensdruck nicht groß genug und er findet hin und wieder doch noch einen interessierten Zuhörer. Noch besser wäre natürlich eine Zuhörerin. Frauen sind einfach das bessere Publikum, davon ist Konrad überzeugt.

Auf Frauen hält Konrad Lauer große Stücke. Während der Mann ein Leben lang seinen Jagdinstinkten frönt und dabei das richtige Leben verpasst, haben Frauen die Kunst des schöner Lebens einfach besser drauf, findet er.

Seine eigene Frau ist das beste Beispiel dafür. Sie rührt ein bisschen Zwiebeln, Tomaten und Auberginen zusammen und zaubert so aus dem Handgelenk das beste Babaganoush, das die Tischgesellschaft je auf dem Teller hatte. Sie ist sich auch nicht zu hübsch dafür, bei minus 25 Grad aufs vereiste Hausdach ihrer kanadischen Blockhütte zu klettern, um den Schornstein zu reparieren. So eine kleine Person mit so viel Power - das hatte sich Konrad immer gewünscht.

Seit mehr als 35 Jahren sind er und Pia jetzt zusammen. Und ginge es nach ihm, könnten es ruhig noch mal 35 werden. Aber das dürfte nicht ganz hinhauen. Über hundert ist in seiner Familie noch keiner geworden.

Nicht einmal sein Vater, der von sich glaubte, er könne alles bestimmen, auch sein eigenes Alter. Wobei, in gewisser Hinsicht ist ihm das sogar gelungen. Als er 80 war, prallte er an einem Frühsommerabend in Maidorf ungebremst gegen das Wohnhaus der Familie Stadler am Landweg. Auf dem Beifahrersitz fanden die Rettungskräfte ein Blumenbouquet mit einem Kärtchen, das für seine neue Freundin bestimmt war. „Lass uns noch ein bisschen zusammen durchs Leben gehen“, stand auf der Karte.

Nirgendwohin ist sein Vater gegangen, keinen Schritt mehr. Als ihm der Krankenhauspfarrer die letzte Ölung erteilen wollte, protestierte er noch mit allerletzter Kraft. „Sag dem“, ließ er dem Geistlichen durch seinen Ältesten ausrichten, der am Sterbebett sitzt, „ich will evangelisch werden.“ Der Pfarrer verließ unverrichteter Dinge das Krankenzimmer.

Pia kennt die Geschichten. Vor allem aber kennt sie ihren Mann. Sie wird einen Teufel tun, Konrad dabei zu unterbrechen, wenn er in geselliger Runde zum 25. Mal erzählt, wie ihm nach der Cocktailparty bei der Deutschen Botschafterin in Nairobi die geklauten Zigarren aus der Brusttasche fielen, ausgerechnet in dem Moment, als er der Gnädigsten zum Abschied einen Handkuss verpassen wollte.

Nein, eine Spielverderberin war sie nie, seine Pia. Aber als Zuhörerin für seinen Geschmack manchmal etwas zu penibel. In letzter Zeit muss sie ihn immer häufiger darum bitten, die Kirche im Dorf zu lassen. „Denk an deinen Kollegen Kisch“, sagt sie dann, „die Wahrheit ist doch auch schon aufregend genug, nicht wahr mein Schatz?“.

Obwohl sie sich auch nach dreieinhalb Jahrzehnten noch immer bestens aushalten können, genießt er es, hin und wieder allein zu sein. So wie jetzt, da er die Ferienwohnung an der Plaza de La Reina für sich hat.

Pia nutzt die Palma-Aufenthalte für gelegentliche Kurzreisen nach Deutschland und immer häufiger auch nach Österreich. „Das ist wie Busfahren“, schwärmt sie Konrad vor, als er wissen will, ob ihr diese ewige Fliegerei nicht zu viel werde. „Überhaupt nicht“, antwortet sie ihm. „Du kaufst dir ein Ticket, gehst in Palma an Bord und nach eineinhalb Stunden steigst du in Wien wieder aus.“

In Kanada kommt man in eineinhalb Stunden nicht einmal von Downtown Montreal zum Blockhaus, das sie sich vor 15 Jahren gekauft haben. Ein kleines Juwel in den Bergen, mitten im Wald, direkt am See. Wer sie in ihrem Ferienhaus aufspüren will, muss im Winter mit Schneeschuhen über den gefrorenen Lac Lachine marschieren oder im Sommer ins Kanu steigen. „The Crazy Germans“, heißen sie am See. Wer ohne Not eine so beschwerliche Anreise auf sich nimmt, muss schon ein bisschen verrückt sein, glauben ihre kanadischen Freunde.

Aber so ein bisschen verrückt hat noch keinem geschadet, findet Konrad. Nicht verrückt kann jeder.

5. KAPITEL

Neuer Tag, neue Gäste, alte Geschichten, dieselbe Bar. So geht das manchmal viele Wochen hintereinander. Und gerade als Konrad sich vornimmt, seine Dramaturgie einer Feinabstimmung zu unterziehen und an seiner sozialen Kompetenz zu feilen, ehe er auch noch den letzten Gast vertreibt, setzt sich ein paar Tische weiter weg von ihm eine Frau. Sie ist etwa sein Alter, klein und zierlich. Konrad tippt, noch ehe er sie richtig gemustert hat, auf Spanierin. Sie hat pechschwarzes, kurz geschnittenes Haar mit grauen Strähnchen. Sie ist wunderschön. Und sie kommt ihm bekannt vor.

Konrad erschrickt. Er hört, wie sie zuerst einen Cortado, dann eine Ensaïmada und schließlich stilles Wasser bestellt. „Agua sin gas, por favor.“ Er hört ihre zarte Frauenstimme und dieses rollende R. Über die Weingläser, Aschenbecher und Kaffeetassen der Nachbartische hinweg beobachtet er jede ihrer Bewegungen, sieht ihr dabei zu, wie sie das Glas mit ihren delikaten Fingern zum Mund führt, ganz langsam, sehr behutsam. So als wollte sie eine schmerzhafte Kollision zwischen Glas und Lippen vermeiden. Woher kennt er diese Gestik, dieses rollende R, diese zarten Finger, fragt er sich und kommt nicht darauf.

Konrad Lauer nimmt eine gebrauchte Papierserviette vom Tisch und wischt sich Schweißperlen von der Stirn. Er setzt seine Brille ab, putzt sie mit der schweißgetränkten Serviette und sieht noch weniger als zuvor. Die Fassungslosigkeit über das, was da gerade abläuft, steht ihm ins Gesicht geschrieben. Sein Reportergehirn steigert sich zum Quantencomputer. Die Zahl der Unbekannten nimmt mit jeder Millisekunde zu, je länger er darüber nachdenkt. Mit der Akribie des investigativen Journalisten versucht er, das Mysterium zu lösen, das sich gerade vor seinen Augen auftut. Es gelingt ihm nicht.

Es fällt Konrad schwer, seinen Blick von den Lippen dieser Frau abzuwenden. Es ist dieser wie von einem Porzellankünstler geformte Mund, der auf Anhieb seine Altmännerfantasien bedient. Schmachtende Küsse kommen ihm dabei in den Sinn, zärtliche Worte und mit süßem Atem gehauchte Sinnlichkeit.

Was ihm fast den Atem nimmt, ist die Erkenntnis, dass ihn diese Frau in seinem früheren Leben nicht weniger betört hat als in diesem Moment. Sie hat ihn schon einmal begleitet, fasziniert und auch verwirrt. Und sie hat ihn vor vielen Jahren schrecklich verletzt. Konrad Lauer und die schöne Frau in der Bar Bosch haben eine gemeinsame Geschichte. Eine Vergangenheit, die sie beide für immer geprägt hat.

Sie waren sich im realen Leben begegnet, nicht im esoterischen Sinne, davon hält Konrad Lauer ohnehin nichts. Er hat jetzt keine Zweifel mehr, dass er ihren Namen kennt und sogar ihren Geburtsort.

Drei Tische neben ihm sitzt an einem sonnigen Februartag auf Mallorca eine Frau namens Valentina Esmeralda Alcántara-Cardeñosa. Sie ist aus Salceda de Caselas. Und sie war die erste große Liebe seines Lebens.

Wie alt Valentina heute wohl sein mag? fragt sich Konrad, während er noch immer so unauffällig wie möglich zu ihr hinüberschaut. Sie ist älter als er, daran erinnert er sich noch. Mindestens ein Jahr, vielleicht sogar zwei Jahre älter. Er könnte sie nach ihrem Alter fragen, das würde er auch bestimmt noch tun. Aber nicht jetzt, nicht hier. Nicht, ehe er die absolute Gewissheit hat, dass es sich wirklich um Valentina handelt und nicht etwa um eine Doppelgängerin.

Spätestens in dem Moment, als der mallorquinische Camarero ihr schwungvoll die Ensaïmada mit einem „Buen provecho, Señora Valentina“ serviert, gibt es für Konrad keinen Zweifel mehr: Seine Vergangenheit hat ihn gerade eingeholt.

Man kennt sich also, folgert Konrad aus der Anrede des Kellners. Ganz offensichtlich gehört Señora Valentina sogar zu den Stammgästen. Ob sie schon früher zur gleichen Zeit in der Bar war wie er, ohne dass sie ihm aufgefallen wäre? Verwunderlich wäre es nicht bei den Tausenden von Touristen, die dort jeden Tag ein- und ausgehen.

Ohne lange darüber nachzudenken, beschließt Konrad blitzschnell, sich der Frau gegenüber heute noch nicht zu outen. Erst will noch sein Voyeurismus bedient werden, ehe er sich zu erkennen gibt. Wird sie Speisen zu sich nehmen, und wenn ja, welche? Eine Ensaïmada vielleicht oder Calamari? Steht sie auf süß oder salzig? Wird sie das Handy, mit dem sie gerade spielt wie mit einem Rubikwürfel, zum Telefonieren benützen, während er noch in ihrem Hörradius sitzt und wenn ja, mit wem? Worüber wird sie mit ihm oder ihr sprechen? Hat sie einen Mann, einen Lover? Eine Loverin?

Und überhaupt: Was macht Valentina Esmeralda Alcántara-Cardeñosa aus Salceda de Caselas in der Bar Bosch in Palma de Mallorca?

Konrad Lauer gehört gewöhnlich zu denen, die an Zufälle glauben und nicht an Fügung. Aber das hier? Konrads Weinglas zittert, als er es zum Mund führt. Die mögliche Begegnung mit einer Frau, die er vor 55 Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, macht ihn unsicher und nervös.

Nein, sich schon jetzt zu erkennen zu geben, wäre unklug. Das Wiedersehen mit der ersten großen Liebe seines Lebens soll etwas Besonderes, etwas Wunderbares werden und er würde es auskosten, solange es geht.

6. KAPITEL

Viele Erfahrungen braucht man nicht mehr in Konrads Alter. Jetzt kommt es darauf an, gesammelte Erfahrungen klug zu sortieren. Aus guten Erfahrungen lernen, mit schlechten umgehen. Den manchmal feinen Unterschied zwischen guten und schlechten überhaupt zu finden und die Erkenntnis anschließend als gewinnbringendes Kapital in das bisschen Leben einzubringen, das einem mit siebzig noch bleibt. Das ist die Kunst, an der sich Konrad jetzt immer häufiger versucht. Manchmal könnte er daran verzweifeln.

War Valentina eine gute Erfahrung? Oder wäre er besser beraten, die Zeit mit ihr zu vergessen und im Mülleimer seiner Jugendgeschichte verschwinden zu lassen? Lohnt es sich, die Erfahrungen, die er mit ihr hatte, zu recyclen? Und überhaupt: Warum muss er sich ausgerechnet jetzt damit beschäftigen? Die meisten Männer seines Alters beschäftigen sich mit Enkelkindern, Prostatakrebs oder der Frage, ob die Rente tatsächlich so sicher ist, wie es die Politiker versprochen haben.

Konrad Lauer beschäftigt sich lieber mit Gefühlen als mit Geld. Die Gefühle, die in diesem Moment in ihm hochkommen, verheißen nicht nur Gutes, das spürt er. Trotzdem will er sich ihnen stellen. Auch das gehört zu seinem Leben, das ja schon immer etwas anders verlaufen war als das der meisten Menschen, die er kennt.

Die Spanierin war von einem Tag auf den anderen als blutjunges Au-pair in seinem oberschwäbischen Dorf aufgetaucht. Sie hatte es geschafft, innerhalb weniger Tage nicht nur ihm den Kopf zu verdrehen, sondern allen jungen Männern, die Augen, Ohren und ein funktionierendes Gehirn hatten - im Teenageralter das wohl wichtigste Sexualorgan des männlichen Wesens.

Ihretwegen hatte er als Fünfzehnjähriger bei Nacht und Nebel sein Elternhaus verlassen und war ihr nach ihrem Abschied von Maidorf per Anhalter nach Salceda de Caselas nahe der portugiesischen Grenze nachgereist, um dieses Wunder der menschlichen Natur wieder zu sehen. Er hatte Gesundheit und Leben riskiert, als Obdachlose ihn schlafend auf einer Parkbank in Lyon traktierten und ein dreister Dieb ihn seines größten Kapitals beraubte, seiner Gitarre. Mit seiner zwölfsaitigen „Framus“ war er als Straßenmusiker aufgetreten und hatte so on the road seinen Lebensunterhalt finanziert.

Dass er sich ausgerechnet auf dem Weg zu seiner ersten großen Liebe bei einem Zwischenstopp in Marseille seine Jungfräulichkeit nehmen ließ, auch noch von einer Hure, ist wieder eine ganz andere Geschichte. Französisch, das wurde ihm jedenfalls bei dieser Begegnung im Armenviertel Le Panier klar, ist mehr als nur eine wunderschöne Sprache.

Valentina war es auch, die ihm die erste schwere Niederlage seines Lebens beschert hatte, an der er noch viele Jahre später zu knabbern haben würde. Sie, die er liebevoll „Mucha“ nannte, hatte ihn nach seinem Roadtrip durch halb Europa abserviert, als wäre er ein dahergelaufener Rasierklingenvertreter.

Mucha hatte dies mit einer Eiseskälte getan, die er jetzt, in diesem Moment in der Bar Bosch, vergeblich in ihrem lieblichen, schönen Gesicht sucht.

Die Jahre müssen gut zu ihr gewesen sein, stellt er fest, da er sie drei Tische weiter im Visier hat. Zumindest lässt ihr Aussehen darauf schließen. Sie legte immer schon viel Wert auf ihr Äußeres. Ihre Augenbrauen zupfte sie bereits, als andere Mädchen im Dorf sich gerade mal halbwegs die Fingernägel schnitten. Sie trug schon Rouge auf ihrem bräunlichen Teint, als sich die Maidorfer Mädels sonntags vor dem Kirchgang allenfalls Niveacreme auf die Haut schmierten.

War das alles wirklich schon 55 Jahre her?, schießt es Konrad durch den Kopf. Schwer zu glauben. Ihre letzte Begegnung tat weh. Sie war fürchterlich schmerzhaft gewesen, aber auch deshalb unvergesslich und für immer prägend.

Es war in einem Friseursalon in dem Ort Salceda de Caselas, irgendwo im staubigen Galizien, unweit der Grenze zu Portugal. Dort hatte Valentina nach ihrer Rückkehr aus Deutschland wieder Arbeit gefunden. Das Mädchen, in das der 15-jährige Konrad Lauer aus Maidorf die gebündelten Hoffnungen seines bisherigen Lebens projiziert hatte, war das exotischste, schönste Wesen, das er bis dahin getroffen hatte. Aber auch das komplizierteste.

Dass Valentina bei ihren turteligen Begegnungen im Jordanwäldle oder hinter dem Gemeindefriedhof nur wenig Deutsch sprach, störte Konrad damals nicht. Im Gegenteil. Er münzte dieses Manko in seinem verliebten Kopf zum Vorteil um und fand Spaß an so viel Exotik auf dem Lande. Der Neidfaktor unter seinen Kumpels war ebenfalls nicht zu unterschätzen.

Wenn Valentina Spanisch sprach und das doppelte R rollte, klang das in seinen Ohren wie ein Schlagzeugsolo von Hal Blaine. Eine junge Frau, die sich zu schminken weiß und das R rollt wie ein Weltklasse-Drummer? Mehr ging nicht in Maidorf.

7. KAPITEL

„Konrad, altes Haus!“ Er hasst es, wenn sich Leute von hinten an ihn heranschleichen. Und genau so sehr hasst er es, in seinen Gedanken, seinen Wahrnehmungen, in seinem Voyeurismus unterbrochen zu werden.

„Johannes, du störst“, sagt er mit jenem spröden Charme, der ihn schon einige Freundschaften kostete. „Ich befinde mich inmitten eines sozialen Experiments, das keine Zuhörer duldet und gleich gar keine Zuschauer.“

Seltsame Type, denkt Johannes Brauner nicht zum ersten Mal. Vielleicht sollte er den Kontakt mit diesem komischen Kauz doch lieber reduzieren. Johannes geht stramm auf die 80 zu. Er ist einen halben Kahlkopf größer als Konrad, dafür einige Kilos leichter.

Johannes Brauner hatte sich irgendwann vorgenommen, sich nur noch mit positiven Menschen zu umgeben. Mit Menschen, die Konstruktives zu bieten haben und nicht destruktiv unterwegs sind. Menschen, die zuhören können und nicht nur ihrem Mitteilungsbedürfnis frönen. Konrad passt nicht so richtig in dieses Schema. Trotzdem können die Beiden nicht mehr ohne einander. Konrad Lauer und Johannes Brauner sind richtig gute Freunde.

Johannes findet, Konrad entwickle sich immer mehr zur sprechenden Einbahnstraße, der seine Gesprächspartner zu Zuhörern zwangsdegradiert. Das mag in seinem Leben, erster Teil, funktioniert haben, als der Radiomann noch hinterm Mikro oder vor der Kamera saß und Millionen Menschen die Welt erklärte.

So wie damals, als er von einer Reportage in Neufundland zurückkam und von Robbenpenissen berichtete, die getrocknet und gemahlen in chinesischen Krämerläden als Aphrodisiakum verkauft werden. Bei diesem Thema konnte nur jemand mitreden, der selbst vor Ort war, als in der Seehundmetzgerei geschlachtet und seziert wurde. Konrad Lauer weidete jedes Gespräch zu diesem Thema aus bis zum Exzess. Irgendwann mochte man dem alten Mann nicht mehr zuhören.

Im Leben, zweiter Teil, funktioniert nicht mehr alles, was im Leben, erster Teil, noch wunderbar geklappt hat. Jetzt geht es nicht um Robbenschniepel und geldgeile Chinesen, sondern um Erfahrungen, Erkenntnisse, Versäumnisse. Genau genommen geht es um das bisschen Leben, das einem Siebzigjährigen noch geblieben ist.

„Schlechte Laune heute, Alter?“

„Gar nicht“, sagt Konrad und überlegt, woher ein um zehn Jahre älterer Mann die Coolness nimmt, ihn „Alter“ zu nennen.

„Tut mir leid, Johannes, ich möchte jetzt gerne alleine sein.“

„Da hast du dir aber eine tolle Location ausgesucht, mein Freund“, sagt der. „Mehr Masse als bei Bosch findest du nirgends in Palma.“

„Okay, dann setz dich eben“, bietet Konrad seinem älteren Kumpel mit einer ausladenden Handbewegung einen Stuhl an. Johannes empfindet die Geste als eine Spur zu gönnerhaft.

„Was ist es?“, will Johannes wissen, diesmal wirklich besorgt um seinen Freund. „Kann ich dir mit irgendwas helfen?“

Sie kannten sich jetzt seit zehn Jahren, lange genug, um aus einer Begegnung eine Bekanntschaft wachsen zu lassen, die zu einer engen Freundschaft gediehen ist. Für junge Menschen sind zehn Jahre eine Ewigkeit, aber im Alter relativiert sich die Wahrnehmung der Zeit.

Konrad kommt es vor, als hätte er Johannes vor einer Woche zum ersten Mal in der Bar Bosch getroffen. Dabei feierten sie schon zehn Mal zusammen Geburtstag, prosteten sich zehn Mal an Sylvester zu und wunderten sich nicht weniger als zehn Mal darüber, dass sie sich noch immer gut aushalten konnten, obwohl es immer mal wieder knirscht im Getriebe.

Mehr als hundert Mal sprachen sie bei ihren Begegnungen über das Älter werden und die Gnade der Jugend. Wer 30 ist, hat bereits genug Erfahrung angesammelt, um zu wissen, wo’s lang geht. Man kann sich in diesem Alter noch den Luxus erlauben, jede Menge Fehler machen, denn die Jugend verzeiht fast alles. Einem Dreißigjährigen bleiben noch 50, 60 Jahre, um Fehler wieder zu korrigieren, um Feinabstimmungen auf dem Weg zum Erwachsen werden vorzunehmen und daraus zu lernen.

Wenn du 70 bist und nur noch zehn Jahre vor dir hast, vielleicht sogar 20, darfst du dir keine Mätzchen mehr erlauben. Falsche Entscheidungen, wirtschaftliche und private, können fatale Auswirkungen haben. Es bleibt dir schon rein mathematisch gesehen nicht mehr die Zeit, all das wieder gut zu machen, was du jetzt noch verbockst.

Und wieder kommen die Zweifel auf, die Konrad und andere Rentner seines Alters haben: Was nützt mir die Erfahrung, wenn keiner davon hören will? „Alter und Arschkarte fangen beide mit A an“, nuschelte Konrad neulich einer jungen Hamburgerin zu. „Beides braucht man nicht.“

Jetzt, da er an seinem dritten Rosado nippt, traut er seinen Augen noch immer nicht, wenn er sich den Blick in Valentinas Richtung gestattet. Fragen über Fragen: Warum ist sie gerade hier, in der Bar Bosch? Lebt sie auf Mallorca? Warum ausgerechnet Mallorca und nicht das spanische Festland? Oder sogar Deutschland?

Wären nicht diese Augen, diese wunderbaren braunen Augen, hätte Konrad sie vielleicht sogar übersehen. Aber Magnete ziehen sich an. Und Konrads Magnetismus konzentrierte sich schon immer auf Augen.

Übrigens nicht nur auf Frauenaugen. Ihn faszinieren auch Augen von Kindern und Männern und auch Tieren. Die allerschönsten Augen hatte Bella. Bella war sein Sonnenschein, eine schwarze Labradordame, die tragischerweise im Alter von zwölf über die Regenbogenbrücke gehen musste.

Vielleicht haben Augen in Konrads Wahrnehmung auch deshalb so eine enorme Strahlkraft, weil ihn die Natur selbst nicht mit den allerschönsten Augen ausgestattet hat. Seine Augen sind farblich schwer zu definieren. Blau und wässrig jedenfalls. Irgendwo las er, dass Augen farblich nicht sehr intensiv strahlen, wenn sie unpigmentiert sind. Für die Färbung ist jedoch eine dünne Pigmentschicht auf der Hinterseite der Iris zuständig. Dort also liegt bei ihm die Schwachstelle.

Dazu kommt, dass seine Augen nicht nur farblich unscheinbar sind. Für seinen massigen Kopf sind sie einfach zu klein - so, als schlummerten sie permanent in ihren schlufplidrigen Höhlen. Mit seinen Augen ist also kein Staat zu machen, deshalb wohl die Fixierung auf anderer Leute Augen.

Als ihm ein Augenarzt während einer Kurzvisite in Stuttgart neulich noch eine „defizitäre Pigmentierung der Iris“ diagnostiziert, wird Konrad ausfällig. Einen so unschön formulierten Satz, beschimpft er den Mediziner, hätte er jedem Teilnehmer seiner Fortbildungsseminare um die Ohren gehauen.

Der Augenarzt zeigt sich wenig beeindruckt von Konrad, der gerne mal den Oberlehrer spielt. Seine Frage an den Ophthalmologen, ob er das Ganze doch noch einmal „auf gut Deutsch“ versuchen könne, beantwortet dieser schließlich mit der Treffsicherheit des Golfers: „In ästhetischer Hinsicht lassen Ihre Augen etwas zu wünschen übrig.“

„Geht doch“, sagt Konrad. Und ärgert sich schrecklich über die Borniertheit des Doktors.

Aber auch ohne diese obsessive Faszination für Augen, wären ihm die Augen der Frau am Nebentisch aufgefallen. Ganz sicher sogar.

8. KAPITEL

Konrad Lauer, der Siebzigjährige, ist trotz der defizitären Pigmentierung seiner Iris ein attraktiver Mann. „Tageslichttauglich“ heißt das wohl heutzutage auf digitalen Fleischmärkten wie Tinder & Co. Konrads Alleinstellungsmerkmal ist, sieht man einmal von seinem begnadeten Storytelling ab, seine Stimme. „The Voice“, nannten ihn manche im Sender. Für die meisten war er der „Bärenkonni“.

Facebook gab es damals noch nicht, Fanpost schon. Er habe eine Stimme wie ein Bär, dabei sehe er doch eher aus wie ein Teddy, schmeichelte ihm eine Hörerin aus Kassel, die beim Sender eine Autogrammpostkarte angefordert hatte. Eher nebenbei kündigte sie an, dass sie eine Kanadareise plane und für jegliche Art von Tipps dankbar sei - „am liebsten in Person, bei einem Kaltgetränk Ihrer Wahl.“

Konrad antwortete mit einem Formbrief, den er für Anmachen dieser Art im Rechner gespeichert hatte. Er wolle nicht unhöflich sein, sehe sich aber leider außerstande, auf ihre Wünsche einzugehen.

Dass er sie aus reiner Neugier Wochen später dann doch in einem Café traf, ist Teil seines voyeuristischen Naturells, das ihm bis zum heutigen Tag geblieben ist.

Auch wenn er oft und gerne seine Fühler nach anderen Menschen ausstreckt, ist Konrad kein einsamer Mann. Er hat Pia und die Kinder. Er hat Freunde und Bekannte und auch noch eine Restfamilie im Allgäu.

Und er hat seine beiden Katastrophenorchester, Bluesbands auf unterschiedlichen Kontinenten. Denen leiht er seine Stimme. Für sie zaubert er mit dem überschaubaren Talent des Hobbymusikers ohne Notenkenntnisse Gitarrenriffs auf sechs Saiten. Wenn er in Palma lebt, tritt er mit „Los Canarios“ jeden Freitag im Hotel Santropol auf. Die Gigs in Montreal finden dienstags mit „Les Cinques“ im „Club Bleue“ statt.

Ein Kosmopolit ist Konrad nicht nur musikalisch. Auch kulinarisch lässt er seinen Sinnen freien Lauf. Spätzle sind für ihn nicht weniger exotisch als Pad Thai, nur weil sie aus Schwaben kommen und nicht aus Chaiyaphum. Bhuna Gosht mag schärfer sein als eine Currywurst, doch findet er diese nicht weniger betörend, nur weil sie am Bahnhofskiosk erhältlich ist und nicht beim Inder.

Auch wenn er nie richtig den Unterschied zwischen Cilantro, Koriander und Petersilie verstanden hat, kocht er oft und gern. Er liebt Prosecco genau wie Champagner und findet, dass Calvados überschätzt und überteuert ist. Gut gebrannter Apfelschnaps tut’s auch. Dann kommt er eben aus dem Badischen und nicht aus dem südlichen Frankreich.

Als junger Zeitungsreporter tummelte er sich oft unter den Reichen und Berühmten, ohne dass er sich je dazu gezählt hätte. Begegnungen mit Prominenten sind Teil seines Berufes, der ihn genau aus dem Grund auch schon immer faszinierte. Bill Clinton? Check. George Clooney? Check. Nelson Mandela? Auch den hatte er schon vor dem Mikro. Da darf dann auch ein bisschen Namedropping sein.

„Weißt du“, sagt er einem jungen Vater, der ihn mit Jogging-Buggy, einschließlich Baby, ein stückweit auf seinem Spaziergang von Molinar nach Can Pastilla begleitet, „der Dalai Lama ist auch nur ein Mensch wie jeder andere.“

„Sagen Sie bloß, den haben Sie auch schon getroffen?“, fragt Björn, sein neuer Begleiter, tief beeindruckt.

„DU. Den hast DU auch schon getroffen“, fordert Konrad Vertrautheit ein - so, als hätte er gerade seine Schicht im Schacht beendet und den Kumpel am Arbeitstrog noch zu einem Bier am Kiosk eingeladen.

„Sagen wir mal so: Der Dalai Lama ist ein feiner Kerl. Aber er kann auch ganz schön energisch werden.“

„Wie das?“, hakt sein Mitgänger nach.

„Als ich ihn interviewte, damals in Toronto, hatte sich eine Journalistik-Studentin an mich gehängt. Haitianerin, hübsches Mädel mit Scheißvergangenheit. Sie bezirzte mich so lange, bis ich sie zur PK mit dem Dalai Lama mitnahm.“

„PK?“

„Pressekonferenz. Also auf dem Weg zur PK mache ich mit dem Mädel noch kurz einen Deal: Du darfst mit in den Raum, aber die Fragen stelle ich, klaro?“ Klaro.

Sie sei jetzt Feuer und Flamme gewesen und wollte wissen, was er denn so zu fragen gedenke.

„Wenn mir gar nichts mehr einfällt, dann frag ich ihn einfach nach seinem Hobby“, habe er ihr geantwortet. Ein alter Reportertrick, den ihm schon sein erster Chefredakteur Ritchie Retter verraten habe. „Über sein Hobby redet jeder gerne“, hatte Ritchie gesagt, „über seine Familie nicht. Könnte ja sein, der Sohn ist ein Junkie und die Tochter geht auf den Strich.“

Ritchie war auch so ein Reporter der alten Schule. Die Dinge immer schön beim Namen nennen, so mag es der Leser.

„Das Mädel und ich also rein in die gute Stube“, setzt Konrad die Szenenbeschreibung fort. „Herr Dalai sitzt am Tischende, checkt uns mit seinen Lama-Augen ab und beantwortet jede Frage.“

„Welche Fragen denn?“, will Björn jetzt wissen.

„Alles“, sagt Konrad. „Tibet. Myramar. Umweltschutz. Atomare Bedrohung. Terror. Putin. Krieg und Frieden – die ganze Palette.“

Nach dem Interview habe der Dalai Lama seine beiden Besucher lächelnd angeschaut. „Do you have any more questions?“, habe er gefragt. Prompt habe sich die Kleine aus Haiti gemeldet, obwohl Konrad ihr ja ausdrücklich verboten hatte, Fragen zu stellen.

„Your Holiness“, fragte sie, „do you have a hobby?“

Ich fasse es nicht, dachte Konrad in diesem Moment. Welches NEIN hat die eigentlich nicht verstanden? Es wäre jetzt aber ausgesprochen unhöflich gewesen, der Studentin vor den Augen des Dalai Lama ins Wort zu fallen. Also wirft er ihr lediglich einen strengen Blick zu und hofft, der Spuk habe bald ein Ende. Aber dann kommt alles anders.

Ja, sagt der Dalai Lama, er habe in der Tat ein Hobby.

„Welches denn?“, will die Kleine jetzt wissen.

Er sammle und repariere alte Taschenuhren, antwortet er zur Freude der angehenden Journalistin.

„Oh, das ist aber ein schönes Hobby“, sagt die. Und es passe auch wunderbar zu ihm und seinem Naturell, das ja von Geduld und Sinn fürs Detail getragen werde.

„Ganz und gar nicht“, antwortet der Dalai Lama. „Manchmal, wenn etwas nicht klappt, nehme ich die Uhr und schmeiße sie in die Ecke.“

Der junge Mann, der mit seinem älteren Begleiter jetzt fast schon im ehemaligen Fischerdorf Molinar angekommen ist, macht große Augen.

„Das hat er wirklich so gesagt?“

„Ich schwöre es. Jedes Wort hat er so gesagt. Auf Englisch natürlich.“

„Krass“, sagt der junge Vater voller Ehrfurcht vor dem alten Mann, der ihm eben die große, weite Welt an den Buggy geliefert hat.

„Welche Fremdsprachen sprichst du sonst noch?“, will Björn von Konrad wissen.

„Französisch, Englisch natürlich, bisschen Italienisch und ordentlich Spanisch.“

„Und schwäbeln tust du auch“, wagt Björn jetzt sogar einen kleinen Witz.

„Bingo!“, sagt Konrad. „Nur das mit dem Hochdeutsch klappt immer noch nicht so richtig.“ Beide lachen.

„Und was ist aus der Studentin geworden?“, will Björn noch wissen.

„Die arbeitet heute bei CNN als Afrika-Korrespondentin“, antwortet Konrad Lauer.

9. KAPITEL

Der junge Vater, der seinen Jogging-Buggy jetzt immer schneller vor sich herschiebt, ist auffallend still geworden. Keine Fragen mehr, Euer Ehren. Das heißt: doch. Aber die Fragen richtet er an sich selbst. Sie lauten:

Gibt es eigentlich überhaupt noch jemanden, der eine stinknormale Arbeit verrichtet wie er? Der morgens um neun hinterm Banktresen steht und um 17 Uhr die Jalousie runterfährt und anschließend mit den Boys von der Bank noch ein Feierabendbier trinkt, um anschließend rechtzeitig zum Abendbrot bei Mutter und Kind zu sein? Sind eigentlich alle außer ihm von irgendwelchen Dalai Lamas, Bonos oder Madonnas umgeben?

Vielleicht hatte er einfach den Abschied von der Mittelmäßigkeit verpasst und das ganz dicke Ding kommt erst noch?

Konrad gefällt sich in der Rolle des Mentors, der als Elder Statesman die Karriere von jungen Menschen anschieben kann. Mit seinen Seilschaften prahlt er zwar bei seinen meist weiblichen Protegés eine Spur zu viel, aber sie wissen seinen Einsatz zu schätzen.

Da Konrad nicht zu den Weinsteins gehört, die ihren Lohn in Form von Naturalien einfordern, kann er sich guten Gewissens als Altruist verkaufen. So mag er sich am liebsten. Die Kollegin aus Haiti, da ist er sicher, wird ihm bis zu ihrem Lebensende dankbar sein, dass er es war, der ihre erste Begegnung mit einer Weltgröße wie dem Dalai Lama eingefädelt hatte.

Mit Gesten wie diesen schaffte sich Konrad seinen ganz privaten Fanclub. Aber meist waren es Groupies auf Zeit. Dass sie zwischen Promi-Interviews, Autorennen und Tennisturnieren oft ein Jahr lang nichts mehr von sich hören ließen, tut Konrad Lauer heute als Gedankenlosigkeit ab. Er redet sich ein, ihr Verhalten sei nicht einem bösen Geist entsprungen, sondern allenfalls einer gewissen Nachlässigkeit im Umgang mit Freunden geschuldet.

Dass er sich jetzt, da er lediglich noch Rentner mit Vergangenheit ist, wie ein Fanboy über Pressekarten für viel weniger glamouröse Events freut, hätte er noch vor Jahren als Witz abgetan. Ein Konrad Lauer, hätte er gesagt, ist kein Resteverwerter. Freikarten sind für Schnorrer, nicht für Macher.

Er gehörte nie zu denen, die sich mit Presserabatten ganze Kücheneinrichtungen zusammenschreiben und Neuwagen für 15 Prozent unter Liste kaufen, das überlässt er anderen. Dass ausgerechnet diejenigen auf Pressekarten bestehen, die jeden noch so teuren Sitz im Stadion oder beim Rockkonzert aus der Portokasse bezahlen könnten, hatte ihn schon immer gestört. Nassauer nennt man diese Art Menschen, die sich aushalten lassen. Von Firmen, von Menschen, von Freunden. Nein danke, dazu gehört Konrad nun wirklich nicht.

Dafür hat Konrad Lauer eine andere Charaktereigenschaft, die ihm missfällt. Sie hat etwas mit Eitelkeit zu tun. Trotzdem setzt er dieses Werkzeug immer wieder ein, um gut dazustehen. An dem Punkt, an dem vorhin die Pointe mit der Haitianerin und dem Dalai Lama gesessen hatte, hätte er eigentlich aufhören und Björn, seinem jungen Begleiter, das Feld überlassen müssen. Aber da er sich das Ohr seines Zuhörers schon mal erschlichen hatte, nutzt er dies auch schamlos aus.

„Weißte“, prahlt er im altväterlichen Ton des Mannes, der alles schon gesehen, erlebt und erlitten hatte, „der Dalai Lama war nicht der einzige Promi, den ich ausgequetscht habe.“ Dann legt er los. Formel-Eins-Piloten, Boris Becker, Mick Jagger, Jan Ullrich – alle hatte er schon vor dem Mikro und der Kamera.

Aber so richtig fröhlich lässt Konrad den jungen Familienvater trotz dessen offensichtlicher Faszination für seine Geschichten nicht zurück. Der alte Mann spürt die Selbstzweifel, die bei Björn hochgekocht sind. Er vermutet, dass sich dessen Leben auch in Zukunft zwischen All-Inclusive-Hotels mit geregelten Essenszeiten und Badetüchern auf reservierten Liegestühlen am Pool abspielen wird.

Björn tut ihm leid und dann aber auch wieder nicht. Es gibt Momente im Leben des Weltmannes Konrad Lauer, da sehnt er sich nach mehr Bodenständigkeit. Aber es sind flüchtige Momente, denen er gleich gar nicht gestattet, bei ihm einzuziehen.

Als Björn dann kurz vor Ciudad Jardin nach links abbiegt, um bei Lidl noch Windeln und Babybrei zu kaufen, wird Konrad wieder einmal klar, dass sein Leben ein ganz Besonderes ist. Ein warmes Gefühl von Dankbarkeit durchzieht seinen Körper. Und auch ein wenig Demut.

Alles, was er dem jungen Mann eben erzählt hat, stimmt. Konrad lügt nicht, das gehört zu seinen Prinzipien. Dass er aus dramaturgischen Gründen eine Location in seiner Geschichte auch mal von Biberach nach Barcelona verlegt, findet er in Ordnung. Gutes Storytelling lebt ein stückweit auch von der Exotik der Plätze, in denen Geschichten spielen. Geringfügige Abweichungen dieser Art erlaubt er sich zwar selten. Und wenn, dann allenfalls im Gespräch mit flüchtigen Bekannten oder, wie in Björns Fall, Kurzzeit-Weggenossen, die sich von Havanna leichter beeindrucken lassen als von Pforzheim.

Wenn Menschen keine Probleme haben, schaffen sie sich welche. So beschloss Konrad Lauer vor Jahren, dass mangelnde Zukunftsperspektiven in Verbindung mit zurückliegenden beruflichen und gesellschaftlichen Höhepunkten von jetzt an sein Hauptproblem sind.

Sein gegenwärtiger Status ist der eines gut erhaltenen Rentners, der sich zwar die meisten seiner Träume zu Lebzeiten erfüllen konnte, aber auch noch eine umfangreiche Bucket List vor sich hat. Es liegt in der Natur des Alters, dass er diese To-do-Liste zumindest in diesem Leben nicht mehr abhaken kann. Da er sich jedoch außer diesem Leben, egal wie sehr er seine Fantasie auch bemüht, kein weiteres mehr vorstellen kann, wird sein Dasein für immer und ewig von Kompromissen und Verzichten begleitet sein.

Was jetzt noch kommt, ist überschaubar. Das könnten ein Lottogewinn sein oder auch Enkelkinder, die ihm neue Lebensgeister einhauchen. Anderen Siebzigjährigen mögen eine Harley, ein schickes Cabrio, eine Kreuzfahrt um die Welt oder auch eine dreißigjährige Gespielin genügen, um noch einmal durchzustarten. Bei ihm wird dies nicht funktionieren.

Konrad war in den ersten Jahren seines Erwachsenen-Daseins häufiger durchgestartet als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Jetzt noch einmal Großartiges leisten? Schwierig. Aber er wünschte sich nichts sehnlicher als das. Denn was ihm in seinem jetzigen Leben am meisten fehlt, ist ein Kick. Eine neue Herausforderung, das wär’s.

10. KAPITEL

Die Wahrheit ist, dass an der Wahrheit kein Weg vorbeiführt. Und die heißt, dass Konrad Lauer jetzt siebzig bist. Keiner, auch wenn er sich für noch so wichtig und mächtig hält – beides trifft übrigens auf Konrad zu -, kann seine persönliche Lebensuhr auch nur um eine einzige Sekunde zurückdrehen. Bestenfalls bleiben ihm noch ein paar Jahre im Kreise von Menschen, die es auch dann noch gut mit ihm meinen, wenn er keine Freikarten für Autorennen, Tennisturniere und Rockkonzerte mehr im Angebot hat.

So gesehen befindet sich Konrad gegenwärtig, je nach Perspektive, in der besten oder schlechtesten Phase seines Lebens. Jedenfalls ist es die letzte Phase seines Lebens, und darin liegt die Krux. Dass Menschen seines Alters für zurückliegende Leistungen eigentlich gewürdigt, geehrt oder gar belohnt werden sollten, hat er sich längst abgeschminkt.

„Wir sind von Rassisten umgeben“, antwortet er einer aufgebrachten Pia, die sich am Telefon darüber beschwert hatte, dass sie wegen ihres Alters bei der Ankunft auf dem Flughafen in Wien zum ersten Mal keinen Mietwagen mehr ausgehändigt bekam.

„Alters-Rassisten sind nicht weniger schlimm als Ethno-Rassisten“, beschwichtigt er seine aufgebrachte Frau. „Nur redet kaum einer über die.“

Konrad redet über sie. Das Thema Alters-Rassismus beschäftigt ihn schon seit dem Tag, an dem seine Bank-Sachbearbeiterin ihm seinen Antrag auf eine Hypothek für eine kleine Eigentumswohnung in Montreal ausschlug. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, mit den Mieteinnahmen die Rente aufzubessern. Keine schlechte Idee für jemand, der einen Gehaltsscheck nur vom Hörensagen kennt und schon sein ganzes Leben als Freiberufler arbeitet.

„Was erwarten Sie von Ihrer Bank?“, fragte sie Konrad. „Dass wir alle Hellseher sind? Woher sollen wir wissen, wie lange Sie noch leben und in der Lage sind, ihre Schuldzinsen zurückzuzahlen?“

Konrad konterte unsanft wie einer, der sich in die Enge getrieben fühlt. „Und wer sagt Ihnen, dass Sie nicht morgen auf einer Bananenschale ausrutschen, mit dem Kopf in einer Schaufensterscheibe landen und verbluten?“ In dem Moment, als er den Satz beendet hatte, wusste Konrad, dass er zu weit gegangen war. Er wechselte die Bank. Als ihm auch dort gesagt wird, das sei „alles nicht so einfach in Ihrem Alter“, lässt er den Plan von der Eigentumswohnung wieder fallen.

Auslands-Krankenversicherungen gehören für Pia und Konrad zum jährlichen Ritual. Eine Blinddarm-OP während des Urlaubs würde die Beiden glatt ruinieren. Also führt der Weg zur privaten Auslandskrankenkasse. Doch die versichert Menschen über 70 nur noch, wenn überhaupt, zu miserablen Konditionen.

„Man will uns loshaben“, könnten Menschen mit einem geringeren IQ als Konrad zu dieser Art der Diskriminierung sagen. Konrad würde diesen Menschen nicht widersprechen.

Diskriminierung hier, finanzielle Unsicherheiten dort. Verworrene Perspektiven und schwammige Ansagen. Von den Zipperlein ganz zu schweigen. Alt werden kann ganz schön anstrengend sein. Und anatomisch schwer nachvollziehbar. Wie soll ein Mensch verstehen, dass Männern die Haare auf dem Kopf abfallen, während immer mehr graue Büschel aus dem Hemd-Ausschnitt wuchern?

Dass das Körpergewicht eines Menschen fluktuiert, leuchtet ja noch ein. Selbst als junger Mensch dürfen es mal ein paar Kilo mehr oder weniger sein. Dass aber Gewichtsverlagerungen im Körper des älteren Menschen zu regelrechten Fleischrutschen führen können, musste auch Konrad erst lernen.

Seine Brüste nehmen an Volumen zu, während die Beinchen unterhalb des Knies zunehmend fingerdicken Streichhölzern ähneln.

---ENDE DER LESEPROBE---