Tartufo mortale - Wolfgang Zdral - E-Book

Tartufo mortale E-Book

Wolfgang Zdral

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Beschreibung

Leonardo, dem Trüffelschwein mit dem feinen Riecher für Delikatessen und Verbrechen, ist langweilig. Denn seit er den Mord an seinem Herrn Matteo Gobetti aufgeklärt hat, ist dem exzentrischen Schwein mit der langen Ahnenreihe das Leben im Piemont eine Spur zu ruhig geworden. Umso freudiger reist er mit seiner Padrona Eleonora Gobetti, einer studierten Historikerin, nach Umbrien. Dort sollen die beiden für die Mönche eines kleinen Benediktinerklosters herausfinden, was sich hinter der Legende um den Goldenen Trüffel verbirgt: ein Buch, ein Quell vergessener Weisheit, eine Götzenfigur – vielleicht gar ein kostbarer Schatz? Doch bald wird Eleonora und ihrem Gefährten Leonardo klar, dass es hinter den Klostermauern nicht ganz so heilig zugeht, wie es den Anschein hat.

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Seitenzahl: 533

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Wolfgang Zdral

Tartufo mortale

Ein Tier-Krimi

Edel Elements

Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © 2008 by Wolfgang Zdral

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-138-5

edel.comfacebook.com/edel.ebooks

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

1

Es war von Trüffeln die Rede gewesen, von Rotwein, von Ausflügen in den Wald, von viel frischer Luft und ausgiebigen Mittagspausen. Von Urlaub eben. Zwar hatte ich im Laufe meines Lebens kaum Ferien gehabt, zumindest keine richtigen. Aber ich war guter Dinge, meine kulinarischen Fähigkeiten ausweiten zu können auf hemmungsloses Genießen, eigentlich die ideale Freizeitbeschäftigung. Sich von Lust und Laune durch den Tag treiben zu lassen, nur auf den Magen zu hören, war doch der Inbegriff von Urlaub, oder nicht?

Ich hatte Eleonoras Versprechen geglaubt, ohne groß darüber nachzudenken, denn in diesen Dingen vertraute ich ihr blind. Meistens jedenfalls. Nach Abwechslung hatte es geklungen, raus aus dem Alltag, eine neue Gegend kennen lernen. Auch gegen ein wenig Kultur im Urlaub ist nichts einzuwenden, alte Kirchen besichtigen, Historisches schnuppern, etwas in der Art. Soll die Gehirnzellen anregen. Heißt es.

Und nun das. Ich stand neben Eleonora und blickte hinab in das schwarze Loch hinter der Tür. Eine Steintreppe führte nach unten, verlor sich in der Dunkelheit. Von unten zog ein feuchter Luftzug herauf, als hätte jemand gerade einen Kühlschrank geöffnet. Da sollte ich hinuntersteigen. Wo ich doch Finsternis ungefähr genauso liebe wie Spinat zum Frühstück.

»Mach schon, keine Angst. Ich gehe voran.« Meine Begleiterin schaltete ihre Taschenlampe ein. »Wir sehen uns nur ein wenig um. Vielleicht finden wir da unten etwas zur Geschichte dieses Gemäuers.«

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. So genau wollte ich das im Moment gar nicht wissen. Mir war die Sonne hier im Klostergarten viel lieber, die Verlockung der duftenden Rosen, die Würze von Thymian und Rosmarin. Aber Eleonora war vom Forscherehrgeiz gepackt. Ohne sich nach mir umzusehen, ging sie die Treppe hinunter. Unerhört. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterherzumarschieren und darauf zu achten, den Lichtkegel nicht aus den Augen zu verlieren. Denn solch ein Urlaubsfreund war ich nun auch wieder nicht, dass ich der Erholung wegen in Kauf nahm, als Feigling dazustehen. Einen Angsthasen konnte man mich nun wirklich nicht nennen.

Die Kanten der Stufen waren stellenweise abgeschlagen, weißer Schimmelpelz kleidete die Wände, Staub und Schutt ließen das Treppenhaus wie den Zugang zu einer vergessenen Baustelle wirken. Dem Fäulnisgeruch nach zu urteilen waren diese Gemäuer seit langer Zeit von niemandem mehr betreten worden. Die Treppe lief in einen rechteckigen Raum aus, der von Säulen und Kreuzgewölben seine Struktur erhielt. Der Strahl der Taschenlampe erfasste die Reste einer Truhe, deren Einzelteile schon längst den Kampf gegen die Feuchtigkeit verloren hatten und nun am Boden dem Ende entgegenmoderten. Die Wände waren einst mit Bildern bemalt gewesen, die Farbreste bildeten nun ein Sprengsel von Flächen, das, unregelmäßig gezackt, mal blass, mal intensiv leuchtend, Formen und Gestalten geisterhaft schimmern ließ. Das Gesicht eines Engels leuchtete auf, überwölbt von blauen Flecken des Himmels, Figuren – wahrscheinlich Heilige – gruppierten sich um etwas, das die Jahrhunderte längst weggewaschen hatten. Fantasiewesen mit Schwanz – wohl Symbole für den Teufel – bleckten ihre Zähne, krallten sich an einem Körper fest, den sie offenbar nach unten in die ewige Verdammnis zerren wollten.

»Renaissancezeit würde ich sagen, 15. Jahrhundert.« Eleonora strich über die Gemäldereste. »Sieht ganz danach aus, als stünden wir in der Krypta einer ehemaligen Kirche. Der Keller ist geblieben, das Gebäude über der Erde wurde dagegen abgerissen und später neu gebaut.«

Ich grunzte zustimmend, in der Hoffnung, einem von Eleonoras gelehrten Vorträgen entgehen zu können. Denn danach war mir im Augenblick überhaupt nicht. Mich beschlich nämlich langsam das Gefühl, dass wir beide hier unten nicht allein waren. Ich glaubte, ein Geräusch aus der Ecke zu hören, ein Kratzen, doch Eleonora schien es nicht zu bemerken. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein. Der Mief, das trübe Licht, der Hall unserer Schritte – all das zerrte ein wenig an meinen Nerven. Nur jetzt nichts anmerken lassen! Doch da war es wieder, das Geräusch. Jetzt viel näher. Selbst meine Freundin horchte auf und hielt den Atem an. Eine Art Quieken, ein Wimmern, kaum hörbar, wie von einem Kind. Sie riss die Taschenlampe herum und leuchtete in die Richtung des Geräusches. Das Licht traf nur eine Säule. Oder bewegte sich etwas dort hinten im Schatten?

»Hallo, ist da jemand?« Eleonoras Stimme zitterte leicht. »Wenn hier jemand ist, dann treten Sie hervor und verstecken sich nicht länger!«

Einige Sekunden blieb es totenstill. Dann wieder das Krabbeln. Kakerlaken? Auf einmal roch ich es: das scharfe Odeur von Ratten. Hier wimmelte es von diesen Viechern. Einer dieser Nager erschien im Lichtkreis der Taschenlampe, sah uns frech an und gab einen hohen Ton von sich, als wollte er uns begrüßen.

»Gott sei Dank, nur Ratten.« Eleonora beruhigte sich. »Du hättest sie verscheuchen sollen, mein Porcellino.«

Jetzt erntete ich auch noch Vorwürfe. Das war die Höhe. Schließlich bin ich, Leonardo, kein Kammerjäger. Sondern ein Schwein. Und zwar mitnichten ein gewöhnliches. Nicht nur weil ein weißer Ring meine Brust schmückt – der Stolz einer Kreuzung aus Wildschwein und Cinta Cinese –, sondern auch, weil mir eine besondere Verantwortung übertragen ist: Ich blicke zurück auf eine nicht gerade unrühmliche Laufbahn als Trüffelschwein im Piemont, dem Mekka der Trüffelsammler, wie sich mittlerweile herumgesprochen haben dürfte. Mit meinem ausgeprägten Geruchssinn und meinem Spürsinn stehe ich ganz in der Tradition unserer Familie, deren Ahnentafel bis in die Steinzeit zurückreicht – ja, ganz richtig, die Steinzeit. Ich bin stolz auf meinen Stammbaum, zu Recht, wie ich finde. Vor allem, wenn ich sehe, wie wenig eigene Historie die Menschen voraussetzen, um mit stolzgeschwellter Brust ein Wappen ans Haus zu nageln und ihre Familie »traditionsreich« zu nennen. Meine Vorfahren haben die Geschichte der Schweinerasse entscheidend mitgeprägt und – mit Verlaub gesagt – auch die der menschlichen Spezies. Es ist mehr als betrüblich, dass den Menschen dieses Bewusstsein um die Verdienste meiner Familie im Laufe der Geschichte verloren gegangen ist. Wer – so frage ich erzürnt – erinnert sich beispielsweise noch an meinen Urgroßvater Basilius, der Luther bei einem Gewitter in einem Stall Obdach bot und ihm dort die Augen öffnete für die Reform des Christentums?

Nun, Gott sei Dank gab es noch einige wenige Menschenexemplare, die um den Wert eines guten Trüffelschweins wussten. Und Eleonora Gobetti gehörte dazu. Sie war meine Padrona, sie war meine Freundin, meine Partnerin. Aufmunternd strich sie mir über den Rücken. »Komm, sehen wir uns weiter um!«

Ich nickte zustimmend, schließlich sollte sie nicht merken, dass mir der Sinn nicht nach düsteren Kellergewölben stand, meine Abenteurerehre stand immerhin auf dem Spiel. Die Verständigung mit der Padrona funktionierte eigentlich ganz gut, wenn man bedachte, dass Menschen die Schweinesprache nicht verstehen. Ein Jammer eigentlich, denn was könnten wir ihnen nicht alles beibringen! Ich mochte gar nicht daran denken, wo die Welt heute stehen würde, befände sie sich in Schweinehand. Immerhin schien Eleonora mein Grunzen und Scharren sowie meine Stupser und Hinweise mit dem Rüssel meist richtig zu deuten und ließ sich von mir führen, verstand die Zusammenhänge, auf die ich sie aufmerksam machen wollte. Zumindest in den überwiegenden Fällen, und das war mehr, als man von den meisten Menschen erwarten konnte.

Ich folgte ihr in einen zweiten Raum und streifte im Gehen ihre Jeans. Sofort reizte ihr Duft meinen Rüssel. Sie roch so gut wie sonst kein menschliches Wesen, eine Offenbarung wunderbarster Aromen. An eine Sau kam sie natürlich nicht heran, jedenfalls nicht an eine von Cleopatras Klasse. Unter Eleonoras Pullover zeichnete sich der schlanke Körper ab, das schwarze Haar fiel glatt auf ihre Schultern. Ihre Haut schimmerte, die schmale Nase und die Lachgrübchen ließen ihr Gesicht frisch und jung erscheinen.

Der Raum, den wir betreten hatten, war kleiner als der erste und quadratisch angelegt. An der Wand lehnten Gartengeräte, mehrere Spaten und Harken, Blecheimer und ein durchfeuchteter Karton mit Kerzenresten.

»Das passt gut«, sagte Eleonora. »Machen wir uns mehr Licht.« Sie verteilte einige Wachsstummel im Raum, holte Streichhölzer aus ihrer Tasche und zündete die Dochte an. Das Flackern der Flammen beleuchtete die Umgebung und warf unsere Schatten gespenstisch verzerrt an die Wand, was gemildert wurde durch den Duft der brennenden Kerzen, der einen Hauch von Weihnachten herbeizauberte. Ein Kreuzgewölbe ruhte auf zwei Pfeilern, der Boden lag unter Staub und Schmutz begraben; unter Jutesäcken, deren Fäule meine Geschmackspapillen beizte, lugte eine zerbrochene Steinfigur hervor. Arme und Kopf fehlten. Die Padrona kniete nieder und untersuchte die Stücke. »Die Figur einer Dame. Mindestens zwei Meter hoch. Der Tracht nach zu urteilen eine Ordensfrau, vielleicht eine Äbtissin.« Sie hob den Teil eines Fußes auf und drehte ihn hin und her. »Scheint in einer Kirche gestanden zu haben. Warum man sie wohl in den Keller gebracht hat, anstatt sie zu restaurieren? Schade drum.« Eleonora versuchte noch ein ganzes Weilchen, die Einzelteile zu rekonstruieren und in die richtige Reihe zu bringen, bis eine Marmortafel an der Wand ihre Aufmerksamkeit erregte.

»Was haben wir denn da?« Sie stand auf und betastete den Stein, als wollte sie allein mit ihren Fingerkuppen die Wörter entziffern.

Ich hatte Verständnis für ihren Eifer und ihre Hartnäckigkeit. Ich selbst war nicht anders, hatte mich erst einmal der schnüfflerische Ehrgeiz gepackt. Doch mir war leider mehr nach Sonne und frischer Luft zumute. Kellerräume lösten Beklemmungen in mir aus, sie drückten mir die Kehle zu und trieben mir Schweiß auf die Stirn. Was gab’s hier schon zu riechen? Verfall, Feuchtigkeit und Tod. Und außerdem war die Krypta eindeutig Eleonoras Baustelle, ich hatte hier nichts verloren, sondern hätte besser daran getan, meinen Bauch von der Sonne wärmen zu lassen.

»Der Inschrift nach zu urteilen das Grab eines Abts.« Eleonora hielt die Taschenlampe hoch. »Gestorben im Alter von 49 Jahren. Anno domini 1312.« Sie fuhr die Kanten des Marmors entlang. »Sieht mehr aus wie eine letzte Ruhestätte als eine Gedenktafel. Was meinst du, Porcellino, ob man dahinter noch einen Sarkophag finden würde?«

Ich legte meinen geballten Widerspruch in mein Grunzen, doch ohne Erfolg – Eleonora kam zu mir herüber und tätschelte meinen Rücken. »Spannend, nicht? Nur noch die andere Seite inspizieren, dann haben wir es geschafft.«

Wir fanden das Gestell eines Sackkarrens, vom Rost zernagt, mehrere Rollen Hanfseil und Bretter, achtlos auf einen Haufen geworfen. Die Wand schmutzig weiß, keine Spur von Malereien oder Marmorplatten. Eleonora schob mit dem Schuh einige Bretter beiseite. »Schau mal an, hier sieht der Boden ganz anders aus.« Sie leuchtete auf die Stelle. Tatsächlich lugte unter dem Holz eine Steinplatte hervor, viel größer als die anderen Pflastersteine im Raum, eher in der Größe eines Tisches. Auch konnte man noch Buchstaben erahnen, die in die Oberfläche geritzt waren. Gemeinsam schoben wir die Bretter zur Seite, bis der blanke Stein vor uns dalag. An einer Seite schmiegte sich ein Bronzering in eine Aussparung am Boden.

»Wahrscheinlich eine Grabplatte.« Eleonora zog an dem Ring. Nichts tat sich. Der Mörtel um die Platte war an mehreren Stellen herausgebrochen, als hätte sich bereits früher jemand daran versucht. Ich merkte, wie das Jagdfieber meiner Partnerin zu einem lodernden Feuer heranwuchs. »Das sieht aus wie ein Grabdeckel. Alt. Sehr alt.« Sie zerrte nochmals an dem Ring. Vergeblich. »Ich will wissen, was da zu finden ist. Sehen wir doch einfach nach.« Sie holte eine Gartenharke und begann, den Mörtel rund um die Steinplatte herauszukratzen. Der Klang der Metallspitze auf dem Stein hallte in den Raum wider. Immer wieder rüttelte Eleonora an dem Ring. Ohne Ergebnis. Auch als die Fugen vollkommen von dem Dichtmaterial befreit waren, ließ sich die Platte nicht einen Zentimeter bewegen.

»Wir brauchen einen Hebel.« Die Padrona sah mich an. »Und du musst mithelfen.« Sie nahm das Seil vom Boden, fädelte das Ende durch den Ring, verknotete es und warf mir den Rest zu. »Das ist deine Aufgabe.« Mit einem Spaten versuchte sie, unter der Platte anzusetzen. Endlich fand sie eine Stelle. »Wir versuchen es gleichzeitig.«

Diensteifrig nahm ich das Seil ins Maul, obwohl der Mörtelstaub meinen Rüssel empfindlich reizte, und stemmte mich mit meinem gesamten Körpergewicht dagegen, das beträchtlich ist. Eleonora war nicht mehr zu bremsen, und je schneller wir einen Blick unter die Grabplatte werfen konnten, desto schneller würde ich das Sonnenlicht wiedersehen.

»Und los!« Eleonora drückte den Schaft des Spatens nach unten, ich zog mit aller Kraft an dem Seil. Doch es war wie verhext, die Steinplatte tat uns nicht den Gefallen, sich zu bewegen.

»Nicht aufgeben, noch mal.« Die Padrona setzte ihr Werkzeug tiefer an. Ich tat einen Atemzug und hängte mich nochmals rein, ein Ochse unterm Joch.

»Der Deckel hebt sich!« Eleonoras Stimme vibrierte vor Begeisterung und Anstrengung. Tatsächlich gelang es uns, den Stein hochzuheben und zur Seite zu schieben. Darunter erwartete uns eine noch schwärzere Finsternis, und mir liefen Schauer den Rücken hinunter. Glücklicherweise war Eleonora beschäftigt genug, um nicht zu merken, wie sich meine Borsten aufstellten. Erst der Strahl der Taschenlampe zeigte uns das Ergebnis: Es war eine in Stein gehauene Grube, etwa einen Meter tief und zwei Meter fünfzig lang. Darin stand ein Sarg. Ein Bleisarg, ungewöhnlich breit, die Oberfläche glatt, lediglich verziert mit einem Kreuz und einer Blumengravur, einer Rose vielleicht.

»Madonna mia!« Eleonora schlug unwillkürlich ein Kreuz. »Tatsächlich ein Grab. Vergessen über die Jahrhunderte. Komm, wir werfen einen Blick hinein, und dann lassen wir dem Toten wieder seine Ruhe, wer immer darin liegen mag. Historisch aufschlussreich ist dieser Fund auf jeden Fall.«

Den Sarg öffnen? Unwillkürlich kamen mir Vampirfilme in den Sinn. Gleich würde sich der Deckel von selbst auftun, und ein Mann im schwarzen Anzug mit Zähnen ganz ähnlich unseren Hauern würde sich aus den Seidenkissen erheben, um uns das Blut auszusaugen. Eine Schweinelegende besagt, dass der aus einem alten Tapir-Geschlecht stammende Vead Taper, von den Menschen fälschlich mit Tepes übersetzt, auf seinen riesigen Ländereien einen verzweifelten Krieg gegen die Menschen geführt habe, indem er sie auf Pfählen habe aufspießen lassen – wie die Menschen es im Übrigen mit Schweinen seit Jahrhunderten tun, um sie barbarischerweise zu braten und aufzufressen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ihm ausgerechnet die türkischen Eroberer in die Klauen gefallen sind, die doch kein Schweinefleisch essen. Wer weiß, welch glückliche Wendung die Geschichte des Abendlandes genommen hätte ...

Eleonora war bereits in die Grube gestiegen und versuchte, den Sargdeckel hochzuheben. Ein Knirschen. Er bewegte sich. Zentimeter für Zentimeter schob die Padrona den oberen Sargteil zur Seite, bis er mit einem Krachen zu Boden fiel. Eine Staubwolke stieg auf, und wir mussten warten, bis die Sicht wieder frei war. Meine Borsten ragten noch immer in die Luft, als müssten sie strammstehen – diesmal allerdings weniger aus Furcht, sondern vielmehr wegen des bizarren Anblicks, der sich uns bot: In dem Sarg lagen zwei Skelette. Der Anordnung der Knochen nach zu urteilen, waren die Köpfe einst einander zugewandt gewesen, die Körper wie in inniger Umarmung gedreht. Der Kleinere der Schädel sah für mich aus wie der einer Frau oder eines Kindes. Die Augenhöhlen starrten aus dem Sarg empor, als wollte uns die Tote wegen unseres Eindringens Vorwürfe machen. Der Eindruck mochte aber auch meiner Fantasie zuzuschreiben sein. Eleonora leuchtete die Gestalt ab. Zwischen den Rippenknochen steckte ein metallenes Kreuz. Eine Grabbeigabe zur Beerdigung? Oder hatte jemand den Schaft gewaltsam in den Körper gerammt? Wie lange mochte das alles her sein?

Als das Licht das zweite Skelett streifte, fuhr ich zusammen. Das Gerippe, der Schädel, die Knochen – ich konnte nicht glauben, was ich sah, und doch war es vollkommen unmissverständlich, was hier vor mir lag. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich blickte zu Eleonora hinüber, die zwischen Überraschung und Furcht zu schwanken schien. Auch sie war von dem Fund überrascht, konnte sich jedoch offensichtlich keinerlei Reim darauf machen. Wie denn auch. Nur Schweine kannten solche Skelette, und dieses Skelett rührte an einem wunden Punkt in meiner Ahnengeschichte. Lucrezia. Kein Zweifel, hier stimmte etwas nicht. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Und mir schwante, dass ich meinen Urlaub nicht mit Sonnenbaden verbringen würde.

2

Angefangen hatte alles mit einem Anruf vor zwei Wochen. Ich erinnere mich noch genau daran, weil ich gerade in meinem Zimmer zum ersten Mal Cipolle al forno gegessen hatte, gebackene Zwiebeln mit einer ungewöhnlichen Soße aus Sahne und Aalstücken, und mich zu einem Nickerchen aufs Sofa zurückgezogen hatte. Das Klingeln des Telefons und Eleonoras Stimme rissen mich aus meinen Träumen. Wie ich dem Gespräch entnahm, war ihre Freundin aus Perugia dran. Eine alte Kollegin aus gemeinsamen Studienzeiten in Mailand. Die Fächer Geschichte und Kunstgeschichte hatten beide wohl eher als Nebensache betrachtet, wenn ich Eleonoras Erzählungen von früher Glauben schenken sollte. Stattdessen feiern, ausgehen und mit Studenten flirten. Die Freundin arbeitete mittlerweile in der Touristeninformation der umbrischen Provinzhauptstadt und hatte eine seltsame Anfrage erhalten: Der Vorsteher eines Klosters rief an, ob sie jemanden kenne, der vorübergehend eine historische Forschungsarbeit übernehmen könnte. Das Kloster betreute die Studienkollegin erst seit wenigen Tagen, »wir haben es ganz neu in unser Retreatprogramm ›Klösterliche Stille‹ aufgenommen, ein kleines, abgelegenes Kloster, noch nicht vom Tourismus verdorben – ein Geheimtipp!«, schallte es aus dem Telefon.

»Da habe ich natürlich sofort an dich gedacht, Eleonora«, sagte die Anruferin. »Wo du doch auf deinem Bauernhof einsam in der Provinz hockst und den ganzen Tag nur Misthaufen siehst.« Gelächter, verzerrt durch den Lautsprecher. »Vielleicht hast du Lust, wieder deinem alten Beruf nachzugehen und dir mal andere Luft um die Nase wehen zu lassen. Hier bei uns ist es viel schöner als im Piemont.«

Ich konnte mir ein empörtes Schnaufen nicht verkneifen, denn was konnte schöner sein als die vertraute Umgebung des Piemont, meine Freundin Cleopatra in der Nähe und eine Padrona, die immer für gutes Essen und Barolo-Wein sorgte? Wir hatten in jüngster Vergangenheit einiges durchgemacht: Eleonoras Schwiegervater war auf unserem Bauernhof südlich von Alba ermordet worden. Die Haushälterin ebenso. Auch der Ehemann war ums Leben gekommen. Immerhin konnten wir die Verbrechen aufklären. Nicht zuletzt dank meiner Freundin Cleopatra, einer Sau von Format und adeliger Abstammung obendrein, und meines Trüffellehrlings Caruso. Eleonora hatte daraufhin das Anwesen und die Ländereien geerbt. Dort hätten wir uns eigentlich vergnügen sollen, Tartufi aufspüren, Essen kochen, Barolo trinken. Ich selbst bin leider noch nie über die Grenzen unserer Region hinausgekommen. Meine Vorfahren dagegen hatten in den östlichen Gegenden Italiens gelebt, meine verehrte Ururoma Lucrezia ebenso wie meine Tante in Verona. Ein wenig von dem östlichen Erbe floss sicher auch durch meine Adern. Jedenfalls setzte sich Eleonora am nächsten Tag ins Auto und fuhr nach Umbrien. Sie übernachtete in Perugia und traf sich dort mit dem Abt des Klosters. Nach ihrer Rückkehr setzte sie sich mit ihrem neuen Freund Enrico Fabris auf die Bank vor unserem Haus und ließ sich von der Abendsonne bescheinen.

»Wie war’s?«, fragte Fabris, der erst kürzlich bei uns eingezogen war. Ein Commissario der Mordkommission aus Turin, hatte er Eleonora bei seiner Ermittlungsarbeit auf dem Hof kennen gelernt. Nachdem die Mordfälle aufgeklärt waren, kam der junge Mann zu Besuch. Erst einmal, dann regelmäßig. Und nun war eingetroffen, was ich bereits seit Längerem befürchtet hatte: Seit einem Monat wohnte er ganz auf dem Anwesen der Gobettis, hatte seinen Dienst »bis auf Weiteres« quittiert und konzentrierte sich nun ausschließlich auf die Verwaltung der Ländereien. Eigentlich mochte ich keine Kommissare, denn sie waren alle gleich – eingebildet und in Schubladen denkend, ohne die Kombinationsgabe und dem Esprit der Schweine. Fabris jedoch hatte sich bisher noch keine Schnitzer erlaubt. Nun ja, vielleicht war er ja im Herzen Bauer und nicht Polizist. Den Stall jedenfalls mistete er schon wie ein echter Landwirt aus.

Eleonora verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Ich könnte wieder als Historikerin arbeiten. Wenn auch nur für ein paar Wochen. Und ohne Bezahlung.«

»Kein Honorar? Das ist aber ein seltsames Angebot«, erwiderte Fabris.

»Der Auftraggeber ist ein Kloster. Wie mir Abt Aviano geschildert hat, leidet die Abtei unter, nun ja, Geldmangel. Sie ist klamm, um nicht zu sagen pleite. Die haben ihr letztes Geld in den Umbau des Anwesens gesteckt, um daraus eine Edelherberge für Gäste zu machen. Für Leute, die eine Zeit lang exklusive Abgeschiedenheit und Ruhe suchen. Und so hat schließlich meine Freundin in der Touristeninformation von dem Kloster erfahren.«

»Was hat das mit dir und dem Job zu tun?«

»Der Abt will das Kloster herausputzen. Bislang ist es für Touristen nicht zugänglich, man kann es nicht besichtigen. Das soll sich nun alles ändern. Um besser Reklame machen zu können, will er die Geschichte der Anlage erforschen lassen. Meine Aufgabe wäre es, irgendetwas Aufregendes in der Vergangenheit zu entdecken, was sich gut vermarkten ließe, eine Art historisches Aushängeschild für die Abtei.«

»Und all das für Gottes Lohn?« Fabris kam mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern aus dem Haus zurück. Er grinste. »Habe gar nicht gewusst, dass du deine Sünden mit einem Ablasshandel wegwaschen willst.«

»Unterkunft, Verpflegung und andere Ausgaben wären natürlich frei.« Eleonora schwenkte den Wein in ihrem Glas. »Die Aufgabe ist nicht ohne. Das erste Mal die Geschichte des Klosters erforschen. Ich habe mich in Perugia schlau gemacht, es finden sich nur wenige dürre Fakten, sonst nichts. Kein Buch, keine längere Abhandlung. Ich würde absolutes Neuland betreten. Vielleicht springt ja sogar eine Publikation in einer wissenschaftlichen Zeitschrift dabei heraus. Und ich könnte endlich einmal auf dem Gebiet arbeiten, das ich studiert habe.«

Fabris nahm die Padrona in den Arm. »Geht dir wohl ab, das frühere Leben. Immer nur Landwirtschaft und Trüffel suchen. Andere wären froh, wenn sie mit dir tauschen könnten.«

»Das ist es nicht. Ich liebe den Hof hier. Aber auch ich habe das Bedürfnis nach Abwechslung. Mal was anderes sehen. Das Angebot klingt nach Urlaub – und als Gegenleistung darf ich Bücher und Urkunden wälzen.«

»Wenn du dich mal nicht täuschst.«

»So schlimm wird’s schon nicht werden. Ich bin zu nichts verpflichtet.« Eleonora nahm einen Schluck aus dem Glas. »Außerdem gibt es noch einen anderen Aspekt, der mir die Sache schmackhaft macht.«

»Ich habe doch gewusst, dass irgendwo ein Haken steckt«, sagte Fabris. »Lass mich raten: Du musst dich als Nonne verkleiden.«

»Viel besser. Ich darf meine beiden Trüffelschweine mitnehmen.«

»Unsere Trifolai? Was sollen die in einem Kloster? Soll das heißen, du willst mich hier allein zurücklassen?«

Eleonora knuffte den Arm ihres Freundes. »Du bist nicht allein. Du hast doch die Nachbarn. Und unsere Viecher im Stall.«

»Soll ich mich zu denen ins Heu legen, während du fort bist? Schöne Aussichten.«

»Ich brauche mein Porcellino dort. Beruflich sozusagen.«

»Du verbringst eh schon viel zu viel Zeit mit dem Eber und seinem jungen Begleiter. Es reicht schon, dass die Schweine mit uns im Haus wohnen.«

»Es sind besondere Schweine, das weißt du doch. Sie sorgen dafür, dass wir von der Trüffelsuche gut leben können. Außerdem brauchst du nicht auf ein Schwein eifersüchtig zu sein.«

Fabris tat zerknirscht. »Ich habe den Eindruck, du bringst dem Tier mehr Zuneigung entgegen als mir, nimmst sogar lieber ein Schwein in den Urlaub mit als mich.«

Eleonora lachte. »Den Urlaub holen wir nach, nur wir beide. Versprochen. Aber Abt Aviano hat angedeutet, dass die Geschichte des Klosters mit einer Legende verwoben ist.«

»Welche Geheimnisse plagen denn den Geistlichen?«

»Er will, dass ich den Goldenen Trüffel finde.«

Fabris blieb der Mund offen stehen. »Willst du mich auf den Arm nehmen? Das klingt verdammt nach Märchenstunde.«

»Das dachte ich zuerst auch. Aber bei dem Goldenen Trüffel handelt es sich tatsächlich um eine Legende, die sich seit Jahrhunderten um das Kloster rankt. Der Abt weiß nicht, ob diese Geschichte wahr ist, ob es überhaupt einen Goldenen Trüffel gibt und was er darstellen könnte. Es kann ein Schmuckstück sein, eine Pflanze, ein Gemälde, ein verschollenes Buch. Oder etwas Geistiges, ein Symbol wie der Heilige Gral, eine Idee, ein alchemistisches Rezept, ein religiöses Ritual. Ich weiß es nicht, der Abt weiß es nicht. Er aber will herausfinden, was dahintersteckt und was es mit der spezifischen Klosterhistorie zu tun hat. Und wenn das sagenhafte Ding noch etwas wert sein sollte, umso besser. Bei den leeren Kassen ...« Eleonora gluckste.

»Der arme Abt steckt sicher in der Zwickmühle. Ein Kloster ist ein Ort der Besinnung und keine Herberge. Als zusätzliches Marketingargument klingt Goldener Trüffel, wie soll ich sagen, betörend. Wer Kunden anlocken will, muss eben die Trommel rühren und darf nicht nur auf Gottes Wort vertrauen.«

»Jedenfalls hat ihn mein Hinweis überzeugt, es könne nicht schaden, meine beiden Trüffelschweine mitzunehmen. Wer weiß, vielleicht finden sie die entscheidende Spur. Wäre ja nicht das erste Mal.«

Bislang hatte ich dem Gespräch nur mit halbem Ohr zugehört. Aber der Begriff »Goldener Trüffel« elektrisierte mich. Nicht nur wegen meiner Leidenschaft für die Pilze, dem fürwahr göttlichsten Lebensmittel auf Erden. Bilder aus meiner Kindheit stiegen hoch, längst vergessene, und mit ihnen die Erinnerung an die Sage von meiner Ururgroßmutter Lucrezia und dem Goldenen Trüffel. Meine Mutter Penelope hatte sie mir oft als Gutenachtgeschichte erzählt. Es handelte sich um eine uralte Schweinesage, von Generation zu Generation weitergereicht. Danach sollte Lucrezia, die Weise, einst den legendären Trüffel entdeckt und damit den Grundstock für den Ruhm unserer Familie als Tartufo-Dynastie gelegt haben. Ein Ruhm, von dem ich heute noch zehrte, denn das Blut Lucrezias pochte auch in meinen Adern, und kein Mitglied unserer Familie ist je über die Jahrhunderte hinweg in solchen Ehren gehalten worden wie diese wunderbar weise Sau. Ich verdankte ihr unendlich viel, meine Fähigkeiten, meine Existenz, meine Bildung – ihre Anlagen, gepflanzt vor Jahrhunderten, machten einen Teil meines Wesens aus, auch wenn ich keinerlei Vorstellung hatte, wer meine Ururoma tatsächlich gewesen war, wie sie ausgesehen hatte. Eleonoras und Fabris’ Unterhaltung reduzierte sich auf ein säuselndes Hintergrundgeräusch, denn meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf ein mir bislang vollkommen unbekanntes Gefühl, eine bittere Trauer darüber, meine Ururoma nicht gekannt zu haben. Vermessen und undankbar kam ich mir vor, mit meiner tagtäglichen Arbeit Lorbeeren einzuheimsen, die eigentlich ihr gebührten. War ich ein schlechtes Schwein, dass mir in all den Jahren, die ich bereits auf dieser Erde lebte, nicht einmal der Gedanke gekommen war, der Gründerin unserer Familientradition Dankbarkeit zu erweisen? Geschweige denn mich zu fragen, wie sie gelebt hatte, wie sie gestorben war? Denn ihr Tod musste hohe Wellen geschlagen haben und war bis heute ein großes Rätsel.

Lucrezias Entdeckung habe den Menschen über Jahrhunderte hinweg Glück und Wohlstand beschert, hieß es. Doch es ist nicht überliefert, was genau sie entdeckt hatte. Ruhm erntete sie bei den Menschen nicht – im Gegenteil. Gerüchte besagten, auf dem Goldenen Trüffel habe ein Fluch gelegen, der Tartufo habe letztlich ihren gewaltsamen Tod herbeigeführt – dort in Umbrien, wo sich ihre Spur verlor. Ihr Geheimnis hat sie mit ins Grab genommen, ihre letzte Ruhestätte ist bis heute unbekannt. Die Geschichte des Goldenen Trüffels geriet schließlich mit den Jahrhunderten immer mehr in Vergessenheit. Was blieb, war die Erinnerung in meiner Familie an Lucrezia, mehr ein Gedanke, ein abstraktes Wortgemälde in Form einer Sage, das die wahre Gestalt verbarg. Sollte Eleonoras Vorhaben tatsächlich Gestalt annehmen und ich einen Urlaub in Umbrien verbringen – ich schrieb mir fest hinter die Ohren, für meine geschätzte Ahnin vor Ort zumindest eine Gedenkminute einzulegen.

Die nächsten Tage nahm Eleonora ihr Projekt zielstrebig in Angriff. Sie fuhr nach Mailand, um Bücher zu besorgen, erstellte Listen mit Dingen, die sie mitnehmen wollte, packte mehrere Koffer und ging dabei mit einer Energie zur Sache, die ich schon lange nicht mehr an ihr bemerkt hatte. Schließlich kam der Tag der Abreise, auch dieser viel früher als ich gedacht hätte. Ich fand gerade noch genug Zeit, mich von meiner Freundin Cleopatra zu verabschieden, einer blaublütigen Gascon-Sau aus der Nachbarschaft, eine Contessa de la Rosa, ursprünglich französischer Adel. Ich rieb meinen Rüssel zärtlich an ihrer Backe, sog den Duft von Klee und Minze ein, labte mich an ihren Wohlgerüchen. Sie guckte mich an, als habe sie gerade ein Pfund Limonen zerkaut.

»Jetzt bist du so lieb zu mir und gleich haust du ab, mon cher«, sagte sie. »Schöner Freund! Mich sitzen lassen. Pah!« Sie drehte sich demonstrativ weg.

»Ich werde jede Minute an dich denken«, flüsterte ich ihr ins Ohr, getrieben von einer Prise Schuldbewusstsein. »Was soll ich machen? Job ist Job. Ich kann Eleonora nicht im Stich lassen. Und ich muss sagen, meine liebe Ururoma Lucrezia schafft es mittlerweile schon in meine Träume, und ich freue mich darauf, mit Umbrien den Flecken Erde kennenzulernen, den ich aus den Sagen meiner Kindheit kenne. Du kennst mich doch, weißt, wie viel ich mir auf meine Familie einbilde, und solch eine Gelegenheit bekomme ich nie wieder in meinem Leben. Und wer weiß, nachdem Eleonora nun eh auf den Goldenen Trüffel angesetzt ist, vielleicht kann ich da mit meiner Spürnase auch meinen Teil dazu beitragen und einen Funken mehr Wahrheit in meine Ahnengeschichte bringen. Denn es soll mich der Teufel holen, wenn die mysteriöse Saga um Lucrezia nur erfunden ist. Schweine flunkern nicht.«

»Das verstehe ich ja. Doch wo bleibe ich?«

»Es dauert nicht lange. Höchstens ein paar Wochen. Wenn du Fabris regelmäßig besuchst, kannst du Neuigkeiten von uns aus Umbrien aufschnappen.«

»Très bien. Ein toller Ersatz.«

»Wenn ich zurück bin, feiern wir. Und zwar richtig. Versprochen.« Es verging noch eine halbe Stunde, bis Cleopatra ihren Groll überwunden hatte. Ich bedauerte, dass ich sie nicht mitnehmen konnte. Meine Freundin. Mein Schoko-Bacio.

Die Reise erinnerte mich an eine Kanzone der berühmten Sängerin Albavella Buffa, der vielleicht beliebtesten Sau unter den Mezzosopranistinnen, deren Lieder bildreich und sinnenfroh waren – und wunderbar melodisch! Caruso, mein Trüffellehrling, ein Mangaliza-Schwein, summte Opernarien, während wir auf der Ladefläche des Lieferwagens dahinschaukelten, dem ersten richtigen Urlaub unseres Lebens. Ein erhabenes Gefühl.

Von Alba aus nahmen wir die Autobahn, fuhren weiter bis Modena, bogen ab nach Süden auf die Autostrada del Sole, nahmen die Superstrada nördlich des Lago Trasimeno bis Perugia und legten den Rest der Strecke auf Landstraßen zurück. Ebenen lösten sich mit Tälern ab, Hügel mit Bergen, kahle Gipfel erinnerten an die kreisrund geschorenen Glatzen von Mönchen, getaucht in die Wärme der Sonne. Auf den Kuppen der Hügel drängten sich die Häuser zusammen als suchten sie in der Gemeinschaft Schutz vor dem Nachbardorf. Die Landschaft wechselte in kurzen Intervallen ihr Kleid und schien doch nur eine Farbe zu kennen: Grün. Das kräftige Grün der Maisbeete entlang der Wege, das Grünbraun des Getreidefelds, das bei einem Bauernhof auslief, der Silberschleier auf dem Grün der Olivenbäume, der Hänge von Ferne als gleichmäßige Stickerei der Natur glänzen ließ. Die samtgrünen Reihen der Weinstöcke, die sich den Berg hinaufzogen, den Senken und Plateaus folgten, und das Schwarzgrün des Bergwalds, das sich in ein Grünblau wandelte je weiter die Berge in die Ferne rückten, um am Horizont zu einer mit Wasserfarben gemalten Linie von zartem Blau zu verschmelzen.

Das Tal verengte sich. Eleonora bog ab, eine Serpentinenstraße führte bergauf, der Asphalt schlängelte sich vorbei an Geröllhängen und Buschwerk. Längst hatten wir das letzte Dorf hinter uns gelassen. Die Straße mündete in einen Feldweg, Schlaglöcher schüttelten das Auto wie ein Boot bei rauer See. Plötzlich bremste Eleonora und wir schlitterten auf der Ladefläche nach vorn.

»Finito.« Die Padrona stieg aus. Nun sahen wir den Grund für unseren Stopp: Vor uns versperrte ein Schlagbaum die Weiterfahrt. Darauf war ein Holzschild genagelt, dessen Schrift nur schwer zu entziffern war: »Proprietà privata.«

»Hoffentlich sind wir überhaupt richtig. Einen Wegweiser gibt’s hier offenbar nicht.« Eleonora holte eine Landkarte aus dem Handschuhfach und breitete sie auf der Motorhaube aus. Ihre Finger fuhren auf dem Papier entlang. »Kein Kloster zu entdecken. Hier – ein Punkt. Ohne Beschriftung. Das muss es sein. Wir fahren weiter.« Die Padrona ging zum Schlagbaum und hob ihn hoch, das Gegengewicht knarzte im Gelenk. »Avanti!«

Etwa fünf Minuten blieben wir auf der Rüttelstrecke, als der Weg sich plötzlich verbreiterte und auf einer Hochebene weiterlief. Kirschlorbeer und Zypressen säumten den Rand. Nach einer weiteren Kurve sahen wir schließlich das Kloster vor uns, die Abbazia di Benedetto. Es war ein Bau aus dem frühen Mittelalter, das Gemäuer bestand aus unverputztem Naturstein, abweisend und uneinnehmbar wie eine Trutzburg. Die Anlage bildete ein Rechteck, die Außenmauern umschlossen zwei Innenhöfe, nur vereinzelte Fenster und Schlitze in der Größe von Schießscharten durchbrachen das Bollwerk. Zusätzlich verlief in einigem Abstand um das Kloster eine zweite mannshohe Mauer aus aufgeschichteten Felsbrocken. Ein Campanile mit quadratischem Grundriss überragte die Zypressen, das Flachdach war mit Ziegeln gedeckt und mit einem Bronzekreuz gekrönt. Rundbogen, paarweise angeordnet, strukturierten die Fassade. Gleich hinter dem Anwesen erhob sich der Bergwald, auf dessen gegenüberliegender Seite der Hang steil abfiel und den Blick freigab auf die Berge jenseits des Tals. Keine einzige weitere menschliche Siedlung war zu sehen, kein Ton zu hören außer dem Rauschen der Blätter. Das Panorama vermittelte die Illusion, als wäre das Kloster vom Himmel gefallen und hätte durch die Jahrhunderte hindurch in der Bergeinsamkeit überlebt. Eine Illusion, die durch die gänzlich abgelegene Lage noch verstärkt wurde, denn unten vom Tal aus war das Anwesen nicht auszumachen. Die frühen Baumeister hatten den Ort geschickt gewählt: Die Mauern wirkten abschreckend auf Fremde und flößten sicher auch den Bewohnern selbst Respekt ein, was beides wohl der tiefere Sinn der Architektur war. Denn im Mittelalter war die Klosteranlage die einzige Heimat der Mönche, hier lebten sie, hier starben sie. Ausflüge zu Verwandten oder Freunden waren nicht vorgesehen, die Mönche gingen einen Pakt ein bis zu ihrem Tod, begaben sich freiwillig in diese abgeschlossene Welt mit ihren eigenen Regeln, in der sich alles nur um den Orden drehte – und um Gott. Einflüsse von außen störten nur. Erst nachdem die weltlichen Herrscher den Abteien das Vermögen genommen und ihre Macht gebrochen hatten, mussten sich die Klöster notgedrungen öffnen.

Eleonora ließ den Wagen vor dem Eingangstor neben einigen anderen Autos mit ausländischen Nummernschildern ausrollen und wandte sich an uns. »Ihr müsst euch noch ein wenig gedulden.« Ich inhalierte die Luft. Die Aromen, die meine Sensoren umspülten, signalisierten eine Frische und Erdverbundenheit, wie ich sie vom Piemont nicht kannte. Das Harz der Fichtennadeln, der Saft der Gräser, die Kühle der Steine – alles schien zu atmen, und ich wusste überhaupt nicht, in welche Himmelsrichtung ich meinen Rüssel als Erstes recken sollte. Eine kleine Pause für die Nase war also sehr in meinem Sinn.

Das Eisentor war verschlossen, ein Klingelknopf fehlte. Es dauerte eine Weile, bis Schritte zu hören waren. Und ein Husten. Ein Mönch in Kutte, vielleicht 50 Jahre alt, schlurfte leicht gebeugt auf Eleonora zu und öffnete das Tor.

»Salve, Signora. Sie ...« Der Rest ging in einem Hustenanfall unter. »Verzeihung. Verzeihung. Mein Name ist Fra Stephanus. Sie sind ...?« Durch das Autofenster roch ich kalten Rauch und Nikotin.

»Ich heiße Eleonora Gobetti. Ich bin Historikerin. Abt Aviano hat uns hergebeten.«

»Uns?« Auf der Stirn des Klosterbruders bildete sich eine Falte. Seine Haut war fahl. »Ich sehe keine Begleitung.« Beim Sprechen entblößte er eine Reihe gelber Zähne.

»Hat Ihnen der Abt nicht Bescheid gegeben? Ich habe meine beiden Trüffelschweine mit dabei. Hinten im Auto. Sie werden mich bei meiner Arbeit unterstützen.«

»Trüffelschweine? Benissimo! Hier oben im Wald sollen Tartufi wachsen. Ich hätte nichts gegen ein Trüffelmenü einzuwenden.« Dieser Mönch, dessen Gewand mit Nikotingeruch vollgesogen war, verstand wohl gar nichts von Tartufi. Als ob das Champignons wären, im Treibhaus gezüchtet, fahle Geisterpflanzen. Trüffel waren die Eibenkönige unter den Gewächsen, im Verborgenen lebend und nur durch die Magie von Trüffelschweinen bereit, an die Oberfläche zu kommen. Also durchaus eine künstlerische Tätigkeit, die ich ausübte. Meiner Padrona brachte sie ein Vermögen ein, auch wenn sie sich nichts aus Geld machte. Für die Erdknollen zahlten Feinschmecker rund um den Globus Unsummen. Und dieser Mönch redete, als wollte er eine Tomate im Supermercato erstehen.

»Nun ja, wir werden sehen. Ich würde gerne auspacken.«

»Natürlich, natürlich. Verzeihung. Wie unhöflich.« Sein Atem rasselte. »Sie müssen wissen, wir haben hier oben kaum weibliche Gesellschaft. Bislang jedenfalls. Aber das soll sich jetzt ja ändern.« Stephanus spuckte aus. »Hier soll sich so manches ändern.«

Eleonora öffnete die Hecktür und ließ uns aussteigen. Der Mönch zuckte bei meinem Anblick zurück. »Herrgott im Himmel. Das ist ja ein mächtiges Vieh.« Vorsichtig umkreiste er mich. »Nun, ähh, ich, ich denke, wir alle sind Geschöpfe des Herrn, wie der Heilige Francesco richtig bemerkte. Er predigte sogar zu den Vögeln.« Stephanus versuchte, die beiden Koffer Eleonoras zu tragen, doch fing er dabei so stark zu schnaufen an, dass die Padrona ihr Gepäck lieber selbst nahm. »Scusi, meine Dame. Das Herz.«

Wohl eher die Lunge, dachte ich. Wir folgten den beiden in den Innenhof. Stephanus wollte uns hinausscheuchen. »Für die Tiere richten wir im Stall etwas her. Wir haben auch ein Schwein. Da können sich die drei gleich kennen lernen.«

Eleonora berührte den Mönch am Arm. Er zog seinen Arm weg, als habe ihn eine Wespe gestochen. »Sehen Sie, Fra Stephanus, das sind keine gewöhnlichen Schweine, sondern äußerst schlaue und sensible Wesen. Sie sind es nicht gewohnt, in Ställen zu schlafen. Wir benötigen eine andere Unterkunft für sie. Und Matratzen. Und Schüsseln fürs Essen und Trinken.«

Stephanus starrte die Padrona mit offenem Mund an. »Ma... Ma... Matratzen? Und Schüsseln? Ich ... ich glaube, das sollten wir zuerst mit dem Abt bereden.«

Verstand dieser Mensch nichts von Kultur? Zu glauben, ich würde mich wie eine gewöhnliche Kuh auf kratzigem Stroh räkeln und Wasser saufen? Der sollte mal mein Zimmer im Piemont mit dem Samtsofa und dem Perserteppich in Augenschein nehmen ...

Stephanus rief zu einem ergrauten Mönch hinüber, der weit über 60 sein musste und gerade den Innenhof betreten hatte. »Abt Aviano! Signora Gobetti ist soeben angekommen.«

Der Abt kam zu uns herüber und begrüßte Eleonora mit einer Herzlichkeit, die ernst gemeint zu sein schien. Er trug das Habit, die traditionelle schwarze Ordenstracht der Benediktinermönche, eine Tunika und ein Skapulier, einen weiten Überwurf. Ein Gürtel hielt den Stoff zusammen. Die Füße steckten in Sandalen, das Haar war silbern und kurz geschnitten, Geheimratsecken ließen die Stirn höher erscheinen. Trotz seines Alters wirkte er vital und energiegeladen. Wie Eleonora wusste, hatte er fast sein ganzes Leben hier im Kloster verbracht.

Als er Jungschwein Caruso und mich sah, zog er seine Augenbrauen nach oben, betrachtete uns mit einer irritierenden Ruhe und sagte: »Bei Gott, das sind zwei ungewöhnliche Geschöpfe des Herrn.« Avianos respektvoller Abstand zu Caruso und mir zeugte von großer Achtung. Seinen Hypnoseblick beantwortete ich mit einem freundlichen Grunzen, was ihn dazu brachte weiterzusprechen. »Aber wir haben großes Verständnis für die Tiere. Wir beherbergen selbst eine Sau. Und einer unserer Schutzheiligen ist Antonius der Große, der Patron und Beschützer aller Schweine. Ein Seitenaltar in unserer Kirche ist dem Heiligen gewidmet. Nicht zu verwechseln mit dem heiligen Antonius von Padua, dem Helfer bei verlorenen Gegenständen.«

Ich war beeindruckt, denn mit solch einer Schweinebegeisterung des Klosters hatte ich nicht gerechnet. Ich fühlte mich willkommen. Gerne hätte ich mich mit dem Abt über die Rolle der Schweine in der Geschichte der christlichen Kirche ausgetauscht, denn da hätte ich ihm das eine oder andere Interessante berichten können. Und ich wäre in seinem Ansehen sicher noch weiter gestiegen, hätte er erfahren, dass meine Vorfahrin Lucrezia am Hofe von Cosimo de’ Medici in Florenz gearbeitet hatte. Sie bewohnte ein eigenes Zimmer im Palazzo Medici und galt als Vertraute von Nannina de’ Medici. Lucrezia diente zugleich als Zimmermädchen, Beschützerin und Ratgeberin, auch wenn es Nanninas Bruder Lorenzo de’ Medici nicht mochte, seine Schwester ständig in Gesellschaft einer Sau zu sehen. Aus diesem Grund ist Lucrezia auch in vielen Chroniken unerwähnt geblieben, kein seltenes Schicksal für ein Schwein.

Aviano plauderte noch eine Weile mit Eleonora, hörte sich ihren Wunsch nach angemessener Behausung für Caruso und mich an und versprach, sich umgehend um die Angelegenheit zu kümmern.

Das war vor drei Tagen gewesen. Drei Tage voller Klostergartendüfte, seligem Nichtstun und einer Stille, Ruhe und Bedachtsamkeit, wie ich sie noch nicht erlebt hatte. Keiner der Mönche schien auch nur zu wissen, was eine schnelle Bewegung ist, sie verrichteten ihr Tagesgeschäft, langsam aber stetig, jede Hektik vermeidend. Allein durchs Zuschauen wurde man ruhiger und fand es auf einmal vollkommen in Ordnung, ohne schlechtes Gewissen Löcher in den Himmel zu starren. Ich vermute, es kam daher, weil die Mönche mit einem anderen Begriff von Zeit lebten. Weltliche Sorgen wie »Zeit verschwenden« oder »Zeit ist Geld« drückten sie nicht. Das machte wohl einen Großteil der modernen Faszination aus, die das mönchische Leben auf gestresste Menschen ausübte.

Wir Schweine kannten solche Probleme nicht. Wir lebten nach dem Motto unseres Schweinephilosophen Vestalus: Jede Minute ist ein Trüffel deines Lebens. Speisen oder Schlafen, alles war für uns gleich wichtig, auch wenn ein Happen eine Stunde dauerte. Für normale Menschen war die Zeit eine Peitsche, die sie antrieb, jede freie Stunde kostbar und selten wie ein Barolo von 1972. Das Kloster dagegen bot einen radikalen Gegenentwurf: Zeit ist unendlich, sie geht sogar über den Tod hinaus durch Auferstehung und Einkehr ins Paradies. Die Padres kannten einen Begriff wie Feierabend nicht, sie verwoben Beruf und Freizeit perfekt. Ihr Leben war die Zeit mit sich selbst, eine Selbsterfahrung des Hier und Jetzt und zugleich die Gewissheit für die Zukunft. Immaterielles, das Ich, der Geist bekamen einen neuen Stellenwert, rückten in den Mittelpunkt der eigenen Existenz. Ja, daran konnte ich mich gewöhnen – Meditationen über Tartufi und Rotwein und sich dabei die Sonne auf den Bauch scheinen lassen.

Doch dann riss mich Eleonora abrupt aus der neu entdeckten Welt der Ruhe und nötigte mich im Zuge ihrer historischen Forschungen hinab in die beklemmende Dunkelheit der Krypta. Nun standen wir wieder im Tageslicht, über und über mit Spinnweben bedeckt, wie ich jetzt erst bemerkte, und sortierten unsere Gedanken nach dem rätselhaften Skelettfund in der vergessenen Grabstätte. »Buon giorno«, ertönte es überraschend hinter uns. Es war der Abt, der mit strahlendem Gesicht die Arme ausbreitete, als wollte ein Großvater seine Enkelkinder nach langer Zeit wieder in die Arme schließen. Dabei war es fast unmöglich, dem Oberhaupt des Klosters nicht ständig über den Weg zu laufen, im Garten, in der Küche, im Stall, nach den Andachten, beim Essen. Er schien immer und überall präsent zu sein, tauchte überraschend dann auf, wenn man nicht mit ihm gerechnet hatte. Seine Augen blickten einen an wie ein Suchender, der in die Tiefe der Seele taucht und alle Geheimnisse ans Licht holen will. Ihm schien es von Anfang an selbstverständlich zu sein, dass ich Eleonora auf dem Anwesen begleitete, allein durch die Gänge streifte oder es mir wie ein Schoßhund in den Räumen bequem machte, egal ob Menschen anwesend waren oder nicht.

»Abt Aviano, gut, dass ich Sie sehe, wir müssen reden.« Eleonora klopfte sich den Staub von der Jacke. »Wir haben eine Entdeckung gemacht. Im Gerätekeller. Da ist ...«

Der Klostervorsteher hob beschwichtigend die Hände. »Liebe Signora Gobetti, ihr Eifer ist ehrenwert, sogar im Untergrund sind Sie tätig. Obwohl ich mir Ihre Recherchearbeit anders vorgestellt habe. Doch was Sie mir erzählen wollen, muss warten. Hier oben gehen die Uhren anders. Uns läuft nichts davon.«

»Aber wir ...«

»Schon gut, schon gut, wir werden darüber sprechen. Später. Ich erwarte einen Neuankömmling, den ich begrüßen muss. Einen Künstler. Opernsänger von Beruf. Wie ich gehört habe, von einiger Berühmtheit.« Das Klosteroberhaupt nickte zum Abschied und ging weiter. Unerhört. Ich konnte gerade noch einsehen, dass er, der keine Ahnung hatte, wer Lucrezia war, nicht verstand, was der Skelettfund unter Umständen bedeutete. Dem würde ich selbst nachgehen müssen, wie immer, und das würde ich auch tun. Aber dass dieser Mönchs-Capo, der die historische Untersuchung des Klosters angeordnet hatte, sich nun einfach so abwendete, nur weil der Fund im Keller entdeckt worden war und nicht in der Klosterbibliothek über eine staubbedeckte Chronik gebeugt, wie er es gerne gesehen hätte?

Eleonora starrte ihm nach. »Wenn er nicht will, dann eben nicht. Dann müssen die Toten eben warten.«

3

Vom Tor her war Lärm zu hören. Eine kräftige Männerstimme gab Anweisungen. Ich ging um die Ecke und sah eine Limousine, vor der ein beleibter Herr mit Filzhut stand. Er mochte 55 Jahre alt sein, das Gesicht von Falten durchzogen, mit Tränensäcken unter den Augen. Sein Haar war in Wellen nach hinten gekämmt und reichte bis zum Kragen, Gel zähmte die Strähnen. Der Mann fächelte sich mit seinem Panamahut Luft zu und öffnete die Knöpfe seiner Anzugjacke. Darunter kam eine Samtweste zum Vorschein, farblich zu den Schnürschuhen passend, die in der Sonne wie Lackleder glänzten. Als ich mich näher schlich, kitzelte ein Bukett von Maiglöckchen und Lavendel meine Nase. Es gehörte zu einer Frau mit glattem, schulterlangem Haar. Sie stieg gerade aus dem Auto, ging einen Schritt, blieb mit dem Absatz ihrer Pumps im Kies stecken, stolperte.

»Diese verdammten Schuhe, ich habe mir gleich gedacht, Rinaldo, dass ich für unseren Urlaub falsch angezogen bin.« Sie konnte allenfalls knapp über 30 Jahre alt sein, Typ Aerobictrainerin, durchtrainiert und schlank. Ihr Kleid reichte kaum übers Knie und gab ein Paar wohlgeformte Beine frei. Die Anatomie ihrer Brüste zeichnete sich deutlich unter ihrer Bluse ab.

»Dolores, bella mia, du wirst in einem deiner vier Koffer schon was Passendes finden«, sagte Rinaldo. »Sieh dir das Anwesen an, fantastico! Und die Natur!« Er sog die Luft ein und ließ sie mit einem Zischen wieder entweichen. »Ich spüre schon, wie sich meine Lunge erholt. Das ist Balsam für meine Stimmbänder.«

»Du hast recht. Wir sollten diesen Ort genießen.«

»Ma pralina, sieh nur!« Rinaldo drehte sich theatralisch um seine Achse. »Das ist es! Wir haben es gefunden. Endlich. Was wir schon immer gesucht haben. Ein Retreat. Eine Klause. Eine Meditationsstätte. Echt und unverfälscht. Keiner dieser Fünfsternehotelschuppen mit ihrem aufgesetzten Charme, kein Touristenvolk, keine lästigen Gaffer. Ich danke meinem Agenten für diesen Geheimtipp.«

Abt Aviano kam ihnen entgegen, im Gefolge ein junger Mönch in Ordenstracht. »Signor Battistini, herzlich willkommen.« Der Hausherr schüttelte ihm die Hände. »Welche Ehre, einen so berühmten Tenor in unserer bescheidenen Hütte empfangen zu dürfen. Und ihre reizende Tochter. Benvenuto!«

Rinaldo Battistini sah den Abt an, als wollte er ihn mit seinem Blick durchbohren. »Darf ich vorstellen, Dolores, meine Ehefrau.«

»Signora, segne Sie Gott. Wie bezaubernd. Ich hätte Sie natürlich zuerst begrüßen müssen. Verzeihen Sie einem alten Zausel.« Erstaunlich, wie gut sich Aviano im Griff hatte und seine Überraschung verbarg. Er zog seinen Begleiter neben sich. »Das ist Fra Lavello, unser Novize. Er kümmert sich um unsere Kräuter und unsere Rosen und wird Ihnen mit dem Gepäck zur Hand gehen.«

Dolores Battistini stieß ihren Mann in die Rippen. »Schau hin. Ich kann’s kaum glauben. Echte Mönche! In unserer Zeit.« Sie ging auf Lavello zu und zupfte an seiner Tracht. »Wie süß. Ein richtiger Klosterbruder. Und ein junger noch dazu. Ich freue mich darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie müssen mir alles von Ihrem Leben hier oben erzählen. Vom Beten und so.« Sie lachte. Lavellos Gesicht färbte sich dunkelrot.

»Buon giorno.« Es klang mehr wie ein Krächzen. Der junge Mann senkte den Blick und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

Aviano verbeugte sich. »Verzeihen Sie, Signora, in aller Demut. In unserem Konvent waren wir bislang unter uns. Ora et labora – bete und arbeite, der Leitspruch des Benediktinerordens, die oberste Regel für unsere Männergemeinschaft. Unsere Mitbrüder müssen sich erst noch an Fremde gewöhnen. Und an Frauen.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass es ein solches Kleinod wie Ihr Kloster gibt. Che bello. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Auf eine positive Art.« Battistini strahlte. »Der ideale Ort zum Entspannen. Ja, ja, die Mönche wussten schon immer, wie sich's gut leben lässt.«

Dolores zog ein Mobiltelefon aus der Tasche. »Ich muss sofort Angelica erzählen, was wir hier entdeckt haben. Sie wird vor Neid platzen.« Sie tippte eine Nummer ein, wartete. »Komisch, da rührt sich nichts.«

»Ich fürchte, in den Bergen haben Sie keinen Empfang«.

»Dann schicke ich eben eine E-Mail.«

»E-Mail?« Die Augenbrauen des Abtes wanderten nach oben. »Sie meinen, per Computer? Solch technischen Schnickschnack haben wir nicht. Wir sind ein Kloster. Wenn Sie telefonieren möchten, können Sie das selbstverständlich in meinem Büro tun. Dort steht ein Apparat.«

»Hast du das gehört, Rinaldo?« Die Frau drehte sich zu ihrem Mann. »Ein einziges Telefon in der gesamten Anlage! Wie ... wie apart.«

»Wenn Sie mit Gott telefonieren wollen, brauchen Sie kein Gerät«, konterte der Abt. »Das ist ja das Schöne. Er hört Sie immer und überall. Sie müssen es nur probieren.« Aviano hatte mich an der Mauer entdeckt. »Ich möchte Sie darauf hinweisen, bei uns laufen einige Schweine frei auf dem Gelände herum.« Er deutete mit dem Finger auf mich. »Erschrecken Sie nicht. Die gehören gewissermaßen zum Inventar.«

Dolores Battistini stieß einen Schrei aus. »Ein wildes Tier! Guck, Rinaldo, wie unheimlich es aussieht. Der böse Blick.« Sie wandte sich an den Abt. »Beißt der?«

»Völlig harmlos. Wie im Streichelzoo. Abgerichtet zur Trüffelsuche.«

»Tartufi. Sie servieren frische Tartufi zum Essen?« Der Opernsänger schnalzte mit der Zunge. »Wie exquisit. Und alles im Preis inbegriffen. Ich danke Gott, dass er uns diesen Flecken Erde gezeigt hat.« Er stimmte ein Lied an: Strahlt mir ein Himmelreich, bin ich verwandelt im Herzen. Vermutlich Puccini.

Streichelzoo. Es war doch immer wieder vernichtend zu hören, für was mich die Menschen hielten. Offensichtlich für ein Dressur-pferdchen. Wenn ich auf Trüffelsuche ging, dann freiwillig. Und nicht, weil jemand mit den Fingern schnippte. Tartufi waren meine Profession. Meine Leidenschaft. Meine Liebe. Den Menschen musste ich erst noch kennen lernen, der meinte, mich abrichten zu können.

»Lavello hilft Ihnen mit dem Gepäck und zeigt Ihnen Ihr Zimmer.« Der Abt gab seinem Helfer einen Wink. »Ich wünsche einen schönen Aufenthalt.«

Ich machte mich auf die Suche nach Caruso, meinem Juniorpartner. Nach dem Haupttor stieß ich auf den Kreuzgang, eine Art Loggia, die sich um alle vier Seiten des ersten Innenhofs zog. Eine Balustrade grenzte den Gang von der Hoffläche ab, Rundbogen und Säulen gaben den Blick auf Rosenrabatten frei, durch die zwei kreuzförmige Kieswege führten. Die Stauden waren wie mit dem Lineal gepflanzt, die Triebe sorgfältig gestutzt, das Unkraut entfernt, die Erde wies ebenmäßige Muster eines Rechens auf. Im seltsamen Kontrast dazu stand der Rest der Außenanlage. Putz bröckelte von den Wänden, an einigen Stellen schaute das Ziegelwerk hervor. Der Boden, durch die Jahrhunderte blank geschliffen, wies Lücken auf, und wo die Pflastersteine fehlten, hatte man Sand aufgeschüttet. Die Kapitelle der Säulen waren mit Blumen, Heiligen und Fabelwesen verziert, an vielen Stellen fehlten die Figuren, die entweder gewaltsam herausgebrochen oder einfach irgendwann heruntergefallen waren. Von den Türen blätterte die Farbe.

Ich fand Caruso hinter einer Hecke liegend. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig.

»Aufwachen, Junior!«

Nichts rührte sich. Ebenso gut hätte ich Selbstgespräche führen können. Ich schüttelte ihn. Er ließ ein Grunzen hören und drehte sich auf die andere Seite. Ich schüttelte ihn erneut.

»Was ist?« Er blinzelte mich an, ein gescheiterter Versuch, die Augen zu öffnen.

»Du verpennst hier die Zeit, während sich draußen der Lauf der Welt ändert!«

»Hab ich das Mittagessen verschlafen?«

»Nein, aber du wirst nie erraten, was wir im Keller entdeckt haben. Und außerdem ist soeben ein Opernsänger angekommen.«

»Ein Opernsänger?« Caruso war sofort hellwach. »Der richtig singen kann?«

»Ich denke schon. So gut es Menschen eben beherrschen.«

»Ist er besser als ich?«

»Nun, ähhm, anders. Viel habe ich von ihm noch nicht gehört.«

»Pah! Menschen können nicht singen.« Wie zum Beweis stimmte er ein Lied aus Verdis »Aida« an. Wundervolle Klänge erfüllten die Luft. Man merkte eben, dass Sängerblut in Carusos Adern floss. Er stammte aus einer musisch begabten Familie.

»Wir haben im Keller eine Entdeckung gemacht...«, sagte ich.

»Erst will ich diesen Opernmenschen sehen«, unterbrach mich Caruso und sprang auf. »Mit eigenen Ohren hören.« Er trabte auf den Hof, ich ihm hinterher, vorbei an dem Gewächshaus. Kaum waren wir einige Meter gegangen, als eine Stimme rief: »Hallo, ihr beiden! Wartet auf mich.« Es war Tiffany, das Hausschwein des Klosters, besser gesagt das Maskottchen der Bewohner, denn niemand dachte wirklich daran, Tiffany einmal in den Kochtopf zu befördern. Sie bewohnte ein Strohlager im Stall neben dem Verschlag für die Hühner. Sie hatte weiche Borsten, ihre Ohren liefen spitz zu, ein anmutig geformter Rüssel schmückte das Gesicht. Unsere Ankunft hatte ihre Einsamkeit beendet – ich stellte mir das Leben nicht leicht vor, allein als Sau unter Mönchen und Hühnern. Ihre Eltern kannte sie nicht, die Mönche hatten die Waise aufgezogen und ihr ein Zuhause geboten. Tiffany begrüßte uns mit Nasewetzen, wir rieben die Rüssel aneinander, und ich roch das Parfüm von Löwenzahn und Lindenblüten. Caruso konnte gar nicht genug kriegen von dem Begrüßungszeremoniell, ich musste ihm diskret einen Stups in die Flanke geben.

»Caruso gedenkt, die neuen Gäste kennen zu lernen«, sagte ich. »Ein Tenor. Singt an der Oper.«

»So schön wie Caruso?«

»Anders.«

Dutzende von Petroleumlampen flackerten in der ehemaligen Krypta im Keller, zwei Handscheinwerfer tauchten die Gruft in Licht. In der Grube arbeitete Fra Lavello gemeinsam mit Eleonora und Fra Tettamonti. Der Abt stand mit mir am Rande des Geschehens. Er hatte sich endlich die Schilderungen der Padrona angehört und alles Nötige für eine genauere Untersuchung der beiden Skelette veranlasst. Lavello hatte er ausgewählt, weil der Novize in seinem früheren Leben etwas mit Medizin zu tun gehabt haben soll und im Kloster die Krankenpflege betreute. Er war der jüngste - und einzige – Neuzugang in der Abtei. Vor zwei Jahren hatte er plötzlich vor der Pforte gestanden und um eine Unterkunft gebeten. Die Mönche hatten ihm ein Zimmer im Gästehaus zugewiesen und ihm zu essen gegeben. Er beteiligte sich rege am Leben der Klostergemeinschaft, betete in der Kirche, half im Garten aus, legte den Verband an, als sich ein Bruder in der Küche beim Gemüseschneiden verletzt hatte. Nie drängte er sich auf, nie forderte er etwas. Über seine Vergangenheit schwieg er, allerdings fragte ihn auch niemand danach. Ein Monat verging, und Lavello bat um die offizielle Aufnahme in den Konvent. Aviano verordnete ihm eine Probezeit von einem Jahr, das Noviziat, die er bestand. Seitdem wartete der Novize darauf, ganz in den Konvent aufgenommen zu werden. Das alles hatte der Abt Eleonora nach unserer Ankunft erzählt.

»Vorsicht mit den Knochen«, warnte sein Mitbruder Tettamonti. Er trug wie alle anderen Gummihandschuhe. »Möglichst nichts berühren, damit wir die Ursprungslage der Skelette studieren können.«

Eleonora nahm einen Fetzen aus dem Sarkophag. »Sieht aus wie die Überreste eines Brokatstoffs.« Sie deutete ins Innere. »Dort liegen ähnliche Teile. Die eine Leiche hatte wohl ein Kleid an. Ein Festkleid. Brokat galt als sehr wertvoll.«

»Definitiv eine Frau, aber das Alter kann ich bei dem Zustand des Skeletts leider nicht mehr schätzen«, stellte Lavello über den ersten Schädel fest.

»Kümmert euch lieber um das andere Skelett«, sagte Tettamonti. »Das sieht äußerst seltsam aus. Wie ein Monstrum. Schwer vorstellbar, dass in diesem Knochenmachwerk eine menschliche Seele gehaust haben soll, das Bild könnte aus der Johannes-Apokalypse stammen.« Er schlug ein Kreuz. Tettamonti war ein groß gewachsener Mönch mit flinken Händen und Kraft beim Zupacken, 36 Jahre alt. Er hatte offenbar die Bibel über Jahre hinweg nicht nur gelesen, sondern geradezu inhaliert, und pflegte seine Gespräche mit Zitaten aus dem Buch Gottes zu würzen. Seine Gesichtszüge wirkten asketisch, die dunklen Augen verrieten Leidenschaft, sein Lächeln hatte etwas Einnehmendes und zugleich Schüchternes. Die Nähe zu einer Frau schien ihn zu irritieren, ständig rückte er von Eleonora ab, als würde er durch die Berührung an Ausschlag erkranken. Seit seinem 24. Jahr lebte er in der Abtei, er betreute die Bibliothek. Ursprünglich stammte er aus Rom. Sein Vater arbeitete als Lehrer, die Mutter erfüllte die Rolle der Hausfrau. Eleonora hatte er erzählt, dass er zunächst auf Wunsch seiner Eltern ebenfalls Lehramt zu studieren begonnen hatte. Aber schon bald störte ihn das Oberflächliche an der Universität, er wechselte in ein Priesterseminar. Dort hielt es der junge Mann ein Jahr aus, bevor es ihn in die Berge zog und er in der Abbazia di Benedetto landete. Seine Erfüllung fand er beim Meditieren und beim Lesen religiöser Texte, die er bald besser kannte als jeder andere im Kloster – einschließlich des Abtes.

»Was bedeutet das Kreuz zwischen den Rippen?« Aviano deutete auf das Frauenskelett. »Wu... wurde die Frau ermordet?« Er zögerte. »Mit ... einem sakralen Gegenstand?«

Eleonora zog das Kreuz heraus und hielt es in das Scheinwerferlicht. Ein dünner Schaft, der zum Ende spitz zulief. »Eisen, würde ich sagen. Die Handarbeit wirkt schlicht.« Sie drehte das Kreuz, hielt es schräg gegen das Licht. »Es sieht aus, als wäre da früher etwas eingraviert gewesen. Aber der Rost hat es unkenntlich gemacht.«

Lavello betastete die Rippenknochen. »Ich bin mir nicht sicher, ob das Kreuz im Körper der Frau steckte, ob da etwas Schreckliches passiert ist. Genauso gut könnte sein, dass es einst auf der Brust der Toten gelegen hat und im Laufe der Jahrhunderte durch die Verwesung verrutscht ist.«

»Glaubt ihr, die arme Seele – Gott hab sie gnädig – ruht hier wirklich schon sehr lange?« Die Stimme des Abtes senkte sich zu einem Flüstern. »Oder ist ...«

»Ihr meint, Padre, ob dieses Geschöpf Gottes erst kürzlich in den Sarg gepackt wurde? Welcher Beelzebub würde so etwas tun?« Tettamonti bekreuzigte sich wieder. »Ich werde gleich in der Kirche einen Rosenkranz für die ... die ... ähm ... Frau beten.«

»Wir alle sollten für die Verblichene beten«, sagte Lavello. »Es ist schwer festzustellen, wie lange sie bereits im Sarg liegt. Nach meiner Meinung jedoch nicht erst seit ein paar Jahren. Sondern wirklich schon Jahrhunderte. Aber ich kann mich irren. Ich hoffe, der Herr hat sie ins ewige Himmelreich aufgenommen.«

»Was bei dem anderen Skelett unwahrscheinlich ist.« Abscheu färbte Tettamontis Worte. »Ein Geschöpf Luzifers. Wie heißt es in der Heiligen Schrift: Und er ergriff den Drachen, die alte Schlange, das ist der Teufel und der Satan, und fesselte ihn für tausend Jahre, und warf ihn in den Abgrund und verschloss ihn und setzte ein Siegel oben darauf, damit er die Völker nicht mehr verführen sollte, bis vollendet würden die tausend Jahre.«

»Nun, das Lebewesen kam nicht gerade aus der Hölle«, sagte Lavello, »der große Kopf, der Rippenbogen, das ist eindeutig ein Tier. Der Teufel sieht anders aus.« Der Brustkorb wirkte deformiert, die Füße wie von einem Krüppel. Zwei Kohlestücke schienen die Augenhöhlen des Schädels zu markieren, das Gebiss war überdimensioniert, es wirkte, als würde das Gerippe über seine Betrachter lachen.

»Wie willst du das wissen, Bruder?« Tettamonti schauderte. »Bist du ihm bereits begegnet? Das Böse kann viele Gestalten annehmen.«

Ich wollte schon mit einem Raunzen protestieren, beherrschte mich aber. Für mich war seit dem Moment, da ich mit Eleonora das Skelett zum ersten Mal gesehen hatte, klar, was dort in dem Sarg lag, zu oft hatte ich solche Skelette schon gesehen. Aber hier, an diesem Ort ...

»Die Sache ist ganz einfach. Ich komme von einem Bauernhof, da kann ich die Überreste des zweiten Lebewesens eindeutig identifizieren.«

Eleonora sah die Mönche an. »Es besteht kein Zweifel: In der Gruft liegt ein Schwein.«

Danke. Wenigstens auf Eleonora war Verlass. Sie hatte zwar etwas länger gebraucht als ich, aber schließlich doch verstanden, dass sich hier vor uns die Überreste eines meiner Artgenossen ausbreiteten. Oder einer Artgenossin. Denn ich konnte nicht anders als an Lucrezia denken. Aber so richtig Sinn ergab auch diese Theorie nicht. Wer war diese Sau?

4

Der Abt ging zum Schrank und holte eine Flasche mit dunkler Flüssigkeit heraus. »Sie verzeihen, Signora Gobetti, aber nach der Aufregung brauche ich jetzt was für die Nerven.« Er schenkte sich ein Glas ein und trank es in einem Zug aus. Ich roch Wermut, Thymian, eine Reihe unbekannter Kräuter – und Alkohol.

»Für besondere Notfälle.« Aviano ging um seinen Schreibtisch herum, setzte sich und stellte Flasche und Glas neben sich ab. »Nehmen Sie Platz, Signora, bitte.« Er sah zu mir hinüber. »Und du wirst meinen Teppich nicht verdrecken, wenn du schon hier im Zimmer sein darfst.«

Ich funkelte ihn an. Hielt er sich für den Papst, der eine Audienz gab? Jetzt hielt man mich auch noch für einen lebenden Schmutzgenerator. Demnach zu urteilen, was ich bislang so gerochen hatte, konnten einige seiner Mitbrüder von meiner Reinlichkeit noch etwas lernen. Ich jedenfalls wusch mich jeden Tag von Kopf bis Fuß mit frischem Wasser, eine Selbstverständlichkeit für jedes Schwein. Den Hals gurgeln, Dehngymnastik für die Muskeln, den Rüssel mit einer ausgefeilten Atemtechnik durchpusten, Riechübungen – meine Morgentoilette beanspruchte ihre Zeit.