Tatort Bodensee: Der Fluch des Jackpots - Martin Oesch - E-Book

Tatort Bodensee: Der Fluch des Jackpots E-Book

Martin Oesch

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Kommissar Herbert Hutter von der Thurgauer Kriminalpolizei wird zu drei rätselhaften Todesfällen an den Bodensee gerufen. Innerhalb weniger Tage starben in einem Dorf drei angesehene Bürger: Bäcker Simoni wurde im Mehltank begraben, Lehrerin Zahner erstickte an einem Ei und Wirt Babic ertrank im See eines Hochmoors. Gleichzeitig wird bekannt, dass einer der Dorfbewohner einen rekordhohen Lottojackpot gewonnen hat. Hängen die Millionen und die Morde zusammen?

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Seitenzahl: 422

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Martin Oesch

Tatort Bodensee: Der Fluch des Jackpots

Kriminalroman

Zum Buch

Mörderische Millionen Carl Humboldt, phlegmatischer Journalist bei einem Provinzblatt am Bodensee, erhält den anonymen Hinweis, dass der millionenschwere Lottojackpot von einem Bewohner Seedorfs gewonnen wurde. Gleichzeitig sterben in dem malerischen Ort Bäcker, Lehrerin und Wirt – alle auf äußerst skurrile Art umgebracht. Wie hängen Morde und Millionen zusammen? Brachte das große Geld einen Fluch über das kleine Dorf? Nicht nur Kommissar Hutter von der Thurgauer Kantonspolizei ermittelt, auch in Humboldt erwacht ein längst verschüttet geglaubter Ehrgeiz. Er beginnt zu recherchieren und gerät dabei selbst unter Mordverdacht. Bei seiner Flucht vor der Polizei jagt er um die halbe Welt und taucht immer tiefer in die Vergangenheit des Dorfes und seiner Bewohner ein. Schließlich landet er in den Armen der Frau, die am Anfang allen Unheils stand …

Martin Oesch, Jahrgang 1962, ist von Beruf Radio-Journalist und leitete während vieler Jahre das Programm eines der erfolgreichsten Privatradios der Schweiz, des Ostschweizer Senders FM1. Er lebt in St. Gallen, wo er an schönen Tagen den Blick auf den Bodensee genießt. Im Jahr 2021 erschien sein erster Kriminalroman „Tatort Bodensee: Der Fall Winterbergs“, den er zusammen mit Ralph Weibel schrieb.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Jan-Christoph Horn / Pixabay

ISBN 978-3-8392-7300-5

Das Panettone-Gate

Arschloch, dachte Humboldt und sagte stattdessen: »Ich sehe das Problem.« Er rümpfte die Nase.

»50 Gramm. 50 Gramm!«, wiederholte Fromm mit Nachdruck. »Und zwei Franken, lächerlich.« Rote Flecken zeigten sich auf Fromms Hals, wie immer, wenn er aufgeregt war. »Wie konntest du daraus nur eine Geschichte zimmern?«

Wie ein Schulbub vor dem Rektor saß Humboldt ganz vorne auf der Stuhlkante und überlegte sich, ob Arschlochs Frage eine Antwort verdiente. Die Sekunden verstrichen. Die Luft im Chefbüro – eine Mischung aus abgestandenem Zigarettenrauch und Schweiß – war zum Schneiden dick. »Ein Konsumthema …«, begann Humboldt schließlich, machte eine Pause, betrachtete seine Fingerspitzen, was er immer tat, wenn er nicht mehr weiterwusste, und fasste neuen Mut: »Bringt mir mehr Konsumthemen, verlangst du ständig. Das war eins. Und ein gutes dazu!« Die Geschichte war folgende: Die Seedorfer Bäckerei Simoni verlangte für ihren Advents-Panettone, der seit Mitte Oktober im Verkauf war, zwei Franken mehr als letztes Jahr und machte ihn gleichzeitig 50 Gramm leichter.

»Simonis Schummeleien«, hatte der Titel des Einspalters vom letzten Mittwoch gelautet. Simoni hatte zu den Vorwürfen im Artikel keine Stellung genommen, sondern umgehend Fromms Nummer gewählt und dem Chefredaktor des Kreuzlinger Anzeigers klargemacht, was mit dem fünfstelligen Werbebudget der Bäckerei Simoni geschehen würde, sollte das Blatt keine Gegendarstellung abdrucken. »Gegendarstellung?«, hatte Fromm in sein Telefon gekrächzt. Da gab es nichts anders darzustellen. Zwei Franken, 50 Gramm. Das waren die Tatsachen. »Ich lasse mir was einfallen«, hatte Fromm Simoni versprochen und aufgehängt.

»Also keine Gegendarstellung. Sonst eine Idee, Humboldt?« Die Frage hatte er rhetorisch gemeint. Carl Humboldt war mit Baujahr 1970 der älteste Redaktor im fünfköpfigen Lokalteam des Anzeigers. Vor einem halben Jahr erst hatte er hier angeheuert und einen jüngeren Kollegen ersetzt, der bei einer Recherche auf dem Weg ins Wallis scheinbar spurlos verschwunden war.

Die Bemühungen um Arbeit, welche die Arbeitslosenkasse von ihm verlangt hatte, hatten unverhofft Früchte getragen und Humboldt in die Provinz am malerischen Ufer des Bodensees getrieben. Und hier fiel er auf, nicht nur wegen seiner Größe von einem Meter 90. Die Kurzhaarfrisur mit ersten grauen Ansätzen war top gepflegt, er trug immer ein Hemd, im Sommer Baumwoll- oder Leinenhemden, im Winter solche aus Flanell. Humboldt lenkte den Blick von seinen Fingerspitzen wieder zurück auf Fromm, kratzte sich diskret den beginnenden Bauchansatz, betrachtete die Schweißflecken unter Fromms Achseln und ließ seinen Kopf leicht nach links fallen. Was für ein verheißungsvoller Wochenstart. Schweigen. Humboldt räusperte sich. »Hier geht’s um die Glaubwürdigkeit.« Pause. »Nicht nur um meine, sondern auch die deines Blattes.« Mittlerweile war die Luft im Büro kaum mehr zu ertragen.

Gustav Fromm, übergewichtig, leicht untersetzt und Chefredaktor des Anzeigers seit der Jahrtausendwende, drehte sich langsam einmal um 360 Grad in seinem Bürostuhl, um etwas Zeit zu gewinnen. »Du lieferst mir bis Mitte Woche eine Geschichte über Simonis Panettone. Wie verdammt glutenfrei der ist, möglicherweise vegan, was weiß ich … Oder du schreibst, dass die Kunden extra von Zürich nach Seedorf fahren wegen dem exquisiten Stück Teig. Irgendwas halt!«

Humboldt beobachtete mit ein wenig Sorge, wie die Flecken an Fromms Hals langsam über dessen Doppelkinn nach oben wanderten, sodass sein halbes Gesicht ein scheckiges Rot annahm. Eine weitere Pause. Fromms Bürostuhl quietschte bei der leichtesten Bewegung leise. Das Uralt-iPhone-4 in Humboldts Hosensack, vorsichtshalber auf lautlos gestellt, vibrierte kurz. Wohl der falsche Zeitpunkt, einen Blick darauf zu werfen.

»Nun denn, wenn das alles ist«, murmelte Humboldt und machte sich daran, aufzustehen und den Rückzug anzutreten.

Fromm erhob sich ebenfalls und baute sich, obwohl mindestens einen Kopf kleiner, vor Humboldt auf. »Bieg das wieder gerade, oder der Verlust unserer verfickten Glaubwürdigkeit wird ein absurdes Luxusproblem bleiben! Tu was. Mach was!!«, bellte er ihn schließlich an.

»Und was von beidem zuerst?«, fragte Humboldt unschuldig zurück.

Sterben zu Rossini

»Tock, tock.« Dumpf hallten Simonis Schritte im 30.000 Liter fassenden Mehltank im Keller der Bäckerei. Halbjährliche Inspektion wegen möglichen Schimmelbefalls. An einem Montag, weil da die Bäckerei geschlossen hatte. Und im Oktober, bevor der Weihnachtsrummel losging. Vor allem die Nahtstellen waren heikel, weshalb Simoni sie besonders gründlich mit der Taschenlampe ausleuchtete. Die berühmte Ouvertüre zu Rossinis »Die diebische Elster« dröhnte laut durch das Kellergewölbe. Italienische Oper! Wie er sie liebte. Eine Zuneigung, die leider gänzlich einseitig war. Wenn Unmusikalität sich in einem Menschen manifestierte, dann in der Person von Federico Simoni: Mitte 40, Sohn italienischer Einwanderer und Meisterbäcker in zweiter Generation. Simonis lautes Pfeifen begleitete Rossinis meisterlich gesetzte Tonfolgen weder melodisch noch rhythmisch akkurat. Was niemandem weniger auffiel als dem gut gelaunten Simoni. Der kauerte auf dem Boden des Tanks, befreite mit einem feinen Pinselchen die letzten Mehlreste aus den Ritzen und quittierte das Nichtvorhandensein grauer Flecken mit einem zufriedenen Grunzen.

Simoni war so in die wunderbare Musik versunken, dass er nicht bemerkte, wie das Treiben am Boden des Tanks durch die Luke aus drei Meter Höhe beobachtet wurde. Was für eine großartige Inszenierung! Mit Rossini als Soundtrack, mit dem Bäcker und seinem Mehl als Hauptdarsteller und dem Keller der Bäckerei als Kulisse. Zwei dunkel gekleidete Männer griffen oben nach den ersten aufgeschnittenen Mehlsäcken, die bereitstanden, um den Tank für die nächsten Wochen wieder aufzufüllen. Einer der beiden leuchtete mit seiner Taschenlampe nach unten zu Simoni. Der, irritiert von einem zweiten Lichtkegel, unterbrach sein Pfeifkonzert, rückte die Brille zurecht und schaute verwirrt nach oben, zur Quelle des Lichtstrahls. Die ersten 20 Kilo Mehl trafen Simonis Gesicht frontal pünktlich zu einem Crescendo Rossinis. Die Brille fiel zu Boden und wurde vom Mehl begraben. Augenblicklich raubte das feine aufgewirbelte Mehl Simoni Sicht und Atem. Bei der nächsten Packung erwischte es Simonis Taschenlampe, die ihm aus der Hand rutschte und beim Aufprall ihren Dienst quittierte. Verzweifelt versuchte der Bäcker, in der Dunkelheit und ohne Brille die Orientierung wiederzuerlangen. Das Bemühen, Augen und Rachen vom Mehl zu befreien, wurde von der dritten und vierten Ladung von oben zunichtegemacht. Simoni verlor das Gleichgewicht und rutschte in seinen mit einer feinen Plastikfolie überzogenen Schuhen auf dem Mehl aus. Unaufhörlich folgten weitere Ladungen Mehl in immer schnellerem Rhythmus. Fast schien es, als ob die Täter Rossinis Tempo aufnähmen. Der Boden war bereits mit einer dicken Mehlschicht bedeckt. Auf allen vieren tastete Simoni vergeblich nach Brille oder Lampe und irrte ziellos im nebligen Weiß umher. Er musste husten, und mit jedem Mal füllte sich seine Lunge weiter mit dem feinen Pulver. Im Zehnsekundentakt landete eine Ladung nach der anderen im Tank und begrub Simoni tiefer und tiefer unter einer weißen Mehlschicht. Er atmete nur noch stoßweise und schien sich seinem Schicksal ergeben zu haben. Nach weiteren Minuten Mehldusche war – abgesehen von Rossinis fröhlicher Begleitung – endlich Ruhe. Die Leiter, über die Simoni den Tank betreten hatte, wurde ohne Eile zurück nach oben gezogen. Der Strahl der Taschenlampe suchte durch den Mehlstaub ein letztes Mal den Boden ab, der nun so friedlich dalag wie eine frisch verschneite Winterlandschaft. Keine Spur mehr von Simoni. Er war unter dem Mehl begraben. Zur Sicherheit folgten weitere zehn Säcke. Dann war Schluss. Als Letztes fiel aus der Luke ein kleiner metallener Gegenstand ins Mehl. Der verschwand augenblicklich im Weiß. Dann verschloss der ungebetene Besuch vorsichtig und fachkundig die Luke zum Tank. Nur Rossini musizierte aus den Boxen unverdrossen weiter. Der Chor sang von einem glücklichen Tag: »Oh, che giorno fortunato!«

Kartoffel mit Bohne

Er unternahm einen dritten Versuch, sein Auto in die dafür vorgesehene Parklücke zu manövrieren. Die meisten von uns wären nach dem ersten Anlauf zufrieden gewesen, er aber wollte es genau: Die vier Räder sollten exakt den gleichen Abstand zu den weißen Linien haben, die das Parkfeld begrenzten. Schließlich hatte er eine Vorbildfunktion: Kommissar Herbert Hutter von der Kriminalpolizei Thurgau war etwas pingelig, was Symmetrien betraf. Fünf Minuten später war er endlich mit dem Resultat zufrieden. Die Kupplung roch etwas streng nach verbranntem Plastik.

Während Hutter seine Schritte Richtung Polizeigebäude lenkte, glaubte er, die Blicke der Kolleginnen und Kollegen hinter den Fenstern zu spüren. Gut so, sollten sie ruhig von ihm lernen, wie Präzision geht. Stolz drückte er seinen Rücken durch, was nicht viel half: Herbert Hutter war eher kurz geraten. Das kompensierte er mit einem gemütlichen Bäuchlein, das sich jedes Jahr etwas weiter ausdehnte. Hinter vorgehaltener Hand tuschelte der Rest des Polizeicorps über ihn als »die Kartoffel«. Der braunbeige Mantel, den er unabhängig von Jahreszeit und Anlass trug, unterstrich den Gesamteindruck.

Noch drei Jahre bis zur Frühpensionierung. So lange würde Regierungsrat Streuli seine schützende Hand über ihn halten. Hutter hatte Streuli einst bei einer Razzia in einem illegalen Bordell fliehen lassen, bevor andere Beamte den prominenten Gast erkannten. Das half dem Kommissar nun in Zeiten eher bescheidener Ermittlungserfolge.

Hutter teilte das Büro mit Lisa Lehmann, die nach tadellosen Leistungen als Praktikantin auf Mitte Jahr zu seiner Assistentin befördert worden war.

»Guten Morgen, Frau Lehmann.«

Wow, vier Worte am Stück. An normalen Tagen war dies das Maximum an Gesprächigkeit. »Morgen, Chef!« unterbot sie ihn für einmal.

Lisa Lehmann war physiologisch und altersmäßig Hutters Antipode. Frisch ausgebildet an der Polizeischule, groß gewachsen und etwas zu dünn geraten hatte sie intern den Spitznamen »die Bohne« bekommen. Sie war klug, fleißig und nervte sich nicht an der mundfaulen Art ihres Chefs.

»Ist was?«, fragte er.

»Nö.«

»Gut so!« Er hoffte, das möge so bleiben, und nahm den Kreuzlinger Anzeiger zur Hand, der – immerhin sauber gefaltet und im rechten Winkel – vor ihm lag.

Nur eine Erwähnung der Thurgauer Polizei an diesem Tag im aktuellen Teil: Bei einer Geschwindigkeitskontrolle auf der A 7 kurz vor Kreuzlingen wurden 15 Automobilisten gebüßt (ja, es waren tatsächlich nur Männer!), der Schnellste war mit 157 Stundenkilometern unterwegs. Wohlige Routine. Darum blätterte Hutter schnell weiter zu seiner Lieblings­rubrik am Schluss des Anzeigers: Nachrufe.

Eine 87-Jährige aus Ermatingen: friedlich eingeschlafen.

Ein 56-Jähriger aus Illighausen: Motorradunfall.

Ein 71-Jähriger aus Hefenhofen: nach langer, schwerer Krankheit.

Hutter legte die Zeitung zur Seite. So mochte er es. Keine verdächtigen Todesfälle. Er schaute zufrieden zu Lisa Lehmann, die gar nicht wusste, womit sie den Hauch eines Lächelns bei ihrem Chef verdiente.

Leider würde der Frieden nicht lange anhalten.

Mehr Deo bitte

Wenn ich etwas richtig gut kann, dann Nichtstun. Ich bin ein Meister der Prokrastination. Und bevor Sie jetzt nachschlagen müssen: Ich schiebe gerne Aufgaben vor mir her. Eigentlich beschreibt das hässliche Fremdwort eine Arbeitsstörung. Aber für mich ist das keine Störung. Ich fühle mich wohl dabei.

Nachdem wir nun einige Zeit miteinander verbringen werden, erlauben Sie bestimmt, dass ich mich kurz vorstelle: Humboldt mein Name. Sie kennen meinen berühmten Namensvetter: den umtriebigen deutschen Entdecker Alexander von Humboldt. Das Einzige, was uns verbindet, ist der Nachname. Außer dem »Skandal« um Simonis Panettone hab ich noch selten etwas entdeckt. Mein Vorname ist Carl. Mit C, da lege ich Wert drauf.

Wie mein Senior, der sich bei der Wahl des Vornamens wenig Arbeit gemacht hat. Seinem Namen verdanke ich immerhin meine Jobs. Denn mein mittlerweile pensionierter Vater war ein ebenso geschätzter wie auch gefürchteter Dozent für deutsche Sprache an jeder Journalismus-Schule nördlich der Alpen, Verfasser diverser Standardwerke auf diesem Gebiet. Seine Stilmerkmale: immer sauber gescheitelte Silbermähne und, etwas vom wenigen, das er mir vererbt hat, stechend blaue Augen. Meine Familienverhältnisse waren – obwohl Humboldts damals in sehr wohlhabenden Verhältnissen in einem Herrschaftshaus an der Zürcher Goldküste lebten – schwierig. Meine Mutter verließ ihren tyrannischen Ehemann, als ich zehn Jahre alt war. Sie brannte mit einem von Seniors Studenten nach Deutschland durch und brach jeden Kontakt zu ihren Männern ab. So wurde ich von einer strengen Haushälterin aufgezogen: Mathilda, gesegnet mit kupferroten Haaren, die sie stets ordentlich zu einem Dutt frisiert trug. Nie konnte ich ihr etwas recht machen, und so wuchs in mir die Erkenntnis heran, dass ich geradeso gut nichts machen konnte als etwas mutmaßlich Schlechtes, das jedenfalls nicht gefällt.

Mein Vater war oft außer Haus. Er unterrichtete an Journalistenschulen im ganzen deutschsprachigen Raum. Wir hatten zeitlebens kein besonders herzliches Verhältnis. »Du bist ein talentierter Taugenichts«, meinte der Senior zum Junior. Immerhin: Der Name Humboldt führt nach wie vor zu leichten Beben in Journalistenkreisen. So glaubt mancher Chefredaktor, sich mit dem Namen auch Qualität einzukaufen. Wie vor knapp einem Jahr auch Gustav Fromm vom Anzeiger.

»Und? Wie lief’s?«, fragt Sunny, als ich das Chefbüro verlasse.

»So gut, wie’s unter diesen Umständen gehen konnte«, antworte ich. »Dicke Luft jedenfalls. Und wenn du ihm nicht das Deo wechselst oder dafür sorgst, dass er überhaupt eines benutzt, befürchte ich für den Frühling mit steigenden Temperaturen noch Schlimmeres.«

Sonja Krüger, dank ihrem sonnigen Gemüt von mir und dem Rest der kümmerlichen Truppe »Sunny« gerufen, ist ein ehemaliges Foto-Modell und auch heute noch, geschätzt Mitte 30 und seit rund zwei Jahren Fromms Assistentin, eine erhabene Erscheinung: Eine Frau, die, wo immer sie auftritt, auffällt, nicht zuletzt dank ihrer Größe von knapp einem Meter 80. Wir begegnen uns beinahe auf Augenhöhe.

Sunny übergeht meine Anspielung wegen des Deos routiniert. Von ihrer Liaison zu Fromm weiß die gesamte Redaktion, obwohl sich die beiden nach Kräften bemühen, diese so diskret wie möglich zu halten. Ich frage mich, was eine Frau wie Sunny an einem Mann wie Fromm reizt. Seine Macht vielleicht? Oder das fast schon mütterliche Bemühen, einen wie Fromm noch umzuerziehen, ja ansatzweise mitgestalten zu können?

»Wenn du mir in den nächsten Tagen einen Termin bei Simoni organisierst …«, bitte ich Sunny.

»Simonis Schummeleien?«, fragt sie zurück.

»50 Gramm, 2 Franken«, bestätige ich. Da vibrierte mein Handy ein zweites Mal im Hosensack. Später. Genug geärgert für heute. Jetzt war es Zeit fürs Feierabendbier. »Bis morgen!«

Sunny sieht mir nach. Ich spüre ihren Blick. Schöner Arsch, denkt sie bestimmt. Dabei meint sie den Körperteil und noch nicht den Charakter.

Endlich eine gute Geschichte!

Schauen Sie sich Seedorf von oben an. Sofern Sie überhaupt etwas sehen, denn der Nebel hielt sich schon jetzt, zu Beginn des Herbsts, hartnäckig am Ufer des Bodensees. Seedorf war mit knapp 1.000 Einwohnern eine der kleinsten Gemeinden in der Region. Die Häuser hatten sich wie bei einer Modelleisenbahn ans Wasser geschmiegt und wirkten bei solchem Wetter besonders verschlafen. Das Inventar war mittlerweile recht übersichtlich: zentral gelegen ein Bahnhof mit Zugshalt jede Stunde, einmal seeauf-, einmal seeabwärts. Immerhin im Takt. Die Umfahrungsstraße, vor drei Jahren mit Pomp eröffnet, sorgte zwar für weniger Abgase, sog aber gleichzeitig noch das letzte Leben aus dem Dorf. Strukturwandel nannte sich das wohl in Ökonomen-Deutsch. Wer konnte, floh Richtung Stadt. Handwerksbetriebe verschwanden, eine Drogerie und die Metzgerei ebenso. Die Spezialitäten-Bäckerei Simoni hielt sich tapfer, dazu das Hotel Seehof mit dem Mehrzwecksaal für Gemeindeversammlungen und das Weihnachtsessen des FC Seedorf, der auf einem holprigen Fußballfeld eine kleine Junioren- und eine jedes Jahr weiter dezimierte Senioren-­Abteilung beschäftigt hielt. Außerdem gab es ein kleines Schulhaus mit noch vier Klassen. Die Menschen bewohnten winzige Einfamilienhäuschen aus den 50er- oder 60er-Jahren oder eines der schmucklosen Mehrfamilienhäuser, die in den 90er-Jahren zwischen Bahnhof und Umfahrungsstraße entstanden waren. Im Dorfkern gegenüber der Kirche hielten sich tapfer einige für den Thurgau typische Riegelhäuser.

Die Lokalredaktion des Anzeigers hatte sich günstig in den verwaisten Büroräumlichkeiten einer ehemaligen Großschreinerei eingemietet. Von dort aus versorgte sie die Zentrale in Kreuzlingen mit Stoff vom westlichen Schweizer Bodenseeufer. Gerüchte über eine Schließung der lokalen Außenstelle machten immer wieder die Runde, was der Laune der dort Beschäftigten nicht außerordentlich förderlich war.

Während Humboldt durch das verlassene Dorf zu seinem verfrühten Feierabendbier schlenderte, nahm er sich vor, mal wieder nachzufragen, was an den Gerüchten dran sei, dass auch der letzte Lebensmittelladen, eine Migros mit dem Nötigsten für den täglichen Bedarf, das Dorf verlasse. Gute Konsumgeschichten waren rar.

Humboldt betrat das Lokal, und da stand sie: Haare und Augen wie dunkles Öl, eine Haut so ebenmäßig wie frisch geschliffener Kristall, meist von einem Duft nach feinstem Patchouli umgeben, dazu ein Gang wie ein Engel auf der Wolke: Shaila war eine Schönheit, mehr noch: die ästhetische Perfektion in der Gestalt einer Frau. Und damit der Hauptgrund, warum das »Red Tiger« überhaupt noch ab und zu Gäste hatte. Ein bescheuerter Name für ein Lokal in einem Kaff wie Seedorf, geschuldet der ehemaligen Wirtin und Mutter von Shaila. Mala. Sie stammte aus Sri Lanka, hatte dort einen Schweizer Touristen kennen- und lieben gelernt und wollte mit dem Tiger etwas Heimat in die Schweiz bringen. Der Kobelt Franz, Goalie in der Seniorenfußballmannschaft des FC Seedorf – das, weil groß gewachsen –, mit schlaksigem Gang und gelassenem Gemüt, verliebte sich Mitte der 80er-Jahre während eines Schnorchelurlaubs in die Frau aus Sri Lanka. Shaila kam exakt zehn Monate nach deren ersten Begegnung auf die Welt und schien sich das Beste aus den beiden Gen-Pools geschnappt zu haben. Leider war dem Hausherrn kein langes Leben beschert gewesen: Über 20 Jahre Wirteleben forderten ihren Tribut, und so starb der Kobelt Franz mit 55 an einem Herzinfarkt zwischen den Pfosten des FC Seedorf. Gerade noch hatte er einen Penalty abgewehrt, da brach er unter der Last des Jubels seiner Mitspieler zusammen. Mala, nun ihrerseits mit gebrochenem Herzen und mit wachsendem Heimweh, kehrte ein Jahr später nach Sri Lanka zurück und hinterließ ihrer Tochter, die hier aufgewachsen war und sie nicht begleiten wollte, das Lokal.

»Carl. Wie schön!« Shaila war eine der wenigen im Dorf, die ihn beim Vornamen nannte. »Wie immer: ein Lion?«

Dass im Tiger ausgerechnet Löwe serviert wurde, hatte Humboldt nie eingeleuchtet. Aber Gespräche mit Shaila über Bier waren nicht zielführend.

»Gerne!« Shaila zuliebe trank er das importierte und darum stark überteuerte exotische Gebräu. Dazu servierte sie eine Schale mit gerösteten Kichererbsen. Humboldt genügte das. Er genoss es, in Shailas Nähe zu sein. Denn sie war nicht nur schön, sondern ebenso schlau, wenn nicht sogar noch etwas schlauer als schön. Shaila war Humboldts beste Freundin und – das musste er zugeben – momentan auch die einzige. Natürlich hatte Humboldt viele Bekanntschaften, Frauen mochten große Männer wie ihn. Leichtes Spiel, am Anfang. Aber immer, wenn’s ernst wurde, flüchtete er. Das letzte Mal hatte ihn seine Flucht den Job gekostet. Die Lehre aus seiner Affäre mit Gisela W., Chefredaktorin der Mittelland-Zeitung: »Don’t fuck your boss.« Zumindest diese Gefahr drohte hier beim Anzeiger nicht, dachte Humboldt mit einer Mischung aus spontaner Dankbarkeit und leichter Übelkeit.

Das Lokal war leer. Typisch für einen nebligen Abend im Oktober. Das Lion schäumteim Glas. Humboldt nahm einen kräftigen Schluck und erzählte Shaila vom Gespräch mit Fromm, was sie etwas unsensibel, aber korrekt mit »Luxusproblem!« kommentierte. »Und sonst?«

Humboldt dachte nach. Da war doch noch was. Kurz bevor das Schweigen peinlich wurde, fielen ihm die SMS wieder ein. Er fingerte sein iPhone aus der Hosentasche, und da waren sie, die beiden Mitteilungen:

Heute, 15.21

Gute Geschichte! Interesiert?

 

Heute, 15.43

Geben Sie heute noch Bescheid.

Sonst verfellt das Angebot

Humboldt kannte die Nummer des Absenders nicht. Es war keiner seiner abgespeicherten Kontakte.

»Schau mal«, sagte er und zeigte Shaila die Nachrichten. Eine feine schmale Falte bildete sich auf ihrer Stirn. »Schlampig«, meinte sie.

»Was, schlampig?«

»Zwei Schreibfehler. Außerdem fehlt der Punkt. Hinter das Wort ›Angebot‹ gehört ein Punkt. Unsorgfältig jedenfalls, oder er hatte es eilig.«

»Oder sie.«

»Sie?«

»Das könnte auch eine Frau geschrieben haben.«

»Kaum. Ein Ausrufezeichen hinter ›Gute Geschichte‹. Das sieht ganz nach einem Mann aus. Angeber.«

Der 187-Millionen-Gewinn

Humboldt lag auf dem Sofa in Zimmer 11, trank billigen Rotwein, wenn auch Bio, und wartete. Im Pay-TV lief ein Fußballmatch, Premier League, Dritter gegen Elfter. Wer tat sich so was an? Der Ton war abgedreht. Humboldt hatte so immerhin das Gefühl, nicht allein zu sein, und wurde doch nicht gestört beim Nichtstun. »Bin interessiert!«, hatte er noch im »Red Tiger« während des dritten Biers geschrieben. »Nimm das Ausrufezeichen weg«, hatte Shaila geraten. »Bleib entspannt und mach einen Punkt.«

Das war vor drei Stunden gewesen. Seither wartete Humboldt. Seine »Wohnung« war ein Hotelzimmer im Seehof: hartes Bett, enge Dusche, kleine Küche, das letzte Mal Anfang der 90er-Jahre renoviert. Es roch nach abgestandener Feuchtigkeit. »Bekommst du nicht mehr raus aus den alten Mauern«, hatte der neue Seehof-Chef Milo Babic schulterzuckend gemeint. »Verwohnt« nannte man so was wohl. Das Zimmer war ein Spiegel von Seedorf, von Humboldt selbst: die besten Zeiten schon hinter sich. Die Unterkunft hatte einen Vorteil: 750 im Monat, inklusive. Also finanziell seinem Journalistenlohn angemessen. Und Babic nahm so zumindest mit einem der zwölf Zimmer des Hauses noch etwas Geld ein.

Als Humboldt entspannt auf dem Bett lag, wanderten seine Gedanken zurück zu Shaila. Er hatte sie sehr lieb, und wer weiß, was wäre, wenn es da nicht den beträchtlichen Altersunterschied gäbe. Sie war Ende 20, er bald 50. Dazu kam die latente Unlust von Humboldt, sich auf richtige Arbeit einzulassen, das galt für Berufliches ebenso wie für Beziehungsarbeit. So waren sie immerhin beste Freunde, without benefits. Vorläufig. Humboldt schloss da für sich nichts aus.

Ein unspektakuläres 0:0 wurde abgepfiffen, und bevor die Expertenrunde ihre unerträgliche Analyse beginnen konnte, zappte sich Humboldt durch die restlichen knapp hundert Sender und schaltete schließlich den Kasten aus. Noch immer keine Antwort. Vielleicht war der Punkt anstelle des Ausrufezeichens doch zu entspannt gewesen, zu wenig interessiert. Eine gute Geschichte, das würde ihm beim Anzeiger etwas Luft verschaffen und ihm möglicherweise sogar den Kreuzgang zu Simoni ersparen. Entspannt bleiben … Shaila hatte gut reden. Ein weiteres Glas Rotwein unterstützt die Entspannung, dachte Humboldt und griff nach der Flasche, als sein Handy diskret Laut gab:

Heute, 22.51

187 Millionen für Seedorf.

Rekord-Jackpot geht ins Toggenburg!

Humboldt starrte aufs Display, trank einen großen Schluck Wein und tippte:

22.52

Quelle?

22.53

Der Gewinner!

Ein Tag mit guten Fragen

Meine Zunge fühlt sich am nächsten Morgen leicht pelzig an. Da hilft alles Bio nichts. Aber wenigstens ist der Rest des Kopfs nach einer ausgiebigen Dusche und dem zweiten Kaffee schnell wieder klar. Zeichen von beginnendem Alkoholismus?

Leider hat sich Shaila gestern Abend nicht mehr gemeldet. Es war auch schon nach 23 Uhr, als ich ihr die aufregende Neuigkeit mitteilen wollte. Denn die SMS ergeben Sinn. Tatsächlich hat die Ziehung der Euromillions letzten Freitag nur einen Gewinner ermittelt, der einen dreistelligen Millionenbetrag einstrich. Die Nachricht stand am Samstag auch im Kreuzlinger Anzeiger auf der Seite mit den vermischten Meldungen. Wohin das Geld fließt, ging aus der ersten kurzen Agentur-Nachricht nicht hervor. Ich erinnere mich: Wird da nicht üblicherweise das Land, sogar die Region, wo der Schein aufgegeben wurde, auf Nachfrage bekannt gegeben? Keine großartige Recherche, aber solange es sonst niemand tut, ist es mein Primeur. Und den kann ich, angesichts des Panettone-Gates, gut gebrauchen. Das ist mein Plan für heute. So was hab ich selten.

Schöne Schlagzeile jedenfalls: »Millionen für Seedorf«. Je länger ich über die mögliche Geschichte nachdenke, desto besser gefällt sie mir. Ein Dorf wird von Millionen geflutet: Wer ist der Gewinner? Alle rätseln, verdächtigen einander. Der Bäcker den Wirt, der Pfarrer den Ministranten, der Schüler den Lehrer. Wer verhält sich auffällig? Wer gibt als Erster ohne Grund eine Runde im Seehof aus? Und was passiert mit den Millionen an Steuereinnahmen, die fällig werden? Wo nicht viel ist, wächst der Neid besonders gut.

Das Ding kann tatsächlich groß werden. Ich wähle mit einer für mich ungewohnten Dynamik ein frisches Hemd und kontrolliere – das hat mir die verflossene Gisela beigebracht – im Badezimmerspiegel die Nasenhaare, respektive die gewünschte Abwesenheit derselben.

Vom Seehof in die Redaktion des Anzeigers ist es nur ein fünfminütiger Spaziergang. Fast alles in Seedorf lässt sich in fünf Minuten zu Fuß erreichen. »Richte Fromm aus, er soll mir den Aufmacher für morgen freihalten«, bitte ich Sunny, als ich die Redaktion betrete.

»So früh so dynamisch? Wie kommt’s? Und nicht einmal ein ›Guten Morgen, liebe Sunny, hervorragend siehst du heut mal wieder aus!‹«Ich habe ausnahmsweise keine Lust auf einen kurzen Flirt. (Wie einfach der wäre: »Das tust du doch immer!«) Sie ruft mir nach: »Aber gerne doch!« Schon knallt die Tür hinter mir zu.

Bis Mittag brauche ich Gewissheit, ob die Jackpot-­Geschichte tatsächlich eine ist. Ich schiebe einen Stapel mit Notizen für den Nachruf auf eine vor Monatsfrist verstorbene langjährige Anzeiger-Abonnentin beiseite und starte den PC. Und warte. Und warte. Und warte, bis sich auch das Betriebssystem bequemt, die Arbeit aufzunehmen. Dann meldet sich mein Handy. Shaila, endlich!

Ich erzähle ihr von den beiden neuen Mitteilungen seit den Feierabendbieren gestern. Nach kurzem Nachdenken sagt sie bestimmt: »Carl, überleg! Da treibt jemand ein Spiel mit dir! Du bist Journalist und kein Treuhänder. Was ist sein Interesse an dir? Warum soll ein Lottogewinner freiwillig auf sich aufmerksam machen wollen?« Die Frage hat was.

Noch ein Todesfall

Cornelia Zahner war eine langweilige Person. Als Roman­figur würde sie wohl früh in der Geschichte geopfert werden, damit der Leser wegen ihr nicht schläfrig wurde. Kein Wunder sollte genau dies auch hier und heute ihr Schicksal sein, als sie einem alten Bekannten leichtsinnigerweise die Tür öffnete.

Mit Ende 30 sah Frau Zahner aus wie Mitte 50. Und meist fühlte sie sich auch so. Ihre Haut war so grau wie ihr Alltag, ihre Haare so spröde wie ihr Charakter. Seit ihr Mann, damals wie sie Lehrer an der Seedorfer Schule, vor 13 Jahren unter nie geklärten Umständen nach einer Weihnachtsfeier den Weg nach Hause verpasst hatte und tags darauf erfroren im Wald aufgefunden worden war, hatte sich die Witwe Zahner weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und war stattdessen religiös geworden. Ihr Teilzeitpensum als Biologie-Lehrerin versah sie unauffällig, nie gab es Klagen, nie gab es Lob. Ihr Gemeinderatsamt als politische Vorsteherin des Schulbetriebs im Nebenamt und der sonntägliche Besuch der heiligen Messe in der katholischen Kirche Seedorf blieben ihre einzigen öffentlichen Auftritte außerhalb der Schule. Cornelia Zahners wahre Leidenschaft galt den Orpington-Hühnern, die sie in ihrem Garten hielt. Aus England stammend waren sie größer und schwerer als die einheimischen Rassen: also hervorragende Eier- und Fleischproduzenten. Der Seehof hatte sich als Abnehmer für beides bereiterklärt. Milo Babic und der verstorbene Klaus Zahner waren vor dessen Tod beste Freunde gewesen. Babic fühlte sich darum der Hinterbliebenen verpflichtet, ihr mit dem regelmäßigen Kauf von Hühnerfleisch und -eiern etwas Gutes zu tun.

Ansonsten interessierte sich niemand für die Hühner, und niemand interessierte sich für Cornelia Zahner. Dass ihrem Leben an einem gewöhnlichen Dienstag ein so eigenwilliges und gewaltsames Ende bereitet würde, war so gesehen eine überraschende und für sie selbst durchaus unpassende Wendung. Und dass dabei ein Ei aus ihrem Hühnerstall eine entscheidende Rolle spielte, war bittere Ironie. Opfer und Täter begrüßten sich herzlich, wie es sich für Altbekannte gehörte. Als die beiden sich kurz nach dem Eindunkeln mit zwei Gläsern Eierlikör aus eigener Produktion zuprosteten, schmeckte sie das starke Beruhigungsmittel, das der Besuch unbeobachtet in ihr Glas gegeben hatte, in der klebrig-süßen Masse nicht.

»Ich bin ja so gerne in Ihrer Gesellschaft«, sagte sie frei von jeglichen Anzüglichkeiten. Nach dem Gottesdienst-Besuch am Sonntag und den Montagslektionen in der Schule fiel sie tags darauf öfter in ein emotionales Loch. Da kam ihr Besuch gerade recht. »Erzählen Sie, wie war Ihr Wochenende?« Trotz langer Bekanntschaft siezten sie sich.

»Das Alter, meine Liebe. Es strengt mich tatsächlich immer mehr an.« Der Mann tat einen tiefen Seufzer und schaute nachdenklich in die zähe gelbe Flüssigkeit. »Da kommt so ein Gläschen Zaubertrank gerade recht. Sehr zum Wohle, uns beiden!«

Schon nach dem zweiten Schluck dämmerte Cornelia Zahner in ihrem weichen Fauteuil langsam weg. Ich vertrag den Alkohol nicht mehr, dachte sie noch. Immer nur die wenigen Schlückchen Messwein …

»Cornelia? Liebe Frau Zahner, wie geht es Ihnen?«, fragte ihr Gegenüber. Zunge und Lippen gehorchten ihr nicht mehr. Ihr Blick wurde glasig, versuchte, einen Punkt zu fixieren. Vergeblich. Der Gast saß ihr nun wortlos gegenüber. Er genoss kurz den Moment der Rache und griff dann in seine Jackentasche. Als ihr ohne Gegenwehr ein ungeschältes Orpington-Ei in den Rachen geschoben wurde, vernahm sie nur noch knapp die Worte: »Für Ihr Schweigen. Damals.«

Dann wurde die Luft knapp und ihre Welt dunkel. Cornelia Zahner und das Leben: Sie wurden voneinander erlöst.

Im Rausch des Geldes

»Wart nur, Sunny. Heut schreiben wir Geschichte.« Es war fünf vor zehn, und Humboldt hatte die Infos zusammen für den ersten Aufmacher zum Thema »Jackpot für Seedorf«: Tatsächlich hatte Swisslos bestätigt, dass der 187-Millionen-Schein in Kreuzlingen abgegeben worden war, nur knapp 20 Autominuten von Seedorf entfernt. Weitere Infos, insbesondere zum Gewinner, gab es natürlich keine. Die brauchte er im Moment aber auch nicht. Die Story würde ohnehin für genügend Wirbel sorgen. Die Frage war nur, ob Fromm die Quellenlage genügte.

»Zur Not setzen wir ein Fragezeichen dahinter«, schlug Humboldt in der Redaktionssitzung selbst vor.

»Was, Fragezeichen??? Das hat ein verdammtes Ausrufezeichen verdient!!!« Der Brauch des Lächelns war Fromm auch in diesem Moment gänzlich unbekannt. Immerhin schien Sunny Humboldts Ratschlag in Sachen Deo für den Chef beherzigt zu haben. Ein billiger Duft, zu stark aufgetragen, lag in der Luft.

»Aufmacher, vierspaltig, dazu zwei Kästchen: eins zu den erwarteten Steuereinnahmen, eins mit der Stellungnahme der Gemeindepräsidentin. Alles für morgen. Online warten wir noch. Sonst haben die nationalen Geier das morgen auch schon im Blatt«, befahl Fromm.

Das sah nach Arbeit aus und war nur sehr bedingt im Sinne Humboldts. »Könnten nicht auch Graf und seine Praktikantin …?«, fragte er mit Blick auf den 10 Jahre jüngeren Kollegen, der sich meist mit Belanglosigkeiten aus dem Vereinsleben der Seegemeinden aufhielt. Als er seinen Namen hörte, schweifte Grafs Blick Richtung Fenster und fixierte dort einen Punkt, der unendlich weit entfernt sein musste.

»Bitte, Humboldt. Da hast du einmal im Leben eine richtig fette, gute Geschichte und willst sie gleich wieder abgeben? Kommt nicht in Frage«, meinte Fromm bestimmt. »An die Arbeit. Und vorläufig Stillschweigen, verstanden?« Kollege Graf schwankte zwischen Neid für Humboldts gute Geschichte und viel Schadenfreude für die Mehrarbeit, die nun auf den Streber wartete.

»Ach Humbi! Ich bin ja sooo stolz …«

»Humbi« war Sunnys Rache wegen Humboldts »Sunny«.

»Und sag meinem Schwesterchen einen lieben Gruß.« Simone Krüger war Sunnys zwei Jahre jüngere Schwester. Mit nur halb so viel Schönheit gesegnet und halb so wenig Skrupel versehen wie Sunny hatte es Simone mit Mitte 30 problemlos an die Spitze der politischen Gemeinde Seedorf geschafft, wo sie ebenso taten- wie auch hilflos der Entvölkerung zuschauen musste. Aber die Kombination von »Politik« und »Ehrgeiz« und »Selbstvertrauen« und »Frau« zündete auch hier auf dem Land, wo fähiges Personal rar war, tadellos. Ihren höheren politischen Ambitionen kam der mutmaßliche Millionensegen für Seedorf bestimmt entgegen, war sich Humboldt sicher. Nur: Wie heftig dieser Segen ausfallen würde, darüber musste er sich erst mal schlaumachen.

»Steueramt, Hartmann.« Nach nur zweimal Klingeln nahm Boris Hartmann ab. Wer mochte schon Steuerbeamte? Hartmann litt wenig darunter: noch sieben Jahre bis zur frühzeitigen Pensionierung. Aussitzen!

»Hier Humboldt vom Anzeiger. Ich rufe an wegen eines Lottogewinns. Wie werden, sagen wir mal: 180 Millionen besteuert?«

Hartmann leckte Blut. »Interessante Frage. Erzählen Sie mir, warum Sie das wissen wollen?«

»Es geht um eine Geschichte, die morgen im Blatt steht.«

Vom Kneten des Teiges

»Zweimal Groß- und Kleinschreibung verwechselt, vier Komma-Fehler und einmal Dativ statt Genitiv.« Es hörte sich an wie eine Bestellung im Restaurant. Gerade noch rechtzeitig vor Redaktionsschluss schickte Shaila die gegengelesenen Texte an Humboldt zurück. Meist hatte sie zwischen den wenigen Gästen im »Red Tiger« Zeit dafür. »Das war schon schlechter, lieber Carl.« Ihr gelang es, dabei nicht herablassend zu tönen. Humboldt nahm die Korrekturen gerne entgegen. Lieber so, als wenn Chef Fromm, der blöde Graf oder gar die Praktikantin die Fehler entdeckt hätten.

Der Hauptartikel handelte schmucklos die Fakten ab, die an sich schon spektakulär genug waren: »Rekord-Jackpot für Seedorf« lautete die Schlagzeile. Der Lottoschein, der am Freitag als einziger die richtigen Zahlen bei den Euromillions tippte, sei laut Auskunft von Swisslos in Kreuzlingen abgegeben worden. Und gemäß Informationen, die dieser Zeitung exklusiv vorlägen, sei der Gewinner oder die Gewinnerin in Seedorf wohnhaft. Einer von 984 Einwohnern, abzüglich der Kinder: ein überschaubares Trüppchen von Verdächtigen. Jeder konnte es sein: der Nachbar, die Arbeitskollegin, der Lehrling, der in der Migros die Gestelle auffüllte. So leicht würde niemand in den nächsten Tagen Gipfeli in der Pause spendieren, ohne sofort verdächtigt zu werden, der Gewinner zu sein.

Im ersten Kästchen, das Humboldt zum Aufmacher stellte, rechnete der Chef des Steueramts, Boris Hartmann, vor, dass je nach Religionszugehörigkeit und Zivilstand des Gewinners in der Wohngemeinde allein zwischen 18 und 25 Millionen Franken Steuern fällig würden. Die genaue Veranlagung hinge noch von Details ab. Aber er rechne mindestens mit einem Betrag im zweistelligen Millionenbereich, gab Hartmann betont emotionsfrei zu Protokoll. Viel Geld jedenfalls, das, so der Tenor des zweiten Kästchens, in nachhaltige Projekte zum Wohle der Gemeinde, ja der gesamten Bodensee-Region eingesetzt werden sollte. Natürlich entscheide, so Gemeindepräsidentin Simone Krüger diplomatisch, am Schluss der Stimmbürger, ob das Steuergeld in einen Innovationspark oder einen Wellness-Tempel fließe. Sie sei jedenfalls bestrebt, das weitere Vorgehen so transparent und zügig wie möglich abzuwickeln. Die Einberufung einer Gemeindeversammlung in den nächsten Tagen scheine ihr ein probates Mittel dafür.

»Schöne Leistung«, murmelte Fromm in sich hinein, als er Humboldts Texte las. Er tat sich sichtlich schwer mit Lob. Immerhin stand das Simoni-Panettone-Problem nun nicht mehr ganz oben auf der To-do-Liste.

»Der Online-Push geht erst um 8 raus …« … damit sich die schwindende Zahl der Zeitungsabonnenten nicht einmal mehr verschaukelt fühlt, beendete Humboldt für sich den Satz.

»Überleg dir eine Handvoll Folgegeschichten. Den Teig kneten wir noch eine ganze Weile«, so Fromm. Humboldt glaubte gern, dass dieses Bild keine Anspielung auf Simonis Panettone war. So viel Esprit wollte er seinem Chef nicht unterstellen.

Einmal mehr das Betteln versäumt, dachte Shaila abends beim Kassensturz. Wie lange konnte sie so das »Red Tiger« noch halten? Vaters Lebensversicherung gab einen gewissen Rückhalt. Aber das Geld löste sich wegen der Fixkosten des Betriebs schneller auf als ein Eiswürfel an der Sonne Sri Lankas. Nicht, dass Shaila diese gekannt hätte: Sri Lanka blieb eine Idee, genährt durch die Erzählungen ihrer Mutter von früher. Nun steckte sie jedenfalls in Seedorf fest, spürte die neidischen Blicke der einheimischen Frauen und die lüsternen der Männer. Doch ihrer Mutter in ein ihr unbekanntes Land nachreisen, das für sie auch keine Heimat war? Die Komfortzone Schweiz verlassen?

Die Bequemlichkeit, da war Shaila dem Phlegma Humboldts durchaus nah. Überhaupt: der Carl. Den mochte sie sehr und hoffte inständig, dabei nicht einem lange vermissten Vaterbild nachzujagen. Sie freute sich, jetzt und heute, mit ihm über diese komische Jackpot-Geschichte. Die schien ihm einen unbekannten Elan zu verleihen. Bleib dran, Carl! Aber lass dich nicht reinlegen.

An Tagen wie diesen wünschte sich Shaila eine starke Person an ihrer Seite. Jemand, der nicht blendete und sich auch nicht von Shailas attraktivem Äußeren blenden ließ. Jemand, der sie ernst nahm, der ihr hier half. Sie legte Wert auf Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit. Shaila träumte weiter. Was würde sie wohl mit 187 Millionen Franken anstellen? Erstaunt stellte sie fest, dass sie keine schnelle Antwort hatte. Glück kaufen? Frieden stiften. Sinn finden! Genau, das war’s: Einen Sinn fürs Leben finden, weil sie ja doch davon ausging, dass es ihr einziges war. Und hoffentlich noch etwas dauern würde.

Push it!

»Geldregen für ein kleines Dorf«, titelte der Tagesanzeiger online. »Millionen-Jackpot! Wer ist der Gewinner?«, fragte blick.ch. Tatsächlich schaffte es eine Meldung des Kreuzlinger Anzeigers zum ersten Mal seit Menschengedenken in die überregionalen Medien. Sogar die nationale Nachrichtenagentur vermeldete gewohnt trocken, aber wie alle anderen immerhin mit Bezug auf den Anzeiger: »Bodensee-Dorf freut sich über Millionen. Gemeindepräsidentin verspricht nachhaltige Entwicklung.«

Sunny füllte die Gipfel aus Simonis Bäckerei in eine Schale und spendierte dazu – auf Anregung von Fromm – eine Schachtel Nespresso-Kaffee-Tabs zu Handen der Redaktionssitzung. So was verstand er unter Wertschätzung. »Gratulation!«, murmelte Fromm, mehr zu sich selbst als in die Runde.

»Wollte mit Simoni einen Termin abmachen«, flüsterte Sunny Humboldt zu. »Aber der war nicht in der Bäckerei heut Morgen. Das Personal schien ebenso erleichtert wie ratlos. Seine Frau sagte was von Weiterbildung.« Egal. Beide wussten, dass die Simoni-Geschichte nun sowieso für einige Tage in den Hintergrund rücken würde.

»Gratulation!«, wiederholte sich Fromm. »Schön gemacht, Team! Aber nun legen wir nach«, begann er die Redaktionssitzung am abgegriffenen und leicht schwankenden Stehtisch.

Arschloch, dachte Humboldt einmal mehr.

»Ich will morgen die Seite 1 voll damit haben: Umfragen, Reaktionen, Einschätzungen. Und ab jetzt wird alles sofort gepusht. Wir behalten den Lead!«, plusterte Fromm sich auf. Natürlich war das Quatsch. Natürlich würden die anderen nun übernehmen, die öffentlich-rechtlichen TV- und Radio-Stationen mit ihren ungleich größeren Möglichkeiten, die nationalen Boulevardzeitungen, die sich wie hungrige Heuschrecken auf die »Jackpot-Geschichte« stürzten. Humboldt lehnte sich zurück und nahm sein iPhone in die Hand. Er öffnete die letzte Unterhaltung mit dem Unbekannten und tippte.

Heute, 10.44

Zufrieden?

10.57

Gut gemacht.

Kompliment. Aber jetzt

beginnt die Arbeit. Bereit?

Humboldt wunderte sich. Kein Schreibfehler diesmal. Alle Satzzeichen korrekt. Er zögerte, bevor er kurz und bündig tippte:

11.01

?

Etwas gestorben wird immer

Jetzt fängt der andere auch noch an mit Arbeit. Ich trotte missmutig zurück in mein Büro. Du kannst mich mal! Schieb mir ein paar von deinen Millionen rüber, und ich zeig dem Fromm und seinem Anzeiger den Mittelfinger. Das journalistische »Feu sacré«, das mein Senior ständig seinen Schülern predigt, ist bei mir seit geraumer Zeit nur noch ein zartes Flämmchen, das beim leichtesten Windstoß ganz auszugehen droht. Meinen Ehrgeiz haben die Chefs Stück für Stück zurechtgestutzt. Sie waren entweder feingeistige Despoten, ungerechte Choleriker, weltfremde Autisten oder – wie in Fromms Fall – eine ungenießbare Kombination aus all dem.

Als ich kurz vor Mittag immer noch auf das leere weiße Rechteck auf dem Bildschirm starre, muss ich zugeben: Ich stecke in einem kreativen Loch. Hab keinen Plan für einen ersten Satz zum Thema Lottogewinn. Soll ich das Business wechseln? Als Bierzapfer ins »Red Tiger«? Bahnhofsvorstand in Seedorf? Und so beginne ich eine Liste mit Berufen, die ich lieber ausüben würde als den hier. Flink hüpfen meine Finger plötzlich über die Tastatur. Schreibblockade ausgetrickst. Nach wenigen Minuten ist die erste Seite voll. Und als ich beim »Totengräber« ankomme, hör ich auf. Fertig geträumt.

Totengräber. Eine gute Wahl, denn meine journalistische Lebensversicherung ist in der Tat der Tod. Da staunen Sie, gell. Die Ausgangslage ist: Gestorben wird immer. Fromm hatte in Anbetracht der zunehmend spärlicher fließenden Werbegelder die Idee, eine neue Einnahmequelle anzuzapfen: Für jede gebuchte Todesanzeige bietet der Anzeiger – gegen einen kleinen Aufpreis – einen persönlichen Nachruf an, der, natürlich mit Foto, im redaktionellen Teil des Anzeigers erscheint. Im Herbst und Winter wird mehr gestorben. Die Saison war gerade erst eröffnet.

Niemand in der Redaktion riss sich um die makabre Aufgabe. Und so kam es, dass ich das Ressort Nachrufe übernahm, das gesicherte Aufträge bereithielt und dazu meist frei von Zeitdruck oder aufwendiger Recherche war. Mit der Eloquenz eines Bestattungsunternehmers setze ich meine anteilnehmende Miene auf und führe das Gespräch mit einem Hinterbliebenen, meist der Tochter des Hauses, krame in Schachteln mit alten, vergilbten Fotos und entscheide mich für eine Aufnahme, die den Verstorbenen in möglichst günstigem Licht zeigt: beim Hochstemmen des Pokals für den legendären Kreisliga-Cupsieg des FC Seedorf anno 1961, beim Verkauf von selbst gebackenem Kuchen zu Gunsten der mittlerweile aufgelösten Pfadfinder-Abteilung oder bei der Entgegennahme des Früchtekorbs anlässlich einer Tombola im Gemeindesaal.

Schöne Aufgabe, müssen Sie zugeben. Nun machen Sie schon die Schachtel mit den Fotos parat, informieren Ihre Angehörigen über das großzügige Angebot des Anzeigers und sterben dann gelegentlich. Ich freue mich auf Sie.

Der Weihrauch riecht (und nicht nur er)

Google und Co. sei Dank: Schon am frühen Nachmittag ist mein Artikel »Lottogewinner und was aus ihnen wurde« fertig. Nur wenige der Millionäre werden glücklich. Viele sind nach einigen Monaten oder Jahren wieder arm wie eine Kirchenmaus. Ich bin zufrieden mit meiner Arbeit. Habe geliefert. Solide. Pünktlich. Fromm verlangt weitere Geschichten. Auf das billige Deo packt er nun noch ein aufdringliches Rasierwasser obendrauf. Ich werde mit Sunny reden müssen.

»Ein Interview mit dem Lottogewinner, das wäre doch ganz famos«, meint Fromm naiv.

»Keine Chance«, winke ich ab. »Swisslotto gibt keine Auskunft.« Was ja auch vernünftig ist, wenn man bedenkt, was über einen Millionengewinner hereinbricht. Und mein privater Informant? Die Telefonnummer hat keinen Besitzer, jedenfalls keinen, der irgendwo registriert ist. Vermutlich ein Prepaid-Handy, so fantastisch anonym wie bis vor einigen Jahren ein Schweizer Nummernkonto auf der Bank. Die neuen Steuervereinbarungen machen es auch für Lottogewinner immer schwieriger, das Geld am Fiskus vorbeizuschleusen. Am sichersten stapelt man die Notenbündel bei sich zu Hause im Estrich. Und, das riet nun auch Swisslos, führt weiterhin ein möglichst unauffälliges Leben.

Als Schlupfloch bleibt der Transfer des Geldes auf eine Bank in eine der Staaten, die auf der schwarzen Liste der EU stehen, weil diese sich einen Dreck um einen Informationsaustausch kümmern. Deren Angebot: Wir passen diskret auf dein Geld auf und verlangen eine Verwaltungsgebühr, die in keinem Verhältnis zur Versteuerung steht.

»Die Abhandlung über Steuervermeidung kannst du dir sparen«, bauzt mich Fromm an. »Zu theoretisch und nur für den Lottogewinner von Interesse.«

Da hat Scheißkollege Graf, das muss ich zugeben, einen besseren Vorschlag: »Wir machen eine Liste mit Ideen, was Seedorf mit den Millionen erwarteter Steuereinnahmen tun könnte.«

»Plus eine Vox pop dazu«, ergänzt seine Praktikantin, froh über die Aussicht, dank der Umfrage wenigstens für einige Stunden an die frische Luft und unter normale Leute zu kommen.

»Und eine Sidestory über das Echo, das unsere Geschichte in den nationalen Medien ausgelöst hat«, versuche ich mich zurück ins Spiel zu bringen.

»Etwas viel Selbstbeweihräucherung, lieber Humboldt«, kommentiert Fromm, um dann doch noch ein Einsehen zu haben: »Andererseits haben wir auch selten Grund dazu.«

Biologie wird vermisst

Am Mittwoch, dem Tag, an dem Seehofwirt Milo Babic spurlos verschwand, nahm die Geschichte rund um den 187-Millionen-Jackpot dank Humboldts Artikel richtig Fahrt auf: Auswärtige Medien schickten ihre Korrespondenten ans Bodensee-Ufer, politische Parteien stellten erste Forderungen, was mit den mutmaßlichen Steuereinnahmen zu geschehen habe: Investieren, Sparen, Verschenken – die ganze Bandbreite an mehr oder weniger sinnvollen Ideen.

Von solchen Diskussionen verschont, saß Kommissar Hutter im seinem Kreuzlinger Büro und ordnete einmal mehr das Material auf seinem Pult symmetrisch. Da störte das Klingeln des Telefons seine kontemplative Arbeit. Er sah sich zur Sicherheit kurz um, obwohl Lisa Lehmann selten so früh schon im Büro war. Missmutig hob er ab: »Polizeiposten Kreuzlingen. Kommissar Hutter.«

»Knäbel am Apparat.« Der Schulleiter von Seedorf meldete eine seiner Lehrkräfte als vermisst. »Cornelia Zahner ist eine äußerst pflichtbewusste Person. Nie würde sie ohne triftigen Grund unentschuldigt dem Unterricht fernbleiben«, versicherte Knäbel.

»Hmmm.« Hutter machte ein undefinierbares Geräusch in den Hörer und versuchte so, etwas Zeit zu gewinnen. »Seit wann denn in etwa so?«

»Seit gestern Abend. Die 3a. Biologie von 15.15 bis 16.05.«

Hutter legte sich sachte eine Antwort im Kopf zurecht und malte Kringel auf den Zettel vor sich: »Wissen Sie, Herr Knäbel. Gut rufen Sie uns an und melden, wenn was verdächtig ist. Aber eine erwachsene Person, die seit …«, er brauchte einen Moment, um zu rechnen: »… knapp 15 Stunden verschwunden ist. Da bin ich jetzt noch nicht extrem alarmiert.« Hutter wartete vergeblich auf eine Reaktion seines Gesprächspartners. »Frau Zahner ist eine erwachsene Person, und ihr Fernbleiben ist momentan nur aus arbeitsrechtlichen Gründen verdächtig. Natürlich wird Ihr Anruf bei uns registriert. Aber Sie verstehen bestimmt auch, dass ich noch kein Sondereinsatzkommando zusammenstelle.«

»Was raten Sie mir denn?« Knäbel schien ernsthaft besorgt. Hutter hörte durch das Telefon, wie er nervös die Mine seines Kugelschreibers rein- und rausdrückte.

»Ersatz für die weiteren Biologie-Stunden suchen«, riet Hutter wenig sensibel. Das Schweigen am anderen Ende deutete er für einmal korrekt: nicht zufrieden. So legte er nach: »Wo wohnt denn die Frau Zahner?« Hutter schrieb sich unter dem Blumenmuster die Adresse auf und versprach, noch heute Zahners Haus in Augenschein zu nehmen. Was er dort vorfinden würde, ahnte er bereits: ein ordentlich verschlossenes Gebäude, keine Gewalteinwirkung an Türen oder Fenstern.

Auffällig war, so stellte Kommissar Hutter einige Stunden später fest, als er über Mittag einen Abstecher zu Zahners Haus machte, einzig eine Schar großer Hühner, die im Garten nach Körnern pickten. Na, die kommen als mögliche Täter ja wohl kaum in Frage, dachte er sich und tippte immerhin eine Notiz mit Erinnerungsfunktion ins iPad: »Meldung an Tierschutz Kreuzlingen. Gefahr von verwahrlosten Hühnern.«

Lots of Lotto

Für eine unbeteiligte Person wie Sie, liebe Leserin, lieber Leser, gleichen die Vorgänge in Seedorf und Umgebung einem Stillleben, wie es ein wenig begabter Maler sieht: ein Apfel, eine Rose, ein Buch, ein Glas Wein. Alle Gegenstände einzeln betrachtet wollen sich einfach nicht recht zu einem stimmigen Ganzen formieren. Und so bringt vorläufig auch niemand die prominenten Abwesenden in Seedorf mit dem Millionen-Jackpot in Verbindung. Cornelia Zahners Verschwinden: ungewöhnlich. Aber ein Verbrechen? Bäcker Simoni, gekränkt von den Enthüllungen des Anzeigers: für einige Tage abgetaucht? Und seit heute Seehof-Wirt Babic, wie schon öfter ohne Entschuldigung in seine alte Heimat abgereist, um sich dort um die geliebten Reben in seinem Weinberg zu kümmern?

Offiziell gemeldet war zur Stunde nur Zahners Verschwinden: vorübergehend versenkt in der Bürokratie des Polizeipostens Kreuzlingen. Maria Simoni ihrerseits vermutete, dass die neue Praktikantin im Verkauf mit dem plötzlichen Verschwinden ihres Mannes zu tun haben könnte. Sie behielt nach außen, so gut es ging, die Kontenance. »Auf Weiterbildung«, hatte sie heute Morgen schnippisch auf die Frage von der Zeitungstussi nach dem Verbleib ihres Gatten geantwortet. Dabei vermutete sie ihn entweder in einer Loge im Teatro La Fenice in Venedig oder zwischen den Schenkeln der Praktikantin in deren Liebesnest. Beides hatte – so musste sie bitter feststellen – tatsächlich im weitesten Sinne mit Weiterbildung zu tun.

Im Hotel und Restaurant Seehof gingen unter der harten Fuchtel von Hana, einer Cousine von Babic, die Geschäfte ihren gewohnt trostlosen und unaufgeregten Gang. Einen Lichtblick gab es immerhin: Erfreut nahm sie die Reservation des großen Saals für eine außerordentliche Gemeindeversammlung auf übermorgen Abend entgegen. Hanas Sorge galt ab sofort der Frage, wo sie innerhalb von zwei Tagen genügend Servierpersonal auftreiben konnte, um eine mutmaßlich euphorisierte Gemeindeversammlung nach allen Regeln der gastronomischen Kunst zu melken.

Im Redaktionsbüro des Anzeigers saß Humboldt und tippte:

»Zwischen Steuersenkung und Wellness-Tempel«.

Er versuchte, die Mitteilungen der Parteien zu einem Dreispalter zu verschreiben. Danach musste die Vox pop der Volontärin noch redigiert werden, weil sich Graf mit einem Schnupfen frühzeitig in den Feierabend entschuldigt hatte. Immerhin war nun die ganze Frontseite voll: »Lots of Lotto«, kalauerte Humboldt vor sich hin. Fromm wartete noch auf die Themenvorschläge für morgen. So also fühlte sich Arbeit an. Das wurde das späteste Feierabendbier seit Wochen. Er checkte sein iPhone: 21.34 Uhr. Und noch immer keine Nachricht von seinem Informanten, dem mutmaßlichen Jackpot-Gewinner. Vielleicht war »?« doch zu allgemein gewesen.

»Enter«, »Enter«, »Enter«. Nacheinander schickte Humboldt die letzten drei Texte auf ihre digitale Reise in die Zentrale nach Kreuzlingen. Kurz vor 22 Uhr löschte er das Licht in der Redaktion, schloss ab und hielt müde auf das »Red Tiger« zu. Dabei wurde er diskret von einem Paar graugrüner, leicht wässriger Augen beobachtet. So weit lief alles nach Plan, dachte der Mann. Humboldt machte seine Sache wie erwartet gut.

Wellness dank Wohlstand

In der Seedorfer Gemeindekanzlei herrschte am Mittwoch schon am Morgen rege Betriebsamkeit. Gemeindepräsidentin Simone Krüger hatte dank ihrer Schwester schon am Vorabend vom »Jackpot für Seedorf« erfahren. Ihr war schnell klar, was sie zu tun hatte. Aktiv werden. Sofort eine Gemeindeversammlung einberufen. Es war eine kurze Nacht gewesen.

Simone hatte in ihrem Leben früh gewusst, was sie werden wollte. Davon zog sie das ab, was sie nicht erreichen konnte, und verfolgte das, was übrig blieb, mit ganzer Konsequenz. Das machte sie klar und stark. Und für den, der dafür ein Auge hatte, sogar attraktiv. Heute Morgen hatte Simone Krüger einen Schlachtplan.

Der Artikel im Anzeiger hatte eingeschlagen. Auch im Rest des Landes. Eine neue Sau wurde durchs mediale Dorf getrieben. Simone Krüger war in ihrem Element. Sie hatte schnell reagiert, professionell. TV-Interviews, Anfragen von Zeitungen und Agenturen, ein Foto hier, ein Foto da. So hatte die Geschichte einen Kopf, solange nicht der des eigentlichen Gewinners bekannt wurde, womit sie nicht rechnete. Simone Krüger wusste: Das war ihre Chance. Die Millionen für ihre Gemeinde mussten mit ihrem Namen verknüpft bleiben. Goldene Aussichten für ihre Ambitionen auf ein Regierungsamt auf nächsthöherer Ebene.

Doch nun galt es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die Gemeindeversammlung hatte nur konsultativen Charakter. Die Einwohner von Seedorf konnten wohl Vorschläge einbringen, entscheiden würde sie. Und das Gremium von Amateuren, das den Gesamtgemeinderat bildete, den sie nach Belieben manipulieren konnte:

Giovanoli, eine Million für ihn: ein neues Löschfahrzeug für die Feuerwehr und ein gehöriges Volksfest dazu, das Volk und der Vorstand der technischen Betriebe waren zufrieden.

Für Zahner gab’s eine Rundumerneuerung der IT-Einrichtung an der Schule: mittlerer sechsstelliger Betrag. Da lag sogar noch ein Gratis-Apero zu Beginn des neuen Schuljahres drin.

Rudolph als Vorsteher der Sozialen Dienste durfte den Ärmsten ein Geschenk machen: Steuerbefreiung für Einkommen unter 50.000: Peanuts.

Blieb der Chef des Seedorfer Bauamtes: Salzmann. Mit ihm zusammen wollte Krüger eine Vision des »Anzeigers« umsetzen. Ihre familiären Kontakte in die Redaktion waren bei der Lancierung der Idee einmal mehr Gold wert. Schön, wenn der Vorschlag zuerst von einem neutralen Medium kam: Wie wär’s mit einem millionenschweren Wellness- und Spa-Zentrum, angebaut an den Seehof. Den Einheimischen natürlich zuerst, aber auch den Touristen und damit dem hiesigen Gewerbe und dessen nachhaltiger Entwicklung zum Wohle. So weit Krügers Pläne.

Später Besuch

Rechts oben neben dem Eingang flimmert in miserabler Bild- und Tonqualität ein Romcom-Streifen aus den 90ern über den betagten Bildschirm. Ergänzt wird der Soundtrack mit dem Klappern von Geschirr: Shaila räumt hinter der Theke die Abwaschmaschine aus. »Oh Carl, noch so spät hier?«

Ich kann ihren Tonfall nicht deuten: Freude, Verlegenheit, Unpässlichkeit? »Aber nur wenn’s noch was gibt.« Da höre ich schon, wie sich der Kronenverschluss mit einem leisen Plopp von der Flasche trennt und eine Schale mit Kichererbsen gefüllt wird.

»Ich freu mich, dass du noch vorbeischaust«, sagt Shaila. »Hab nicht mehr mit deinem Besuch gerechnet.«