Tatort Unterfranken (eBook) - Veit Bronnenmeyer - E-Book

Tatort Unterfranken (eBook) E-Book

Veit Bronnenmeyer

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Beschreibung

Durch Unterfranken kann man oft stundenlang gehen, ohne einen lebendigen Menschen zu treffen, und doch ist die Zahl der Mordopfer hier enorm hoch – zumindest, wenn man den Geschichten in diesem Band glauben darf, in denen es ziemlich heiß hergeht. Die neun Kurzkrimis von Elmar Tannert, Susanne Reiche, Killen McNeill, Tessa Korber, Tommie Goerz, Renate Eckert, Horst Prosch, Sigrun Arenz, Theobald Fuchs und Bernd Flessner vereinen regionalen Charme, unterfränkische Lebensart und gnadenlose Spannung aufs Vergnüglichste – ein packender Band für alle Einheimischen, Zugereisten und Urlauber. 9 unterhaltsame Kurzkrimis mit Schauplätzen u. a. in Würzburg, Kitzingen, Miltenberg, Rothenfels, Volkach, Schweinfurt, Bad Kissingen, Aschaffenburg und Hassfurt.

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Tatort Unterfranken

Neun Kurzkrimis

ars vivendi

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Juni 2020)

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © markusspiske / Photocase

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

eISBN 978-3-7472-0158-9

Inhalt

Elmar Tannert: Besuch von Elias

Killen McNeill: Kaiserkur

Horst Prosch: Beten oder flüchten

Tessa Korber: Letzter Zug

Veit Bronnenmeyer: Selbermachen in Miltenberg

Tommie Goerz: Mein Opa

Renate Eckert: Späte Liebe

Bernd Flessner: Der Letzte

Theobald Fuchs: Dach über dem Kopf in der Schlinge

Die Autorinnen und Autoren

Aschaffenburg

Elmar Tannert: Besuch von Elias

Es klingelte.

»Erwarten wir jemanden?«, fragte ich, während ich den Türöffner drückte.

Klara lag auf dem Sofa und las.

»Nicht, dass ich wüsste.«

Es war Sonntag. Der Sonntag vor Heilig Drei Könige. Eine Insel im Kalender, nur für uns beide reserviert. Ich trat vor die Wohnungstür, spähte ins Treppenhaus und erhaschte den Blick auf einen vollbärtigen Mann mit Wollmütze, in der Hand eine Reisetasche, auf dem Rücken einen Rucksack, der mit jedem Schritt zwei Treppenstufen nahm. Als er mir auf der letzten Treppe entgegenkam und mein ratloses Gesicht sah, sagte er: »Kennst du mich nicht mehr? Ich bin’s, Elias.«

Da erst fielen Bart und Mütze von ihm ab, und ich sah den Fünfzehnjährigen von damals vor mir: grüner Iro, Leder­jacke, zerfetzte Jeans, reichlich Metall an Leib und Kleidung und unter den Klassenkameraden meiner beiden Söhne der einzige Punk weit und breit. Erst Jahre später war klar: Seine Punkverkleidung war keine pittoreske Jugendeskapade gewesen, sondern einer seiner Schritte auf dem Weg in den Abgrund, eines der vielen Steinchen im Mosaik aus Rebellion und Nichts-wie-raus, jedem inneren Impuls folgen und sich aus jeder Verankerung reißen. Er war spätestens von Jugend an mit schlichtweg nichts und niemandem kompatibel gewesen, weder mit Freunden noch Familie und womöglich am allerwenigsten mit sich selbst.

Klara war in den Flur gekommen und musterte Elias. Der starrte zurück. »Diese toten schwarzen Augen«, würde sie später sagen. »Man hat keine Ahnung, was hinter ihnen vorgeht. Und man möchte es auch lieber nicht wissen.«

»Das ist Elias. Ein alter Schulfreund von Jakob und Felix.« Dass es die Freundschaft zu meinen Söhnen seit Jahren nicht mehr gab, behielt ich vorläufig lieber für mich.

Vor vier oder fünf Jahren war er schon einmal hier aufgeschlagen. Auf jeden Fall in meiner Singlezeit. Frisch aus dem Knast entlassen, war er weder zu seiner Familie noch zu Freunden gegangen, sondern zu mir gekommen. Hatte nach einer Nacht seine Sachen wieder gepackt und war verschwunden. Bis heute.

»Neue Freundin? Oder bist du verheiratet?« Elias legte sein Gepäck ab und klopfte mir mit Überschwang auf die Schulter. »Freut mich!« So hatte er mir schon mal auf die Schulter geklopft, in seiner Punkzeit, als er meine damalige Freundin kennenlernte und mir »Super Alte!« ins Ohr brüllte. Das war auf Jakobs Geburtstagsfete gewesen, die wir bei mir zu Hause veranstaltet hatten. Damals war eigentlich nichts Schlimmes passiert – außer, dass Elias vom Balkon in den Hinterhof gekotzt hatte. Seinen drohenden Absturz über die Balkonbrüstung hatten wir gerade noch verhindert.

»Können wir dir etwas anbieten, Elias?«, fragte Klara.

»Habt ihr Bier da?«

Ich ging auf den Balkon, holte eine Flasche und schenkte ihm ein. Elias trank, als wäre er drei Tage durch die Wüste gekrochen.

»Habt ihr vielleicht noch eins?«

Es ist nicht so, dass wir kein Bier trinken würden. Der Vorrat auf dem Balkon ist nicht nur für Gäste da. Aber wir kippen uns nicht unbedingt eins nach dem anderen hinein. Andererseits – verglichen mit dem, was Elias in seinem Leben mutmaßlich schon probiert hat, war Bier wahrscheinlich harmlos wie Limo. Ich gab ihm noch eins. Klara wollte ebenfalls.

»Was führt dich denn zu uns?«, fragte sie und blickte abermals auf die Uhr. Wir hatten noch eine halbe Stunde bis zum Aufbruch.

Als wir die Konzertkarten besorgt hatten, war der 5. Januar in weiter Ferne gelegen und hatte wie eine verheißungsvolle Sonntagsinsel gewirkt, der gleich darauf ein Feiertag folgte. Nichts und niemand würde uns stören. Alle Hauptfiguren unseres gemeinsamen Lebens hätten wir besucht, hätten mit ihnen Weihnachten und Silvester gefeiert, und danach kämen ein paar Tage nur für uns, bevor die Welt wieder ihren Normalbetrieb aufnähme. Aber man vergisst allzu leicht die Nebenfiguren, die Randfiguren des eigenen Lebens, die einem nur zwei oder drei Mal über den Weg gelaufen sind. Plötzlich sind sie mit erschreckender Selbstverständlichkeit da. In genau dem Moment, in dem man sie weder erwartet noch brauchen kann.

»Ich komm grad aus dem Knast.«

»Aha. Und warum warst du im Knast?«

Elias drehte sich eine Zigarette.

»Bei euch darf man doch rauchen, oder?«

Ich schob ihm einen Aschenbecher hin. Klara wiederholte ihre Frage.

»Sachbeschädigung und Körperverletzung.«

»Was war da?«

Elias erzählte etwas von einer Gastwirtschaft in Würzburg. »Da hab ich die Leute nicht mehr gepackt und bin aufs Klo, weil ich meine Ruhe haben wollte, und hab geraucht.« Seine Worte schleppten sich schwer dahin. »Und dann ist irgendwann der Wirt an der Klotür gestanden und hat gesagt, ich soll rauskommen. Hab ich aber nicht eingesehen. Deshalb hab ich unter der Klotür ein Feuer gemacht. Dann hat der Wirt die Tür eingetreten, und wir haben angefangen zu raufen. Na ja, und dann hab ich halt wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung zwölf Monate gekriegt.«

Klara suchte Blickkontakt mit mir, während Elias sprach. Wen, zum Teufel, hast du denn da bloß in unsere Wohnung reingelassen?, stand in ihr Gesicht geschrieben. Mach dir keine Sorgen, funkte ich zurück, er ist harmlos. Aber ich machte mir Sorgen.

»Also bei mir«, resümierte Elias, »ist das halt so: Wenn mir einer aggressiv kommt, dann kommt mir auch die Aggression hoch. Und dann weiß ich nicht mehr genau, was ich mach. – Prost!« Elias hob sein Glas. »Hast noch eins?«

Ein anderer Mensch hätte ihn an diesem Punkt wahrscheinlich hinausgeworfen. Sofern er ihn überhaupt in die Wohnung gelassen hätte. Aber ich bin kein Rausschmeißer. Vielleicht, weil ich selber schon Tausende Male im Leben Angst hatte, die Miete nicht mehr zahlen zu können und nächsten Monat unter einer Brücke schlafen zu müssen.

Klara sah wieder auf die Uhr, dann zu mir, und ihr Blick sagte: Den lassen wir hier nicht allein.

»Pass auf, Elias. Klara und ich gehen jetzt dann. Heute spielt ne Band im Colos-Saal. Ich verlass mich auf dich, okay?«

»Na klar verlass ich mich auf dich! Wie du auf mich! Haha!«

Ein Grinsen flackerte über sein Gesicht, aber seine Augen blieben tot.

»Du könntest doch mitkommen«, warf Klara ein.

»Ich mach’s mir lieber hier gemütlich.«

Auf dem Weg zum Colos-Saal fiel nicht nur sie über mich her. Kaum hatten wir den Irish Pub am Bahnhof passiert, verschluckte sich mein Mobiltelefon fast an den hereinprasselnden Nachrichten.

Elias hat gerade von deinem Festnetz bei mir angerufen. Ihr habt ihn doch wohl nicht allein in der Wohnung gelassen?

Elias hat mich angerufen und gesagt, dass er gerade bei euch zu Hause ist. Lasst ihn bloß nicht allein! Schmeißt ihn so schnell wie möglich wieder raus!

Man darf Elias auf keinen Fall unbeaufsichtigt lassen! Bei Lisa hat er schon mal ein Feuer gelegt und alle Polster aufgeschlitzt!

Der dreht durch, wenn er allein ist. Du hast ja keine Ahnung, was der schon alles eingeworfen hat. Vor ein paar Jahren haben sie eine schizophrene Psychose bei ihm diagnostiziert.

Elias kann sich bei keinem von den alten Freunden mehr blicken lassen. Deshalb kommt er zu euch. Aber er ist nicht auf euch angewiesen! Er weiß gut genug, wo Notschlafplätze sind!

»Wir haben einen Zündler zu Hause? In einer Wohnung voller Bücher?«

»Klara, diese Sachen sind schon eine Weile her. Und ich selber hab noch keine schlechten Erfahrungen mit Elias gemacht.«

»Hattest ja auch wenig Gelegenheit.«

Das konnte ich nicht abstreiten.

»Elias ist keine Klette. Morgen früh ist er wieder weg, und wir werden ihn nie mehr sehen.«

»Und was ist bis dahin?«

»Es wird nichts passieren. Komm, trinken wir ein Bier im Irish Pub, dann gehen wir zurück.«

»Nein. Wir gehen sofort zurück. Und dann schmeißen wir ihn raus.«

»Diese eine Nacht kann er bleiben.«

»Falls wir noch eine Wohnung haben. Wieso willst du ihn unbedingt dabehalten?«

»Ich will ihn nicht unbedingt dabehalten. Aber erstens ist es saukalt, und zweitens ist er ein alter Freund meiner Söhne.«

»Und wenn die Mutter deiner Söhne vorbeikommt und bei uns mitwohnen will? Deine Exfrau? Die nehmen wir dann wohl auch auf?«

Unsere Beziehung war lange Zeit ein geruhsamer Fluss gewesen, auf dem wir uns gemeinsam treiben ließen, zwischendurch an Inseln anlegten, ein Wochenende in Prag oder zwei Wochen Bretagne, mit unseren beiden freiberuflichen Einkommen kamen wir gut durchs Leben. Und jetzt schien sich der Fluss zu gabeln, geteilt durch eine Insel, die nicht zum Anlegen verlockte, auf der wir einander nie begegnen würden, denn sie hatte einen Bewohner, und der hieß Elias.

»Also gut. Von mir aus diese Nacht«, sagte Klara. »Aber wenn er danach noch mal auftaucht, hat er Pech gehabt. Es gibt hier genug Wohnheime und Notschlafstellen für Obdachlose. Und jetzt will ich wieder nach Hause, bevor er uns die Wohnung abfackelt. Scheiß auf das Konzert.«

Wir sahen keine Flammen aus den Fenstern schlagen, als wir um die Ecke bogen.

»Das muss nichts heißen.«

Es lag auch kein Brandgeruch im Treppenhaus, als wir nach oben stiegen. Die Musik aber dröhnte eindeutig aus unserer Wohnung. Ich sperrte auf. Elias tänzelte zu Enter Sandman von Metallica grölend durch den Flur und schwenkte ein Whiskyglas in seiner Hand. Eigentlich vermisste man nur, dass er sich in seinem Freiheitsrausch die Kleidung vom Leib gerissen hätte.

»Mein Talisker!« Klaras Lieblingswhisky. Ihre noch unangebrochene Weihnachtsflasche. Dass die Küche deutliche Spuren von Spaghetti mit Tomatensauce aufwies und das Badezimmer knapp an einem Wasserschaden vorbeigeschrammt war, konnte man demgegenüber als Nebensache betrachten.

Ich richtete ein Nachtlager auf dem Wohnzimmersofa, und als würde dies einen Reflex in Elias auslösen, sank er darauf nieder, kippte den restlichen Whisky in sich hinein, rollte sich zusammen und fiel in den Schlaf wie ein kleines Kind. Klara hatte unterdessen in der Küche eine Flasche Rotwein geöffnet und zwei Gläser eingeschenkt; ich setzte mich zu ihr an den Küchentisch, und zum ersten Mal, seit wir uns kannten, hatten wir kein eigenes Thema, sondern eines, das uns aufgedrängt worden war. Elias.

Die Anekdoten von damals, die ich aus meinem Gedächtnis hervorkramte, schienen erst jetzt ihre volle Tragweite zu entfalten und seinen Charakter im wahren Licht zu zeigen. Wenn Elias sich in ein Mädchen verknallte, das zufällig die hübsche Hazel aus der Schüleraustauschgruppe der schottischen Partnerstadt Perth war, dann musste er ihr nach ihrer Abreise natürlich hinterhertrampen, nur um schließlich damit konfrontiert zu werden, dass sie aus einem genauso spießigen Elternhaus stammte wie er selbst, aber keineswegs gewillt war, es ihm zuliebe zu verlassen und an seiner Seite durch eine permanent nach allen Richtungen offene Gegenwart zu ziehen. Und natürlich gehörte Elias auch nicht zu den geordneten Absteigern, die vor dem bayerischen Abitur auf ein hessisches Gymnasium wechselten, nach Rodgau oder Seligenstadt, weil sie ihrer Familie das Abitur schuldig waren; er war nicht abgestiegen, er war abgestürzt.

Ich verfluchte den Augenblick, in dem ich auf die Türklingel reagiert hatte, und ich verfluchte ihn am nächsten Morgen um sieben, als Elias an die Schlafzimmertür hämmerte und »Kaffee!!« rief. »Der ist wohl für dich«, kommentierte Klara und drehte sich auf die andere Seite. »Mir kannst du in drei Stunden einen bringen.«

Wir hätten diesen Heiligdreikönigemontag ganz anders verbracht, dachte ich, als ich mit Elias in der Küche saß und seinen großen Monolog über das Leben, Gott und die Welt hörte. Wir wären am Vorabend im Konzert gewesen und danach vielleicht noch auf ein Bier im Irish Pub. Wir hätten uns geliebt – vor dem Einschlafen oder traumverloren mitten in der Nacht, nach dem Erwachen oder nach dem Frühstück im Bett –, hätten den Feiertag verfaulenzt, ehe anderntags der Normalbetrieb wieder losginge, dachte ich, während Elias mir schwerfällig erzählte, er werde sich zunächst eingehend damit beschäftigen, was das Leben eigentlich von ihm wolle, dass er sich auf dem Jesusweg befände und dass die Welt sich – »findest du nicht auch?« – immer mehr in ein Paradies verwandle. Die Einsicht, dass er gerade im Begriff war, meines zu zerstören, wäre wohl zu viel von ihm verlangt gewesen. Einmal falsch reagiert, dachte ich, einmal die falsche Abzweigung genommen, und seither spielt sich das Leben, wie es sein soll, nur noch im Kopf ab, und das wirkliche Leben kratzt wie ein Wollpullover auf nackter Haut.

Elias sprach von seinem Betreuer, den er morgen aufsuchen werde, der ihm zu einem Job und einer Unterkunft verhelfen werde, und ich fragte mich, wie es einem Betreuer gelingen sollte, einen Menschen wie Elias zu vermitteln.

Schließlich ging er. Zur Brücke, wie er sagte, ein Quartier für Obdachlose ein paar Straßen weiter. Ich drückte ihm noch einen Zwanziger in die Hand. Für Tabak oder irgendwo ein Bier trinken.

Elias ging und hinterließ einen Spaltpilz. Klara konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Zu wem ich denn stehe – zu ihr? Oder doch eher zu irgendwelchen dahergelaufenen Gestalten aus meiner Vergangenheit, mit denen mich eigentlich nichts verbindet?

»Es ist kalt. Da schickt man niemanden wieder raus.«

Da könne ja dann in Zukunft jeder bei uns klingeln, dem es draußen zu kalt sei, und ich würde ihn bereitwillig aufnehmen – oder?

»Herrgott, es gibt eben auch eine persönliche Verbindung! Felix ist einmal mit Elias’ Familie in Urlaub gefahren, als sie noch Klassenkameraden waren.«

»Gutes Stichwort: Familie«, gab Klara zurück. »Was ist denn mit seiner Familie? Wieso kümmert die sich nicht um ihn?«

»Was weiß denn ich! Und außerdem können wir das Thema jetzt beenden – Elias hat seine Unterkunft in der Brücke, und gut ist!«

»Gut ist nur, wenn er nicht wiederkommt.«

Nach einem eisigen Nachmittag feierten wir Versöhnung, legten Tangos von Raúl Berón auf und tanzten durch das kerzenerleuchtete Wohnzimmer. Bis es klingelte. Und ich die Tür öffnete. Elias konnte es schließlich nicht sein. Aber es war Elias. Nur noch für eine Nacht brauche er Quartier, sagte er. Die Brücke habe heute keinen Platz mehr für ihn gehabt. Doch er habe sich angemeldet, und morgen würden sie ihn aufnehmen, ganz sicher. Und morgen hätte er auch den Termin mit seinem Betreuer, wegen Job und Unterkunft und so, gleich um acht Uhr morgens, also seien wir ihn bald wieder los.

»Hast du vielleicht noch ein Bier da?«

Bier war da. Aber kein Kitt mehr, um den neuen Riss zwischen Klara und mir zu füllen.

»Kann ich duschen?«

»Bitte.«

Das Wasser rauschte eine halbe Stunde lang.

»Können wir nicht ein bisschen Karten spielen?«

»Wir haben keine Karten da. Und außerdem können wir keine Kartenspiele«, blaffte Klara.

Seine Antwort »Ich auch nicht« wäre bei einem anderen Menschen fast schon rührend gewesen. Nicht bei Elias. In Elias schienen sich mindestens ein Dutzend Kobolde fortwährend darum zu streiten, wer von ihnen an die Oberfläche ausbrechen darf. Wenn mehrere auf einmal siegten, führte er Selbstgespräche, aus denen ab und zu ein irres Kichern hervorbrach. Manchmal siegte auch keiner – dann war Elias eine erloschene Sonne, von der seine gesamte Umgebung aufgesaugt zu werden drohte, und seine stumme, lastende Anwesenheit fühlte sich an, als sänke man mit ihm zum Mittelpunkt der Erde hinab.

»Wenn du es nicht fertigbringst, ihn rauszuschmeißen, gibt es nur eine Lösung«, sagte Klara in der Nacht. »Der muss wieder dahin zurück, wo er am besten aufgehoben ist – in den Knast.«

Wie wir ihn dorthin kriegen sollten, blieb allerdings vorerst offen. Bei einem wie Elias brauchte es zwar mutmaßlich nicht viel, aber dennoch liefen wir mit jeder Idee Gefahr, selbst kriminell zu werden. Ihm Kokain unterschieben und die Polizei auf ihn ansetzen? Dazu hätten wir den Stoff erst einmal selber besorgen müssen. Einen Streit anzetteln, um ihn wegen eines neuen Körperverletzungsdelikts dranzukriegen? Da konnte Aussage gegen Aussage stehen. Vielleicht erledigte sich das Problem ja von selbst, wenn man ihn bei einem Delikt wie Schwarzfahren oder Ladendiebstahl erwischte.

Am nächsten Tag lag Elias um acht noch auf dem Wohnzimmersofa.

»Kein Bock zum Aufstehen.«

»Du versemmelst gerade deinen Termin, du Idiot!«

»Mir egal. Lass mich schlafen.«

Schließlich kriegte ich ihn doch noch aus dem Bett. Nicht mehr rechtzeitig für seinen Termin. Aber so rechtzeitig, dass ich in die Musikschule aufbrechen und Klara sich ihrem Übersetzungsauftrag widmen konnte, ohne mit Elias allein zu sein.

»Wäre ja auch noch schöner.«

Dann war Elias weg. Und war doch nicht weg. Allein der Klingelton rief ihn immer wieder wach. Jedes düdelü-düdelü konnte Elias sein.

»Wenn du ihn noch einmal reinlässt, geh ich«, hatte Klara verkündet.

Jedes düdelü-düdelü lud die Atmosphäre weiter auf, vergrößerte die Risse zwischen uns und trieb uns in einen Kreislauf von Entfremdungen und Versöhnungen. Seit Elias schien es ohnehin stets nur noch im falschen Augenblick zu klingeln.

»Können wir vielleicht mal ungestört ficken, verdammt noch mal?«, schrie ich einmal in die Sprechanlage. Kurze Stille. Dann eine Stimme mit hartem Akzent. »Paket für Ihre Nachbar. Kann ich bei Ihnen abgeben?«

Ich verspürte in diesem Augenblick den Wunsch, Elias einfach umzubringen, wenn er je wieder bei uns auftauchte. Ihn einlassen und ihm sofort den nächstbesten Gegenstand auf dem Schädel zertrümmern.

Der Januar verging, ohne dass Elias sich blicken ließ. Das heißt – einmal sah ich ihn Gott sei Dank noch rechtzeitig durchs Fenster der Bankfiliale in der Weißenburger Straße, als ich sie eben verlassen wollte; er ging vorüber, in ein Selbstgespräch verstrickt. Gepäck trug er keines bei sich, was ich als Hinweis deutete, dass er eine dauerhafte Bleibe gefunden hatte. Der frisch angebrochene Februar schob den Jahresbeginn in eine tiefere Schicht der Vergangenheit und verhieß eine neue eliasfreie Epoche.

Sie dauerte bis zu jenem unseligen Freitagabend. Wir machten uns eben ausgehfertig. Freunde von Klara hatten angerufen, sie hätten zwei Karten fürs Kabarett im Hofgarten übrig. Ein willkommener kleiner Schicksalswink. Seit dem missglückten Konzertabend im Januar hatte keiner von uns beiden eine neue Initiative ergriffen.

Als es klingelte, stand ich zufällig schon an der Wohnungstür und drückte reflexartig den Türöffner. Eine halbe Minute später klopfte es.

Elias. Ohne Gepäck, aber mit dem Aroma einer Mülltonne, flackernden Augen und zitternd am ganzen Leib.

»Ich pack die Welt nicht mehr. Ich brauch unbedingt ein Beruhigungsmittel. Kannst du mir in der Apotheke schnell eins holen? Oder hast du eins da?«

Elias in dem Zustand wegschicken? Unmöglich. Klara zog ihre Jacke an.

»Ich wünsch dir einen schönen Abend mit deinem alten Kumpel!« Weg war sie.

Ein Beruhigungsmittel hätte auch ich jetzt nötig gehabt. Falls ein Beruhigungsmittel überhaupt was nützt, wenn das Leben in Trümmer geschlagen wird. Ich griff nach einer Flasche Bier.

»Das könnte mir auch helfen«, meinte Elias.

Nach den ersten Schlucken beruhigte er sich tatsächlich.

»Kann ich noch mal bei euch pennen?«

»Ich denke, du hast eine Unterkunft in einer Pension bekommen? Wo sind deine Sachen?«

»Hab ich unten abgestellt. Ich geh noch mal runter und hol sie.«

Klar hätte ich hinter ihm die Wohnungstür schließen können, um sie ihm nie wieder zu öffnen. Aber eine endgültige Lösung musste anders aussehen. Ich wusste nur noch nicht, wie.

Aus der Unterkunft sei er wieder rausgeflogen, erfuhr ich von Elias, nachdem er eine halbe Stunde unter der Dusche verbracht hatte. Der Geruch, den er mitgebracht hatte, hing immer noch in seinen Kleidern und verbreitete sich in der ganzen Wohnung. Ich musste an einen entfernten Groß­onkel von mir denken, den man in einem heißen Sommer tot in seinem Haus in Münster aufgefunden hatte, etwa einen Monat nach seinem Ableben. Noch im Winter, als ich das Haus erstmals mit Verwandten betrat, um den Haushalt endgültig aufzulösen, roch es dort nach Verwesung, dass es einem den Atem raubte, und man musste es als glückliche Fügung betrachten, dass die Stadtverwaltung ohnehin die gesamte Häuserzeile zwecks Quartiersanierung und Neubebauung aufkaufen wollte; niemals mehr hätte jemand dort einziehen können. Ebenso hing nun Elias’ Geruch im Raum, der Geruch einer toten Seele, der sich nicht abduschen ließ, der sich langsam in die Wände hineinfraß und niemals mehr aus ihnen weichen würde. Es sei denn …

»Kann ich mir was zu essen machen?«

Ja, Elias. Tu, was du willst, solange du mich nicht in meinen Gedanken störst. Ich machte mir ein Bier auf – das wievielte eigentlich? – und sah Elias zu, wie er an den züngelnden Gasherdflämmchen hantierte. Feuer heilt. Feuer reinigt. Feuer reinigt, indem es vernichtet.

Elias saß mir gegenüber und aß seine Spaghetti.

»Danke, Elias, für mich nicht. Hab schon gegessen. Noch ein Bier vielleicht?«

Ich musste ihn ins Bett kriegen, ohne ihm zu viel Alkohol zu verabreichen. Elias durfte später, vor Gericht, keinesfalls für unzurechnungsfähig erklärt werden. Ich musste ihn ins Bett kriegen und dabei die Kontrolle behalten. Klara hatte völlig recht. Elias musste wieder dorthin kommen, wo er hingehört. Wo er keinen Schaden anrichtet.

»Ruh dich aus, Elias.«

Ich führte ihn zum Sofa.

Sobald ich seine Atemzüge tiefer werden hörte, machte ich mich ans Werk. Entweder du oder Klara! Ein Kichern drang mir unangenehm ins Ohr. Wer war das? Doch wohl nicht ich selbst? Derselbe, der wie Rumpelstilzchen durch die Wohnung hüpfte, herumliegende Zeitungen einsammelte und in den Papierkorb stopfte? Den Papierkorb beim Sofa abstellte und ein Feuer legte?

Jetzt schnell zur Nachbarin, ehe der Rauchmelder losgeht. Die Nachbarin fragen, ob sie mir mit irgendwas aushelfen kann. Mehl wäre eine gute Idee.

»Frau Grießbeck, wenn Sie mir vielleicht ein Pfund Mehl borgen könnten? Ich will einen Kuchen backen. Morgen bring ich’s Ihnen wieder … bitte? Es riecht brenzlig im Haus? Ja, ich glaube, Sie haben recht … komisch, aber da müsste doch ein Rauchmelder … nein, bei mir ist das nicht … oder doch? Ich geh schnell nachsehen!«

Aus der Wohnung drang der Geruch von schmelzendem Plastik. Der Papierkorb, in dem ich das Feuer gelegt hatte. Eigentlich hätte schon längst der Rauchmelder losgehen müssen, hätte Elias aus dem Schlaf reißen sollen. Ich fingerte in der Hosentasche nach dem Wohnungsschlüssel. Ich stülpte alle Hosentaschen um. Nicht da. Ich hatte ihn vergessen.

»Elias!«, rief ich und schlug gegen die Wohnungstür. »Elias, mach auf!« Vergebens. Wer weiß, wie viel Elias schon von dem Plastikqualm eingeatmet hatte. Ich lief zur Nachbarin zurück und schrie: »Feuer! Sofort die Feuerwehr rufen!«

Als sie ankam, hatten die Flammen bereits auf das Dachgebälk übergegriffen. Von Elias kein Lebenszeichen. Falls er jetzt noch zu sich käme, wäre es ohnehin zu spät. Ich löste mich aus der Menschentraube, ging zur nächsten Straßenecke und suchte nach meinen Zigaretten. Da sah ich Klara näherkommen.

»Du hattest recht. Er hat’s tatsächlich getan! Hast du Zigaretten einstecken? Ich muss meine in der Wohnung liegen lassen haben.«

Klara fingerte zwei Zigaretten aus der Packung und gab mir eine.

»Ich war nur kurz weg. Nebenan bei Frau Grießbeck. Und da …«

»Hast du Feuer?«

Ich gab ihr Feuer. Mit dem Stabfeuerzeug aus der Küche. Klara betrachtete es interessiert.

»Merk dir deine Geschichte für die Polizei. Die wird hoffentlich nicht auf die Idee kommen, dass du lieber die Wohnung abfackelst, anstatt den Kerl einfach rauszuschmeißen.«

Bad Kissingen

Killen McNeill: Kaiserkur

Elise ist eine Maus und hat sich oben im Schlagwerk einer Standuhr versteckt. Sie schläft und träumt, und im Traum sieht sie sich selbst zu, wie sie schläft. Sie liegt, eingekringelt wie eine kleine graue Breze, direkt auf der Oberfläche der Glocke, unter dem mächtigen Hammer, der gleich zur vollen Stunde schlagen wird. Wird sie rechtzeitig aufwachen, bevor er auf sie niederrast? Der Minutenzeiger steht zitternd bei einer Minute vor zwölf. Dann löst er sich und rastet genau oben in der Mitte des Ziffernblatts ein. Der Hammer springt aus der Halterung und saust nach unten. Mit einem Satz springt Elise von der Glocke …

Und wacht auf. Sie liegt auf dem Holzboden neben ihrem Bett. Schon wieder. Elise Sitzmann ist keine Maus, obwohl sie klein und unscheinbar ist; sie ist eine siebzehnjährige Dienstmagd im Hotel Karl von Hess in Kissingen. Den Traum hat sie jetzt zum dritten Mal gehabt, seitdem sie die echte Maus im Speisesaal gesehen hat. Dort steht auch die einzige Standuhr, die sie kennt.

Vor drei Tagen hatte Elise um sechs Uhr am Frühstücksbüfett im Speisesaal Dienst. Diese Zeit, bevor die Gäste nach der Morgenpromenade eintrafen, gefiel ihr am besten. Die paar Minuten Stille vor dem Sturm, in denen sie nach der Enge ihres Zimmers die Großzügigkeit des Raumes genießen konnte: die Kassettendecke und die vier funkelnden Kristallglasleuchten; die Wandtapisserien, Brokatvorhänge, Ölgemälde, Damasttischdecken; das Tafelsilber, den riesigen Spiegel und die gekreuzten Gewehre hinter dem Wildschweinkopf. Manchmal ließ sie sich sogar dazu verleiten, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie hier im Hotel Gast wäre. Ihr Mann würde ihr die Tür aufhalten, und sie würde, nach links und rechts nickend, im weiten Rock in den Raum hineingleiten.

Am Morgen vor drei Tagen also schaute sie hinaus auf die Promenade, wo Paare, Gesellschaften und Flaneure im fahlen Morgenlicht auf und ab gingen. Und da war er, der Mann ihrer Träume, der groß gewachsene Herr im Ausseer Hut mit dem kinnfreien Zwirbelbart, der sich wie der Buchstabe W um sein Gesicht hangelte.

Elise musste über sich selbst lachen. Dann hörte sie ein hohes Quietschen, als ob jemand mitlachen würde. Sie drehte sich um und sah die Maus. Diese lief ganz frech mitten durch den Saal, um die Standuhr herum, und verschwand dahinter. Elise schaute gleich nach dem Versteck; da war ein kleines Loch in der Sockelleiste ausgeknabbert. Schon hörte sie, wie hinter ihr die Pendeltür aufging. Die ersten Gäste betraten den Raum. Hastig drehte sie sich um, rammte den Absatz ihres rechten Lederschuhs gegen das Loch, blieb stehen und knickste, als die Gäste hereintraten.

Es waren natürlich die schöne Gräfin von Hohenembs und ihre Damen. Die Gräfin war immer als Erste auf und unterwegs, aber dass sie so früh auftraten, war an diesem Tag ein Unglück. Noch größer wäre natürlich das Unglück gewesen, wenn die Maus aus ihrem Loch entwischt und schnurstracks unter den weiten Röcken der feinen Damen verschwunden wäre.

Zum Glück stand auf der Anrichte gleich neben Elise die große Schüssel. Sie konnte den Gästen die Bouillon herausschöpfen, ohne ihren rechten Fuß von dem Loch wegzubewegen. Bouillon war die begehrteste Speise beim Frühstück. Die meisten Gäste hatten schon auf der Promenade ihren Hunger mit Kissinger Gebäck gestillt. Das bisschen Fleisch, das vom Büfett wegkam, legte der rothaarige, sommersprossige Stationskellner Arthur immer wieder nach.

Seit drei Tagen geistert die Maus in Elises Unterbewusstsein herum, zusammen mit der Standuhr. Die beiden katapultieren sie fast täglich aus ihrem Bett. Es wäre eine Katastrophe, wenn Elise ihre Stelle als Zimmermädchen verlieren würde. Sie stammt aus Bischofsheim, aus einer siebenköpfigen Tuchmacherfamilie, und sie und ihre Eltern sind sehr froh, dass sie nun die Zweite aus der Familie ist, die als Zimmermädchen Arbeit gefunden hat.

Aber wo ist Sophie? Ihr Bett an der gegenüberliegenden Dachschräge ist noch gemacht vom Vortag, also hat sie nicht darin geschlafen. Normalerweise, wenn sie unterwegs ist, kommt sie spätestens irgendwann um Mitternacht ins Zimmer. Elise hat dann ihre liebe Not, sie in der Früh wach zu bekommen, damit sie um fünf ihre Arbeit in der Küche aufnehmen kann.

Sophie ist Elises älteste Schwester und beste Freundin. Sie war es, die ihr die Stellung im Hotel Karl von Hess verschafft hat. Sophie ist fünf Jahre älter, schon seit drei Jahren im Hotel angestellt und hat Elise geholfen, sich im Betrieb zurechtzufinden. Sie hat Elise vor dem Portier und der Hausdame in Schutz genommen; hat ihr gezeigt, wie man einen Tisch deckt, ein Bett macht oder sich mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf mit dem Rücken gegen die Wand drückt, wenn adelige Gäste in den Korridoren vorbeigehen. Sie ist genauso auf ihre Stelle angewiesen wie Elise. Sogar noch mehr, weil sie ein Geheimnis hat, in das Elise eingeweiht ist. Ein Geheimnis, von dem ihre Eltern auf keinen Fall erfahren dürfen. Sophie hat ein Kind, den zweijährigen Paul, den sie bei einer Familie in Kissingen untergebracht hat und nur an Sonntagen sehen kann. Für diese Unterbringung muss Sophie Unterhalt zahlen, eine 24-Kreuzer-Münze pro Woche, die sie beim Besuch abliefert. Deswegen geht sie ja fort nach der Arbeit, um zusätzlich zu verdienen, weil ihr Lohn von achtzig Gulden im Jahr nicht ausreicht.