Tatort Schule in S-Kaltental - Christine Bütterlin - E-Book

Tatort Schule in S-Kaltental E-Book

Christine Bütterlin

0,0

Beschreibung

Eine böse Überraschung für Lehrer und Schüler des Anna-Schäufele-Gymnasiums in Stuttgart-Kaltental: Am Montagmorgen nach einem Wochenende mit Abi-Ball liegt eine junge Lehrerin tot in einem der Klassenzimmer. Ein Fall für das Ermittlerduo Gero Wolfer und Felicitas Ulmer, die aufgrund der Verletzungen von einem gewaltsamen Tod der Frau ausgehen müssen. Die Ermittlungen des Hauptkommissars beleuchten ein Lehrerkollegium, in dem es nicht immer freundschaftlich zugeht. Sie beschließen, die junge Kommissarin Ulmer undercover als Referendarin in die Schule einzuschleusen. Es gelingt ihr, einem Verdächtigen auf die Spur zu kommen und eine rasante und gefährliche Flucht beginnt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 267

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Dr. Christine Bütterlin

hat in ihrem ersten Kriminalroman viele Jahre Berufserfahrung als Lehrerin verarbeiten können. Auch das Stuttgarter Lokalkolorit kommt in ihrer Schilderung nicht zu kurz.

Mein Dank

… gilt dem Stadtarchiv Stuttgart, das zusammen mit dem Stadtmessungsamt mit seinem »Stadtlexikon Stuttgart« die Grundlagen für jedermann geschaffen hat, sich verlässlich über die Geschichte Stuttgarts zu informieren. Siehe: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de

Christine Bütterlin

TATORT SCHULE IN S-KALTENTAL

Schwabenkrimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2020

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.

Titelbild: © Markus Niethammer

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Bernd Weiler

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-079-7

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm: www.oertel-spoerer.de

Für die »Mädelsrunde«

Sie würde tatsächlich zu spät kommen, da half auch kein entschiedener Tritt aufs Gaspedal mehr. Barbara Sommersberg schob ihre Handtasche auf dem Beifahrersitz schon mal in Richtung Tür. Fertig machen zum Ausstieg! Jetzt aber los – und Tempo! Blöd, dass es am Anna-Scheufele-Gymnasium in Kaltental keinen direkten Zugang vom Parkplatz zum Hauptgebäude gab, um noch halbwegs rechtzeitig und ungesehen von der Schulleitung zu den Klassenzimmern zu gelangen. Echt blöd, ärgerte sie sich. Also los!

Sie warf sich den Riemen der Handtasche um den Hals, schnappte sich ihre Schultasche und marschierte auf den vierstöckigen Betonbau des Gymnasiums zu. Nur nicht zu hastig gehen! Nein, ganz natürlich musste es aussehen, damit sich keine Blicke auf sie hefteten.

Das Schulgebäude, mittelgrau und durchschnittlich wie ein Industriegebäude, ragte aus dem Grün von Wald und Schrebergärten in den Morgendunst des Sommerhimmels. Der Efeubewuchs, der immerhin schon das erste Stockwerk erreicht hatte, milderte den nüchternen Eindruck. Rotkehlchen, Amseln und Spatzen schwirrten umher und zwitscherten lebhaft, wie wenige Minuten zuvor noch die zuletzt angekommenen Kinder und Jugendlichen mit ihren Erzählungen vom Wochenende.

Lehrerin Sommersberg hatte das Hauptgebäude erreicht. Ein Rettungswagen mit blinkendem Blaulicht stand neben dem Eingang. Was war denn hier passiert? Vermutlich mal wieder ein Kreislaufkollaps eines Schülers. Schultasche umhängen und hoch die zwei langen Treppen!

Glück gehabt. Niemand sichtbar! Jetzt würde sie, ganz Profi, – schließlich unterrichtete sie schon seit unzähligen Jahren – betont ruhig auf die Klassenzimmertür der 7c zugehen. Halt! Was war denn das? Ein Riesenschild auf der hellen Holztür »Wegen Unfalls bleibtRaum 205 vorübergehend geschlossen. 7c in Zeichensaal II«. Na fein! Das hatte gerade noch gefehlt.

Sachte öffnete sie die Tür zum Zeichensaal II. Aha, der Vertretungskollege, der »Frühdienst«, saß schon hinter dem Lehrerpult. Die 31 Siebtklässler vor sich.

»Guten Morgen!«, sagte sie.

Ein uneinheitliches Echo »Guten Morgen« war aus der Klasse zu vernehmen. »Hallo, Herr Scheitel. Danke, dass Sie die Stellung gehalten haben! Was ist denn los?« »Ja, Frau Sommersberg, kommen Sie«, äußerte diensteifrig und erleichtert über die Ablösung der junge blonde Fachkollege mit dem schmalen Gesicht, »ich erkläre es Ihnen kurz draußen. Bleibt ihr mal einen Moment ruhig, ja?«

Eindrucksvoll seine übergenaue Aussprache! Das surrend ausgesprochene »s« in »Sommersberg« klang in schwäbischen Ohren etwas theatralisch. Ob er diesen Sprechstil wohl durchhielt, wenn er mal fluchte? Der stets auf Perfektion bedachte Junglehrer schien heute etwas durcheinander zu sein. Frau Sommersberg stellte ihre Mappe am Lehrerpult ab und hängte ihre Jacke über den Stuhl. Ihr war heiß von dem Treppenspurt. Sie ging nach draußen.

»Es hat einen Unfall gegeben. Im Klassenzimmer der 7c, vorne neben der Tafel, auf dem Boden, lag – oder liegt noch – unsere Kollegin Hartig. Zuerst sah es so aus, als ob sie zusammengebrochen wäre und bewusstlos daliege. Aber es ist viel schlimmer. Anscheinend ist sie tot. Der Notarzt ist gerufen worden und die Polizei. Die ersten Schüler, die ins Klassenzimmer drängten, haben sie entdeckt. Herr Launinger hatte ihnen, als er im Treppenhaus dem ärgsten Lärm von Klassen nachging, den Raum aufgeschlossen. Und schon waren die ersten Kinder entsetzt wieder herausgestürmt: »Herr Launinger, Herr Launinger, kommen Sie schnell! Da liegt Frau Hartig. Die ist bewusstlos, oder?« Daraufhin hat er die völlig verstörten Schülerinnen und Schüler in den Zeichensaal beordert und mich dorthin geschickt. Sie sollen mit der Klasse reden, meint Herr Launinger, und die Kinder beruhigen. Den Kollegen und mir kommt das alles sehr merkwürdig vor. Frau Hartig war doch nie krank! Einfach so, tot im Klassenzimmer! Am Montagfrüh! Und am Samstag war sie doch noch auf dem Abifest gewesen und hatte unermüdlich getanzt! Seltsam, echt seltsam!«

Der junge, beängstigend hagere Kollege eilte jetzt mit so großen Schritten der Treppe zu, als könne er mit seinen langen Beinen umso mehr Abstand vom Geschehenen bekommen. Barbara Sommersberg wandte sich zurück zu ihrer Klasse, die sie beruhigen sollte. So muss sich wohl ein Regierungssprecher fühlen, dachte sie, wenn er dem Volk eine Katastrophe in geschickt abwiegelnden Worten mitzuteilen hat. Wie in Trance gelang es ihr, die Mädchen und Jungen einigermaßen zur Ruhe zu bringen und zu beschäftigen. Stille war nun eingetreten.

Sie selbst ging zum Fenster und blickte hinaus. Patrizia war eine so gute Kollegin und Freundin gewesen. Wie hatte das passieren können? Am Samstag beim Abifest schien sie jedenfalls nicht krank gewesen zu sein. Ihre Gedanken verselbstständigten sich: Es ist Sommer. In einer Stunde schon werden ein unglaublich blauer Himmel und die immer stärker brennende Sonne über den Talkessel Stuttgarts einen Hauch von strahlender Leichtigkeit und Heiterkeit zaubern, so als ob nichts Schlimmes geschehen sein könnte. Einfach unwirklich, was an diesem Morgen geschehen ist! Die Wirklichkeit ist: Bis zu den Sommerferien sind es nur noch wenige Wochen. Das Abitur ist geschafft, für Schüler wie für Lehrer, oder genauer gesagt, alle Beteiligten sind geschafft, den Rest besorgen die Zeugnisse, zuerst bei den Lehrern, dann bei den Schülern.

Es klingelte zur Fünfminutenpause. Auf allen Stockwerken regte sich Leben. Fünftklässler rasten wie immer pfeilschnell aus ihrem Klassenzimmer und jagten einander im Treppenhaus. Sie schubsten und rangelten wie immer. Aber anders als sonst hörte man in manchen Ecken ein Raunen und Murmeln. Grüppchenweise standen Jugendliche beieinander. Lehrer eilten mit besorgter Miene die Treppe herunter und wieselten dann, im ersten Stock angekommen, auf das Lehrerzimmer zu. Wie ein Ameisenhaufen, in den jemand hineingestochert hat, wirkte die Schule.

Der Schulleiter, Oberstudiendirektor Strack, ein stämmig gebauter Mann mit grau-blondem kurz getrimmten Haar, schritt gewohnt forsch zwar auf die Lehrerzimmertür zu, doch heute nicht mit seinem üblichen Berufslächeln, das dem Kollegium vermitteln sollte, »ich bin immer für sie da, ich bin für alle da«; er stellte auch niemandem, wie sonst, seine Standardfrage »Wie geht’s Ihnen?«, gesprochen mit sonorer Bassstimme. Nein, ganz untypisch für ihn, strebte er einfach dem Lehrerzimmer zu. Dort begann er – allerdings nun doch dynamisch wie stets – mit kräftiger Stimme die Situation zu erläutern. Er wiederholte die Informationen, die Barbara Sommersberg schon bekannt waren. Mehr könne er im Moment noch nicht sagen, doch erwarte er die gesamte Lehrerschaft zur großen Pause hier zu einer Dienstbesprechung. Er hoffe, er werde dann mehr mitteilen können. Bis dahin bitte er, dass alle sich mit Verdächtigungen und Vermutungen zurückhielten und – wenn überhaupt – von einem »Unfall« sprächen.

Traubenweise schwirrten nun Lehrerinnen und Lehrer aus dem Lehrerzimmer heraus zu den Klassen, betrübt über den »Unfall«. Die Kollegin Hartig, erst seit wenigen Jahren fest angestellt und nur kaum über dreißig Jahre alt, wurde im Kollegium geachtet. Die weiblichen Kollegen schätzten sie wegen ihres Könnens und ihrer Verlässlichkeit, die männlichen Kollegen beachteten sie wegen ihres Äußeren. Wie ein »Covergirl« erschien sie ihnen, eine höchst erfreuliche Erscheinung, erst recht in einem so langweiligen Lehrerzimmer. Langes schwarzes, leicht gelocktes Haar, das sie leider manchmal streng zusammengefasst in einem Pferdeschwanz trug. Nur beim letzten Sporttag hatte sie es im Wind locker wehen lassen. Ach, und die ganze Figur. Einfach toll! Warum wurde so jemand überhaupt Lehrerin? Das hätte sie doch gar nicht nötig. Und nun sollte ihr so etwas Schlimmes passiert sein! Eine Katastrophe auch für die Schule! Das fiel wie ein grauenvoller Schatten auf das renommierte Privatgymnasium, das mitten im Grünen zwischen dem Walderholungsgebiet von Heslach und einigen Schrebergärten auf der Höhe lag, die sich bis zum Ortsteil Kaltental erstreckte. Unten im Tal eingeschnitten zog die Straße ihre von oben besehen eingekerbte Spur hoch nach Vaihingen.

»Individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen« verhieß die Hochglanzbroschüre des Anna-Scheufele-Gymnasiums interessierten Eltern. »Lernen in naturbelassener Umgebung«, und das in Stuttgart, der »Stadt zwischen Wald und Reben« – wie die offizielle Fremdenverkehrswerbung lautete. »Die Schüler erfahren Förderung ihrer individuellen Begabung« und dergleichen verhieß der Werbetext.

Bärbeißige ältere Mitglieder des Lehrerkollegiums hätten – allerdings außer Hörweite der Schulleitung – gemurmelt: »Kuschelpädagogik«, »Wohlfühlschule«, »der Traum besorgter Helikoptermütter« – und einander vielsagend angeschaut. Gut, dass es eben auch Lehrer wie sie gab, die auf Leistung allergrößten Wert legten. Sonst würden die Schüler ja nicht einmal einen mittleren Abschluss schaffen! Oder nur diejenigen, die von sich aus fleißig arbeiteten, um sich das Schulstipendium für sozial schwächer gestellte Familien zu sichern! Und dann waren ja noch all diejenigen, die in Musik, bildender Kunst und Theaterspiel glänzten und daher besondere Förderung erfuhren. Ja, dieses Privatgymnasium konnte sich schon sehen lassen!

Nicht ganz zu dem besonderen Bild, das die Schule vermitteln wollte, passte das Schulgebäude und die etwas weiter entfernte Sporthalle, die auch als Festhalle genutzt wurde. Beide Gebäude stammten aus der Zeit, als nüchterne Betonbauten angesagt waren. Aber – kein Problem! Die meiste Zeit des Jahres ließ sich der leicht triste Eindruck, den diese klotzigen Bauwerke vermittelten, ja leicht durch das Grün der inzwischen stattlichen Bäume mildern.

Unter einem dieser schmucken Ahornbäume hatte sich inzwischen das Spurensicherungsteam der Kriminalpolizei Stuttgart eingefunden. Wer nur hatte den Vorderreifen dieses roten Opel Astra so zugerichtet? War es derselbe Täter, auf dessen Konto der Tod der Lehrerin ging? Immerhin war dies ihr Fahrzeug, das einen Plattfuß aufwies. Reifenpanne schied aus! Einer der Spezialisten, der am Boden kniete, rief gerade:

»Kommst du mal, Gero! Ganz klar zerstochen. Da! Mehrere Einstiche – könnten von einem sehr scharfen Messer herrühren.«

Kriminalhauptkommissar Gero Wolfer, ein Mann mittleren Alters von kräftiger Statur, kam mit langen Schritten herbei und bückte sich.

»Hm! Da scheint sich jemand so richtig ausgetobt zu haben. Ihr bekommt doch sicher noch ein paar Details heraus, oder?«

Während seiner letzten Worte tönte laut sein Mobiltelefon dazwischen.

»Wir tun, was wir können«, hörte er seine Mitarbeiter antworten, dann nahm er das Telefongespräch an. Eine Weile hörte er schweigend zu, dann entfernte er sich von der Gruppe, indem er prüfend zurückblickte. Offenbar sollten sie nicht mitbekommen, was er antwortete.

»Nein Sabine, das kann ich nicht tun! Du hast einen Fehler gemacht und musst dafür geradestehen. Okay …« Die Anruferin unterbrach ihn ganz offenkundig.

»Ich bin im Dienst, ruf mich später an!«, warf er ein. Doch bevor er das Gespräch wirklich beendete, schien die Anruferin seine Aufmerksamkeit erneut erkämpft zu haben.

»Sabinchen! Jetzt hör’ aber auf! Na gut, ich zahle dir die achtzig Euro Strafe, wenn du jetzt im Moment kein Geld hast. Aber Protest gegen die Polizei …? Schlag’ dir das aus dem Kopf! Die haben nur ihre Pflicht getan. Was musst du auch mit dem Rad vor ihren Augen über den Fußgängerweg preschen, noch dazu, wenn die Fußgänger Grün haben!«

Sie hatte ihn wieder unterbrochen.

»Ja, ja, vielleicht hätte es mir auch mal passieren können«, er seufzte und sagte in entschiedenem Ton:

»Aber, du zahlst jetzt und damit basta.« Erneut hörte er eine Weile zu.

»Ja gut, wenn dein Konto überzogen ist, überweise ich dir noch was dazu, wie viel fehlt denn jetzt schon wieder?«

Er seufzte noch ausgiebiger, schüttelte den Kopf und beendete das Gespräch mit den Worten »Du hast es bis morgen. Und jetzt Schluss, keine Diskussion mehr, ich bin im Dienst – ja, an einem Tatort!«

»Stress gehabt?«

Felicitas Ulmer, seine rothaarige, zierliche junge Kollegin, kam ihm entgegen.

Ihm wäre es lieber gewesen, die Kollegin hätte sein privates Gespräch oder dessen Wirkung auf ihn, sein Kopfschütteln und seine genervte Miene, nicht mitbekommen. Aber immer noch besser sie, als die männlichen Kollegen. Deren Bild von ihm, als dem immer besonnen handelnden, erfahrenen, Privates weitestgehend ausklammernden Kriminalhauptkommissar, sollte erhalten bleiben. Sie, der Neuling, war ganz anders als die männlichen Kollegen, die ihn bisher bei der Arbeit begleitet hatten. Sie plauderte mitunter ganz unverkrampft von ihrer Familie, sie fragte ihn auch mal Außerdienstliches über andere Kollegen, ja sogar ganz locker über sein eigenes Leben. Respektlos konnte man es nicht nennen. Eher offen, erstaunlich offen. Hoffentlich würde ihr das nie zum Nachteil gereichen in diesem Beruf! Er hatte sich selbst erst daran gewöhnen müssen und ihr anfangs nicht viel oder eher zynisch geantwortet.

»Soll ich raten?«, fragte sie jetzt.

»Tochter oder Freundin?« Sie schaute ihn an. Er antwortete nicht.

»Ich tippe auf Tochter. Das Geld ist aus. Bei Schülern und Studenten kein seltenes Vorkommnis, oder?«

»Trifft ins Schwarze. Aber, dass sie meint, ich würde sie gegen zwei Verkehrspolizisten, die ihre Pflicht tun, in Schutz nehmen, oder sie selbst könnte da protestieren – das ist einfach zu blöd! Wann wird dieser Querkopf endlich erwachsen!«

Die Kollegin sagte nichts. Sie schmunzelte, als er sie darum bat, im Auto zu warten und von dort aus die Schule zu beobachten, während er die Lage im Schulgebäude sondierte. Er werde ihr Bescheid geben, wann und wohin sie dann kommen möge.

Der Schule näherte sich eine Radfahrerin in zügigem Tempo. Sie stellte ihr Rad ab, schloss es ab und schaute auf ihre Uhr. Doch dann blieb sie unschlüssig stehen. Felizitas Ulmer stieg aus und ging langsam auf sie zu. »Was ist denn hier passiert?«, fragte die junge Frau.

»Ich weiß es auch nicht«, entgegnete die junge Kommissarin.

»Hm! Mein Markus hat schon wieder seinen Turnbeutel vergessen. Den will ich ihm gleich zur zweiten Stunde hochbringen. Jetzt habe ich mich so beeilt – und bin ein bisschen zu früh dran.«

»Dann könnten Sie mir vielleicht erzählen, wer Anna Scheufele war. Muss man die kennen? Wenn doch die Schule nach ihr heißt?«

»Ja so genau weiß ich es aber auch nicht. Sie war anscheinend früher so was wie ein Kaltentaler Original, glaube ich. Jedenfalls findet jedes Jahr im Juni ein Straßenfest statt, das Anna-Scheufele-Fest. Das ist nett, ein Sommerfest, ein echtes Event hier. Aber – ich geh jetzt doch sicherheitshalber hoch zum Klassenzimmer von meinem Markus.«

Im Erdgeschoss der Schule kam gerade eine sehr rundlich und gemütlich aussehende blonde Frau zur Tür weit links vom Haupteingang heraus. Sie trug einen großen Korb voll Brötchen über dem Arm, schloss die benachbarte Tür auf, ging dort hinein und ließ einen großen Fensterrollladen hoch. Die breite Fensterfront gab ein Schiebefenster frei. Im Raum dahinter konnte die junge Kommissarin eine Art Verkaufstisch erkennen. Die Frau schickte sich an, Brötchen aufzuschneiden, um sie dann mit Butter und mit Wurstscheiben zu versehen.

»Wissen Sie vielleicht, was hier los ist?«, fragte Felizitas Ulmer.

»Irgendein Unglücksfall hat’s geheißen, hat mir mein Mann vorhin gesagt. Er ist der Hausmeister und ist vom Chef gerufen worden.«

»Hm. Sie wissen sicher, was es mit dem Namen Anna Scheufele auf sich hat …«

»Ach, ganz genau weiß ich es auch nicht. Das geht wohl auf ein Gedicht zurück, ein Gedicht ganz auf Schwäbisch. Na ja, es ist ziemlich deftig aber einigermaßen witzig. Gehören Sie zu dem Rettungswagenteam?«

»Ja, ehem, kann man so sagen. Ich warte noch auf genauere Anweisungen und vertrete mir hier draußen die Beine.«

Sie entfernte sich von dem massiven Schulgebäude, sah zum x-ten Mal zum Himmel und überlegte, was das für eine Melodie war, die ihr schon eine Weile im Kopf herumging. Ja, das war es – plötzlich wurde es ihr klar: »Oh, Anna Scheufele von Kaltental, Tochter vom Bürstenbinder« … Ja, das musste es sein! Das war es, was sie vor wirklich langer Zeit im Radio gehört hatte und was sich ihr damals wie ein Ohrwurm eingeprägt hatte. Und warum nur? Ihr längst verstorbener Onkel Peter kam ihr dabei in den Sinn, wie er bei Familiengeburtstagen humoristische Gedichte vorgetragen hatte, darunter auch den Text des Lieds von der immer und immer wieder angeschwärmten Anna Scheufele. Wie ging der Text noch mal? Ihr waren nur noch Fetzen im Gedächtnis: »Du bisch mei Schtern, mei Ideal …«, und hieß es dann nicht auch »Mach mich zum Vadder deiner Kinder«. Es war immer zum Kugeln lustig gewesen, wenn ihr Onkel das Gedicht mit Inbrunst vorgetragen hatte. Der urschwäbische Text und die Schilderung von heftiger Verliebtheit und von brutaler Enttäuschung – man musste einfach lachen. Sie würde Melodie und Text zu Hause in Ruhe recherchieren. Jetzt aber schnarrte endlich ihr Mobiltelefon. Kollege Wolfer bat sie, in den ersten Stock, in die sogenannte Direktion. Er hatte das Wort so komisch und nachdrücklich betont. Die »Direktion« wie sich das anhörte! Als ob es zur Chefetage eines börsennotierten Unternehmens ginge. Oder hatte der Kollege vielleicht ungute Schulerinnerungen? Hatte er vielleicht früher beim Direktor antanzen müssen, wenn er wieder mal was ausgefressen hatte?

Fast Viertel nach zehn Uhr: Die Stimme der Sekretärin tönte aus den Lautsprechern des Schulhauses:

»Achtung, eine Durchsage! Folgende Schüler und Schülerinnen werden ins Sekretariat gebeten: Tanja Klein, Martin Specht und Corinna Leber. Entschuldigung! Corinna Weber. Heute Kuchenverkauf der 8c im Erdgeschoss. – Alle Lehrer werden zu einer Dienstbesprechung ins Lehrerzimmer gebeten. Danke!«

Der erlösende Pausengong ertönte.

Jetzt kam vollends Leben ins Haus. Schüler strömten die breiten Treppen hinunter, Pausenbrote essend, schubsend, lärmend, drängelnd, lachend – Lehrer, bepackt mit CD-Playern, Büchern, Heftstößen und manche mit Mappen, ja eine Erdkundelehrerin mit dem Modell eines Gebirgsreliefs und die jüngste Physiklehrerin mit einer Art selbst gebasteltem Mobile, folgten ihnen. Sportlehrer Resch im Jogginganzug eilte dagegen forsch je drei Stufen auf einmal nehmend nach oben, von wo ihm gerade die dienstälteste Lehrerin entgegenkam, ächzend, so als trüge sie selbst ihre breite schwere Mappe und den alten Kassettenrekorder, und nicht die zwei schmächtigen Unterstufenschüler an ihrer Seite. Wie ein Hochseeschiff aus Kaiser Wilhelms Zeiten lief sie in das überfüllte Lehrerzimmer ein. Die beiden zart gebauten Fünftklässler stellten das Zubehör an den angewiesenen Platz und entfernten sich schleunigst.

»Die Direktion« – will heißen, der Schulleiter und sein Stellvertreter, ein Mittfünfziger mit glänzender Glatze, die ein kräuseliger grauer Haarkranz u-förmig umsäumte, blickten schon ungeduldig auf die sich hereinschiebende Lehrerschar. Der Stellvertreter, Herr Launinger, klatschte in die Hände und rief: »Darf ich Sie um Ruhe bitten! Bitte! Sie wissen, wir haben wenig Zeit!« Missvergnügt schaute er durch seine altmodisch dicken randlosen Brillengläser auf die letzten Ankömmlinge an der Tür.

Neben ihm – und wie im Kontrast zu ihm – blickte auffällig ruhig ein großer, kräftig gebauter Neuling im Lehrerzimmer in die Runde und ließ seine Augen von einem zum anderen wandern, schweigend, und so, als lege er innerlich von jedem eine Akte an, in die er alle gewonnenen Einzeleindrücke einspeicherte. Seine dicke schwarze Lederweste über den grau-schwarzen Jeans ließ ihn noch kräftiger erscheinen. Vielleicht war es auch sein entschieden hervorragendes Kinn oder der prüfende Blick aus blaugrauen Augen, die ihn so auffällig von der Lehrerschar abhoben.

»Ich möchte Ihnen Kriminalhauptkommissar Gero Wolfer vorstellen«, ertönte der Bass des Schulleiters.

»Er ermittelt im Fall unserer Kollegin Hartig. Aber bitte, Herr Wolfer, schildern Sie am besten selbst, wie sich die Sachlage derzeit darstellt!«

Kriminalhauptkommissar Wolfer ergriff das Wort.

»Ja, meine Damen und Herren«, der Kommissar machte eine bedeutungsvolle Pause, »… leider ist Ihre Kollegin zu Tode gebracht worden. Tod, vermutlich durch Fremdeinwirkung, so wurde von ärztlicher Seite festgestellt. Spekulationen sind derzeit aber noch nicht angebracht, der Obduktionsbericht liegt noch nicht vor. Äußerlich waren keine Verletzungen sichtbar. Hinweise auf einen Täter haben wir noch nicht. Der Tod Ihrer Kollegin muss schon vor Sonntagmittag eingetreten sein. Die Kriminalpolizei Stuttgart-Mitte wird noch Genaueres zur Todesursache und etwaiger Spuren am Tatort, möglicherweise das Klassenzimmer der 7c, feststellen. Wir können aber derzeit auch das noch nicht mit letzter Sicherheit sagen. Ich bin mit den Ermittlungen beauftragt worden und bitte Sie, mich dabei zu unterstützen. Ich habe an jeden von Ihnen als Einzelpersonen eine Menge Fragen. Bitte sagen Sie mir alles, was uns in der Sache weiterbringen kann, und verschweigen Sie nichts! Sie würden sich strafbar machen. Die Tat steht allem Anschein nach im Zusammenhang mit dem Abitur-Abschlussfest am Samstagabend in Ihrem Festsaal. Ihrer Schulleitung ist sehr daran gelegen, dass bis zum Beweis des eben Geschilderten nach außen und Dritten gegenüber weiterhin von einem ›Unfall‹ gesprochen wird. Es würde zu viel Unruhe in die ›Schulgemeinschaft‹ bringen, wurde mir gesagt, wenn die Kinder, die Jugendlichen und vor allem die Eltern von einem Totschlag oder gar ›Mord‹ in der Schule hören müssten, in einem Stadium, in dem noch nichts feststeht. Sie wissen aus der Presse, dass es nach Bekanntwerden solcher Geschehnisse oft zu Nachahmertaten kommt, gerade auch von Jugendlichen. Also, kommen Sie auf mich zu, wenn Ihnen etwas Besonderes aufgefallen ist.« Er machte eine Pause und verteilte seine Karte mit seiner Handynummer. »Das wäre es im Moment. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.«

Hauptkommissar Wolfer wandte sich wieder der Schulleitung zu. Die drei tuschelten kurz miteinander und verließen dann mit großen Schritten das gedrängt volle Lehrerzimmer. Es roch nach Kaffee und verbrauchter Luft. Sportlehrer Lachmann hechtete zum Fenster und riss den großen Flügel auf. Den zweiten Flügel verwehrte ihm die neue Englischkollegin aus Sorge, ihr privater CD-Player könnte dabei von der Fensterbank gefegt werden. Um die Kaffeemaschine scharten sich die drei Kolleginnen, die normalerweise immer am meisten zu schwatzen hatten und sonst dabei des Öfteren in schallendes Gelächter ausbrachen. Die männlichen Kollegen schreckten in solchen Fällen immer hoch und schauten dann irritiert zu den drei Schnattertanten. Heute aber waren die drei nicht zum Lachen aufgelegt.

»Sag mal, weißt du etwas?«

»Mensch, die Patrizia! Das ist ja furchtbar!«

»Kanntest du sie näher?«

Die Gesprächsfetzen flogen hin und her. »Dass so etwas bei uns passiert! Unglaublich! Echt! Die Welt wird immer verrückter. Wer macht denn so etwas!«

»Warst du am Samstag beim Abifest?«

»Ja, klar! Aber du hast nicht viel versäumt. Nun ja, die Patrizia tanzte mit dem Frank die meiste Zeit. Aber was will das schon sagen! Er sieht halt gut aus.«

»Frank – das ist doch der neue Sportreferendar, der Blonde?«

»Ja der. Der ist ja auch echt nett!«

»Ein bisschen jung für unsere Patrizia. Das sind doch wohl schon fast zehn Jahre Unterschied. Aber recht so, wenn auch mal Frauen das locker sehen. Warum soll sie nicht mit ihm tanzen?«

»Schon! Fragt sich nur, wie …«

»Aber glücklich sah sie trotzdem nicht aus, irgendwie ist das doch komisch, oder?«

»Ich kannte sie zu wenig, aber wenn du in Trennung und bald Scheidung gelebt hast, wie sie derzeit, ist das wohl nicht verwunderlich.«

»Hat es schon geläutet?«

»Klar, wenn du fragst, immer. Schau, unsere Streber sind schon im Treppenhaus. Wo ist denn mein Buch? Das lag doch gerade noch hier!«

Inzwischen hatte Gero Wolfer seine junge Kollegin per Handy über die Lage informiert und gebeten, ins Schulleiterzimmer zu kommen, nachdem man mit der Direktion übereingekommen war, sie quasi als verdeckte Ermittlerin in die Schule einzuschleusen.

»Frau Sommersberg in die Direktion bitte!«, schnarrte es aus der Lautsprecheranlage. Die Genannte, mittelgroß und von gepflegter Erscheinung, steuerte pflichtgemäß das Sekretariat an, neugierig, was jetzt wohl wieder zu tun oder was für nicht richtig befunden worden sei. Sie hatte das Lebensalter, in welchem laut Volksmund der Schwabe gescheit wird, das »Schwabenalter« also, schon vor geraumer Zeit erreicht und war damit auch in einem Stadium relativer Gelassenheit angekommen. Das und ihr Blick für die humorvollen Seiten des Lebens ermöglichten es ihr, den Lehrerberuf unbeschadet auszuüben.

»Bitte, Frau Sommersberg«, sagte die Sekretärin in verbindlicherem Ton als sonst, »Herr Strack wartet schon.« Am Besprechungstisch des Chefs erhob sich Kommissar Wolfer andeutungsweise und der Chef wies ihr mit einer lässigen Handbewegung einen der grau gepolsterten Stühle in seinem schlicht möblierten Schulleiterzimmer an.

»Frau Sommersberg, was ich Ihnen jetzt sage, erfordert absolute Diskretion. Die Kriminalpolizei möchte Frau Kommissarin Felicitas Ulmer bei uns als Referendarin einführen«, sagte der Chef, »damit die Ermittlungen unauffälliger anlaufen können.« Der Chef wies mit dem extra-breiten Lächeln, das er sich üblicherweise für Gespräche mit wohlgelittenen Damen aufsparte, auf eine frisch und sehr jung aussehende Kollegin des Kommissars, die mit grau-grünen wachen Augen aufschaute. Felicitas Ulmer – warum nicht Pippi Langstrumpf, schoss es Oberstudienrätin Sommersberg durch den Kopf. Die Haarfarbe der Kommissarin war grell rot; das Haar war allerdings einem modischen Kurzhaarschnitt unterworfen worden und die Kleidung ähnelte der ihres Kollegen, unauffällig, sportlich. Aha, so also sah das Outfit einer Kriminalkommissarin unserer Tage aus! Was sie da wohl alles zu hören bekam von ihren sicher rauen Kollegen! Der Schulleiter riss sie aus ihren Betrachtungen: »Wir möchten Sie, Frau Sommersberg, bitten, Frau Ulmer gleich morgen den Schülern als unsere neue Referendarin in Gemeinschaftskunde, Psychologie und Deutsch vorzustellen.

Oberstudienrätin Sommersberg schaute ungläubig in die Runde.

»Ja geht denn das?«, fragte sie. »Ich meine, sollten die Kinder und die Jugendlichen nicht lieber offen von der Polizei befragt werden?«

»Das Problem haben wir eingehend erörtert«, schaltete sich der Kriminalkommissar ein. »Die jüngeren Kinder lassen wir ganz außen vor. Bei den ab 16-Jährigen, besonders den Oberstufenschülern, möchten wir, dass es nicht zu unnötig viel Unruhe und Gerüchten und vor allem nicht zu Abwehrreaktionen in Polizeibefragungen kommt. Frau Ulmer wird nur vorsichtig sondieren, ob und wenn ja, wo eine Spur zu finden ist. Wir sollen dem dringenden Wunsch der Schule und der Schulbehörde, so weit es geht, Rechnung tragen. Der ›Schulfriede‹ soll zunächst, wenn irgend möglich, gewahrt werden, gerade mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen.«

Der Schulleiter fügte zu Frau Sommersberg gewendet hinzu: »Günstig wäre, wenn Sie Frau Ulmer als neue Referendarin, via Diskussion zum Beispiel gleich in den Unterricht integrieren könnten. Ich denke, das bewältigen Sie mit Ihrer Erfahrung unauffällig. Frau Ulmer möchte sondieren, inwieweit die Schülerschaft und die Lehrerschaft zur Klärung des Falles von Frau Hartig beitragen können«, so die Worte des Chefs, der hinzufügte: »Frau Ulmer möchte möglichst viele verschiedene Kolleginnen und Kollegen in den Unterricht begleiten und mit den Schülern sprechen. Bitte lassen Sie sich etwas Plausibles einfallen und organisieren Sie das! Die Stundenpläne der Klassen hat Frau Ulmer bereits. Morgen in der großen Pause werde ich Frau Ulmer dem Kollegium vorstellen. Es darf niemand etwas über ihren eigentlichen Beruf erfahren. Sie ist einfach Referendarin ab jetzt. Sie verstehen mich?« Barbara Sommersberg nickte. »Also, viel Erfolg die Damen!«

Und schon fand sich die Lehrerin wieder hinauskomplimentiert. Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf und zog die Stirn hoch. Ja, ja, mit schwierigen Missionen betraute die Schulleitung sie gern! Wenn es aber um eine höher dotierte Stelle im Schulbetrieb ging, hatte die Schulleitung bisher immer schnell einen anderen Kollegen gefunden, auch wenn der älter als sie war und den Ruhestand in Sicht hatte. Aber sei es, wie es will, sie hatte beschlossen, sich nicht mehr zu ärgern. Ich bin nicht mehr »ärgerbar«, so hatte sie es vom ehemaligen Stuttgarter Bürgermeister Rommel in seinen humorigen Sprüchen gelesen. Das gefiel ihr. Die neue Aufgabe jetzt versprach ja durchaus interessant zu werden und ernsthaft wichtig war sie auch.

Mit diesen Gedanken wandte sie sich der frischgebackenen jungen »Kollegin« zu, gab ihr einige Hinweise, wie sie auf eventuelle Fragen seitens der Kollegen antworten solle und welche Fragen sie ihrerseits stellen könne, und geleitete sie ins Lehrerzimmer. Dort hefteten sich wie magisch angezogen die Blicke dreier ergrauter Pädagogen an den »Frischling«. Der Älteste von ihnen, erst vor Kurzem befördert, hielt es für seine Pflicht, quasi als Repräsentant der Schule, sie seinerseits mit Handschlag zu begrüßen und eine ganze Batterie von Fragen auf sie loszuschießen. Er verlieh seinem Gesicht dabei den Ausdruck höchsten Interesses. Barbara Sommersberg nutzte die Zeit, um zum Fotokopierer zu huschen. Selbst wenn sie dort in der Schlange warten müsste, wusste sie doch, dass Kollege Katschenfeld die Beschnupperung der Neuen ad infinitum fortsetzen würde. Frühestens also, wenn seine Freistunde beendet sein würde, würde er von ihr ablassen.

Kommen Sie, Herr Kommissar! Ich führe Sie in die Turnhalle zu unserem Sportreferendar, Herrn Schellfuß. Die Damen nennen ihn den ›schönen Frank‹, hat man mir erzählt. Seinen Mentor, Herrn Maier, habe ich schon verständigt, den Unterricht für ihn weiterzuführen.« Auf dem Schulhof waren vier Unterstufenschüler damit beschäftigt, Überbleibsel vom Abifest, Tüten, Dosen, Papier und dergleichen mit langen Greifzangen aufzupicken und in Eimer zu befördern, sie ließen sich Zeit dabei. Religion, Musik, Geschichte – wo fehlten sie jetzt wohl und würden nach getaner Arbeit dann im Lauf der Unterrichtsstunde eintrudeln? Rechts vom Haupteingang sprinteten zwei Mittelstufenschüler – Raucher wahrscheinlich – in langen Sätzen auf das Schulgebäude zu. Sie hatten den Schulleiter erblickt. Zum Unterricht würden auch sie zu spät kommen. Der Schulleiter ließ sie unbeachtet und schritt mit seinem Begleiter zielstrebig über den Schulhof zur Sporthalle und auf die Turnhallentür zu.

Über ihnen hatte sich der Himmel bewölkt. Am Horizont im Westen schob sich eine bleigraue Wolkenformation höher. Schwüle lag über den bewaldeten Hängen und dem Talkessel der Stadt. Ein verdächtiger Wind kam auf. Laut zwitschernd jagten sich zwei Amseln und landeten auf dem Rasen des Sportplatzes.

Drinnen roch es nach Turnschuhen, Schweiß und Duschgel, vor allem, als sie die Umkleideräume und den Zugang zur Sporthalle durchquerten. Hier gab es keine Spuren mehr vom Abifest. Die Abiturienten hatten den Sonntag damit zugebracht, die Festhalle zu reinigen. Laute Rufe »Eh, Olli«, »Zu mir!« und weitere Namensrufe oder eher Schreie übertönten den intensiven Grundlärm. Ähnlich wie in einem überfüllten Freibad, dachte Gero Wolfer. Ein schriller Pfiff riss ihn aus seinen Gedanken. Ein weiterer, noch längerer Pfiff übertönte den Lärm, der sich kurz legte. Mit langen wiegenden Schritten kam ein junger Mann im Sportanzug – groß, blond, bestaussehend – auf die beiden Besucher zu. Er grüßte artig und nannte seinen Namen: »Frank Schellfuß.« Typ »der sympathische Trainer«, könnte locker in einer Fernsehserie mitspielen – ging es dem Kommissar durch den Kopf. »Herr Schellfuß, das ist Hauptkommissar Wolfer. Sie wissen Bescheid. Ich lasse Sie jetzt allein«, sagte der Schulleiter und entfernte sich stracks.

Der »schöne Frank« wies Gero Wolfer gewandt in das Sportlehrerzimmer hinter dem großen Glasfenster und schloss die Tür. Nach der Schilderung, wie das Abifest verlaufen war, kam die Rede schnell auf Patrizia Hartig. Zwischen neun und zehn Uhr habe er sie im Festsaal getroffen und mit ihr ein Glas Sekt getrunken und dann getanzt. Es habe Spaß gemacht, mit ihr zu tanzen, aber so ganz bei der Sache sei sie innerlich wohl nicht gewesen. Sie habe sich zwar heiter gezeigt, aber er habe den Eindruck gehabt, dass irgendetwas sie bedrücke oder ablenke. Öfter habe sie sich im Saal wie suchend umgesehen und mehrmals zur Tür geblickt.

Um circa 23 Uhr oder kurz danach habe sie gesagt, sie wolle jetzt gehen. Sie habe Kopfweh und müsse am Wochenende noch eine Menge für den Unterricht vorbereiten. Ein Film für die Stunden mit den Oberstufenschülern gleich am Montagfrüh fehle ihr. Sie werde zur Schule hinübergehen und nachsehen, ob sie ihn vielleicht im DVD-Player im Lehrerzimmer, oder im Klassenzimmer der 7c, vergessen habe.

Leider habe er sie nicht dazu bewegen können, noch zu bleiben. So habe er sich dann eben an den Tisch mit den anderen Referendaren in der Nähe des Büfetts gesetzt. Jetzt im Nachhinein mache er sich Vorwürfe, dass er sie nicht ins Schulgebäude begleitet habe. Aber am Samstagabend habe er sich nicht viel gedacht, als sie das Fest verließ. Er habe ja nicht aufdringlich sein wollen, zumal bekannt war, dass sie sehr pflichtbewusst ihren Unterricht immer gründlich vorbereite.

Gero Wolfer fragte sich, was er selbst wohl an der Stelle des smarten Sportlehrers getan hätte: vielleicht sie an das Büfett gelockt oder zu einem Glas Bier oder Wein überredet oder zu mehr. Oh diese verbissenen Lehrerinnen! Endlich mal ein Fest, und dann schon um elf Uhr nach Hause! Das konnte doch nicht wahr sein! Er ließ sich die Gerüchte über Patrizias Eheprobleme, die ihm zu Ohren gekommen waren, durch den Kopf gehen. Wahrscheinlich steckten der Ehemann und der beidseitige Trennungszoff hinter ihrem merkwürdigen Verhalten. Eifersucht, Geld, der ganze Trennungs- und Scheidungsschlamassel eben. Vermutlich hatte ihr Tod damit etwas zu tun. Er würde das schon noch herausfinden! Wolfer war auf dem Schulparkplatz angelangt. Sein Wagen stand, wie zuvor ausgeklügelt, jetzt im Schatten. Er kurbelte die Fenster herunter und fuhr los.

»Hallo, halloooh!!! Herr Kriminalhauptkommissar, würden Sie mich mitnehmen?«