Tatort Kalabrien - Barbara Ludwig - E-Book

Tatort Kalabrien E-Book

Barbara Ludwig

3,8

  • Herausgeber: Virulent
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Der fesselnde Urlaubskrimi für alle Italien-Fans! Die beiden Freundinnen Ulla, 40 Jahre, und Julia, knappe 60 Jahre, freuen sich auf ihren Urlaub in Kalabrien. Dolce Vita, Sonne und nebenbei ein kleiner Italienischkurs. Doch in ihrem Italienurlaub geht es turbulent zu: im eigentlich beschaulichen Städtchen Tropea wird die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Und die zwei Freundinnen stecken auf einmal mitten in einem Mordfall. Und als kurze Zeit später eine zweite Leiche gefunden wird, überschlagen sich die Ereignisse … Leicht und unterhaltsam – spannend bis zur letzten Seite – die perfekte Strandlektüre für den nächsten Italienurlaub.

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Seitenzahl: 378

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Inhalt

Prolog: Laura

Kapitel 1: Anreise

Kapitel 2: Robert

Kapitel 3: Monica

Kapitel 4: Hotel Rocca di Parghelia

Kapitel 5: Robert in Nicotera

Kapitel 6: Der Tunnel

Kapitel 7: Commissario di Flavio ermittelt

Kapitel 9: Santa Maria dell’Isola

Kapitel 10: Commissario di Flavios schwere Aufgabe

Kapitel 11: Tropea

Kapitel 12: Monicas Wanderung

Kapitel 13: Die enge Gasse

Kapitel 14: Treffen mit Monica

Kapitel 15: Tarif

Kapitel 16: Monica wird bald in Nicotera sein

Kapitel 17: Eine böse Überraschung

Kapitel 18: Sonntagsdienst für Commissario di Flavio

Kapitel 19: Di Flavio – Ein schlechter Montagmorgen

Kapitel 20: Der Regen

Kapitel 21: Monica erfährt von Lauras Tod

Kapitel 22: Ausflug zum Capo Vaticano

Kapitel 23: Commissario di Flavio agiert

Kapitel 24: Robert gerät in Bedrängnis

Kapitel 25: Eine unruhige Nacht

Kapitel 26: Ulla auf den Spuren ihrer Mutter

Kapitel 27: Roberts Schachzüge

Kapitel 28: Ulla und ihr problema

Kapitel 29: Der nächste Morgen

Kapitel 30: Julia macht sich Sorgen

Kapitel 31: Di Flavio muß nach Neapel

Kapitel 32: Ulla gefangen

Kapitel 33: Di Flavio als Beichtvater

Kapitel 34: Julias banges Warten

Kapitel 35: Robert und sein Kartenhaus

Kapitel 36: Monica bei di Flavio

Kapitel 37: Am Kreuz der Maria dell’Isola

Kapitel 38: Abschied

Impressum

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Weitere Krimis

Leseprobe: Tatort Mallorca

1. Ferientag

Ullas Vokabelheft

Lunedi–Montag

comprare kaufen

vocabolo Vokabel

quaderno Schreibheft

imparare lernen

un corso d’italiano ein Kurs für Italienisch

scuola Schule

inizio Beginn

la mattina seguente am nächsten Morgen

buongiorno Guten Tag

Sono Ulla Ich bin Ulla

E tu come ti chiami? Und wie heißt du?

Mi chiamo Julia Ich heiße Julia

E Lei? Und Sie?

Sono Robert Fellner Ich bin Robert Fellner

Valigia Koffer

uno eins

due zwei

tre drei

Qual è il Suo numero di telefono? Wie ist Ihre Telefonnummer?

Qual è il tuo indirizzo? Wie ist deine Adresse?

avere haben

ho, hai, ha ich habe, du hast, er, sie, es hat

dove wo

Dov’è ...? Wo ist ...?

il lungomare die Strandpromende

Prolog: Laura

Dieser Montagnachmittag im Mai ließ die ersten Schmetterlinge um die Blumentröge tanzen. In dem kleinen Laden an der Piazza Ercole standen die Frauen im Halbkreis um Laura herum.

„Bellissima! Märchenhaft!“, riefen sie der jungen Braut zu und applaudierten. Eine oder zwei von ihnen wischten sich verschämt Tränen aus den Augen. Laura lachte verlegen. Sie wagte kaum, in den mannshohen Spiegel zu schauen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, und der schimmernde Seidenstoff des Rockes schwebte um ihre Fesseln. Das eng anliegende Mieder des Brautkleides schmiegte sich um Lauras Taille und betonte weiter oben ihre weichen Rundungen. Laura fand sich zum ersten Mal in ihrem Leben begehrenswert wie eine Prinzessin. Das unwirkliche, fast traumgleiche Gefühl, das dieses Kleid in ihr hervorrief, erregte und beschämte sie in gleicher Weise. Nervös zupfte sie an dem anliegenden Miederabschluss herum. Die herausragende Tüllspitze ließ sich keinen Zentimeter höher hinaufziehen.

„Ist der Ausschnitt nicht zu gewagt?“ fragte Laura schüchtern und wandte sich Hilfe suchend an die ältere Verkäuferin. „Kann man das noch ändern? Bitte, Clarissa.“ Leiser fügte sie hinzu: „Meine Mutter wird das Kleid sonst nicht mögen.“

„Ach was, meine Kleine“, meinte die Angesprochene, „ein schöner Busen ist ein Geschenk Gottes!“

Die anderen Frauen nickten, einige kicherten. Als Laura den weißen Traum abstreifte und wieder in ihre Jeans schlüpfte, wirbelten die ständigen Tiraden ihrer Mutter durch ihren Kopf. Alle gipfelten in der Aussage:

Wer sich wie eine Schlampe kleidet, ist eine!

Mit dem Kleid über dem Arm stand Laura unentschlossen in der Umkleidekabine. Andächtig strich sie mit den Fingern über den duftigen Stoff. Seine Zartheit ließ ihre Bedenken schmelzen. Sie trat hinter dem Vorhang hervor und verkündete mit trotziger Stimme:

„Egal, ich nehme dieses Kleid. In den nächsten Tagen komme ich vorbei und hole es ab.“

„Es wird deiner Mama ganz bestimmt zusagen,“ wurde sie von Clarissa bestärkt. Laura umarmte die Frau und flüsterte: „Monica wird es sicher gefallen, zeigst du es ihr?“

„Ja, Bella und jetzt geh und genieß den Abend.“

Laura stand im einen Moment wie benommen im Abendlicht auf der Piazza Ercole, dann schaute sie auf ihre Armbanduhr. Es war 19 Uhr. Wenn sie zu Fuß nach Parghelia lief, würde sie in gut dreißig Minuten dort sein. Zu früh für ihre Verabredung mit Marcello. Er erwartete sie erst um 21 Uhr am Bahnhof.

Laura überlegte. Ihr blieb genügend Zeit, zur Wallfahrtskirche Santa Maria dell’Isola hinaufzuklettern und eine Kerze anzuzünden. Allerdings würde sie vorher die Treppen zum Strand hinuntersteigen müssen. Wie ein übermütiges Kind rannte sie vor Freude los, hopste auf den geraden Zwischenstücken in die Luft und segelte mit ausgestreckten Armen um die schmalen Kehren. Als aus einem Fenster laute Opernmusik erschallte, sang sie, ohne den Text zu kennen, laut mit und ersetzte die ihr unbekannten Worte durch welche, die ihr geradewegs in den Sinn kamen. Ebenso leichtfüßig, wie Laura hinabgestürmt war, begann sie – einmal an der Strandstraße angekommen – mühelos den Aufstieg über den Kreuzweg zur Wallfahrtskirche.

Der leichte Abendwind kühlte ihr die erhitzten Wangen, die eine Welle zärtlicher Gedanken immer aufs Neue nährte. Was wird mein Liebster sagen? Nur noch drei Wochen, und der schimmernde weiße Stoff wird sich um meine Hüften bauschen, und ein wundervolles Leben wird beginnen.

Anderthalb Stunden später erreichte Laura hinter dem Hafen von Tropea die alte Straße nach Parghelia. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich vertrödelt hatte. Sollte sie zur Überlandstraße gehen? Dort war es sicher einfach, eine Mitfahrgelegenheit bis zu der kleinen Bahnunterführung zu bekommen. Ihre Schritte verlangsamten sich, unschlüssig blieb sie schließlich stehen. Just in diesem Moment näherte sich ein Auto und stoppte neben ihr. Der Fahrer lehnte sich aus dem Fahrzeugfenster und fragte: „Soll ich dich ein Stück mitnehmen?“

Laura atmete erleichtert auf. Welch ein Glück, sie würde sich nicht verspäten ...

Kapitel 1: Anreise

Es war kurz nach vier Uhr in der Frühe. Im Münchner Flughafen tummelten sich an diesem Montagmorgen bereits Hunderte urlaubssüchtiger Touristen. Vor dem Check-in-Schalter der Billigfluglinie mit dem Zielort Lamezia Terme hatte sich bereits eine lange Warteschlange gebildet. Als Julia sich zu den Wartenden gesellte, fragte sie sich, warum sie sich immer wieder auf dieses Chaos einließ, noch dazu zu einer dermaßen unchristlichen Zeit. Ulla mühte sich mit ihrem neuen Koffer ab, der nicht in die Kontrollapparate zu passen schien. Julia wollte ihr gerade zu Hilfe eilen, als sie sah, dass es nicht mehr nötig war. Als Ulla ein paar Minuten später neben ihr auftauchte, seufzte sie: „Jetzt weiß ich, warum der Koffer ein Schnäppchenangebot war!“

Julia lachte, denn sie wusste noch nicht, dass ihre Maschine als verspätet ausgewiesen war. Sonst hätte sie in diesem Moment bereits aufgeheult. Ulla scharrte sowieso mit den Hufen, sie war auch ohne Verspätung bereits mehr als nervös und tänzelte wie ein Rennpferd in der Startbox unruhig hin und her. Dabei murmelte sie etwas wie „Schlimm genug, dass ich fliegen muss, jetzt auch noch warten!“

Julias Stimmung befand sich ebenfalls im direkten Sinkflug. Denn sie wusste, was es heißt, auf einen Flieger zu warten. Zum Beispiel ihr Flug nach London im vorigen Jahr – ein Sonderangebot. Verspätet? Ha! Das Bodenpersonal vertröstete sie von Stunde zu Stunde, bis sie am Abend völlig erschöpft vom Warten wieder nach Hause geschickt wurde. „Am nächsten Morgen“, hieß es dann: „Niente!“ Der Flug wurde vollständig annulliert. Auf die Rückerstattung des Flugpreises wartete sie noch heute. Der Reiseveranstalter hatte Pleite gemacht.

Diese Gedanken schwirrten durch Julias Hirn und heiterten ihr Gemüt nicht gerade auf. Sie erwähnte gegenüber Ulla nichts davon, weil sei wusste, dass Ulla unter scheußlicher Flugangst litt.

Darum schlug sie nach der Kofferaufgabe und dem Passieren der Zollkontrolle vor: „Wie wäre es mit einem Kaffee?“

Kurze Zeit später standen Ulla und Julia an einem der hohen runden Tische und schlürften das heiße, braune Getränk in sich hinein. Julias von Natur aus niedriger Blutdruck normalisierte sich. In Ullas Miene kehrte der schelmische Ausdruck zurück, wenn auch ihre fast in der Farbe des Kaffees leuchtenden Augen verrieten, dass noch ein Quäntchen Angst vorhanden war.

„Jetzt geht es mir besser“, meinte sie und schickte ein Lächeln in die Runde. Ein Ehepaar mittleren Alters am Nebentisch fühlte sich aufgefordert, sich zu ihnen zu gesellen und ein Gespräch zu beginnen. Warten verbindet.

„Fahren Sie ebenfalls nach Tropea?“, fragte die Frau, eine kleine rothaarige Person und lehnte sich zu ihnen hinüber.

„Wir haben das Hotel Rocca di Parghelia gebucht, hat uns ein guter Freund empfohlen. Wir wollten ihn eigentlich hier treffen“, polterte ihr Mann durch die Halle.

Julia grinste und antwortete: „Ja, wir sind ebenfalls im Rocca di Parghelia.“ „Wir wollen einen Italienisch-Kurs besuchen, mal sehen“, ergänzte Ulla etwas wortkarg, sodass Julia sich verpflichtet fühlte, die Unterhaltung in Gang zu halten.

„Mich hat vor ein paar Monaten der Altersabbau erwischt, ich bin in Altersteilzeit! Lassen Sie Jüngere an das Ruder, hieß es in meiner Firma. Ich habe mir immer schon vorgenommen, Italienisch zu lernen, jetzt habe ich die Zeit dafür.“

„Siehst du, Georg? Könnten wir auch machen, wenn du dich entschließen würdest“, meinte die Rothaarige zu ihrem Mann und zu Julia gewandt: „Seine Firma stellt Geräte für Zahnärzte her und bietet auch Altersteilzeit an.“

„Lass gut sein, Liebling, uns reicht doch was wir können, il conto per favore, un mezzo litre vino rosso, pagare, grazie ... Wir fahren nämlich fast jedes Jahr nach Italien, und bislang sind wir gut durchgekommen. Die meisten Italiener sprechen doch Deutsch!“ mischte sich der Mann der kleinen Person erneut lautstark ein.

„Ich bin mit meinem Mann jedes Jahr mit einem VW-Bus von Nord- nach Süditalien getourt, keine Sehenswürdigkeit haben wir ausgelassen. Tropea lag auch auf unserer Route, ist Ewigkeiten her“, ergänzte Julia den Small Talk. Ulla gähnte auffällig und äußerte sich entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit nicht.

„Wenn ich in drei Jahren in Rente gehe, werde ich auch Italienisch lernen, malen und ...“, ein schwärmerischer Ausdruck trat in das Gesicht der kleinen Frau. Ihr Mann schaute nicht annähernd so begeistert.

„Das italienische Essen ...“, verkündete er indessen mit Emphase und Ulla – bei dem Wort Essen tauchte sie auf ihrer Versenkung auf – warf ein: „Ich bin gespannt auf die kalabresische Küche.“

„Sind Sie absolute Sprachanfänger?“ fragte die Frau. „Ich hätte Bedenken, dass im Kurs nur ganz junge Leute sind und ich blöd dastehe.“

„Ich habe zwei Semester in der Volkshochschule gelernt, die Grammatik finde ich recht mühsam, aber das geht den anderen im Kurs ebenso. Am schlimmsten ist es für mich, überhaupt ein Wort rauszubringen. Ich weiß nicht warum.“

„Das wird schon, Julia“, meinte Ulla.

Die kleine Rothaarige beeilte sich zu sagen: „Mein Gott, wir haben uns gar nicht vorgestellt, mein Name ist Gisela Ostner, mein Mann ist der Georg. Wir kommen aus Hof.“

„Eigentlich hätten wir auch von Berlin fliegen können, aber das Bayern-Ticket ist günstiger und Giselas Schwester wohnt in München! Aber der Herr Fellner, unser Freund, der ist aus Berlin, spricht übrigens ausgezeichnet Italienisch. Hat mal eine Weile dort unten gelebt. Weiß auch nicht, wo er bleibt“, ergänzte Herr Ostner.

„Ich bin Julia und das ist Ulla, angenehm!“ erwiderte Julia.

„Wohnen Sie in München? Meine Schwester wohnt in der Nähe von Schloss Nymphenburg, schöne Gegend, aber verdammt teuer.“

„Wir wohnen in Neuhausen“, mischte sich Ulla ein, umarmte ihre Freundin und flüsterte ihr leise zu: „Mach Schluss hier.“ Laut sagte sie höflich: „Wolltest du dir nicht noch eine Zeitschrift besorgen, Julia?“

„Ja, klar. Dann drücken wir uns die Daumen, dass die Verspätung nicht zu groß wird“, erwiderte Julia, nahm ihre Tasche, nickte dem Ehepaar zu und beeilte sich Ulla zu folgen.

Nach einigen Schritten hörten sie Frau Ostner rufen: „Mich willst du wohl stehen lassen wie einen alten Regenschirm!?“

Die Freundinnen drehten sich auf dem Absatz um und stellten erstaunt fest, dass Georg Ostner ihnen gefolgt war, obwohl seine Frau noch am dem Restauranttisch stand.

„Ja, warum kommst du denn nicht!“ donnerte er ihr als einzigen Kommentar auf ihre Beschwerde entgegen.

Sie erwiderte mehr humorig als verbittert: „Wenn du zwei Frauen hinterherlaufen kannst, vergisst du anscheinend, dass du schon eine hast, oder?“

Julia und Ulla mussten lachen. Der Typ war ihnen tatsächlich regelrecht hinterhergedackelt. Aber, was heißt uns, dachte Julia, wohl eher Ulla, die von der Natur mit einer überaus üppigen Oberweite bedacht war. Julia schmunzelte, weil sie des Öfteren bemerkt hatte, dass dieses „etwas mehr oben herum“ die Männer zu erstaunlichen Reaktionen verführte.

Natürlich war Ulla sich dessen bewusst, schließlich verfügte sie über diese Formen, seit sie zwanzig war und dieser Geburtstag lag wiederum zwanzig Jahre zurück. Als sie sich später, mit einer Zeitschrift bewaffnet, auf einer der Sitzreihen niederließen, sah Julia die rothaarige Gisela Ostner mit ihrem Mann weiter hinten Platz nehmen.

„Anscheinend hat sie ihren Mann wieder eingefangen“, bemerkte sie belustigt zu Ulla und zeigte auf das Ehepaar, während sie dachte: So geht es einem als Ehefrau, wenn man lange verheiratet ist.

„Die kleine Rothaarige war ganz nett, ihr Mann, nun ja. Aber, ich hatte wirklich keinen Bock mehr, um kurz nach vier Uhr in der Früh Artigkeiten auszutauschen“, meinte Ulla.

Sie wechselten zu einem Sitzplatz mit Blick auf einen Monitor. Noch immer war hinter ihrer Flugnummer „verspätet“ vermerkt. „Was heißt „verspätet“ eigentlich auf Italienisch?“ fragte Julia, weil sie sich langweilte.

„In ritardo“, antwortete Ulla gequetscht, wegen des Haargummis im Mund, mit dem sie versuchte, ihre halblangen, hellblonden Naturlocken zu bändigen, indem sie alles auf dem Oberkopf zu einem Knoten formte.

„Das Warten schafft mich“, knurrte sie, ließ von ihren Haaren ab und blätterte in ihrem neuen Journal. Julia sparte sich eine Erwiderung. Sie fing an, darüber zu philosophieren, warum sie unbedingt bis zum Sporn des Stiefels nach Kalabrien fliegen wollte, um Italienisch zu lernen. Als sie Ulla vor ein paar Wochen mit ihrem heroischen Entschluss überraschte, äußerte diese nur trocken: „Mmhm, jedes Jahr fahre ich mit meinem Männe an die Adria. Für den Hausgebrauch reicht mein Wortschatz, aber ein wenig mehr könnte nicht schaden. Ich bin dabei.“

Seit Bernds plötzlichem Tod vor drei Jahren, ist das meine erste Reise nach Italien, schwirrte Julia durch den Kopf. Eigentlich waren mit diesem Land zu viele Erinnerungen verknüpft. Sie schob die Gedanken rasch beiseite und versuchte, sich in den Reiseführer zu vertiefen.

Nach einer Weile zeigte der Monitor, dass ihr Flieger tatsächlich in dreißig Minuten starten würde. Manchmal geschehen Wunder!

Die Flugzeugmotoren dröhnen unnatürlich, fand Ulla und blinzelte neidisch zu ihrer Freundin Julia hinüber, bevor sie die Augen wieder fest zusammenkniff. Wie konnte Julia so gelassen dasitzen und aus dem Fenster schauen? Schließlich kann das Flugzeug jeden Moment abstürzen und wir sind hilflos dem Tod ausgeliefert! In Ullas Händen sammelte sich Schweiß, sodass sie sich fühlte, als würde sie unter einer Dusche stehen. Ihre Wangen glühten. Sie war sicher, ihr Kopf leuchtete inzwischen in der Farbe ihres T-Shirts, nämlich korallenrot. Dieses Zittern war der Preis, den sie für eine bequeme Anreise ganz in den Süden Italiens zahlen musste, das war ihr klar und auch, dass die Angst sich nicht bremsen ließ. Jetzt sehnte sie sich danach, mit ihrem Mann im VW-Bus stundenlang die Autobahn entlangzuzockeln, obwohl häufig genug fluchte, wenn sich die Fahrt dehnte wie Kaugummi. Vier rollende Autoreifen fühlten sich einfach sicherer an. Sie kramte alle schlauen Ratschläge aus ihrem Gedächtnis zusammen, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Umsonst, die Flugangst tobte ungehindert durch ihren Kopf und förderte überdies Bilder zutage, die sie lieber verdrängt hätte: Zähnefletschende Hunde, dunkle Wege ...

Ullas Hände krallten sich noch ein wenig mehr in die Lehnen des Flugzeugsitzes.

„Sie können die Augen öffnen, den Start haben wir hinter uns. Meine Hand können Sie ruhig weiter quetschen, wenn Sie wollen. Flugangst ist etwas Scheußliches“, hörte sie eine lachende Stimme neben sich sagen und schlug die Augen auf. Sie blickte in das Gesicht eines Mannes, der charmant lächelte, und dessen braune Augen sie belustigt ansahen. „Wenn das Flugzeug die Flughöhe erreicht hat, besteht kaum noch Gefahr, abzustürzen. Kritisch ist nur der Start und die Landung“, fügte er hinzu.

Ulla seufzte. Der hatte gut reden! Aber dann riskierte sie doch einen Blick auf ihren Nachbarn, fand, er sah ein wenig wie Mick Jagger aus. Das Cover der CD-Hüllen erstand vor ihren Augen. Wie bei dem Popstar waren auch hier die Alterslinien stark in das Gesicht geprägt, obgleich ihr Sitznachbar noch jungenhaft wirkte. Die sportlichen Sachen, die er trug, waren ausgesucht teuer, erkannte Ulla mit Kennerblick. Fjellräven, Timberland, Bogner, sie wusste von Erik, was die Sachen kosteten. Seine warme Hand fühlte sich weich und angenehm an. Sie unterdrückte ein Schmunzeln, als sie vorsichtig ihre schweißnasse Hand von der seinen nahm. Der kleine, weißgoldene Reif war ihr nicht entgangen. Er lächelte. Trotzdem sympathisch, registrierte sie und richtete sich in ihrem Sitz auf, was ihr einen bewundernden Blick auf ihre Oberweite einbrachte. Das Lächeln um seine Mundwinkel vertiefte sich.

„Fahren Sie nach Kalabrien, um zu wandern?“

Wie kam er auf Wandern? Sehe ich nach Wandern aus? Wahrscheinlich war er ein Wanderfreak. Seine schlanke Figur sprach dafür. Ulla betrachtete unauffällig die Schuhe des Mannes. Sie stellte voller Genugtuung fest, dass er keine Wanderstiefel an den Füßen trug, sondern sehr edle Budapester aus schwarzem Leder. Ohne ein Stäubchen saßen sie blank geputzt an den übereinandergeschlagenen Füßen.

„Der Mai ist eine wundervolle Zeit zum Wandern, alles grünt und blüht und es ist nicht zu heiß.“

„Besuchen sie Tropea öfter?“ fragte sie interessiert. Das Spiel begann, ihr Spaß zu machen. Ihre Flugangst ließ nach, ihre Körpertemperatur normalisierte sich langsam.

Sie schickte einen kurzen Blick zu Julia hinüber. Ihre Freundin schmunzelte und vertiefte sich betont unbeteiligt wieder in ihre Zeitschrift. Hinter Julia sah Ulla weit unten schneebedeckte Berggipfel im Miniaturformat. Sofort meldete sich ihre Panik zurück. Sie wandte sich wieder zu ihrem Nachbarn um. Das amüsierte Lächeln hatte seine Lippen nicht verlassen und Ulla kam sich ein wenig wie ein Kind vor.

„Wenn Sie nicht wandern, genießen Sie das kleine Städtchen Tropea. Um diese Zeit können Sie noch das ursprüngliche Kalabrien erkennen, die hauptsächlich italienischen Touristenmassen überschwemmen dieses mittelalterliche Kleinod erst später.“

„Sie kennen sich offensichtlich aus, vielleicht können Sie uns ein paar gute Tipps geben?“

„Gern, rufen Sie mich einfach an. Warten Sie ...“, er fingerte aus seiner Tasche eine Visitenkarte und reichte sie Ulla.

„Danke, Herr Fellner!“ Ulla lächelte, bevor sie die Karte in ihrer Handtasche verschwinden ließ. Robert, merkte sie sich, während sie das rot-weiße Tuch neu um ihren Ausschnitt drapierte.

Die Stewardess erreichte gerade ihre Sitzreihe und fragte: „Möchten Sie einen Snack?“

„Danke, nein, ein Glas Orangensaft bitte!“ Das Getränk wurde vor sie hingestellt.

„Ich hoffe, Sie hungern nicht, um abzunehmen. Es wäre eine Sünde. Bitte verzeihen Sie mir, aber Sie könnten Niki de Saint Phalle Modell für ihre wundervollen runden weiblichen Figuren gestanden haben.“ Ulla konnte mit diesem Vergleich im Augenblick nichts anfangen. Sie würde Julia später fragen, wer diese Niki sonst was war, die kannte sich mit Kunst aus. Sie lächelte nur und nippte an ihrem Saft.

„Robert Fellner! Also sind Sie doch in dieser Maschine, alter Bursche und die beiden Damen, Ulla und Julia!“ Ulla erkannte den poltrigen Typ vom Flughafen. Wie hieß er noch gleich?

„Hallo, Herr Ostner“, kam wenig begeistert von ihrem Nachbarn. Zum Glück erlöste sie die Stewardess, die den Abfall einsammelte und Herrn Ostner bat, auf seinen Platz zurückzukehren. „Bis nachher“, rief er noch. Fellner seufzte. Ulla setzte gerade an, etwas zu sagen, als alle Passagiere aufgefordert wurden, sich anzuschnallen, weil die Maschine in den Landeanflug überging. Ullas Blutdruck stieg, sie klammerte sich wieder an die Sitzlehnen. Ihr Nachbar war so großzügig, dass er ihr seine ebenfalls überließ. Sie schloss sicherheitshalber die Augen.

Beruhige dich, zwang sie sich, du wirst den Flug schon überstehen, gleich ist es vorbei. Am Meer kannst du dich entspannen. Du hast doch in letzter Zeit ganz andere Sachen gemeistert. Die Scheidung von Erik, den Einstieg in die Heilpraktikerpraxis ...

Als das Flugzeug endlich auf dem Flugfeld von Lamezia Terme aufsetzte und Ulla wenig später durch die halb geöffneten Augen ausmachte, dass das Anschnallzeichen erlosch, atmete sie erleichtert auf.

Später am Gepäckband, mit festem Boden unter den Füßen, fühlte sie sich wieder lebendig und sicher. In ihren dunklen Augen blitzte Schalk, als sie sich von ihrem Sitznachbarn, der ein Stück weiter vorn an der Kofferausgabe stand, verabschiedete: „Sie erinnern mich übrigens an Mick Jagger!“

Ulla sah, dass Julia sich wegdrehte, weil sie lachen musste.

„Sag mal, was hat es mit dieser Niki Saint Phalle auf sich?“ fragte sie Julia, als sie im Zubringerbus zum Hotel hockten und dieser sie durch eine frühlingshafte Landschaft gondelte.

„Eine französische Künstlerin, sie hat große ungewöhnliche Skulpturen geschaffen. Weibliche Figuren, Nanas, mit ausgeprägten Rundungen sowohl oben wie auch unten herum, kunterbunt bemalt. In Hannover stehen Exponate von ihr und auch in der südlichen Toskana. Dieser Herr Fellner hat ein gutes Auge, der Vergleich ist treffend“, schmunzelte Julia.

„Ich fand ihn überaus charmant und gut gegen Flugangst.“ Ulla grinste.

„Ich zweifle, ob ich ihn sympathisch finde. Aber ist ja nicht wichtig. Schau Ulla, da unten. Endlich – das Meer.“

Kapitel 2: Robert

Vom Flughafen Lamezia Terme lenkte Robert Fellner seinen Mietwagen über die Autostrada Richtung Süden. Die frühe Maisonne blinzelte ihm durch die Frontscheibe ins Gesicht. Rechts unterhalb der Straße schob sich ein Stück leuchtend blaues Mittelmeer in sein Blickfeld. Er öffnete das Fenster einen Spalt und ließ den Fahrtwind in das Innere des Fahrzeugs pusten. Sofort begannen seine empfindlichen Augen zu brennen und widerstrebend schloss er die Seitenscheibe wieder.

Seine Mundwinkel umspielte ein Lächeln, als er sich ins Gedächtnis rief, wie elegant er die Ostners losgeworden war. Sie würden weiterhin ein Loblied auf ihn singen. Vielleicht würde er sie noch brauchen. Immerhin hatten sie für ihn herausgefunden, dass die beiden Frauen ebenfalls im Hotel Rocca di Parghelia gebucht waren und einen Sprachkurs besuchen wollten. Sein Freund und Rechtsberater Klaus Weidner hatte dies natürlich bereits für ihn im Vorfeld ermittelt. Es wäre allerdings gut gewesen, Weidner hätte ihm zu den Informationen ein Foto beigelegt. Beinahe hätte er sich verraten. Die Ähnlichkeit dieser Ulla mit Sabina war frappierend, damit konnte er nicht rechnen. Für einen Moment hatte ihm der Atem gestockt. Der gleiche Schnitt des leicht dreieckigen Gesichts mit der zierlichen Nase, eine ebenso üppige Figur wie Sabina, es war ihm kalt den Rücken hinuntergefahren. Zum Glück hatte sich dieses Duplikat mit geschlossenen Augen zitternd vor Flugangst an ihren Sitz geklammert, als würde das Flugzeug tatsächlich abstürzen, und ihre Freundin hatte ihn glücklicherweise nicht groß wahrgenommen. Als sie dann ihre Augen aufschlug und diese ein ebenso tiefes Dunkelbraun aufwiesen wie die Sabinas, war er bereits gewappnet gewesen und hatte sich wieder in der Gewalt.

Ein dumpfes, fiepsendes Geräusch, nicht vom Motor verursacht, schreckte Robert aus seinen Gedanken auf. Es dauerte eine Weile, bis er den Lärm als Melodie eines Handys lokalisierte. Robert verlangsamte die Fahrt, um schließlich auf dem Seitenstreifen zu stoppen. Ohne den laufenden Motor wurde der Ruf um einiges zwingender. Er löste den Gurt, drehte sich nach hinten, hievte seine Reisetasche auf den Beifahrersitz nach vorn und förderte aus ihr eilig zwei Mobilfunkgeräte zutage. Jetzt war die Klingelmelodie eindeutig als Ave-Maria von Schubert zu erkennen. Hastig legte er das zweite Handy zur Seite. Robert seufzte. Auf seiner Stirn erschienen Schweißperlen und er biss sich auf die Lippen. Diese Leitung stand nur einem Benutzer zur Verfügung.

„Pronto!“ meldete er sich und lauschte angestrengt. Die Finger seiner freien Hand trommelten nervös auf das Armaturenbrett vor ihm. Nach einer Weile hub er zu sprechen an: „Aber ..., ich brauche noch Zeit“, unterbrach sich, presste erneut das Handy angestrengt ans Ohr. „Sì“, versuchte er erneut das Wort zu ergreifen. „Ich konnte Monica noch nicht überzeugen“. Er wollte mehr sagen, aber die Sätze blieben stecken und er beschränkte sich auf ein resignierendes: „Ja, ich weiß ...“

Sein erneuter Versuch: „Ich habe alles probiert“, scheiterte ebenso kläglich. „Aber sie besteht darauf, ihrer Enkelin Laura ... außerdem ...“, verhaspelte er sich beinahe und, als ihm sein Fehler bewusst wurde, lenkte er rasch ein: „Wir werden einen Weg finden.“

Sein Gesprächspartner hakte nicht nach. Robert wagte kaum zu atmen. Er hielt den Hörer etwas vom Ohr weg. Der Anrufer sprach zwar mit ruhiger, aber sehr lauter Stimme, er sagte nur: „Roberto, wie Sie die Sache regeln, liegt ganz bei Ihnen, ich gebe Ihnen zwei Wochen, dann ...“ Damit war das Gespräch beendet, und Robert konnte sich ausmalen, was „dann ...“ bedeuten würde.

Er stöhnte auf. Schon als das Handy ihm per Post zugesandt wurde, hatte er die Bedeutung ermessen. Die Einlösung seiner Schuld. Ein Entrinnen war unmöglich. Lange hatte er sich in Sicherheit gewiegt. Die kleinen Gefälligkeiten am Rande, mal eine Information hier, mal eine dort, ein oder zwei Gerüchte, an der richtigen Stelle platziert, wurden gut honoriert und hatten ihn nicht ins Schwitzen gebracht. Diesmal ging es um etwas anderes. In dieser Sache würde ihm nur der Erfolg helfen. Andernfalls würden sie ihn vernichten, schön langsam. Seine über die Jahre aufgebaute seriöse Existenz, die ihn, seine Frau Sandy und seine Tochter Angie gut ernährte, wäre schnell verspielt. Er sah den Pressebericht vor sich. Die Boulevardblätter würden hämisch verkünden: „Bekannter Redenschreiber für die Bundestagsabgeordneten verbündet mit der Unterwelt!“

Sandy würde sich angewidert abwenden und zu ihren Eltern zurückkehren. Ihr Vater würde behaupten: „Er war sowieso zu alt für dich, mein Liebling und nicht aus unseren Kreisen.“ Und Angie, sein Augenstern? Ihr Studienort Rom war ein unruhiges Pflaster, eine Drogenkarriere wäre schnell eingefädelt. Robert fröstelte trotz der Hitze im Wagen, er fuhr sich nervös mit den Händen durch die kurz geschnittenen Haare.

Ihm blieb keine Wahl. Er musste sich mit Monica einigen. Er besaß nicht mehr die Macht, sie um den Finger wickeln zu können. Sie war eine alte halsstarrige Frau geworden. Nur eine Unterschrift brauchte er von ihr und er wäre am Ziel. Er könnte sich in Sicherheit wiegen und sich aus allem zurückziehen. Zu dumm, dass diese Ulla mit ihrem Auftauchen alles verkomplizierte. Über welche Informationen verfügte sie? Wie viel wusste sie? War es ein Zufall, dass sie gerade zu diesem Zeitpunkt nach Tropea reiste. Spielte sie nur die Harmlose? Wer hatte sie instruiert, spannte vielleicht an anderer Seite jemand die Fäden? Hatte Weidner nicht vermerkt, dass sie kürzlich in Zürich ein gewisses Bankhaus besucht hatte? War es ein Fehler von ihm gewesen, ihr seine Karte auszuhändigen?

Immerhin, die Nennung seines Namens schien kein Erkennen ausgelöst zu haben, soviel glaubte er, aus ihrem Gesicht gelesen zu haben. Das ließ ihm einen Vorsprung.

Noch sinnierend startete er den Nissan Micra und wunderte sich einen Moment über das fremde Motorengeräusch, das so wenig dem Brummen seines sonst gewohnten BMW Coupé glich. Die Papiere fielen ihm ein, die ihm Weidner mitgegeben hatte. Er würde sie gleich morgen früh mit Rechtsanwalt Umberto in Nicotera durchgehen. Oder ob er noch heute vorbeifahren sollte? Schließlich hatte er keine Zeit zu verlieren, je eher die Sache geklärt war, desto besser.

Die Sorgenfalten auf Roberts Stirn verstärkten sich. Sein Freund Weidner wurde leider mehr und mehr zum Problemfall. Dabei kannte er Klaus bereits seit seiner Studentenzeit. Dank des enormen Startkapitals, das sie beide sich unter recht abenteuerlichen Bedingungen an Land gezogen hatten, konnten sie sich bislang komfortabel als seriöse Mitglieder in der Berliner Gesellschaft bewegen. Doch die Ehrbarkeit würde Risse bekommen, wenn ... Auch Klaus besaß ein schönes Haus im Nobelbezirk Grunewald, eine Frau aus guter Familie, eine Mitgliedschaft in einem renommierten Golfklub. In den letzten Jahren hatte er außerdem nicht schlecht davon profitiert, dass Robert Gott und die Welt kannte. Schließlich ging er im Bundestag ein und aus. Robert gefiel gar nicht, dass Klaus begonnen hatte, seine Angstzustände mit Alkohol zu betäuben. Alkoholabhängigkeit ließ einen schnell Fehler machen. Viel sicherer war es, ab und an unauffällig eine Pille zu nehmen. Wofür gab es solche Mittel?

Robert konzentrierte sich auf die Straße und zwang sich, die Fakten sachlich zu ordnen. Gefühlsduselei brachte ihn nicht weiter. Er begann die Aufgaben durchzugehen, die vor ihm lagen.

In erster Linie war da der Besitzer des Quo Vadis und Verlobte von Monicas Enkelin Laura, Marcello Battistella. Ihn galt es aufsuchen, um ihm ein interessantes Angebot zu unterbreiten. Roberts Gesicht entspannte sich bei diesem Gedanken. Er war sich sicher, der junge Mann würde sich die einmalige Gelegenheit nicht entgehen lassen und zugreifen.

Außerdem würde er ein ernstes Wort mit Mancini reden müssen. Schließlich war dieser Mailänder für den Neubau des Hotels Marina verantwortlich. Die Russen auf der Baustelle machten mehr und mehr Ärger – und Ärger war das Letzte, was sie gebrauchen konnten. Jetzt grinste Robert. Es traf sich gut, dass Mancini auch das Hotel Rocca di Parghelia ganz in der Nähe der Baustelle managte. Wenn Mancini die Sache nicht in den Griff bekommt, musste er eben gehen. Diese Überlegung erheiterte Robert und er drückte aufs Gas. Der kleine Nissan heulte auf. Mehr als 130 Stundenkilometer konnte Robert ihm nicht entlocken. „Verdammte Scheiße“, fluchte er.

Kapitel 3: Monica

Monica dachte an Lauras bevorstehende Hochzeit. In drei Wochen würde ihre Enkelin den jungen Inhaber des einzigen Restaurants, Quo Vadis, in Parghelia, Marcello Battistella, heiraten. Wenn ihr Plan aufging, würde ihre Enkelin eine gute Partie sein.

Monica summte vor sich hin. Mit einem betagten Bügeleisen strich sie über den hellen Baumwollstoff des Rockes. Das Material wollte sich nicht glätten lassen. Sie holte eine kleine Schale mit Wasser, um es anzufeuchten. An einer Stelle hatten sich hellgrüne Stockflecken festgesetzt. Kein Wunder, denn der Rock hatte jahrelang ungetragen in einer Kiste gelegen, die anscheinend die Feuchtigkeit des einfachen Bodens der Behausung aufsaugte. Sie achtete nicht auf diese nebensächliche Kleinigkeit. Sorgfältig richtete sie sich die Falten zu Recht, um am Knick entlang zu bügeln. Die Stille im Raum wurde nur durch das leicht kratzende Geräusch des Eisens auf dem störrischen Stoff unterbrochen. Der große Holztisch in der Mitte des Raumes, auf dem jetzt eine Decke lag und das Bügeleisen stand, knarzte ein wenig. Auf dem Bett, das neben dem Tisch und den Stühlen die einfache Ausstattung des Raumes bildete, lag säuberlich eine Bluse in eben dieser blässlich undefinierbaren Farbe, die vielleicht einmal kakifarben oder ein helles Jeansblau gewesen war. Monica lächelte still vor sich hin, als sie die Arbeit beendete. Sie hängte den langen Rock über einen der sechs Stühle, die seltsam verloren den Tisch umrundeten. Durch eine niedrige Tür ging sie in den angrenzenden Küchenraum, der wie der Wohnraum keine überflüssigen Möbel enthielt, sondern nur einen Butangaskocher und eine Spüle. In einem einfachen Bretterregal an der Wand stapelte sich Geschirr und am unteren Ende baumelten blitzblanke Küchenutensilien und warteten auf ihren Einsatz. Von der niedrigen Decke des kleinen Raumes hingen zu Sträußen gebündelte Kräuter zum Trocknen, deren süßlich-herber Duft sich mit dem modrigen des alten Holzhauses vermischte.

Monica stellte das Eisen hochkant auf ein Brett, damit es auskühlte und verstaute ohne Eile die Bügelutensilien. Zurück im Wohnraum, begann sie ohne Hast, den Kittel, der ihren schmächtigen Körper umhüllte, abzulegen. Vorsichtig griff sie nach der Bluse und streifte sie über, danach zog sie den Rock über. Mit einer Plastikbürste, die sie vom Nachttisch nahm, fuhr sie sich durch die Haare, die an einigen Stellen noch ein dunkles blond vermuten ließen, doch jetzt ebenso farblos, wie die Kleidungsstücke wirkten. Als Monica ihren Aufzug mit einer altmodischen Hornbrille ergänzte, ähnelte sie einer englischen Lehrerin aus einem anderen Jahrhundert. Sie scherte sich nicht um ihr Spiegelbild, als sie ihren bereits gepackten Rucksack schulterte.

Monica trat vor die Tür. Ihr Blick ruhte einen Moment auf dem wahrhaft grandiosen Ausblick, der unten eine Ansammlung von Häusern sehen ließ: das winzige Städtchen Parghelia mit einer Kirche an jedem Ende. Eine Bahnlinie und parallel dazu eine große Überlandstraße, die nicht durch die Mitte hindurch, sondern an dem Ort vorbei führte. Die beiden Verkehrsstränge, die Schienen und die Straße, schnürten das Städtchen regelrecht von dem in der Ferne schimmernden Meer ab. Vor dem einfachen Haus, dessen Tür Monica jetzt sorgfältig abschloss, erstreckte sich ein wundervoll üppiger Garten, der sich ein wenig den Berg hinunterzog. In ihm wucherten Rosen, blühten Bergamottesträucher, streckte ein Kirschbaum seine Zweige erwartungsvoll dem Himmel entgegen. In einer Ecke, die durch einen Zaun getrennt war, gackerten Hühner. Ein großer, schwarzer Hirtenhund lief schwanzwedelnd zu ihr. Monica strich über seinen Kopf, murmelte irgendetwas, er nahm Platz und sie verließ das Grundstück.

Ein schmaler Pfad führte ein Stück weit abwärts. Monica schritt zügig aus, bis sie die Asphaltstraße hinunter in den Ort erreichte und nach weiteren zehn Minuten Fußmarsch die alte Ortsstraße. Das grelle Licht dieses Montagnachmittags im Mai blendete sie. Monica versuchte, auf die andere Seite der Straße zu wechseln, um den Sonnenstrahlen auszuweichen.

Früher konnte ich nicht genug von der Sonne bekommen, ging ihr durch den Kopf, ich war stolz auf den bronzenen Schimmer, den mein Teint annahm. Heute ist das Licht mein Feind. Emotionslos dachte sie an ihre weißfleckigen Beine, die der lange Rock zum Glück versteckte. Im Schatten war es noch kühl. Sie fröstelte. Die Sonnenwärme wäre besser für ihre rheumatischen Knochen als der Schatten, wusste sie. Es war eine Krux.

Monica passierte das einzige Café des Ortes. Ein paar Jugendliche lümmelten sich mit ihren Mopeds davor. Danach erreichte sie die Bahnhofsstraße und bog in die dem Bahnhof entgegengesetzte Richtung ein, um zur Straßenunterführung zu gelangen.

Später am Abend würde sie zum Bahnhof gehen, um Laura zu treffen. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie an ihre Enkelin dachte. Nach kurzer Wegstrecke führte die schmale Straße hinunter in eine breit gefächerte Unterführung, die so gar nicht zu dem verschlafenen Ortsbild passte. Monica schritt sicher aus, ignorierte die Auffahrt zur Überlandstraße, beachtete auch die links und rechts abzweigenden Straßen nicht, sondern entschied sich für die geradeaus führende, als sie die Untertunnelung verließ.

Bald konnte sie auf das Meer schauen und weiter unten auf halb abgeerntete Zwiebelfelder blicken, deren Geruch die Luft schwängerte. Sie wusste, dass in der braunen Erde immer einige rote Exemplare von den Arbeitern vergessen wurden und sie nahm sich vor, sie auf dem Rückweg aufzulesen.

Auf der rechten Seite kündigte ein riesiges Schild ein Viersternehotel mit dem Namen Marina an. Von der Straße aus wirkte die Hotel-Bungalowanlage überaus einladend. Eine mit hohen Palmen bestandene Grünfläche schmückte ihren Vorgarten. Auf dem Rasen ankerte, wie in einer Marina, ein nach mittelalterlichem Vorbild nachgebautes Segelschiff, dessen Masten noch die überdimensionale Leuchtreklame überragten. Aber die Auffahrt täuschte den Betrachter. Nur die erste Appartementreihe des Hotels war bislang fertiggestellt. Der nächste Block befand sich noch im Rohbau. Hinter ihm erstreckte sich eine riesige abfallende Wiese, auf der die überdimensionalen Wohnmobile der Bauarbeiter standen – im Kreis angeordnet als Wagenburg und eine kleine Stadt für sich.

Von weitem sah Monica einen hochgewachsenen Mann aus einem der Wagen treten. Sein Oberkörper war unbekleidet. Die muskulösen Arme verrieten, dass er mit körperlicher Arbeit sein Geld verdiente. Der junge Mann war schön. Monica kannte ihn. Er hieß Tarif, kam aus Marokko, war zweiunddreißig Jahre alt und sie wusste, er litt unter Heimweh. Als er sie zum ersten Mal bei den Hunden erwischte, wollte er sie wegjagen. Bis sie ihn auf Französisch ansprach und an sein Mitgefühl appellierte. Mit der Zeit erfuhr sie einiges von ihm. Er passte sie manchmal ab, wenn die anderen beschäftigt waren. Jedes Mal warnte er Monica:

„Mit meinem Boss ist nicht gut Kirschen essen. Er will, dass die Wachhunde scharf sind, wenn sie nachts freigelassen werden.“

Sie beobachtete, dass Tarif sich eine Zigarette anzündete und zu einer vor einem Wagen sitzenden Gruppe Männer schlenderte, die Karten spielten. Sie achtete darauf, dass sie von den Männern nicht gesehen wurde, als sie weiterging. Kurze Zeit später erreichte sie das ein Stück abseits gelegene, mit Maschendraht eingegrenzte Hundegatter. Das recht große Areal war in verschiedene kleinere Einzelabteile unterteilt. Ein Teil des Zaunes befand sich direkt an der Straße. Der Hotelkomplex würde sich später einmal bis zu diesem Zaun erstrecken und ein riesiges Gelände einnehmen, das Eckgrundstück wurde von zwei Straßen eingerahmt.

Als Monica sich dem Hundezwinger näherte, erhoben sich die Hunde, sie schlugen jetzt tags nicht an. Ein großer Schäferhund kam gelaufen, als sie etwas rief. Die kleinen Mischlinge sprangen unruhig am Zaun hin und her. Den Kehlen der, in einem extra abgeteilten Drahtkäfig untergebrachten, riesigen Doggen entrang sich ein heiseres Bellen.

Monica nestelte umständlich ihren Rucksack vom Rücken, förderte eine große Plastikdose hervor, verschloss den Rucksack wieder, stellte ihn ab und öffnete erst dann die Dose. Sie zauberte aus ihr runde, kugelförmige Fleischbrocken hervor – eine Zubereitung aus Hackfleisch und Gemüse aus ihrem Garten. Ihre Hand mit den Bällchen näherte sich dem Maschendrahtzaun, der Schäferhund winselte, und als Monica das Fleisch durch den Zaun warf, rannte er aufgeregt hin, um es mit einem Ruck aufzuschnappen und zu verschlingen. Sofort kam er wieder zum Zaun gelaufen, sein Schwanz wedelte vor Freude und aus seinem Maul tropfte Speichel. Monica warf ihm noch zwei Brocken hin und lobte den Hund, während er fraß: „Braver Hund, Fresschen! Ich weiß schon, ihr seid hungrig, euer Herrchen gibt euch zu wenig, weil ihr wild sein sollt, aber ich bin ja da, komm, ja, komm ...“ Der Hund rannte zum Zaun und ließ sich von ihr, so gut dies durch die Maschen des Drahtes ging, am Kopf streicheln. Natürlich erhoffte er sich weitere Brocken. In den übrigen Zwingern liefen die Hunde unruhig hin und her. Monica wechselte ihre Position und warf auch den anderen Tieren Fressen aus ihrer Plastikdose zu. Die Doggen balgten sich um die Brocken, und als nichts mehr nachkam, wanderten sie unruhig in ihrem Käfig auf und ab und knurrten, ihre scharfen Zähne zeigend. Die Alte redete auf sie ein, während sie die Dose in ihrem Rucksack zurückverfrachtete und ihn danach wieder auf ihrem Rücken befestigte.

„Ihr dahinten geht leer aus, ich erreiche euren Zwinger nicht, tut mir leid.“ Sie zuckte bedauernd ihre Schultern, als würden die Dobermänner, die in einem Gatter hinter den Doggen lauerten, diese Geste sehen und verstehen können. Dann pfiff sie leise, der Schäferhund spitzte die Ohren, trottete zu ihr und nochmals streichelte sie seinen Kopf, bevor sie sich zum Gehen wandte.

Als Monica an dem großen Gelände entlang wanderte, war sie zufrieden. Ihre Schritte wurden erst zögerlicher, als die normalen Häuser näher kamen. Sie haderte mit sich. Ihr kamen Zweifel, ob es wirklich ratsam war, Marcello, ohne Lauras Eintreffen abzuwarten, einen Besuch abzustatten. Vom Ende der Straße kamen ihr zwei Frauen entgegen. Sie waren noch zu weit entfernt, als dass sie ihre Gesichter erkennen konnte.

Kapitel 4: Hotel Rocca di Parghelia

Ulla und Julia warteten am Empfang des Hotels Rocca di Parghelia. Ein Jungmanager teilte ihnen überaus überheblich mit, dass ihr Reisebüro vergessen hatte, für sie Meerblick zu buchen. Sie waren enttäuscht.

„Es muss ein Versehen sein. Wir zahlen gern einen Aufpreis“, insistierte Julia. „Ich werde die Angelegenheit sofort telefonisch mit meinem Reisebüro klären.“

„No, alles ausgebucht!“ hörten sie nur. Man räumte ihnen keine Chance ein, zwei Reihen weiter nach vorn, zur Meerseite, ein Zimmer zu beziehen.

In diesem Appartement-Hotel, für das sich Julia und Ulla entschieden hatten, schien vieles schwierig zu sein. Dabei hatten sie es nur gewählt, weil es in dieser Zeit das einzige war, das sie nicht auf ein gemeinsames Doppelzimmer festlegte. Sie hatten sich auf eine komfortable Wohnung mit getrennten Räumen gefreut, in denen die eine mal länger schlafen konnte als die andere. Eine Wohnung bezogen sie. Aber weder war diese Behausung behaglich, noch komfortabel, sie gehörte eher in die Kategorie „spartanisch“. Sie wunderten sich, als ihnen nicht einmal ein zusätzliches Zahnputzglas zugestanden wurde. Natürlich könnten sie für einen immensen Aufpreis eine Küchenausstattung erhalten, hieß es, in der wären auch Gläser enthalten, aber sonst? Selbst Julias Bitte nach einer Wolldecke – schließlich war es Anfang Mai nachts noch sehr kühl – bescherte Frust, es hieß allenthalben nur: „No.“

No, keine Snacks, no, keine Getränke, no, der Laden ist geschlossen, no, kein Transfer nach Tropea, no ...

Julia musste lachen, als sie im Küchenschrank diverse Rollen Klopapier entdeckte. Immerhin damit waren sie bestens versorgt. Als sie anderen Gästen von ihrem Ärger erzählten, fragten diese sofort: „Könnt ihr etwas Toilettenpapier entbehren?“ Langsam entwickelte sich ihr Galgenhumor. „Bevor weitere Neins auf uns zumarschieren, lass uns einen Spaziergang machen“, schlug Ulla vor.

Vom Hotel aus wanderten sie eine kleine Straße entlang.

„Hier scheint nirgends ein Weg zum Meer hinunter zu gehen. Lass uns umkehren“, nörgelte Ulla nach einer Weile.

„Warte“, besänftigte Julia, als sie in einiger Entfernung eine Frau erblickte, die ihnen entgegen kam. „Lass uns fragen, wo der Weg zum Meer abgeht.“

„Na gut.“ Sie warteten, bis die Frau nahe genug war, um ihre Frage los zu werden. „Scusi tanto, dov’é il lungomare?“

Die Frau blieb wie angewurzelt stehen. Sie starrte Ulla an, schwieg eine Weile, bis sie endlich in Deutsch antwortete: „Gleich beim Friedhof geht ein Pfad ab, der Sie hinunter ans Meer führt. Eine Strandpromenade gibt es allerdings nicht.“ Die Stimme der Frau war dunkel und angenehm. Sie lächelte und wieder richtete sie ihre Blicke auf Ulla. Ihre hellen, blaugrauen Augen hinter den Brillengläsern musterten Ulla fast quälend insistierend. So standen sie zu dritt eine Zeitspanne lang, die Julia endlos vorkam. Julia fing Ullas hilflosen Blick auf und merkte, dass die Freundin sie am Arm zupfte.

„Wohnen Sie im Ort?“ unterbrach Julia das unangenehme Schweigen. Die Frau reagierte nicht, sie schüttelte nur ungläubig den Kopf und stammelte: „Was treiben Sie hier?“ Julia erwiderte für die Freundin: „Wir beabsichtigen Italienisch zu lernen.“ Neugierig geworden, wiederholte sie ihre Frage: „Sind Sie hier zu Hause?“ Die Frau drehte sich wortlos um, als hätte sie die Fragen nicht verstanden, und schlurfte den Weg, den sie gekommen war, zurück. Ein leerer Rucksack schlenkerte auf ihrem Rücken. Ihr grauer Rock schlotterte um die dünnen Beine.

„Uff!“, atmete Julia durch, „Komische alte Schachtel!“

„Kannst du dir einen Reim darauf machen? Wie die mich gemustert hat! Bin ich ein Gespenst? Bin ich aussätzig? Mir ist ganz angst und bange geworden.“ Ullas Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. „Wo sind wir nur gelandet?“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

Julia versuchte, die Freundin zu besänftigen: „Eher sah diese Alte wie ein Gespenst aus. Schrullige Type. Eine Deutsche. Ist dir die skurrile Nasenabdeckung aufgefallen? Interessieren würde es mich schon, ob sie hier lebt. Ist alles sehr sonderlich.“

„Na gut, vergessen wir’s. Lass uns schauen, ob wir den Weg hinunter zum Meer entdecken.“ Tatsächlich fanden sie kurz vor dem Friedhof den angegebenen Pfad. Er führte steil hinunter zu einem steinigen Strand. Bizarre Felsformationen ragten majestätisch aus klarem Wasser. Das Meer schimmerte wie ein Türkis in der Sonne. Sie waren endlich direkt am Meer. Julias Stimmung hellte sich auf. Wie jedes Mal, wenn sie im Urlaub wieder vor dieser endlosen Fläche Wasser stand, befiel sie Ehrfurcht. Eine kindliche Freude breitete sich in ihr aus, die sie zwang, spontan jemand zu umarmen. Dieser Jemand war heute Ulla. „Schön, nicht?“ stammelte sie, während sie Ulla drückte. Und wäre der Felsenuntergrund nicht so uneben, hätte sie getanzt.

„Schau, dort liegt Tropea!“ Julias Finger zeigte auf den Ort in der Ferne.

Einige Zeit später holte sie die Wirklichkeit wieder ein, als Julia – zurück im Appartement – ihre Sachen auspackte. „Nicht mal Haken haben sie angebracht und der einzige Schrank ist winzig“, maulte sie.

„Camping, stell dir vor, du bist beim Camping“, munterte Ulla Julia auf und wuchtete einen kleinen Nachttisch in den Küchenraum, in dem das Bett stand, das Julia sich ausgesucht hatte, da sie für die Malaise mit dem Reisebüro verantwortlich zeichnete. „Hier, der passt an dein Bett, warte, ich stelle dir noch einen Stuhl dazu“

„Na gut, gib mir ein paar Bügel, ich hänge meine Sachen in die Griffe der Küche. Die benutzen wir ja eh nicht!“ Ulla lachte.

„Alte Camper – und das sind wir ja beide – wissen immer einen Rat.“

„Die alte Frau sah aus wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt“, sinnierte Julia.

Ulla lag ausgestreckt auf Julias Bett und betrachtete das Ergebnis ihrer Räumerei. „Sie geht mir auch nicht aus dem Kopf. Aber mein leerer Magen sagt mir, vergiss alles andere. Komm, schauen wir, wo wir etwas zu essen bekommen. Wie spät ist es eigentlich?“

Julia blickte auf ihre Swatch. „Sieben, es wird wirklich Zeit. Brechen wir auf.“

In der Rezeption versorgte man sie mit dem Hinweis, dass sie nur die Fernstraße überqueren müssten, dann würde nach etwa zweihundert Metern ein schmaler Kiesweg zu einer kleinen Tunnelröhre hinunterführen, welche die Bahngleise unterquerte. Es wäre kein offizieller Weg, aber von allen im Ort benutzt und die schnellste Verbindung zum Bahnhof und zum Städtchen Parghelia. Der Pfad würde auf der anderen Seite direkt hinauf zum Bahnsteig führen. Falls sie einmal nach Reggio wollten, oder nach Pizzo, könnten sie von dort starten. In Pizzo empfehle man ihnen, das Tartufo-Eis zu probieren. Es sei eine weltberühmte Spezialität. Morgens, mittags und abends würde ein Zug am Bahnhof halten.

Julia würgte eine patzige Antwort hinunter, denn ihr Magen hing einfach sonst wo und wünschte sich vor dem Tartufo-Eis aus Pizzo erst etwas Handfesteres. Er signalisierte ihr Unbehagen in großem Ausmaß. Leer wie er war, kaute er noch an dem Ärger mit der unkomfortablen Unterkunft ohne Meerblick, als sie sich durch das hohe Gestrüpp und durch die niedrige Röhre kämpften, sich auf einem leeren, trostlosen Bahnhof wiederfanden und ihre Schritte zu der Straße richteten, in der sich ein Kirchturm reckte. Und richtig, neben der Kirche begann die Hauptstraße des Ortes. Sie entdeckten einige, bereits geschlossene Geschäfte, ein kleines Café, dessen Läden ebenfalls verrammelt waren, eine Pizzeria, die erst in der Hauptsaison öffnete und schließlich ein Lokal mit dem sinnigen Namen „Quo Vadis“, in dem sie bald die einzigen Gäste waren.