Tatort Mallorca - Barbara Ludwig - E-Book

Tatort Mallorca E-Book

Barbara Ludwig

4,7

  • Herausgeber: Virulent
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Für Ulla Liebich erweist sich die Einladung ihres Verlages nach Mallorca zu reisen als Desaster. Die Polizei verhaftet sie bereits am Flughafen: In ihrem Handgepäck befindet sich ein Sprengsatz. Verdächtig ist ihre Verbindung zu Enno Carlotta, einem verdeckten Ermittler, der übergelaufen zur kalabrischen Mafia als Schleuser in Mali tätig ist. Sie kommt gegen Kaution frei. Als zwei weitere Bombenattentaten kurz darauf die Insel erschüttern, die durchaus ihr gegolten haben können, vergeht der sonst so lebenslustigen Ulla das Lachen. Auch die Medien stürzen sich auf sie und drücken ihr das Etikett "Mafiosobraut" und "La bomba" auf. Im Radio wird sie mit dem alten Schlager "Vamos a la playa" verspottet. Gern nimmt sie das Angebot des reichen Immobilienmaklers Svevo Angeletti an, sich in seiner Villa zu verstecken und ahnt nicht, welche tragische Reichweite ihre Entscheidung hat... ["Vamos a la playa" hat alles, was ein Urlaubskrimi braucht: Spannung, Humor und Liebe.]

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Seitenzahl: 496

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Tatort Mallorca –vamos a la playa

Barbara Ludwig

Thriller

Virulent ist ein Imprint

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Altensteinstraße 42

14195 Berlin

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Copyright E-Book: 2017 ABW Wissenschaftsverlag GmbH

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

eISBN 9783864741029

Umschlaggestaltung: brandnewdesign, Hamburg

Titelabbildung: Port de Sóller, Suze, photocase.de

P170018

Inhalt

Tag eins – Sonntag

Flughafen Palma de Mallorca

Bari (Süditalien)

Tag zwei – Montag

Libysche Küste (Mittelmeer)

Bari (Süditalien)

Paguera (Mallorca)

Andratx

Paguera

Flughafen Palma de Mallorca

Tag drei – Dienstag

Kidal, Mali

Es Capdellà

El Toro

Paguera

Palma

Paguera

El Toro

Tag vier – Mittwoch

Kidal, Mali

Paguera

In der Cala de Monjo

Esporles

Port Adriano

Paguera

Im Inland

Tag fünf – Donnerstag

Kidal, Mali

Paguera

Palma

Soller

Tag sechs – Freitag

Kidal, Mali

Paguera

Soller

El Toro

Soller

Berlin

Tag sieben – Samstag

Berlin

Soller

Ibiza

Paguera

El Toro

München

Tag acht – Sonntag

München

Soller

Paguera

El Toro

Palma

El Toro und Palma

Tag neun – Montag

El Toro

Paguera

El Toro

Palma

El Toro

Palma

Paguera

Ein unbekannter Ort

Palma

Paguera

Port Adriano

Die Protagonisten dieses Buches

Nachwort

Tag eins – Sonntag

Flughafen Palma de Mallorca

Ulla lächelte, als der Flieger mit einem Ruck andockte. Sie lächelte, als der Steward die Tür öffnete und ein Schwall warmer Luft ins Innere drang. Und sie lächelte, als sie an ihre speziellen Kräutertropfen dachte. Sie halfen in der Tat, der hinderlichen Flugangst bye-bye zu sagen. Was sollte ihr jetzt noch passieren?

Sogar eine Creme hatte sie im Bord Shop erstanden und am Fenster gesessen. Gut, auf den scheußlichen Kaffee aus dem Plastikbecher würde sie künftig verzichten.

Mit einem Patent auf das Mittel und den Einnahmen aus dem Buchvertrag könnte sie in Mallorca ein neues Leben beginnen. Dem Glück stand nichts mehr im Wege.

Um sie herum erhoben sich die Passagiere und begannen hektisch, ihr Handgepäck aus den oberen Fächern zu nehmen. Während Ulla sich entspannt zurücklehnte und den blauen Himmel über dem Flugfeld betrachtete. In München hatte sie ein grauer Tag mit Nieselregen verabschiedet, der Kalender wies Ende März aus. Zwar hatte Ulla bei einem Spaziergang im Westpark vor zwei Tagen an einigen sonnenzugewandten Zweigen der Obstbäume bereits vorwitzige weiße Blüten entdeckt, aber Frühling? Der ließ wie immer in Deutschland auf sich warten. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich ein Leben auf Mallorca vorstellte. Als Heilpraktikerin konnte sie sich überall niederlassen.

Sie würde unter das Kapitel Enno endgültig einen Schlussstrich ziehen, ob er lebte oder nicht. Schließlich existierten genügend andere attraktive Männer.

«Warten Sie! Ich bin Ihnen mit Ihrem Handkoffer behilflich.»

Ulla schob die Sonnenbrille auf die blonden Haare und stellte den Kragen ihrer Bluse auf. Wie bei den meisten Männern blieb sein Blick ein wenig länger als notwendig an ihrer Oberweite hängen. Sie war daran gewöhnt, und bei einem interessanten Typen wie diesem störte sie das Schauen nicht.

«Danke», quittierte sie mit einem Lächeln. Sie wartete einen Moment, ehe sie aufstand, um sich in die Schlange der Aussteigenden im Mittelgang einzureihen.

Ihre Verlegerin Almuth Mann hatte vorn fast den Ausgang erreicht und warf ihr aus kühlen Augen einen prüfenden Blick zu. Jeder Neuanfang besaß seine Herausforderungen. Getrost durfte man Almuth Mann mit ihrer herrischen Art in die Kategorie schwierig einordnen und dazuzählen.

Seit Ulla den Vertrag unterzeichnet und dem Verlag die Geschichte Mein Leben als Kräuterfrau in Kalabrien verkauft hatte, war kaum etwas übrig vom geschäftsmäßigen Charme der Frau Mann. Anscheinend bereute sie, Ulla nach Mallorca eingeladen zu haben.

«Sie können mir in den Pausenzeiten des Meetings Ihre Vorstellungen zum Buch erläutern. Das spart Zeit. Zur Bekräftigung der Geschehnisse wäre es in meinen Augen zweckmäßig, Ihren Commissario di Flavio einzubeziehen», so ihre Worte vor einer Woche.

Ulla ordnete sich in das Gewirr der Fluggäste ein, die drängelten und schubsten und mit Rollkoffern oder Riesentaschen durch die Gänge hasteten. Vorbei an den Bänken vor den Gates, auf denen Jugendliche lungerten oder ihren Ballermann-Rausch ausschliefen. Sie meinte, den kurzen Haarschopf der Verlegerin vorn rhythmisch auftauchen zu sehen.

Ein Rad ihres Handkoffers verklemmte sich von Zeit zu Zeit und verhinderte ein rasches Aufschließen. Darüber hinaus merkte Ulla, wie schwer sie sich tat, mit Menschenansammlungen und mit eiligen, nervösen Zeitgenossen in diesen überdimensionalen Hallen des Riesenflughafens zurechtzukommen. Das Leben auf dem Land hatte sie entwöhnt.

Sie blieb stehen und schaute auf den glänzenden Fußboden. In ihren Augen sonnte er sich verträumt im einfallenden Licht der riesigen Fensterscheiben. Der Anblick erdete Ulla und tröstete sie.

Plötzlich erhielt sie einen Stoß in den Rücken. Jemand packte unversehens ihren Arm. Ulla schreckte zusammen, als zusätzlich die Notsirenen aufheulten.

«Halt, mein Handkoffer», lamentierte sie lautstark. Der durchdringende Ton der Sirenen übertönte ihren Einwand. In der entstehenden Panik drängelten die Menschen, schubsten und rannten rücksichtslos Richtung Ausgang. Während der unbekannte Arm sie grob an die Seite führte und sie durch eine Tür in eine Art Kammer schob.

«Sind Sie wahnsinnig?», beschwerte sie sich. Ihr Mund wurde unsanft verschlossen. Ulla wehrte sich, wand sich, ohne Erfolg. Der Druck des Armes, der ihren Oberkörper umklammerte, verstärkte sich nur. Die Sirene heulte jetzt in Abständen. Die Hand ließ ihren Mund frei. Sie hustete.

«Was hat das zu bedeuten?», quetschte sie heraus. «Lassen Sie mich sofort los!»

«Wir bitten alle Passagiere, den Flughafen umgehend zu verlassen, bitte bewahren Sie Ruhe, es besteht keine unmittelbare Gefahr. Es handelt sich um eine Notfallübung. Wir bitten um Verständnis», informierte eine leiernde Stimme außerhalb des Vorratsraums in Spanisch, Englisch und Deutsch aus dem Lautsprecher.

Sie sah, dass sich die angespannte Miene des Mannes lockerte. Ein winziges, kauziges Lächeln erschien um seinen Mund mit dem Dreitagebart.

Ulla wurde erst jetzt bewusst, dass sie dicht beieinanderstanden. Sie nahm seinen Geruch wahr und tippte auf Nivea Creme oder Babyseife. Mit einem Hauch Marzipan? Im nächsten Moment spürte Ulla seine Lippen auf den ihren. Ihre Hände versuchten, den Oberkörper des Mannes beiseitezuschieben. Keine Chance. Sie presste ihre Lippen zusammen. Sollte er doch ihren Lippenstift schmecken. Auch der zu schade für ihn!

Ehe sie zu einer anderen Aktion fähig war, stieß der Mann sie von sich. Sie prallte gegen das Regal und strauchelte. Als sie sich aufrappelte, war der Mann verschwunden. Ulla stand allein unter dem Funzellicht des Abstellraums inmitten zahlreicher Flaschen mit Flüssigseifen und Unmengen heruntergefallener Toilettenrollen. Die Sirenen schickten ihren lang gezogenen Heulton erneut durch die Flughafengänge. Der Ton durchdrang mühelos die dünne Wand und kroch jetzt einem Ungeheuer gleich in Ullas Eingeweide. Vergeblich suchte sie nach einem Türknauf und begriff, dass der Typ sie eingesperrt hatte.

«Mist», fluchte sie und: «Das kann nur mir passieren, blond halt.» Der spontane Ausruf rang ihr trotz der unerfreulichen Situation ein Lächeln ab, weil er sie an ihren Sohn Dennis erinnerte.

Sie inspizierte das Schloss und wetterte erneut. Ohne einen Vierkantschlüssel war ein Öffnen aussichtslos. Sie beugte sich zum Schlüsselloch. Deprimiert schaute sie hinaus und geradewegs auf ihren Koffer. Er behauptete sich ein Stück entfernt, gleich neben der Abgrenzung zum Transportband im gähnend leeren Gang. Die Sirenen schwiegen. Ulla fühlte sich, als wäre sie eine der letzten Überlebenden nach einem Super-GAU. Sie bummerte sinnlos mit den Fäusten gegen die schwere Tür, bis die Handballen ihr wehtaten und wiederholte das Ganze mit den Füßen, bis sie vor Schmerz das Gesicht verzog. Erschöpft hockte sie sich nieder, holte Luft. Bevor Selbstmitleid sie zu übermannen drohte, bezog sie wieder ihren Beobachtungsposten am Schlüsselloch. Sie starrte den Koffer an, der Koffer starrte sie an. Der Boden glänzte nach wie vor. Nicht einmal eine Maus wagt sich heraus, schimpfte sie innerlich, und sehnte sich den Sirenenton regelrecht herbei. Aber es blieb still.

Um Ort, Zeit und ihre Angst zu verdrängen, begann sie zu singen. Ihre Stimme klang seltsam blechern und piepsig. Sie lachte, als ihr der Vater mit seinem von der klassischen Musik geprägten Geschmack einfiel. Er war überzeugt, seine Tochter sei unmusikalisch. Er hielt Schlager für unterstes Niveau. Und ihr fiel nichts anderes ein als der Anton von Tirol.

Ihr Rücken schmerzte vom Bücken, sie streckte sich für einen Moment. Im nächsten presste sie das Auge wieder vor das Loch.

Als sie schwere Schritte hörte, machte ihr Herz einen Sprung. Die Hand fast am Holz der Tür, um dagegen zu hämmern, zögerte sie.

Ein Rücken, breit, schwarz, ein Maschinengewehr. Aus der niedrigen Perspektive wuchs die Gestalt in die Höhe wie ein Schreckgespenst. Gebannt verfolgte sie die unnatürlichen, ruckartigen Vorwärtsbewegungen. Erneut schob sich der Lauf eines Gewehrs ins Sichtfeld. Ulla hielt den Atem an. Ihre Gedanken überschlugen sich. Würden die Männer auf die Tür feuern, falls sie sich bemerkbar machte? Szenen aus den Krimis der letzten Monate flimmerten über ihre Gedankenleinwand. Sie zwang sich zur Ruhe. Männer einer Spezialeinheit oder Terroristen? Unmöglich festzumachen, wenn sie nicht reden!

Alles spielte sich lautlos ab, die zwei Männer verständigten sich nur mit Handzeichen.

Schwarzer Stoff, ganz nah. Jetzt wieder Sicht. Ein dritter Mann näherte sich dem Koffer, ein Gerät in den Händen. Die beiden anderen entzogen sich ihrem Blickfeld. Es dämmerte Ulla: Die Männer suchten nach einer Bombe!

Die Sirenen?

Keine Übung!

Realität!

In ihrem Koffer?

Eine Bombe?

Für einen Moment war sie in ihrer Aufmerksamkeit abgeschweift. Schon glänzte der Flur leer. Der Koffer war verschwunden.

Ullas Gedanken überschlugen sich, während sie dahockte und verharrte, als wäre sie paralysiert.

Die Tür splitterte, Holz flog durch die Luft. Ulla schützte mit dem Handrücken die Augen. Ehe sie einen Laut von sich geben konnte, überwältigte man sie, drückte man ihr Gesicht zu Boden und riss ihre Arme brutal nach hinten. Sie spürte das kühle Metall von Handschellen an den Gelenken und hörte das Geräusch des Zuschnappens. Gefesselt wurde sie hochgezerrt und auf die Beine gestellt. Eine rohe Hand schubste sie hinaus in den Gang. Die Männer verfrachteten sie wie einen Gegenstand auf eines dieser Flughafen-Elektromobile. Es fuhr auf der Stelle los. Sie schmeckte Staub im Mund.

Ein Hohn! Und sie hatte geglaubt, nach der Landung könne ihr nichts mehr passieren.

Ihre nächste Station ließ nicht ahnen, dass sie auf einer Sonneninsel weilte. Der sterile deckenhoch gekachelte Raum enthielt einen Tisch und zwei Stühle. Eine Neonröhre verteilte kaltes Licht. Ulla wurde roh auf einen Sitz gedrückt. Mit Handschellen an der Lehne befestigt, fragte man sie in Spanisch nach ihrem Namen.

«Ich spreche nicht Spanisch. Eine Verwechslung, ich …», versuchte Ulla, in Deutsch zu erklären.

«Esperan un momento.»

Als der Beamte die Tür öffnete, bemerkte Ulla den Mann, der vor der Tür postiert war, er war mit einem Maschinengewehr bewaffnet. Die Situation machte ihr Angst. Sie zwang sich, Ruhe zu bewahren. Sie befand sich nicht in der Gewalt von Terroristen, sondern im Gewahrsam der Polizei. Die Angelegenheit würde sich klären lassen. Ihre Verlegerin, Frau Mann, würde sie vermissen und sie könnte notfalls Commissario di Flavio zu Hilfe rufen. Kurze Zeit später erschien der Beamte mit einem Kollegen in Zivil.

«Mein Name ist Schneider, Hauptkommissar. Ich werde die Befragung in Deutsch fortsetzen. Sind Sie einverstanden, dass wir das Gespräch aufzeichnen?»

Ulla nickte. Er stellte ein Aufnahmegerät auf den Tisch und betätigte den Einschaltknopf.

«Name, Vorname, Wohnsitz?» Ulla ratterte die Angaben herunter. Notgedrungen nannte sie ihre letzte Adresse in Kalabrien. Ihr entging nicht, dass die Beamten bei der Nennung der Anschrift Blicke tauschten.

«Sie haben Ihren Mädchennamen wieder angenommen?»

«Ja.»

«Woher kamen Sie, mit welchem Flug?»

Auch das nicht schwer zu beantworten.

«Warum aus München, was haben Sie in München gemacht?»

Ulla erklärte, dass München ihre Heimatstadt wäre und sie sich dort niederlassen wolle. Sie verschwieg dem Beamten ihren vagen Plan, in dessen Mittelpunkt ein zukünftiges Leben in Mallorca stand, und führte aus, dass ihr Sohn in München leben würde und überhaupt. Das Überhaupt interessierte Kommissar Schneider überhaupt nicht.

«Halten Sie sich bitte an die Fragen», schnitt er ihr das Wort ab.

«Aus welchem Grund sind Sie nach Mallorca gereist?» Ulla bemühte sich, die Frage so knapp wie möglich zu beantworten.

«Gehört der Handkoffer Ihnen?» Er zeigte ihr ein Bild des einsam im Gelände stehenden Gepäckstücks, so wie sie es aus ihrer Schlüssellochperspektive wahrgenommen hatte.

«Ja. Ein Mann packte mich am Arm und schob mich in diese Kammer, als die Sirenen losgingen.»

«Wir fanden in Ihrem Gepäck eine Schachtel mit einem Cremetiegel. Der Tiegel enthielt plastischen Sprengstoff und einen Zünder. Zum Glück war er nicht fachgerecht angebracht, sodass keine Detonation erfolgte.»

«Um Gottes willen.»

Der Beamte zeigte ihr auf seinem Laptop ein Foto. Ulla erkannte die Verpackung.

«Das ist die Aloe-vera-Creme, die ich im Bord-Shop erstanden habe. Jemand hat mir den Sprengstoff hineingeschmuggelt! Der hilfsbereite Mann aus der Nebenreihe. Ich fand es überaus charmant von ihm, mir meinen Koffer aus der Ablage herunterzuheben», dachte sie mehr laut, als zu antworten.

«Ist es nicht so, dass Sie die Bombe in Ihrem Handgepäck selbst deponiert haben? Hegten Sie die Absicht, Selbstmord zu begehen und dabei ein paar Menschen mitzunehmen? Wir haben die Aussage eines Psychotherapeuten, den Sie kurz vor ihrer Abreise aufgesucht haben.»

«Meine Konsultation bei Herrn Dr. Seibling hatte einen anderen Grund. Ordnete er mich als suizidgefährdet ein?», antwortete sie selbstbewusst. Dachte dieser Hauptkommissar, bei jedem Besuch bei einem Psychologen ginge es um solche schwerwiegenden Gründe? Sie kannte Dr. Seibling schon lange und hatte ihn um Rat gefragt. Schließlich stand ihr Leben auf dem Prüfstand, aber Selbstmord?

«Sie sind ohne Arbeit und ohne festen Wohnsitz. Ihr Lebenspartner ist seit einem Jahr verschwunden. Man hat ihn aus dem Polizeidienst entfernt, weil er zur kalabrischen Mafia, der 'Ndrangheta übergewechselt ist. Wir vermuten, dass der Mann, der Sie Ihren Angaben nach in der Kammer einsperrte, Ihr Komplize oder der Komplize Ihres Lebenspartners ist. Halten Sie Kontakt zu Terrorgruppen?»

«Nein, weder bin ich dem Mann freiwillig gefolgt, noch kenne ich den Mann. Haben Sie ihn festgenommen? Er hat mich in diese vermaledeite Kammer eingesperrt! Und er oder ein anderer hat mir diese ominöse Bombe untergeschoben. Wie steht es denn mit Bildern aus den Überwachungskameras?»

«Auf den Bildern einer nahegelegenen Kamera sieht man Sie und den Arm eines Mannes. Die Geste, mit der er Ihren Arm berührt, wirkt vertraut. Sein Gesicht befindet sich außerhalb der Reichweite der Kamera. Offensichtlich kannte er deren Position.»

«Sehen Sie, der Mann hat alles geplant.»

«Beschreiben Sie den Mann.»

«Er stand neben mir und versuchte, mich zu küssen. Ich habe mich gewehrt. Sein Aussehen war für mich nicht relevant, außerdem war es schummerig in der Kammer. Aber gut, er war etwa so groß wie ich, sein Bart kratzte, so ein Dreitagebart. Er war jünger als ich.»

«Können Sie sagen, ob der Mann mit Ihnen im gleichen Flugzeug angereist ist?»

«Keinen Schimmer. Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn wiedererkennen würde.»

So lief das Frage-Antwort-Spiel noch eine Weile. Im Kern drehte es sich stets um die gleiche Frage: «Mit wem hatten Sie in der letzten Zeit Kontakt?» Sie wurde darüber informiert, dass ihre Handydaten ausgewertet werden würden und ihr E-Mail Account. Froh, als die Befragung endete, registrierte sie kaum, was der nächste Satz Schneiders bedeutete.

«Bis die Zusammenhänge geklärt sind, nehmen wir Sie in Schutzhaft. Wir werden Sie in ein Gefängnis überstellen.»

Mit ihrer Kraft am Ende protestierte sie halbherzig:

«Ich möchte einen Rechtsanwalt hinzuziehen und bitte, sprechen Sie mit Commissario di Flavio, er kann Zeugnis für mich ablegen. Er ist als Ausbilder bei den Eurocops tätig.»

Schneider ging nicht auf Ullas Worte ein, sondern bedeutete dem wachhabenden Beamten, dass das Verhör beendet war. Zwei Männer der Spezialtruppe erschienen, lösten ihre Handschellen vom Stuhl, baten sie, aufzustehen, die Hände nach hinten zu strecken und befestigten die Marterinstrumente erneut. Flankiert von den beiden, sie erschienen ihr wie Riesen, stolperte sie auf einen Gang hinaus und durch eine Tür ins Freie. Die Nacht hatte sich inzwischen über die Insel gesenkt und Ulla sog gierig die milde Luft ein. Sie hörte in der Nähe einige Grillen zirpen. Ihre Freiheit währte nur kurz, im nächsten Moment saß sie im Dunkel eines gepanzerten Fahrzeugs. Nach dem Anlassen dröhnte der Motor des schweren Wagens unangenehm in ihren Ohren.

Ulla schloss erschöpft die Augen, ihr Vorrat an Kraft war aufgebraucht. Nach einer Weile hielt der Transporter, die Tür wurde geöffnet und ein Schwall frischer Luft schwappte herein. Ehe sie sich einen tiefen Atemzug gönnen konnte, wurde sie unmissverständlich mit einem Gewehr im Anschlag aufgefordert, auszusteigen. Nicht leicht, ohne die Arme zu Hilfe nehmen zu können. Schließlich half ihr einer der Beamten hinunter.

Ein kurzer Rundblick zeigte ihr zwei dürftige Palmen, deren Wedel sich sanft im Abend- oder besser Nachtwind wiegten, und am Ende eines großen Innenhofes eine imposante Treppe, die auf eine Galerie führte. Ulla erinnerte sich an das recht große Gebäude, es lag ziemlich weit oberhalb im Ort und imponierte wie die meisten Häuser in einem warmen Ockerton. Sie befand sich im Ort Andratx. Nicht im mondänen Hafen, der von der feinen Gesellschaft bevorzugt wurde, sondern im alten Ort im Landesinnern.

Jeden Mittwoch wurde hier Markt abgehalten. Neben den Fakes aller Marken gab es die landestypischen Schmalzkringel, die Ensaimadas, den herrlichen Schinken und anderes zu kosten. Hunger meldete sich und Durst. Sie verbot sich alle Gedanken an Essen. Existierte nicht ein neues Gefängnis in der Nähe eines großen Einkaufszentrums, nördlich von Palma? Warum machte man sich die Mühe, sie hier unterzubringen? Ihre Gedanken verhedderten sich, und sie gab es auf, nachzudenken.

Sollte man sie in eine Zelle sperren. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als den verkrampften Rücken zu strecken, die Augen zu schließen, abzutauchen, das Ungeheuerliche zu vergessen. Morgen war ein anderer Tag, ging ihr das Motto der Scarlett O’Hara aus Vom Winde verweht durch den Sinn. Ja, morgen würde ein neuer Tag anbrechen.

Aber vorher führte man sie erneut in ein Vernehmungszimmer. Ein Beamter in Zivil, der sich als Hauptkommissar Meinhardt vorstellte, richtete Fragen und nochmals Fragen an Ulla. Irgendwann sackte sie vor Erschöpfung vornüber. Ihre Stirn landete unsanft auf dem Tisch. Es gelang ihr kaum noch, die Augen offen zu halten. Sie barg den Kopf in den Armen. Als ihr Kaffeegeruch in die Nase stieg, hob sie ihn ein Stück an und blinzelte gegen das Neonlicht. Die verlockend duftende Tasse stand direkt vor ihr.

«Warten Sie, ich befreie Sie von den Handschellen. Trinken Sie.»

Meinhardt umrundete den Vernehmungstisch und befreite ihre Hände. Sie rieb sich die vom Metall angeschwollenen Handgelenke.

«Ich müsste zur Toilette, bitte.» Er nickte und rief eine Beamtin, die sie ein Stück weit einen Flur entlang zu einem altmodischen Klo führte. Nicht einladend, aber ein Klo. Das kalte Wasser beim Händewaschen tat gut, sie ließ es eine Weile über die Schwellungen laufen. Ein Spiegel, um das Aussehen zu prüfen, fehlte. Zurück im Vernehmungsraum griff sie nach der Tasse und schlürfte das inzwischen lauwarme Getränk dankbar in sich hinein.

«Ein Letztes, bevor wir Sie für die Nacht in eine Zelle bringen», Meinhardts Ton fiel milder als vorher aus, «schauen Sie sich bitte die Fotos genau an, die ich Ihnen jetzt zeige.» Er legte zwei Aufnahmen vor Ulla auf den Tisch. «Erkennen Sie den Mann in der Mitte des Bildes? Bitte nehmen Sie sich Zeit.»

Ulla nahm eines der Fotos in die Hand und warf einen Blick darauf. Es zeigte eine Gruppe Männer in Tuareg-Gewändern, in ihrer Mitte, wie ein Fremdkörper, ein Mann in europäischer Kleidung. Die Landschaft unwirklich, eine Wüste. Mastix säumte den Rand der Fahrstraße, die kaum mehr als eine breitere Spur im Sand zu sein schien. Der Europäer auf dem Bild ähnelte von der Gestalt her Enno. Das Bild war aus der Höhe aufgenommen und ziemlich unscharf. Ulla griff nach dem nächsten Foto. Auf diesem war das Gesicht des Mannes herangezoomt und besser zu erkennen. Der Mann sah Enno verdammt ähnlich! Es war Enno! Die Erkenntnis versetzte ihrem Herzen einen Sprung.

Er lebt, er lebt, er lebt. Der Gedanke schwang in ihr wie eine Glocke und trieb ihr Röte ins Gesicht.

Im gleichen Augenblick das Aufleuchten von tausend Achtungslämpchen.

«Egal, wer dich fragt, auch wenn es die Polizei ist. Und egal welche Behauptungen aufgestellt werden, merke dir bitte: Du kennst mich nur flüchtig, wir hatten eine kurze Beziehung, die unglücklich verlief und du weißt nichts Näheres über mich. Versuche zu schauspielern, denke daran, mein Leben könnte davon abhängen. Mein Gott, Ulla, ich hoffe, man bringt dich nie in eine solche Situation. Es war falsch von mir, mich mit dir einzulassen. Aber …», hatte Enno ihr wieder und wieder eingeschärft. Seine Worte im Ohr, klammerte sie sich mit ihrem Blick an dem Bild fest. Im Hinterkopf die Angst, sich mit einer Geste, einer unbedachten Reaktion zu verraten. Erst nach einer Weile fühlte sie sich gewappnet und schaute auf.

«Entschuldigen Sie, ich wollte sichergehen. Nein, ich erkenne niemanden.» Sie deponierte die Fotos auf dem Tisch und legte die Hände in den Schoß.

«Gut, wenn Sie das sagen. Der Mann», Meinhardt legte den Finger auf den Europäer, «ähnelt ihrem Lebenspartner Enno Carlotta, fanden wir.»

«Eine vage Ähnlichkeit besteht. Aber Lebenspartner? Wir hatten eine kurze Liebesbeziehung. Aber das ist mehr als ein Jahr her», rettete sie sich mit einer Schutzbehauptung, Ennos Worte im Ohr.

«Gut, für heute machen wir Schluss. Bitte führen Sie Frau Liebich in ihre Zelle.»

Ulla atmete erleichtert auf. Sie ahnte nicht, dass ihr die erkennungsdienstliche Behandlung noch bevorstand. Ein Beamter fertigte Fotos von ihr an. Unter anderen Umständen hätte sie gescherzt und gesagt: «Schicken Sie mir einen Abzug für meine Website», oder so ähnlich. Das Lachen verging ihr endgültig, als sie sich vor einer Beamtin ausziehen musste und abgetastet wurde.

Endlich war alles vorüber. Sie nahm, ohne zu protestieren, den leichten Anstaltsanzug, streifte ihn über und folgte der Wachhabenden. In der Hand das Stück Seife, das Handtuch sowie die zwei Wolldecken, die man ihr gegen Quittung ausgehändigt hatte. Als sie die Zelle erreichte, wollte sie nur eines: ausruhen.

Bari (Süditalien)

Commissario di Flavio bat den Fahrer, ihn abzusetzen, als der Militärjeep die Altstadt von Bari erreichte.

«Das Meeting ist für siebzehn Uhr anberaumt. An Bord erhalten Sie allen Service.»

«Si, si. Grazie. Ich möchte mir nur die Beine vertreten. Erst der Flughafen, dann das Flugzeug, jetzt das Auto, ich bitte um Verständnis. Ich finde das Schiff, keine Sorge. Zwei Jahre Marine.»

Ein Zucken der Augenbrauen, der Wagen stoppte, und di Flavio kletterte hinaus. Im nächsten Moment stand er auf dem Corso. Besser ausgebaut als zu seiner Zeit, schlängelte sich die imposante Straße am Meer entlang. Die Stadtmauer zog sich linker Hand hin, jetzt mit einem üppigen Grünstreifen davor. Es roch nach Salz, nach Fisch, nach Wiese und dazwischen mischte sich der Geruch nach Heimat.

Die Vorzeigestraße ähnelt heute in vielem der Hafenpromenade in Palma. So di Flavios Gedanken beim Blick auf die Wellen, die gegen eine massive Kaibefestigung rollten und ein gleichmäßig klatschendes Geräusch verursachten. Der Himmel spannte sich wolkenlos in einem hellen Blau über dem Meer, und die Sonne warf Glitzereffekte auf das Wasser.

Er beobachtete ein paar Jungen. Sie spielten auf den Befestigungspoldern Fangen. Dann wandte er sich ab und schlenderte durch das alte Tor in der Stadtmauer. Trutzig mit unvollendeten Turmstümpfen erhebt sich dahinter seit fast tausend Jahren die Basilika San Nicola, wie eh und je das Ziel von Touristengruppen. Di Flavio lächelte, als er die Worte einer Reiseführerin aufschnappte, die geehrten Damen und Herren mögen dem erst kürzlich aufgestellten Denkmal, rechter Hand neben dem Eingang, Beachtung schenken. Die Figur des heiligen Nikolaus, des Schutzheiligen der Seeleute sei durch eine großzügige Stiftung des russischen Staatspräsidenten Putin ermöglicht worden. Die Statue war neu für ihn.

Er hielt sich an das Alte und tauchte in das Dunkel der Kathedrale ein, um bei den Gebeinen des heiligen Nikolaus eine Kerze anzuzünden und ein kurzes Gebet zu sprechen. Als er die Kirche verließ, rief jemand hinter ihm: «Hallo, alter Kumpel.» Ehe er sich umdrehen und feststellen konnte, wen der Rufer meinte, schlang jemand die Arme um seinen Hals, drückte ihm ein Küsschen auf jede Wange, um ihm anschließend einen kräftigen Schlag auf die Schulter zu verpassen.

Den Mann hätte er nicht gleich erkannt, nur die Stimme war annähernd gleich geblieben. «Monte?» Sein Gegenüber wirkte trotz der modernen, aber gediegenen sportlichen Kleidung antiquiert, wie aus der Zeit gefallen. Klein, fast schmächtig, das Gesicht grau wie die Haare, der Blick unruhig. Nicht unbedingt sympathisch.

«Ja, alter Kämpe. Ewig nicht gesehen. Nun ja, war seit Langem nicht mehr in der Heimat und fische anderswo im Geheimen, du verstehst.»

Di Flavio konnte sich nicht erinnern, jemals vertraut mit Monte gewesen zu sein. Monte stammte wie er aus der Umgebung von Tropea und in einer so kleinen Stadt läuft man sich zwangsläufig ab und zu über den Weg. Zusätzlich hatten sie vor einem Jahrzehnt einmal drei Monate zusammen in Mailand an einem Fall gearbeitet, aber es war ein sehr distanziertes Verhältnis gewesen. Keines, welches derartige Gefühlsausbrüche rechtfertigte. Notgedrungen akzeptierte er Montes Gesellschaft und sie liefen Seite an Seite durch das Gewirr der verwinkelten Altstadtgassen. Montes Mund stand nicht still.

«Mich haben Sie nach Rom verbannt Tino, ich sage dir, exklusiv und kostspielig. Ich verrate dort niemandem, dass ich aus Kalabrien stamme, sofort heißt es: Ah, Gruß an die 'Ndrangheta. Oder: Na, die Typen aus San Luca schon auf dem Schirm? Sind die etwa in Rom aktiv? – Nein, würden ja gleich als Dorftrottel auffallen. Damit wollen sie mich treffen, für sie ist jeder Nicht-Römer ein Stoffel. Eingebildet ohne Ende, diese Römer. Worauf, frage ich mich, die Ministeriumsaffen sind überall aus demselben Holz geschnitzt. In Rom, nun ja.»

Di Flavio lächelte verhalten. Er dachte an seine Frau Erica und den Dünkel, was ihre Heimatstadt Mailand betraf. «Nimm‘s mit Humor. Die Mallorquiner tendieren ebenfalls zum Separatismus», antwortete er und ärgerte sich gleich darauf, dass er dem anderen damit einen Hinweis auf seinen jetzigen Job gegeben hatte. Dass Monte nicht nachfragte, begründete er mit dessen Redseligkeit.

Als dieser jedoch bei einem Espresso meinte: «Tino, du bist ein Glückspilz. Du bist nicht gezwungen, dienstlich mit den Einheimischen zu verhandeln, sondern hast frische, junge Kollegen aus allen EU-Staaten vor dir», stutzte er, aber schob sein Misstrauen beiseite. Sicher hatte jemand in Tropea geschwatzt. Und es war ja kein Geheimnis, dass er als Schulungsoffizier bei Eurocop seine Brötchen verdiente. Scherzhaft antwortete er: «Wenn es mir gelingt, die Frischlinge zum Hochschauen zu überreden. Am besten klappt es, wenn ich ihnen eine SMS oder eine Nachricht über WhatsApp schicke. Erste Regel in meinem Job: eine gute Handy-Verbindung.»

Sie waren stehen geblieben und beobachteten die Frauen auf der Straße, die von Hand Nudeln fertigten.

«Hoffe, die Jungens von der Marine haben einen passablen Koch und wir bekommen heute Abend diese wundervollen Spezialitäten vorgesetzt», meinte Monte. «Und darüber hinaus, dass die Marine uns nicht die älteste Fregatte ausgesucht hat.»

«Zu meiner Dienstzeit haben sie ausgezeichnetes Essen serviert. Ich habe ja fast zwei Jahre bei der Marine in Bari Dienst geschoben. Eine schöne Zeit», sagte er leichthin, ehe es bei ihm Klick machte. «Du bist ebenfalls bei dieser Fortbildungsveranstaltung, Monte? Ah, auf die Idee hätte ich auch früher kommen können.»

«Habe deinen Namen auf der Liste entdeckt und mich gefreut, dich zu treffen. Wir Kalabrier müssen zusammenhalten.» Das erklärte natürlich manches. Monte hatte sich schlaugemacht. Di Flavio warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

«Zeit, sich auf den Weg zum Hafen zu machen.»

Beim Castello Svevo winkte er einen Taxifahrer heran, bat, sie zum Pier zu bringen.

Im Hafen wartete eine Korvette der Marine auf sie. Ein Schiff, das in der Regel in der Straße von Sizilien patrouillierte. Die dunkelblaue Flagge mit dem europäischen Sternenkreis wehte neben der italienischen in Grün-Weiß-Rot. Neben dem Kriegsschiff im typischen Tarn-Grau hatte ein Cruising-Schiff festgemacht. Gegen den hochragenden weißen Leib des Kreuzfahrtschiffs wirkte das wendige Kriegsschiff wie ein Wohnwagen neben einem Wolkenkratzer.

Sie betraten das Terminal und begaben sich zum Sicherheitscheck. Der Beamte an der Kontrolle zwinkerte di Flavio nach einem Blick in den Dienstausweis vertraulich zu und meinte in breitem Italienisch scherzhaft: «Guten Abend, alles beim Alten?»

Der Commissario nickte. «Der Nikolaus steht noch, danke.»

«Ja dann.»

Ein Leutnant zur See hieß sie beim Betreten der Korvette mit einem strammen Gruß willkommen.

«Die Herren. Unser Bootsmaat wird Ihnen Ihre Kabinen zuweisen. Treffen zur Einsatzbesprechung in 20 Minuten.»

Erneut landete ein kumpelhafter Schlag Montes auf di Flavios Schulter.

«Wir sehen uns.»

Di Flavio schluckte. Als er in der Kabine stand, bemerkte er mit einem Lächeln: «Immer noch eng hier», und war froh, die Kabine nicht mit Monte teilen zu müssen.

«Kein Kreuzfahrtschiff», antwortete der Maat.

«Klar.»

Di Flavio stellte seine Reisetasche auf dem Bett ab, strich nach einem prüfenden Blick in den Spiegel seine vom Wind zerzausten Haare glatt und folgte dem Maat wieder nach oben. Die Schar der Geladenen erwies sich als überschaubar. Unter den zehn Personen entdeckte er keine bekannten Gesichter und übte sich in den üblichen Floskeln. Sie bereiteten ihm Unbehagen und seinem Gefühl nach erging es den Männern ähnlich. Das Gespräch blieb beim unverfänglichen Thema Wetter hängen, bis Monte auftauchte und die Gesprächsführung an sich riss.

«Ein Horror diese Flüchtlingsströme! Fast waren wir so weit, die Hintermänner dranzukriegen, da weitete sich der Schlamassel nach Libyen aus. Der Arabische Frühling! Hat das Gleichgewicht endgültig verschoben. Überall Werber für den IS! Wir könnten das dreifache Personal gebrauchen. Die Politik verspricht, passieren tut nichts!»

Zwei der Gesprächsteilnehmer lächelten höflich, ohne Stellung zu beziehen. Di Flavio fiel ein, dass sich Monte stets aufgeplustert hatte, wo er konnte. In diesem Fall stellte er den Sachverhalt für seinen Geschmack zu einfach dar. Aber was wusste er, di Flavio, schon. Bei seinem Posten auf Mallorca verlor man rasch den Bezug zum wirklichen Leben. Ließ sich von der heilen Urlaubslandschaft einlullen. Seit den Terroranschlägen in Tunesien, in Ägypten und in der Türkei zog die Insel noch mehr Touristen an. Außer Sonne und Meer schätzen sie die Sicherheit. Und sie sorgen neben den Reichen und Schönen, seien es Mallorquiner, Spanier, Russen oder Deutsche, für eine ausgezeichnete Beschäftigungslage. Vermutlich war Monte besser informiert. Der anschließende Workshop würde sein Wissen sachlich und kompetent auf den neuesten Stand bringen, so seine Hoffnung.

Inzwischen waren die Teilnehmer vollständig versammelt und jeder wurde einzeln dem Kapitän vorgestellt, bevor dieser als Hausherr zu Tisch bat. Zwei große runde Tische warteten gedeckt unter einem Sonnensegel auf dem Schiffsdeck. Etwas irritiert schaute di Flavio nach oben, als ein Windstoß den Sonnenschutz über ihren Köpfen zum Knattern brachte.

Er saß neben einem Commissario aus Apulien. Man servierte ein Carpaccio aus fein geschnittenen Steinpilzen in einem wohlschmeckenden Olivenöl, dazu Scheiben eines reifen Pecorinos mit Kartoffelschnitzen. Als secondo gab es Spanferkel mit Morcheln geschmort und dazu die herrlichen Nudeln. Di Flavio genoss alles wortlos. Zum Glück war sein Nachbar offensichtlich mit einem Kollegen hier und vermisste die Unterhaltung von seiner Seite nicht.

Das ließ ihm Zeit, während der Servierpausen hinunter zum Terminal zu schauen und die Gäste des Kreuzfahrtschiffes zu beobachten, die an Bord gingen. Sein Blick streifte mehr als einmal das Wrack einer Fähre, das am gegenüberliegenden Pier vor Anker lag.

«Wissen Sie etwas über das ausgebrannte Schiff?», fragte er seinen Kollegen aus Apulien, als dieser sich einmal zu ihm umwandte.

«Eine abgehalfterte Fähre. Wurde vor einigen Jahren entführt. Ist auf See in Brand geraten, weil einige der Afrikaner an Bord meinten, unbedingt ein Feuer entfachen zu müssen. Das Wrack wurde hierher geschleppt. Der Eigner streitet sich mit der Versicherung. Ich bin neugierig, welche Stellungnahme die Marine bezieht und ob sich die Interna von den Verlautbarungen der offiziellen Seite unterscheiden. Die Politiker reden alles schön. Unsere Region trägt seit Jahren die Hauptlast mit den Flüchtlingen. Es wird Zeit, dass wir den Schleuserbanden Einhalt gebieten. Ich hoffe auf Maßnahmen, die das Problem endlich tatkräftig anpacken. Es wird gutes Geld mit den Flüchtlingen verdient, in allen Branchen. Ein big business.»

«Hola Señor di Flavio, que tal?», begrüßte ihn eine bekannte Stimme.

«Heimstetten, muy bien, y usted?»

«Schön, Sie zu treffen. Wollen Sie sich überzeugen, was so auf dem Mittelmeer abgeht?»

«Und Sie?»

«Mein dritter Informationsdienst bei einer Aktion der NAVFOR als German Member. Normalerweise bin ich in Freilassing im Einsatz, die Kripo ist Vergangenheit. Die Lawine der Flüchtlinge! Arbeit en masse.»

«Beschweren Sie sich bei Ihrer Angie.»

«Schon gut. Das Essen an Bord ist Spitzenklasse. Ihre Landsleute verstehen es, selbst auf einem Kriegsschiff gute Kost anzubieten. Ich wünschte, ich könnte meine Vorgesetzten überzeugen, den Italienern die Küche zu überlassen. Wir sehen uns. Lässt sich kaum vermeiden, oder? Ich sitze dort drüben.»

Di Flavio sah Heimstetten nach. Er war erwachsener geworden, männlicher, hochgewachsen, nicht mehr schlaksig. Die Verantwortung prägte die Züge. Ob er verheiratet war und Kinder hatte?

Di Flavio bediente sich mit einer weiteren Portion Nudeln.

Weniger Kohlehydrate, Tino, die setzen an. Warum konnte er die Erica-Schallplatte in seinem Kopf nicht abschalten? Er warf einen Blick hinüber zu Heimstetten. Der junge Kollege hatte das Glück, neben der einzigen Frau der Truppe zu sitzen, ihrem Abzeichen nach im Sanitätsdienst.

Das Horn des Kreuzfahrtschiffs tutete zweimal und unterbrach die Gespräche. Inzwischen beim Nachtisch angekommen, blieb Zeit genug, das Ablegemanöver zu beobachten. Der Lotse kreuzte in Bereitschaft. Zwei Hafenarbeiter warteten an den Pollern, um die Leinen loszumachen. Jetzt wurde die Fußgängerbrücke eingeholt und unter Getöse der Anker eingezogen. Die Bootsmotoren lärmten los, und die rotierende Schiffsschraube erzeugte eine Bugwelle. Das stattliche Schiff rangierte zentimeterweise vor und zurück, ehe es endlich freikam und mit nochmaligem Hupen langsam an ihnen vorüberfuhr. Die Passagiere standen oben an Deck und winkten. Sie könnten uns ins Essen spucken, amüsierte sich der Commissario.

Warum benutzten die Regierungen diese schwimmenden Hotels nicht als Quartier für die Flüchtenden? Bis der Krieg beendet war, könnten sie von Hafen zu Hafen chauffiert werden und jeder Streit um Aufnahmequoten in Europa verbat sich. Asylbewerber auf Kreuzfahrt, bezahlt von der EU, würden die Medien wettern. Wäre ein Treffen mit den Kreuzfahrern Völkerverständigung oder Integration? Ein Highlight für Kreuzfahrttouristen. Er erinnerte, mit welcher Begeisterung Ericas Freunde von ihrem Treffen mit den Buschleuten in Namibia berichteten. Alles inklusive – warum nicht? Verdammt! Ein lästerlicher Gedanke.

«Wünschen Sie einen Espresso?», störte ihn die Frage des Maats auf. Di Flavio nickte. «Si, prego.»

Nach dem Essen versammelten sich die Teilnehmer locker an Deck, während die Mannschaft die Tische wegräumte und die Stühle für den ersten Vortrag umgruppierte. Natürlich heftete sich Monte sofort wieder an seine Rockschöße.

«Allora, das Essen war fantastisch. Die Kabine? Lädt nicht sonderlich zum Verweilen ein. Aber es soll schon heute Nacht losgehen! Bin gespannt, ob uns ein Schleuser ins Netz geht. Spannender als Schreibtischarbeit.» In den Augen von Monte erkannte di Flavio Jagdfieber. Satt und zufrieden, ein wenig müde, erwischte ihn Montes nächste Frage wie ein Schlag in die Magengrube.

«Wie geht es eigentlich deinem Schützling, Enno Carlotta? Er war wie ein Sohn für dich, oder? War ja ewig nicht mehr in Tropea. Was hörst du von ihm? Seine deutsche, blonde Freundin soll ja …» Er vollführte mit seinen Händen eine entsprechende Bewegung. «Würde ich auch nicht von der Bettkante stoßen. Alle Männer des Ortes sollen hinter ihr her gewesen sein.»

Di Flavio schwieg irritiert und lächelte nur verhalten. Keinesfalls wollte er sich auf das Thema Enno einlassen. Monte schien gut informiert zu sein, obwohl er wortreich hervorhob, Tropea schon vor ewigen Zeiten den Rücken zugekehrt zu haben. Er sprach von Ulla in der Vergangenheitsform, war sie nach München zurückgekehrt? Ehe di Flavio sich entscheiden konnte, zu fragen und ehe ihn sein Schweigen in Verlegenheit brachte, unterrichtete sie der Leutnant zur See und Adjutant des Kapitäns darüber, dass die Lagebesprechung gleich beginnen würde. Di Flavio atmete auf.

«Dann werden wir mal unseren Platz einnehmen», meinte er und revanchierte sich bei Monte mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter. Zum Glück saßen sie auch jetzt nicht beieinander.

Di Flavio mühte sich, aufmerksam den Ausführungen des vortragenden Offiziers zu folgen, selbst wenn es ihm mit dem vollen Magen schwerfiel. Aber er hatte ein Defizit abzuarbeiten, das war ihm bewusst. Der Vortragende besaß eine angenehme Stimme, sprach langsam und deutlich und in einem gut verständlichen Englisch.

«Sie wissen alle, dass die NAVFOR, die European Union Naval Force Mediterranean, als multinationale militärische Organisation sich zum Ziel gesetzt hat, den Menschenschmuggel einzudämmen. Sie versucht, Menschenschmuggelnetze aufzuspüren und Schleuserkriminalität zu bekämpfen. Ihnen muss ich die Schwierigkeiten nicht explizit darlegen. Aufgrund der verschiedenen Abkommen sind uns häufig die Hände gebunden. Unser Einsatzgebiet ist das südliche zentrale Mittelmeer zwischen der tunesischen und libyschen Küste. Nach Schätzungen der EU starten achtzig Prozent der Migranten von Libyen aus. Wir wollen Ihnen, die mit der Ausbildung von Nachwuchs, den Kollegen der Beschaffungsstellen, beziehungsweise, den Kollegen, die mit der Bandenkriminalität befasst sind, einen Einblick bieten. Anfang Juli wurden der italienischen Marine Hinweise über die Strukturen und Netzwerke der Schlepper zugespielt. Dazu morgen mehr.»

Eine Karte erschien auf der Leinwand und der Sprecher wies auf einen Punkt. «Wenn unsere Informationen stimmen, werden wir heute Nacht an dieser Stelle auf Flüchtlingsboote treffen. Die Abkopplung von den Schlepperbooten wird normalerweise nach dem Eintreffen im internationalen Gewässer vorgenommen. Die Schlepper bringen die Schlauchboote, die stets überladen sind, denn je mehr Leute, umso mehr Geld, bis zu einer bestimmten Grenze – dann kappen sie die Schleppleinen. Die Leute müssen selbst sehen, wie sie weiterkommen. Die Bilder kennen wir alle aus dem Fernsehen. Gegen drei Uhr nachts werden wir unser Ziel erreichen. Ein Mannschaftsmitglied wird Sie rechtzeitig wecken. Unsere Aufenthaltsräume an Bord sind nicht sonderlich geräumig. Wenn Sie sich in der Messe aufhalten möchten, sie befindet sich am Heck. Der Maat wird Ihnen zeigen, wo.»

Nach dem Auflösen der Versammlung standen die Geladenen recht hilflos zusammen, weil die Besatzung nun auch die Stühle wegräumte.

«Ja, dann werden wir mal vorschlafen, damit wir ausgeschlafen sind», scherzte Heimstetten. «Schlaf ist bei mir zurzeit Mangelware. Die Erfassung der Flüchtlinge und ihre Weiterverfrachtung stehen über allem.»

Erneut beschlich di Flavio das Gefühl, in einer Welt zu leben, die mit der derzeitigen nicht mehr viel zu tun hatte. Er nickte nur.

Als Monte auf ihn zueilte und meinte: «Einen Absacker genehmigen wir alten Herren uns schon, oder?», gab er sich geschlagen und murmelte: «Si, si, einen »

Es wurden zwei Glas, bei denen Monte, obwohl er in einer Tour die heimatlichen Gemeinsamkeiten heraufbeschwor, ihm keinen Deut sympathischer wurde, bevor di Flavio sich in der Kabine auf seinem schmalen Bett ausstrecken konnte. Die Motoren dröhnten unter seinem Kopfkissen. Er lauschte auf das Stampfen des Schiffes. Als das Rollen auf der See zunahm, wusste er, dass die Korvette die freie See erreicht hatte, und er überließ sich dem Schlaf.

Als es an der Tür hämmerte und in einem barschen Befehlston jemand «Aufstehen!» rief, bereitete es ihm Mühe, sich zu orientieren. Er stieg in seine Hose, schlüpfte in sein Hemd, stieß sich den Kopf an der niedrigen Tür zum Bad und fluchte. Als er sich nach dem Toilettengang umdrehte, mied er den Blick in den Spiegel. Es gab bessere Momente, seinem Konterfei zu begegnen, als unausgeschlafen, kurz vor drei Uhr in der Nacht.

Zwei Minuten später stand er frierend an Deck. Montes Gesicht schaute ihm reichlich zerknautscht aus der Jacke entgegen, und di Flavio registrierte erleichtert, dass sich Montes Redseligkeit um diese Zeit in Grenzen hielt. Heimstetten und die einzige Beamtin wirkten glatt und frisch, trotz der unchristlichen Zeit. Ein Vorteil der Jugend.

Di Flavio atmete tief durch. Beim Geruch der See und beim Betrachten des unendlichen Sternenhimmels brachen Erinnerungen auf, denen nachzuhängen keine Zeit blieb. Ein abnehmender Mond warf sein schwaches Licht auf die Meeresoberfläche und tauchte sie von tiefschwarz in ein tintiges Blau, auf dem hin und wieder weiße Wellenkämme tanzten. Ein leichter Wind strich über das Deck. Ruhiges Wetter für Ende März, die Nacht noch recht kühl. Er schätzte die Temperatur auf acht bis neun Grad Celsius, die Wassertemperatur lag sicher darunter.

Als die Maschinen der Fregatte stoppten und die Positionslichter erloschen, richteten sich di Flavios Achtungsantennen auf das Geschehen. Er verspürte ein Kribbeln im Magen, setzte das Nachtsichtgerät vor die Augen und starrte hinaus aufs Meer. Die entscheidenden Minuten rückten näher.

Bevor er etwas sah, hörte er die kräftigen Motoren der Schlepperboote. Dann rückten die Schlauchboote, vollgepackt mit Menschen, ins Sichtfeld. Sie tanzten auf den Wellen wie Korken. Unwillkürlich schickte er ein Stoßgebet zum Himmel. Jetzt erfasste sein Blick die Schlepperboote: Zwei mit starken Yamaha-Motoren am Heck ausgestattete Schnellboote. Er kannte diese Art von Booten aus seiner Zeit bei der Marine. Sie wurden von Schmugglern benutzt und es bestanden kaum Chancen, sie zu erwischen. Eines drehte ab und verschwand, ehe die Scheinwerfer des Kriegsschiffs aufflammten.

Wie auf einer Bühne tanzten die schaukelnden Boote in dem gespenstischen Licht auf dem Wasser. Er entfernte das Sichtgerät von den Augen, griff nach dem Fernglas und richtete seinen Fokus auf das verbliebene Schlepperboot. In ihm befanden sich gut sichtbar zwei Personen. Während der Steuermann zur Fregatte schaute, schirmte der neben ihm Stehende die Augen gegen das Licht ab. Di Flavio heftete den Blick auf den Mann am Steuer und ihm stockte der Atem. Zwar bedeckte ein Bart die untere Hälfte des Gesichts und die Haare verbargen sich unter einem dunklen Turban, aber es war eindeutig Enno, sein Ziehsohn. Die Haltung der Hände am Steuerrad, dieser gestreckte Daumen, mit dem er ihn oft aufgezogen hatte. Durch das Fernglas hindurch schien er ihn anzublicken, als wüsste er, dass er dort stände. Di Flavio fröstelte und ihm war gleichzeitig heiß.

«Ergebt euch!» Der Befehl des Fregattenkapitäns schallte per Lautsprecher über das Wasser und ließ ihn zusammenschrecken. Für einen Moment war er versucht, die Augen zu schließen, aber seine Finger umklammerten das Fernglas, als würde sein Leben davon abhängen.

Wie würde sich Enno entscheiden? Die Frage erübrigte sich. Im nächsten Moment heulte der Motor des Sportbootes mit einem lauten Jaulen auf, umrundete in einem gewagten Manöver die Schlauchboote und den Bug der Korvette und verschwand im Dunkel.

«Bitte bewahren Sie Ruhe», richtete der Kapitän jetzt das Wort an die Leute in den Schlauchbooten, «ein Schiff von Frontex ist unterwegs und wird Sie bald aufnehmen.»

Di Flavio setzte das Glas ab und starrte auf die Wasserfläche, im Inneren ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Versagens.

«Sie hauen ab. Ich hätte draufgehalten. Zack, weg von der Bildfläche. Ein schmuckes Boot, in Italien gebaut, nicht für einen Nickel zu haben«, meldete sich neben ihm Monte. «Krieg müsste man führen gegen diese Desperados. Aber die Sesselfurzer oben in Rom blocken alle Mittel ab.»

Was würde di Flavio darum geben, in diesem Augenblick in Ruhe nachdenken zu können und nicht dem geschwätzigen Monte ausgeliefert zu sein. Er brummelte: «Si, si, capisco», während seine Gedanken sich mit Ennos Auftauchen abkämpften.

Er konnte die Augen nicht mehr verschließen vor der Tatsache, dass Enno die Seiten gewechselt hatte. Er hatte es nicht wahrhaben wollen. Bei den Befragungen der internen Ermittlung hatte er stets für Enno Partei ergriffen. Alles für Verleumdung gehalten, was man über den Überläufer Enno erzählt hatte. Ignoriert, dass es bei einem Undercover-Einsatz keine Ermittlungen gegeben hätte. Der Enno, den er kannte, hätte heute beigedreht. Keine Ausrede möglich, seine Hand hatte das Steuer gehalten. Hatte Enno sich bei seiner Undercover-Tätigkeit verführen lassen, von der Aussicht auf elegante Autos, auf leichte Mädchen, schnelle Boote, auf Geld, viel Geld? War ihm das Vergnügen am Risiko mehr wert als die Ehre? Wann war der Entschluss, die Seiten zu wechseln, in Enno gereift? Hatte nicht früher der Kampf gegen die Ungerechtigkeit Enno angetrieben?

Hätte er, di Flavio, Einfluss nehmen können, wäre er vor Ort gewesen? Hatte Enno das Vertrauen in ihn verloren, als er Tropea verließ und sich ausschließlich mit seinem neuen Job und seinem neuen Dienstort Mallorca identifizierte? Wenn er selbstkritisch urteilte, war ihm in dieser Zeit der Bezug zu seiner Heimat tatsächlich verloren gegangen.

«Ach zum Teufel», fluchte er.

«Ja, zum Teufel», stimmte ihm Monte zu, wohl annehmend, di Flavio wäre auf seinen Diskurs über die Sesselfurzer eingeschwenkt. «Wir verstehen uns. Einer der Schleuser schien mir verdammt vertraut. Hast du einen Schimmer?»

Der Commissario schüttelte etwas zu vehement den Kopf. Nach einer Denkminute beeilte er sich, zu antworten: «Die Boote erinnern mich fatal an unsere Schmuggelfreunde. Sieht aus, als wäre die 'Ndrangheta mit im Geschäft.»

«Dass die Organisation beteiligt ist, wundert mich nicht. Wo illegal etwas zu verdienen ist, mischt sie mit. Der Steuermann auf einem der Schleuserboote besaß verdammte Ähnlichkeit mit deinem Ziehsohn.»

Di Flavio schluckte und war froh, dass genau in diesem Moment das Aufnahmeschiff ins Sichtfeld geriet und er die Antwort schuldig bleiben konnte.

Sein Finger wies auf den Horizont, wo im schüchternen Morgenrot ein Schiffsumriss sichtbar wurde. «Das Schiff von Frontex.»

«Welches Glück, dreihundert neue Bürger für die EU», meinte Heimstetten, der zu ihnen getreten war. «Deutschland klagt über Nachwuchsmangel. Eigentlich würde ich gern ein paar Kinder beisteuern. Allein mir fehlt die Zeit», fügte er scherzhaft hinzu.

«Meine Herren, ich bitte. Die Situation ist ernst und taugt nicht zu Scherzen», mischte sich die Sanitätsoffizierin ein, als sie sich ebenfalls zu ihnen gesellte.

Monte drehte sich weg, und di Flavio sah ihn in sich hineinkichern.

«Lachen entkrampft, glauben Sie einem erfahrenen Lehrcop», versuchte er, die Situation zu entspannen. Sie lächelte und nuschelte: «Na, ja.»

Im nächsten Moment nahm das Frontex-Boot ihre Aufmerksamkeit gefangen, es hatte inzwischen beigedreht. Drei Matrosen öffneten eine Luke in der Nähe der Wasseroberfläche und hievten ein Motorbeiboot heraus. Es dauerte nicht lange und das Boot hatte das Schlauchboot mit den Flüchtlingen an den Haken genommen. Kurz vor dem Andockvorgang sprangen drei der Flüchtlinge auf und drängten nach vorn. Ein Mann fiel über Bord, rettete sich, indem er sich am Wulst des Bootes festklammerte.

«Bitte bewahren Sie Ruhe», forderte der Kapitän der Korvette über Lautsprecher. Das Boot schaukelte bedenklich, tendierte zum Kippen, fing sich und konnte langsam in Richtung Luke geschleppt werden. Das Scheinwerferlicht leuchtete die Gesichter aus. Di Flavio las in ihnen Angst, Erschöpfung und Erleichterung.

Nachdem die Menschen an Bord genommen waren, hallten Schüsse über das Meer. Die Luft entwich unter dem Applaus der Matrosen mit einem Zischen aus den Schlauchbooten. Am Ende hüpften nur noch die Gummihüllen auf den Wellen, ehe sie längsseits geholt und gesichert wurden. Im Labor würde man später nach dem Hersteller fahnden und versuchen, herauszufinden, wer sie wo erstanden hatte.

Di Flavio hatte das Gefühl, sich vor Müdigkeit kaum noch aufrecht halten zu können. Die Bilder arbeiteten in seinem Kopf und kosteten Kraft.

«Ich brauche eine Mütze Schlaf», verabschiedete er sich. Monte bedachte ihn mit einem seltsamen Blick.

Tag zwei – Montag

Libysche Küste (Mittelmeer)

Enno steuerte auf den einsamen Strand zu. Positionslampen wiesen ihm den Kurs. Als sie zwei oder drei Meter vor dem Flachwasser ankerten und er ins Beiboot stieg, schäumte er innerlich noch immer vor Wut. Das Schnellboot von Santos schaukelte im Wasser ruhig vor sich hin.

Zwei einheimische Helfer erwarteten sie. Enno warf ihnen die Leinen des Beibootes entgegen, sprang in das knietiefe Wasser und watete zum Ufer. Das Wasser war kalt und seine Füße bald taub, aber das scherte ihn ebenso wenig wie seine nassen Schuhe und Hosenbeine.

Spärliches Mondlicht zeichnete einen silbernen Streifen auf die Wasseroberfläche. Am Ufer brannte ein Feuer, er hörte beim Näherkommen das Knistern des Holzes. Ein kalter Wind pfiff ihm um die Ohren und doch meinte er, in der Luft einen Hauch des nahenden Frühlings zu spüren. Die Luft roch vertraut, nach blühendem Rosmarin und nach Strandhafer.

Santos saß in eine Decke gewickelt am Rand des Feuers und rauchte. Er schaute nicht auf, als Enno sich näherte. Ein Helfer eilte ihm entgegen, hielt ihm eine Decke hin und bot ihm aus einer geöffneten Schachtel eine Zigarette an. Enno bediente sich, ließ sich Feuer geben, obwohl er seit gefühlten Jahrzehnten nicht mehr rauchte und machte einen ersten Zug. Er hustete, als er sich setzte, nahm die ihm angebotene Flasche Kognak entgegen und spülte den Geschmack des Nikotins herunter. Einen Moment starrte er auf die Flammen. Das Rauchen und der Schnaps kühlten sein Gemüt, sorgten für eine bessere Durchblutung des Gehirns und erlaubten wieder klares Denken. Mit bemüht ruhiger Stimme wandte er sich an seinen Partner:

«Was sollte das, Santos? Warum hast du uns nicht informiert, dass das Kriegsschiff in der Nähe war. Ihr hattet das Radar an Bord und seid einfach abgehauen.»

Alle weiteren Anschuldigungen, die ihm auf der Zunge lagen und ihn während der Rückfahrt hatten fluchen lassen, schluckte er herunter. Er versuchte es mit einem Pokerface, während er innerlich schimpfte:

Dieser Bastard, sitzt da, als wäre nichts passiert. Arschloch, hat mich auflaufen lassen. Überhaupt, warum musste ich eines der Boote übernehmen? Hat doch sonst nicht zu meinen Aufgaben gehört.

Scheißkerl, reichte es nicht, dass wir die Lastwagen mit den Flüchtlingen sicher von Kidal in Mali durch die libysche Wüste bis an die Küste gebracht haben und nicht nur einmal? Wärst in der Wüste verreckt, ohne uns. Hast so viel Ahnung wie ein Furz. Aber andere herumkommandieren. Ifalan wird sich das nicht lange gefallen lassen. Habe beobachtet, wie er die Augen zusammenkniff, die Mundwinkel verzog oder demonstrativ das Tuch vor das Gesicht zog. Er ist ein Tuareg, ein Targi, und er ist stolz. Dich Hurenbock hat nicht interessiert, ob ich überhaupt ein Boot lenken kann. Und dann das Warten, reine Schikane.

Nein. Eine Falle. Klar.

Der Held ist ja rechtzeitig abgehauen, als sich alles in Chaos verwandelte und die Scheinwerfer aufblendeten. Unser Boot kenterte fast in den Bugwellen des Kriegsschiffes, das wie ein Phantom aus dem Nichts vor uns auftauchte. Wie auf einem Präsentierteller bin ich serviert worden.

Der Schuss! Ein kurzes Sirren dicht am Ohr, kaum als solches wahrzunehmen. Später sah ich das Projektil. Es steckte hinter mir in der Holzwand. Glück für mich, dass mich der Schuss verfehlte. Oder? Pech in deinen Augen? Wer von der Organisation will, dass ich verschwinde? Und wer besaß die Möglichkeit, einen Schuss von einem Kriegsschiff abzufeuern? Um das zu beantworten, bist du Blödmann zu dumm. Du warst nur in der Lage, mich reinzulegen. Ein gefährlicher Irrer bist du, unberechenbar. Aber ich bin gewarnt.

Enno blickte zu seinem Partner und warf seine halbgerauchte Zigarette in das Feuer. «Okay Santos, vergiss es. Wann geht unser Flug?»

«In zwei Stunden, wir sollten aufbrechen.»

Am Militärflughafen wartete Ifalan.

Bari (Süditalien)

Di Flavio bedauerte, das Frühstück an Bord verschlafen zu haben. Er sah Heimstetten und die Sanitätsoffizierin zum Terminal gehen. Die beiden lachten und das Lachen nahm die Strenge aus dem Gesicht der Frau. Bahnte sich da etwas an? Der Commissario schmunzelte. Er würde Heimstetten in der Pause der Tagung damit aufziehen. Er trödelte beim Verlassen der Fregatte und unterhielt sich mit dem Bootsmaat, der die Ausweise und das Gepäck am Ausgang kontrollierte.

«Signore di Flavio?» Er wandte sich zum Fragenden um. Ein Sergeant zur See salutierte vor ihm und nahm ihm dann seine Tasche ab.

«Wenn Sie mir bitte folgen würden.»

Di Flavio warf einen letzten Blick auf die ausgebrannte Fähre. Im Terminal passierten sie die Kontrollen unbehelligt. Draußen wartete ein Wagen. «Ich habe Order, Sie ins Ministerium bringen zu lassen. Ein Fahrzeug steht bereit.»

Di Flavio runzelte die Stirn. «Aber die Tagung?»

«Pardon, Befehl.»

Der Sergeant öffnete ihm den Schlag des Wagens, und di Flavio blieb nichts anderes, als sich zu fügen. Er stieg ein. Seine Tasche wurde im Heck verstaut, und das Fahrzeug rollte sachte an. Nach einem kurzen Halt an der Ausfahrt des Hafens, bog es auf die Uferstraße ein. Sie legten an Tempo zu, als sie eine Autostrada erreichten. Der Verkehr lief zügig, obwohl die Verkehrsdichte hoch war. Di Flavio schaute zur Uhr. Sie zeigte ihm 9.56 Uhr, Rushhour. Er verzichtete darauf, den Fahrer in ein Gespräch zu verwickeln, lehnte sich im Fond zurück und dämmerte vor sich hin. Bald verließen sie die Autostrada und hielten einige Straßenbiegungen später vor einem gesichtslosen Kasten aus den 80er oder 90er Jahren. Die Fahnenstangen wiesen auf eine europäische Behörde hin. Er konnte sich denken, warum man ihn hierher bat. Es ging um Enno. Er hatte ja schon einige Befragungen zum Thema Enno hinter sich gebracht. Sicher war er nicht der Einzige, der ihn erkannt hatte. Langsam fragte er sich, ob man ihn nur aus diesem Grund zu der Fortbildung eingeladen hatte. Und Monte? Der Geheimdienst? Er würde sehen.

Der Schlag wurde von außen geöffnet und man bat ihn, zu folgen. Der Mann trug keine Uniform und nahm ihm nicht die Tasche ab. Ein Fahrstuhl, lange Gänge, Büros, Behörde. Die abgestandene Luft raubte di Flavio den Atem. Es roch nach feuchtem Papier, nach Desinfektionsmitteln und nach Staub. Wurde nicht heute alles auf PCs gespeichert und bildete er sich den Geruch nur ein?

Ein Besprechungsraum, wie es sie zu Abertausenden auf der Welt gab, erwartete ihn. Eingerahmt von zwei Männern saß Monte am ovalen Besprechungstisch. Unter diesen Umständen hätten wir zusammen fahren können, lag di Flavio auf der Zunge, aber die Atmosphäre lud nicht ein, Privates zu äußern. Niemand erhob sich. Weder eilte ihm Monte entgegen, um ihm Küsschen auf die Wangen zu hauchen, noch um ihm kumpelhaft auf die Schulter zu hauen. Der ehemalige Kollege schaute nur kurz von seinen Papieren auf und ihm entgegen, als wäre er ein Fremder.

«Bitte nehmen Sie Platz», bat der links von Monte sitzende Beamte. Er hätte einer von di Flavios Zöglingen sein können. Die vollen, schwarzen Haare vom Frisör nur auf der Kopfmitte in ihrer Pracht belassen, die Seiten zu einem dunklen Hauch rasiert. Keine Uniform, ein lässiges Anzugjackett zu Jeans und über einem leuchtend weißen Hemd. Ein hübscher Sohn seiner Mutter. Neben ihm sah Monte alt aus.

Er setzte sich. Die Anordnung der Sitze, sein Platz vor den drei Männern, ließ keinen Zweifel aufkommen: Er war hier, um befragt zu werden. Er saß auf der Anklagebank! Di Flavio sollte sich in seiner Annahme nicht täuschen.

Für die üblichen Ponderabilien, wie Ausweis vorlegen, Aufnehmen der Personalien, erschien ein Sekretär, der später verschwand. Dafür wurde ein Aufnahmegerät auf der Mitte des Tisches platziert und er um sein Einverständnis für den Mitschnitt gebeten. Di Flavio nickte nur müde. Er hätte darauf bestehen sollen, einen Espresso trinken zu dürfen. Nachtschichten und Morgen ohne Frühstücke war er nicht mehr gewohnt.

Die Vorhänge vor den Fenstern schlossen sich automatisch mit einem vernehmlichen Surren. Zurück blieb eine spärliche Notbeleuchtung, die seine Müdigkeit verstärkte. Auf dem überdimensionalen Fernsehschirm lief ein Film an und die Vorgänge der gestrigen Nacht flimmerten über die Leinwand. Er war sofort hellwach. Der Filmer hatte alle Möglichkeiten genutzt, die Besetzung des Schleuserbootes heranzuzoomen. Di Flavio rutschte auf die Kante seines Stuhls vor.

«Sie kennen diesen Mann?», fragte einer der Beamten und wies mit einem Leuchtstab auf Ennos Gesicht.

«Ich bin nicht sicher.»

«Wir vermuten, dass es sich um Ihren Ziehsohn Enno Carlotta handelt.»

«Ja, er könnte es sein.»

Sie zeigten ihm weitere Bilder. Er sah jetzt deutlich, wie Ennos Kiefer mahlte, als er Gas gab. Wenn di Flavio noch einen kleinen Hoffnungsschimmer gehegt hatte, dass es vielleicht doch nicht … Der letzte Zweifel wurde mit diesen Bildern ausgeräumt. Jede der Bewegungen war typisch für Enno. Der Film endete und die Vorhänge öffneten sich mit dem schon bekannten Surren automatisch. Das inzwischen hellere Tageslicht blendete.

Montes Augen fixierten ihn mit einem kalten Blick. Vorbei die vertrauliche Anbiederung des Vortages. So schnell kann es gehen, dachte di Flavio, und es erstaunte ihn, dass er sich nicht wunderte. Die erste Frage stellte nicht Monte, sondern dessen Nachbar:

«Stehen Sie mit Ihrem Ziehsohn in Verbindung?»

«Nein.»

«Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt.»

«Als ich ihn auf Mallorca für eine Unterrichtsstunde hinzuzog. Er hielt sich zwei Tage in Palma auf. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass er damals als verdeckter Ermittler arbeitete und wir alles vermeiden mussten, was seine Deckung hätte gefährden können.»

«Sie wissen, dass Enno Carlotta unehrenhaft aus dem italienischen Polizeidienst entlassen wurde. Sie sind in dieser Angelegenheit von der internen Ermittlung befragt worden, wir kennen Ihre Aussagen. Darum geht es nicht. Nach dem Vorfall gestern ist offenkundig, dass er die Seiten gewechselt hat.»

Di Flavio nickte. «Bitte antworten Sie vernehmlich mit Ja oder Nein.»

«Ja, es hat den Anschein. Wenn er der Mann auf dem Boot war, was möglich ist, ich aber bezweifle, muss man das wohl unterstellen.»

«Als europäischer Beamter erhältst du gewisse Zulagen. Richtig?», mischte sich jetzt Monte in die Befragung ein.

«Ja, das kann jeder in den entsprechenden Vergütungsunterlagen nachsehen. Die Höhe ist kein Geheimnis, sondern öffentlich nachvollziehbar», meinte di Flavio, erklären zu müssen. Worauf wollte Monte hinaus?

«Deine Frau verkehrt in den höchsten Gesellschaftskreisen auf Mallorca. Dies setzt bestimmte Kleidungsstandards voraus. Sie ist Mitglied des Golfklubs, fliegt des Öfteren nach Mailand. Selbst mit den recht großzügig bemessenen Zulagen ist das sicher kaum zu finanzieren. Ihr bewohnt ein teures Haus mit Blick auf den Hafen in Port Adriano. Und leistet euch dazu eine Sommerwohnung in Galiläa, einem Ort in der Nähe von Calvia, so unsere Recherchen.»

Langsam dämmerte es di Flavio, und es begann in ihm zu brodeln. Was wollte man ihm unterstellen? Dass er mit Enno unter einer Decke steckte und Geld bezog? Es handelte sich also keineswegs um einen Zufall, dass er Monte auf dem Schiff getroffen hatte. Und ein Weiteres: Monte neidete ihm sein Leben auf Mallorca.

«Meine Frau Erica besitzt eigenes Vermögen, wenn du sauber recherchiert hättest, wäre dir das bekannt», entgegnete er und konnte seinen empörten Ton nur mühsam in Zaum halten.

«Wir werden das prüfen.» Der junge Mann zur Linken ergriff das Wort und wieder verblüffte di Flavio die Richtung, die das Ganze nahm.

«Sie kennen Ulla Liebich?»

«Ja, ich kenne Ulla, aber Liebich? Hönig ist ihr Name.»

«Frau Hönig hat ihren Mädchennamen wieder angenommen.»

«Ah.»

«Sie war mit Enno Carlotta liiert?»

«Soviel ich weiß, bestand eine kurze Verbindung, ja. Aber meines Erachtens war das in der Zeit, als Enno als mein Nachfolger in Tropea bei der Polizei arbeitete. Mehr ist mir nicht bekannt.»

«Wann haben Sie Frau Liebich das letzte Mal gesehen?»

«Bei einem Schamanenkongress in Paguera. Warten Sie, vor einem guten Jahr? Sie brauchte meine Hilfe.»

«Sie war in einen Mordfall involviert. Richtig?»

«Ja. Was ist mit ihr?»

«Sie ist am Flughafen Palma de Mallorca mit einer Bombe im Koffer erwischt worden. Wir fragen uns, ob sie sich, wie unter Umständen Enno Carlotta radikalisiert hat und dem IS angehört. Uns interessiert, welche Rolle Sie dabei spielen? Wissentlich oder unwissentlich.»

«Ich bitte um einen Anwalt, diese Unterredung nimmt eine Richtung, der ich nicht mehr zustimmen kann. Ich gebe zu Protokoll, dass ich aus freien Stücken hier vorgesprochen habe, da ich annahm, es handle sich um eine dienstliche Angelegenheit. Jetzt muss ich erkennen, dass ich hier auf der Anklagebank sitze und die Anklage ganz und gar lächerlich ist. Ich werde mich nicht weiter äußern.»

«Gut, wir schließen die Sitzung. Nur zu Ihrem Verständnis: Wir haben Sie lediglich als Mitarbeiter befragt.»

Die Mittagssonne schickte sich gerade an, voll in den Raum zu fallen, was wiederum die Automatik auslöste und Sonnenschutz vor die Scheiben rollen ließ, um das Licht auszusperren. Di Flavios Blick streifte die Uhr, die am anderen Ende an der Wand angebracht war. Ohne ein Ziffernblatt und im Dämmer des abgedunkelten Raums gelang es ihm nicht, die Zeit mit Sicherheit zu bestimmen. Irgendwo zwischen eins und zwei, riet er. Er vermied den Blick auf seine eigene Uhr, schaute stattdessen zu Monte und erkannte in den Augen seines ehemaligen Kollegen Triumph und Hass. Wie ertappt wandte Monte sich ab und begann, in seinen Unterlagen zu kramen.