Tausend Teufel - Frank Goldammer - E-Book + Hörbuch

Tausend Teufel E-Book

Frank Goldammer

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Beschreibung

Der zweite Fall für Max Heller Dresden 1947: Zwei Jahre nach Kriegsende gehört die Stadt zur sowjetischen Besatzungszone und ist nach wie vor eine Trümmerwüste. Im klirrend kalten Winter wird das Leben beherrscht von Wohnungsnot, Hunger und Krankheit. Kriminaloberkommissar Max Heller wird von der neu gegründeten Volkspolizei an einen Tatort in der Dresdner Neustadt gerufen. Doch bevor er mit den Ermittlungen beginnen kann, wird der tot aufgefundene Rotarmist bereits vom Militär weggeschafft. Zurück bleiben eine gefrorene Blutlache und ein herrenloser Rucksack, in dem Heller eine grauenhafte Entdeckung macht: den abgetrennten Kopf eines Mannes.

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Frank Goldammer

Tausend Teufel

Kriminalroman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

6. Februar 1947, Morgen

Heller stieg aus dem Auto und schob die Hände in die Taschen seines langen Mantels. Der Atem kristallisierte vor seinem Gesicht, Frost ließ seine Augen tränen. Der schon einige Tage alte Schnee auf dem Gehweg war festgetreten und glatt. Die ausgeschnittene Pappe, die als Schuheinlage diente, konnte nicht verhindern, dass die Kälte in seine Füße kroch. Sein Gesicht war immer noch gerötet. Er hatte sich mit mühsam aufgetautem, noch viel zu kaltem Wasser und Kernseife rasiert. In seinem Magen spürte er ein Ziehen. Er hatte sich die Scheibe Brot aufgespart, die Karin ihm zum Frühstück bereitgelegt hatte, um sie mittags zu der dünnen Suppe zu essen, die man zurzeit in den öffentlichen Küchen bekam. So würde er wenigstens eine richtige Mahlzeit haben, statt zwei halber. Heute Abend machte Karin dann wieder Mehlsuppe – wie fast täglich. Heller war regelrecht angewidert davon. Dabei sollte er froh sein. Frau Marquart, bei der sie wohnten, seitdem sie fünfundvierzig ausgebombt worden waren, hatte Beziehungen zu einem Milchhändler.

Jetzt beugte er sich leicht nach vorne, um in den schwarzen Ford Eifel zu schauen. Er schnaubte ungehalten und warf die Tür zu. In der Eile hatte er seinen Schal in seiner Schreibstube vergessen. Also schlug er den Mantelkragen hoch und zog sich die alte Schiebermütze tief in die Stirn. Es herrschte bittere Kälte. War dem Thermometer am Küchenfenster daheim Glauben zu schenken, dann hatte es vor Sonnenaufgang minus fünfundzwanzig Grad gehabt. Kein Wunder, dass die Wasserleitungen eingefroren waren. An den Fenstern ihres Schlafzimmers waren über Nacht Eisblumen gewachsen.

Heller machte ein paar vorsichtige Schritte auf der glatten Straße. Ein Pulk von Menschen verstellte ihm die Sicht. Ein russischer Militärlaster stand quer auf der Bautzner Straße, die parallel zur Elbe verlief, sodass sogar die Straßenbahnen stehen bleiben mussten. Viele der Fahrgäste waren aus den übervollen Waggons gestiegen und gafften. Doch keiner wagte es, sich bei den Russen zu beschweren.

Inzwischen war auch Oldenbusch aus dem Auto gestiegen und schlug die Fahrertür zu. Er rieb sich vor Kälte die Hände und trat von einem Fuß auf den anderen.

»Genosse Oberkommissar!«, meldete sich ein uniformierter Volkspolizist im braun gefärbten Wehrmachtsmantel und schob sich durch das Gedränge, welches sich oberhalb des steil abfallenden Elbhanges gebildet hatte. Dann salutierte er vor Heller.

Heller grüßte, indem er seine Fingerspitzen kurz an seine Schiebermütze hob. Die Schirmmütze zu tragen, weigerte er sich beharrlich. Er war bei der Kriminalpolizei und nicht beim Militär. Den neuen Mantel dagegen hatte er gern genommen. Karin konnte nun seinen alten tragen, und das war bei diesen Temperaturen bitter nötig, selbst in der Wohnung.

Unterhalb des Hanges breiteten sich die schneebedeckten Elbwiesen aus. Der Schnee lag nicht sehr hoch, vereinzelt ragten die Spitzen von Grashalmen aus dem Weiß. Auf der Elbe, die an dieser Stelle fast zweihundert Meter entfernt war, trieben kleine Eisschollen.

»Seit wann sind die da?«, fragte Heller und deutete mit einem Blick auf den Laster mit dem roten Stern an der Fahrertür.

»Gerade angekommen, ich fürchte, da wird für Sie nichts mehr bleiben.« Der Vopo hob entschuldigend die Schultern.

Heller hatte das schon vermutet und war nicht sonderlich enttäuscht. Trotzdem wollte er versuchen, noch einen Blick auf das Opfer zu werfen. »Machen Sie den Weg frei. Werner, kommen Sie!«

»Auseinander!«, befahl der Vopo den Leuten. »Gehen Sie weiter, dalli!«

Unwillig schoben sich die Schaulustigen auseinander.

»Warten Sie!«, rief Heller zwei Sowjetsoldaten zu, die auf einer Trage den Toten abtransportieren wollten. Dieser trug die Uniform der sowjetischen Streitkräfte, sein Gesicht war mit einer Jacke bedeckt. Heller hob die Hand und stellte sich den Soldaten in den Weg.

»Stoj! Kriminalpolizei.« Die beiden Russen blieben stehen und sahen fragend zu ihrem Vorgesetzten, einem jungen, asiatisch aussehenden Mann, der energisch mit der Hand wedelte und befahl, den Toten zum Laster zu schaffen. Dann wandte er sich an Heller.

»Nicht Ihre Arbeit, Genosse. Unsere Arbeit. Do swidanja!«

Heller beließ es dabei. Es hatte keinen Zweck zu streiten, das wusste er.

»Wo lag die Leiche?«, fragte Heller stattdessen den Vopo.

»Ich zeige es Ihnen«, sagte der Polizist diensteifrig und lief in Richtung des Elbhanges. Er deutete auf ein Gebüsch etwa drei Meter unterhalb von ihnen.

»Deshalb hat man ihn nicht eher gefunden«, sagte Heller nachdenklich.

»Ein Mann, der austreten wollte, hat ihn entdeckt. Da war es schon recht hell. So gegen acht. Er lag da kopfüber, und seine Beine …«

Heller unterbrach den Vopo und konnte ihn gerade noch davon abhalten, zur Veranschaulichung der Situation hinunterzusteigen. Hier musste Oldenbusch ran.

»Kommissar Oldenbusch, hierher, bitte!« Heller schlug den offiziellen Ton an und zeigte auf einige Blutstropfen im Schnee. »Können Sie bei der Kälte ein Lichtbild machen?«

Oldenbusch nickte. »Ich denke schon.«

Heller sah sich um und betrachtete missbilligend die Menschenmenge, die sich nicht auflösen wollte. Der Laster stand noch immer da, sein Motor sprang offenbar nicht an. Verhaltene Belustigung machte sich unter den Zuschauern breit. Heller konzentrierte sich wieder auf den Fundort der Leiche und betrachtete skeptisch das steile Gefälle und die Fußspuren der Sowjetsoldaten. Sie waren rücksichtslos durch den blutgetränkten Schnee gestiefelt.

»Extrem starker Blutverlust«, stellte Heller fest. Die dunkle Spur führte bis zu dem Gebüsch hinab. Heller trat ein paar Schritte von der Hangkante zurück, um festzustellen, dass man das Gebüsch von der Straße aus tatsächlich nur sehen konnte, wenn man unmittelbar vorn an der Kante stand.

»Der Mann, der den Toten fand? Wo ist der?«, fragte Heller.

»Er ist weg. Wir haben seine Personalien aufgenommen, damit er zur Arbeit gehen konnte.«

Heller betrachtete den dunklen Fleck im Schnee. »Sie haben den Toten noch gesehen? War die Todesursache erkennbar?«

Noch immer war der Motor des Lasters nicht angesprungen. Ganz kurz überlegte Heller, ob er die Gelegenheit nutzen und sich die Leiche doch noch ansehen sollte. Doch der junge Sowjetoffizier hatte sich sehr deutlich ausgedrückt.

Der Volkspolizist nickte. »Ein Stich direkt in die Halsschlagader, es hätte gar keine Rettung für ihn gegeben. So etwas habe ich früher häufig gesehen.«

Heller wusste, was er damit meinte. Im Krieg.

»Ein Streit unter Russen, nehme ich an. Das erleben wir alle Tage. Betrinken sich und schlagen sich dann. Und manchmal bleibt es nicht dabei.«

Heller nickte ungehalten, er hatte den Mann nicht nach seiner Meinung gefragt. Der Motor des Lasters sprang an, erstarb aber gleich wieder. Die Soldaten stritten, während der Offizier neben dem Fahrzeug stand und rauchte.

»Auch Offiziere? Der Tote war doch ein Offizier«, warf Oldenbusch ein.

»Warum nicht?«, der Vopo hob wieder die Schultern. »He, weg da!«, rief er dann ein paar Jungen zu, die versuchten den Hang hinunterzuklettern, um einen Blick auf die riesige Blutlache zu erhaschen, die im Schnee versickert und dort gefroren war.

Heller holte seinen Notizblock und Bleistift hervor und machte sich vorsichtshalber eine knappe Skizze. Es war so kalt, und er traute Oldenbuschs alter Kamera nicht zu, dass sie bei diesen Temperaturen funktionierte.

»Ich nehme an, er wurde hier überfallen, auf der Straße, geriet ins Taumeln, stürzte hinunter und verblutete im Gebüsch. Werner, Sie müssen trotzdem versuchen, Spuren aufzunehmen.«

Oldenbusch schniefte, hangelte sich ein paar Meter den Hang hinunter und schoss noch zwei Fotos. Dann kletterte er den Hang mit einiger Mühe wieder hinauf. »Wenn wir wenigstens einen Abdruck von den Schuhen des Toten hätten, dann könnte ich versuchen herauszufinden, aus welcher Richtung das Opfer kam.«

Heller sah sich ein weiteres Mal nach dem Armeelaster um. »Können Sie kein Foto von den Profilen der Stiefelsohlen machen? Noch stehen sie da.«

»Ich geh die Genossen mal fragen«, murmelte Oldenbusch und marschierte los. Heller schob seine Hände wieder in die Manteltaschen und ließ seinen Blick über das Elbtal schweifen. Die frühmorgendliche Sonne schien über das Ruinenfeld auf der anderen Elbseite. Das Licht ließ die vom Schnee bepuderten Mauerreste und Ziegelberge rosa leuchten.

»Beinahe hübsch«, bemerkte der Uniformierte.

Heller sah ihn an und hob die Augenbrauen. Der Vopo hob die Hand und deutete erklärend auf die Ruinen. Heller wusste nicht, ob er verärgert oder belustigt reagieren sollte. Er schüttelte den Kopf. Seltsam, was die Menschen so dachten.

»Das hat keinen Zweck«, kommentierte Oldenbusch, als der schon wieder zurückgekehrt war. In dem Moment sprang hinter ihnen der Motor des Lastwagens an und brüllte mehrmals laut auf, eine schwarze Abgaswolke schoss aus dem Auspuff. Einige Zuschauer klatschten beinahe höhnisch Beifall. Die Sowjets waren nicht beliebt und sie taten auch nichts dafür, sich beliebt zu machen. Heller wusste, es war ihr gutes Recht, doch richtig war es nicht. »Bei Adolf hatten wir immer Butter«, hatte ihm neulich eine Frau in der Schlange vor der Tauschzentrale zugeraunt. Er hatte nichts darauf erwidert. So viel gäbe es zu sagen, womit hätte er anfangen sollen?

Jetzt fuhr der LKW davon, und der Straßenbahnfahrer läutete die Glocke, um die Fahrgäste zum Einsteigen zu ermahnen.

»Der Russe hat das gar nicht einsehen wollen.« Oldenbusch klang resigniert. »Zwecklos, hier auch nur noch eine Sekunde zu verschwenden. Wollen wir uns nicht lieber dem Überfall auf den Kohlehändler widmen?«

»Wahrscheinlich haben Sie recht, Werner.«

»Weg da, hab ich gesagt!«, rief der Vopo plötzlich wieder. »Diese Rotzbengel!«

Heller sah den Hang hinunter. Weiter unten, wo das Gebüsch dichter wurde, hatten sich anscheinend ein paar neugierige Jungen versteckt. Zwischen den Sträuchern sah man ein paar Leute Reisig sammeln. Jeder Zweig, jedes Holzstück wurde zum Feuern benötigt. Sogar Geländer und Schaukästen wurden gestohlen, Gartenstühle und Zäune. Heller hatte außerdem gesehen, dass man im Großen Garten bereits begonnen hatte, Bäume zu fällen. Und der Winter war noch lange nicht zu Ende. Auch weiter unten am Körnerweg und auf der breiten Elbwiese herrschte Betrieb. Manche Leute scharrten im Schnee in der Hoffnung, Klee oder Löwenzahn zu finden. Heller deprimierte dieser Anblick.

»Kommen Sie, Werner, lassen Sie uns verschwinden, sobald die Bahn weg ist.«

»Soll ich den Fundort weiter sichern?«, fragte der Uniformierte.

Heller dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. Die Sowjets ließen sich sowieso nicht in die Karten blicken, wenn sie nicht einmal zuließen, dass man die Stiefelsohle des Toten fotografierte.

»Melden Sie sich in Ihrem Revier oder setzen Sie Ihren Streifenweg fort. Guten Tag. Abtreten!«, befahl Heller dem Vopo.

Dieser grüßte und zog ab. Heller ging zum Auto und stieg ein. Oldenbusch warf sich mit seinem ganzen Gewicht neben ihn auf den Fahrersitz und ließ den Motor an.

Missmutig beobachtete Heller einige Leute, die, kaum dass der Polizist weggegangen war, neugierig zum Leichenfundort drängten.

»Als ob sie nicht genug Elend gesehen hätten«, murmelte er, obwohl er sich vorgenommen hatte, solche Kommentare zu unterlassen.

»Na, wenigstens scheint die Sonne«, versuchte Oldenbusch die Stimmung seines Vorgesetzten aufzuheitern und wollte schon den Gang einlegen.

Da berührte Heller ihn am Arm. »Wir bleiben noch, bis die Straßenbahn abgefahren ist.«

Oldenbusch lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Männer warteten. Die Bahn hatte sich wieder gefüllt. Inzwischen war schon die nächste gekommen, und auch aus der Gegenrichtung hielt eine fahrplangerecht an der vorgeschriebenen Haltestelle. Viele Leute waren ausgestiegen, und manche blieben stehen und blickten neugierig zu der Menschenansammlung am Hang.

Plötzlich fiel Heller eine Person auf, die sich scheinbar zufällig, doch bei genauerem Betrachten zielstrebig zwischen den Leuten durchschlängelte und auf den Hang zusteuerte. Ganz offensichtlich interessiert sie sich nicht für das Geschehen um sie herum. Sie trug einen Mantel, der einmal ein Wehrmachtsmantel gewesen sein mochte, und bewegte sich trotz ihrer scheinbaren Leibesfülle erstaunlich leichtfüßig. Es sah aus, als wäre der Mantel nur ausgestopft. Heller tippte Oldenbusch an und deutete auf die Gestalt.

Aus der Nähe entpuppte sich die Person als junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie lief dicht an dem Polizeiauto vorbei, und Heller musste sich nun umdrehen, um sie weiter beobachten zu können. Jetzt blieb sie stehen und blickte den Hang hinunter. Plötzlich machte sie eine rasche Bewegung nach vorn und lief mit kleinen Schritten den Hang hinunter.

Um besser sehen zu können, was sie tat, öffnete Heller die Autotür und stieg aus. Die junge Frau war bereits knapp zehn Meter hinuntergeklettert, vorbei an dem Gebüsch, in dem der Tote gelegen hatte, und stand in der Nähe einer Hecke. Sie bückte sich und versuchte, etwas hervorzuzerren. Es war ein Rucksack. Einer der Tragegurte hatte sich im Dornengestrüpp verhakt.

»Halt!«, rief Heller. Die Frau sah erschrocken zu ihm hoch.

»Liegenlassen!«, befahl Heller.

Auch Oldenbusch war neben ihn getreten. »Glauben Sie, der gehörte dem Russen?«

»Kann sein«, erwiderte Heller knapp und beeilte sich, ebenfalls den Hang hinunterzuklettern.

»Polizei! Lassen Sie das liegen.« Heller hatte bereits den Rucksack geschnappt, doch die Frau wollte ihren Fund nicht hergeben. Sie zog und zerrte wild, bekam den Rucksack schließlich frei, weil Hellers klamme Finger den Halt verloren hatten. Hastig wollte sie den Hang weiter hinunterrennen, doch sie rutschte aus und fiel hin. Oldenbusch hatte inzwischen Heller überholt, schlitterte mit einem Fuß voran über den verharschten Untergrund, während er mit dem anderen versuchte, die Balance zu halten. Die Frau hatte sich aufgerafft, doch Oldenbusch war schon da und hielt den Rucksack an einem Riemen fest.

Mit einem wütenden Knurren, fast wie ein Tier, ließ die Frau los und stolperte, halb rutschend, halb rennend, das steile Gelände hinunter. Als sie unten angekommen war, blickte sie sich hektisch noch einmal um und rannte dann den Körnerweg entlang, in Richtung Stadtmitte. Oldenbusch verfolgte sie noch gut hundert Meter, wobei der Rucksack in seiner Hand wild hin und her geschleudert wurde, doch es war abzusehen, dass er sie nicht mehr einholen würde.

»Werner, lassen Sie sie«, rief Heller ihm zu, aber es ärgerte ihn, dass sein Assistent das Mädchen nicht hatte festhalten können. Er hätte nur zu gerne gewusst, wer sie war.

Oldenbusch kam zurück und seufzte angesichts der etwa zwanzig steilen und rutschigen Höhenmeter, die er wieder erklimmen musste. Schnaufend überreichte er Heller, der geduldig auf halber Höhe gewartet hatte, den Rucksack.

Heller staunte über dessen Gewicht. Er setzte das Gepäckstück ab und öffnete die Schlaufe. Dann sog er scharf die Luft ein.

Zwei trübe Augen starrten ihn an. Er sah eine blutverkrustete Nase und schütteres Haar, Ohren, aus denen Blut gelaufen und längst geronnen war. Im Rucksack steckte ein Männerkopf.

Heller atmete langsam aus. Dann zog er den Rucksack ganz auf und betrachtete den Kopf näher, ohne ihn zu berühren.

Oldenbusch, der ihm über die Schulter gesehen hatte, pfiff leise. Heller blickte den Spurensicherer vorwurfsvoll an.

»Entschuldigung«, murmelte Oldenbusch.

»Ist das ein Rucksack aus sowjetischen Beständen?«

Oldenbusch schüttelte den Kopf, bückte sich, nahm den Rucksackdeckel und deutete auf einen Aufnäher in der Innenseite. Darauf waren eine Hand mit erhobenem Zeigefinger und der Schriftzug Deuter zu erkennen. »Der ist deutsch.«

»Muss nichts bedeuten.« Heller hatte sich erhoben und schaute sich um.

»Und hier, sehen Sie, Max, auf dem Etikett sind eingenähte Initiale. LK oder SK.«

Heller hatte sein Notizbuch herausgezogen und notierte sich das, doch er wusste: In Zeiten, in denen jeder jeden bestahl, nahm, was er fand, oder hergab für eine Mahlzeit, war dies kaum von Bedeutung.

»Er könnte ihn beim Sturz verloren haben. Der Rucksack ist dann noch weiter runtergerutscht«, spekulierte Oldenbusch.

»Ist Blut zu erkennen, von dem Sowjet?«, fragte Heller.

Oldenbusch betrachtete den Rucksack von allen Seiten, schüttelte dann den Kopf. »Vielleicht hielt er ihn in der Hand und ließ ihn los, als er angegriffen wurde.«

»Und das Mädchen?«

»Das kam hier nur zufällig vorbei, hat den Rucksack gesehen und wollte ihn mitnehmen«, mutmaßte Oldenbusch.

Heller reagierte nicht, stattdessen sah er sich noch einmal den Rucksack an und hob ihn vorsichtig hoch. Der Stoff war nicht von Blut durchtränkt, obwohl der Kopf weder mit Papier noch mit einem Tuch umwickelt war. Er setzte den Rucksack wieder ab. Warum sollte ein sowjetischer Offizier mit einem abgetrennten Kopf im Rucksack nachts durch die Straßen laufen? Warum wurde er selbst getötet? Und warum hat der Mörder des Offiziers den Rucksack liegen gelassen? Hatte er vielleicht gar nichts von dessen Inhalt gewusst? Oder sollten sie wirklich nur zufällig am selben Ort gelegen haben, ein toter Sowjetoffizier und ein Rucksack mit einem abgetrennten Kopf? Kaum anzunehmen.

Heller zog kurzerhand die Schlaufe des Rucksacks zu, schlug die Klappe um und packte ihn am Tragegurt. Die Kälte war ihm in die Nieren gekrochen und seine Finger waren steif gefroren. Oldenbusch dagegen war von der kurzen Verfolgungsjagd noch ganz erhitzt und Heller wollte nicht riskieren, dass er krank werden würde.

»Werner, Sie bringen mich zum Justizministerium.«

»Sie meinen zur Kommandantur?«

»Ja, ich will sehen, ob ich bei der SMAD wegen des Toten noch etwas erreichen kann. Dann versuchen Sie herauszufinden, ob in den letzten Tagen eine Leiche ohne Kopf gemeldet wurde. Und geben Sie mir die Kamera.«

Oldenbusch sah auf die Kamera hinab, die vor seiner Brust hing. Sichtlich ungern streifte er sich den Gurt über den Kopf und reichte Heller die Kamera.

»Das erste Retina-Modell von Kodak, fünfunddreißiger Baujahr. Sie müssen versprechen, darauf zu achten …«

»Werner, ich habe früher auch so eine Kamera besessen.«

Früher, das war vor dem 13. Februar 1945 gewesen. An diesem Tag hatten sie buchstäblich alles verloren, außer das, was sie am Leib trugen – und ihr Leben. Aber Heller hatte nichts nachgeweint, nicht der Kamera, nicht seinem Radio, nicht der schönen Vitrine, den Fotorahmen mit den Bildern seiner Eltern, nicht einmal den Fotos seiner Söhne. Am Leben zu bleiben war mehr, als sie sich hatten erhoffen können in dieser Nacht.

»Ich meine ja nur …«, murmelte Oldenbusch. »Ich war froh, überhaupt eine aufgetrieben zu haben.«

 

Medvedev, Leiter der SMAD Dresden, sah von seinem mächtigen Schreibtisch auf, als sein Sekretär Heller ins Büro führte. Vor mehr als einem Jahr war das Justizministerium in der Hospitalstraße zur Stadtkommandantur der Sowjetischen Militäradministration Deutschlands erkoren worden. Es hatte Heller einige Mühe gekostet, sich in dem Gebäude zurechtzufinden. Seit der Besetzung Dresdens durch die Rote Armee war er noch nicht hier gewesen, und seine Russischkenntnisse hatten sich zu seinem Leidwesen noch nicht wesentlich verbessert.

Der Kommandant war aufgestanden, kam um den Tisch herum und reichte Heller die Hand, um sie heftig zu schütteln.

»Genosse Heller, sehr unkonventionell. So habe ich Sie kennengelernt.« Medvedev lachte, kehrte zu seinem Platz zurück und deutete Heller an, sich zu setzen. In den letzten anderthalb Jahren hatte Medvedev leicht zugenommen, der Kragen seines Uniformhemdes spannte deutlich um seinen kräftigen Hals. Heller wusste nicht wohin mit dem Rucksack und blickte sich fragend um.

»Stellen Sie ihn nur auf den Fußboden.« Medvedev schüttelte belustigt seinen Kopf. »Unkonventionell sind Sie, und stur, nicht wahr?«

So eine freundliche Begrüßung hatte Heller nicht erwartet. Er genoss die Wärme im Büro, öffnete seinen Mantel ein wenig und fragte sich, was es wohl an Kohle kosten musste, ein großes Gebäude wie dieses so aufzuheizen.

»In meinem Beruf muss man stur sein, um etwas zu erreichen«, antwortete er ruhig.

»Nun, es geht mir weniger um Ihren Beruf als um Ihre politische Starrköpfigkeit.« Medvedev lächelte noch immer, als eines der vielen Telefone auf seinem Schreibtisch klingelte. Der Generalleutnant hob ab, verneinte etwas und legte gleich wieder auf.

Ach so, daher weht der Wind, resignierte Heller. »Ich bin mein ganzes Leben ein unpolitischer Mensch gewesen«, versuchte er es diplomatisch.

»Dabei hatte ich Sie mir in einer ganz anderen Position gedacht. In der Polizeidirektion. Stattdessen sind Sie Kriminaloberkommissar, und ich muss mich mit Leuten wie Niesbach herumplagen, die in Moskau Marxismus und Leninismus studiert haben.« Was dies in letzter Konsequenz zu bedeuten hatte, ließ der Kommandant offen.

»Es ist in Ordnung, so, wie es ist. Ich mache meine Arbeit gern.«

Eine Phrase. Medvedev wusste das, nickte ungeduldig und winkte schließlich ab. »Heller, Sie müssen gar kein politischer Mensch sein. Es genügt eine kleine Unterschrift und alles steht Ihnen offen. Eine richtige Karriere. Wie soll ich Sie so in die Administration setzen? Die Altkommunisten würden auf die Barrikaden gehen. Allein, dass Sie wieder im Dienst sind, haben Sie mir zu verdanken.«

Heller war nicht hierhergekommen, um über so etwas zu sprechen. Dass er nicht in die NSDAP eingetreten war, rechnete man ihm hoch an, dass er nicht in die SED eintreten wollte, konnten sie nicht akzeptieren.

»Das weiß ich sehr zu schätzen. Doch ich bin aus einem anderen Grund hier, Genosse Kommandant.«

Medvedev hob ergeben die Hände. »Major Wadim Berinow.«

»Das ist der Offizier, der tot aufgefunden wurde?«

Der Kommandant nickte.

»Ihre Soldaten ließen mich nicht einmal einen Blick auf ihn werfen.«

»Wir wollen vermeiden, dass unter der deutschen Bevölkerung Gerüchte gestreut werden, etwa, dass es innerhalb der sowjetischen Streitkräfte zu Auseinandersetzungen kommt.«

»Ist es denn so?«, wagte Heller zu fragen. Diese Heimlichtuerei bewirkte doch genau das Gegenteil. Das schien dem Russen offenbar nicht bewusst zu sein.

Medvedev schwieg. Das Telefon begann wieder zu läuten. Der Kommandant nahm ab, hörte zu, sagte erneut »Njet« und beendete das Gespräch. Dann widmete er sich wieder Heller. »Der Kopf … Ist das Opfer identifiziert?«

»Nein.«

»Könnte es sich dabei auch um einen Angehörigen der Roten Armee handeln?«

»Unmöglich, das jetzt herauszufinden.«

»Sieht er deutsch oder russisch aus?«

»Wenn Sie das bitte entscheiden möchten.« Heller machte mit der rechten Hand eine einladende Geste und deutete auf den Rucksack.

Tatsächlich stand Medvedev auf, holte den Rucksack, stellte ihn auf seinen Schreibtisch und öffnete ihn.

»Bitte berühren Sie den Kopf nicht!«, beeilte sich Heller zu sagen. Medvedev nickte stumm und besah sich den Kopf, so gut es ging.

»Männlich, deutsch, um die fünfzig oder sagen wir vierzig.« Ungerührt kehrte er an seinen Platz zurück. Heller schloss den Rucksack und stellte ihn wieder auf den Boden. Dass er noch immer nicht kriminaltechnisch erfasst war, stattdessen sogar als Eintrittskarte in Medvedevs Räumlichkeiten hatte herhalten müssen, bereitete Heller Unbehagen.

»Vor vier Tagen fand man in der Nähe des Arsenals an der Carola-Allee einen Offizier. Oberst Vassili Cherin. Er hatte mehrere Stichwunden am Körper und starb an innerer Verblutung.«

Heller nahm sein Notizbuch heraus. »Am zweiten Februar?«

»Man fand ihn am Morgen.«

»Und die Stichwunden? Zugefügt mit einem Messer?«

Der Generalleutnant hob bedauernd die Schultern.

»Ist denn der Leichnam irgendwo aufgebahrt? Hat ein Gerichtsmediziner ihn untersucht? Ist jemand der Sache nachgegangen?«

Medvedev lachte wieder. »Genosse Heller, so viele Fragen wegen einer Sache, die Sie gar nichts angeht.«

Heller lehnte sich verärgert zurück. Er kam sich nicht ernstgenommen vor. Sollte den Russen gar nicht daran gelegen sein, die Sache aufzuklären?

Da beugte sich Medvedev plötzlich vertraulich vor. »Sie kennen noch Vitali Ovtscharov?«

Ovtscharov. Heller dachte nach. »Vom NKWD?«

Medvedev nickte. »Das heißt nun nicht mehr Volkskommissariat, sondern Ministerium für Innere Angelegenheiten. Ministerstwo wnutrennich del. MWD. Ovtscharov hat sich mit dem Tod von Oberst Cherin befasst. Er kam zu dem Schluss, dass es ein Unfall war.«

»Ein Unfall? Er meint, Cherin ist mehrmals versehentlich in einen spitzen oder scharfen Gegenstand gelaufen?«

Medvedev stutzte und lachte dann schallend heraus. »Heller, Sie müssten Ihr Gesicht jetzt sehen, köstlich!«

Heller blickte ihn ernst und ohne eine Miene zu verziehen an.

Der Kommandant verstummte schlagartig, wurde ebenfalls ernst und tippte energisch mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. »Mich interessiert, was da geschieht. Heller, ich sage Ihnen, vieles wird hier von mir ferngehalten. Das MWD ist nicht mein Revier, deshalb kann ich mir keinen Einblick verschaffen. Ist es eine Fehde unter den Offizieren? Ist es ein Angriff auf die sowjetischen Streitkräfte? Ich brauche jemand mit einer guten Spürnase.«

Heller sah den Generalleutnant erwartungsvoll an, doch der schwieg jetzt. Es lag an Heller, die Worte Medvedevs richtig zu interpretieren.

»Dazu werde ich aber die Leichname rechtsmedizinisch untersuchen lassen müssen.«

Medvedev erhob sich. »Das sollen Sie. Ich werde es veranlassen. Sagen Sie, Heller, haben Sie heute schon gefrühstückt?«

Heller schüttelte den Kopf.

6. Februar 1947, später Vormittag

Heller wechselte den Rucksack von der linken auf die rechte Schulter, um sie zu entlasten. Doch die Erleichterung währte nur kurz. Es ging ihm schlecht. Der junge sowjetische Arzt, der ihn an der Tür seiner Schreibstube empfangen hatte, betrachtete ihn misstrauisch. Medvedev hatte Heller einen Wagen mit Fahrer zur Verfügung gestellt, der ihn in die Königsbrücker Straße hinauf und schließlich die Carola-Allee entlang zur ehemaligen Wehrmachtskaserne gebrachte hatte. Seit Ende des Krieges wurden die Gebäude von der 1. Gardepanzerarmee der Sowjetunion als Garnison genutzt. Beide Opfer, Berinow und Cherin, waren Angehörige dieser Armee gewesen. Nun sollten sie nach Medvedevs Angaben in den Räumen des Militärkrankenhauses liegen. Zuständig war der Arzt, dessen Namen Heller bei der Vorstellung nicht verstanden hatte.

Der Mann trug einen weißen Kittel über seiner Uniform. Er war etwa dreißig Jahre alt, trug eine Brille mit dünnem silbernem Gestell und wirkte dadurch und durch sein leicht gelangweiltes Auftreten wie ein Intellektueller oder ein Aristokrat. In jedem Fall irgendwie fehl am Platz.

»Sind Sie krank?«, fragte der Arzt Heller besorgt und hielt deutlich Abstand.

Heller winkte ab. Das kam davon, wenn man zu viel aß. Wenn man gar nicht mehr gewohnt war, zu essen. In der Offizierskantine hatte es alles gegeben, was ein Mensch sich vorstellen konnte: warmes weißes Brot, Butter, Marmelade, Honig, Wurst, kalten Braten, gekochte Eier, eingelegten Fisch, saure Gurken, Kakao, Kaffee. Nach anfänglicher Zurückhaltung hatte Heller seine Scheu verloren und gegessen, bis sein Magen rebellierte. Was für ein Überfluss, dachte er. Und die Leute draußen stahlen die fauligen Zwiebeln, schlugen sich um gestrecktes Brot, fuhren aufs Land, um zu betteln, kochten Futterrüben und sogar Leder. Unter Lebensgefahr sprangen Erwachsene und Kinder auf fahrende Eisenbahnwaggons, um Steinkohle zu stehlen. Manche töteten auch. Es war noch keine Woche her, da hatte ein Einbrecher den Fleischer Richter nachts in dessen Laden erschlagen. Und auch der Kohlehändler, den sie vor zwei Tagen fanden, hatte wohl nur für ein paar Zentner Kohle sein Leben lassen müssen. Wie sollte das nur gut gehen? Wie sollte der Russe jemals ein Freund werden? Mit diesen immer gleichen Parolen, dem Lob auf die Befreier, mit dem strahlenden Übermensch Stalin auf den Plakaten an jeder Hausecke fütterte man bestenfalls die Wut der Bevölkerung.

»Wollen Sie sich setzen?«, fragte der Mediziner.

»Nein, danke.« Zu Hellers Magenschmerzen kam nun auch noch sein schlechtes Gewissen gegenüber Karin dazu. Hätte er nicht fragen müssen, ob er für seine Frau etwas mitnehmen dürfte? Hätte er es vielleicht einfach tun sollen? Einfach etwas einstecken, in die Manteltaschen?

»Ich möchte den Leichnam von Major Berinow sehen.«

»Das habe ich bereits vorbereitet. Ich erhielt einen Anruf. Wenn Sie mir folgen wollen.«

Der Arzt ging voran, Heller schulterte den Rucksack und folgte ihm. Hier im Kasernentrakt war es kühl. Es roch stark nach Äther. Die glänzenden weißen Fliesen an den Wänden, die hohen Mauern und der glatte Steinholzfußboden waren noch Hinterlassenschaften des alten kaiserlichen Militärs und das Hallen ihrer Schritte weckte bei Heller unerwartet Erinnerungen an die Zeit, als er hier die herabwürdigende Musterung durch die Ärzte des Grenadierregiments über sich ergehen lassen musste.

»Dort.« Der Arzt öffnete die Tür zu einem großen, sehr kühlen und nüchternen Untersuchungsraum. Die Leichname lagen auf zwei normalen Behandlungsliegen und waren mit weißen Laken abgedeckt. Beinah gelangweilt trat der junge Arzt an eine der Liegen und schlug das Tuch zurück.

»Berinow.«

Heller stellte den Rucksack ab und kam langsam näher. »Darf ich Licht machen?«, fragte er. Der Geruch von Äther war so aufdringlich, dass ihm fast übel davon wurde.

»Bitte, dort neben Ihnen.«

Heller schaltete die Deckenleuchte an. Sie gab nur ein schwaches Licht ab. »Verzeihen Sie, ich habe vorhin Ihren Namen nicht verstanden.«

Der junge Mann seufzte. »Kasraschwili, Lado Kasraschwili, Kapitan, Hauptmann würden Sie sagen.«

»Ist das ein georgischer Name?« Kasraschwili kam Heller bekannt vor, doch im Moment wusste er den Namen nicht einzuordnen.

»Ich bin Georgier. Wollen Sie jetzt schauen?«

Heller überlegte noch kurz; er war sich sicher, keinen einzigen Georgier zu kennen.

Dann konzentrierte er sich auf den Leichnam. Der Tote trug noch seine Uniform. Die Schultern der Jacke waren voller Blut, unterhalb davon war die Uniform beinahe sauber. Dagegen war der Kopf des Toten völlig blutverkrustet, die Haare durchtränkt und von geronnenem Blut ganz steif. Das Gesicht hatte man ihm allerdings gewaschen, wahrscheinlich, um ihn zu identifizieren. Die Nasenlöcher jedoch waren vom Blut verschlossen, selbst die Augen waren völlig verklebt.

»Hat man ihn an den Füßen aufgehängt?«, fragte Kasraschwili.

Heller sah ihn erstaunt an, offenbar hatte sich der Mediziner nicht darüber informiert, was geschehen war.

»Man fand ihn kopfüber an einem Hang liegend. Gleich hier, zweihundert Meter zur Elbe hin.«

Heller versuchte den Kopf des Toten zur Seite zu drehen. Es gelang ihm nicht, der Körper war zu steif. Geronnenes Blut rieselte wie feiner Staub durch seine Finger, bröselte von Hals und Ohr des Toten. Dann packte er den Kragen der schweren Jacke und musste daran zerren, damit er sich vom Hals löste. Unzufrieden mit dem Ergebnis, begann er den Oberkörper des Toten zu entkleiden. Dabei geriet er ins Schwitzen. Die von der Totenstarre steifen Arme Berinows erschwerten die Arbeit. Der Arzt, der Hellers Bemühen vom Fußende der Liege aus beobachtete, rührte keinen Finger, bot ihm nicht einmal eine Kleiderschere an. Und Heller wollte ihn auch nicht um Hilfe bitten, denn man wusste nie, ob man dabei die Sowjets in ihrem Stolz verletzte.

Schließlich gelang es ihm, die Arme des Toten aus den beiden Jacken und dem Pullover zu ziehen. Anschließend zerrte er den Pullover über den Kopf des Toten. Das Unterhemd streifte er kurzerhand über die Schultern nach unten. Nun lag der Oberkörper des Toten frei und Heller betrachtete ihn eingehend. Der Offizier war gut genährt und zeigte keinerlei Mangelerscheinungen. Eine Narbe deutete auf eine ältere Verletzung im Brustbereich hin. Ein winziges rotes Mal auf dem linken Oberarm erregte Hellers Aufmerksamkeit.

»Sieht aus wie der Einstich einer Injektionsnadel.« Er deutete auf die Stelle.

»Die Angehörigen der Roten Armee werden regelmäßig gegen Typhus geimpft«, erklärte der Arzt mit monotoner Stimme.

Heller musste mit Schrecken an die Typhusimpfungen denken, die noch 1945 für jeden Deutschen angeordnet worden waren. Die Kanüle der Spritze schien für Pferde gedacht zu sein. Der Schmerz des Einstichs war nicht einmal das Schlimmste gewesen, sondern das Kreischen der geimpften Kinder, das für regelrechte Panik unter den Wartenden gesorgt hatte.

»Können Sie das nachprüfen, gibt es einen Impfnachweis?«

Kasraschwili sog hörbar die Luft durch die Nase und sah Heller über seine Brille an. Es war klar: Er würde nichts nachprüfen.

»Ich würde gern den Hals etwas säubern, dazu bräuchte ich Wasser und ein Tuch.« Heller sah den Georgier an. Er wusste, dass er die Geduld des Mannes strapazierte. Das war leider nicht zu vermeiden.

Dieser zögerte einen Augenblick, als müsse er erst überlegen, ob ihm diese Arbeit angemessen erschien.

»Ich hole es auch selbst«, bot Heller schnell an.

»Nein, bleiben Sie!« Kasraschwili verließ abrupt den Raum. Heller fragte sich, ob sich in den Schränken hier nicht auch ein Tuch und eine Schüssel gefunden hätten. Doch er wagte nicht, selbst zu suchen oder irgendetwas anzufassen. Er wollte den Arzt nicht noch unnötig verärgern.

Schon kurz darauf war der Mann wieder zurück und hatte einen Blecheimer und einen Lappen bei sich. Heller bedankte sich, krempelte seine Mantelärmel hoch und begann, den Hals des Toten abzuwaschen. Dabei legte er zwei Wunden frei, eine rechts, eine links. Kasraschwili sah ihm reglos dabei zu.

»Sehen Sie, ein glatter Durchstich.« Heller ging näher heran und betrachtete die Wunden. Das waren keine Einschnitte von einem Messer. Vielmehr handelte es sich um kleine Löcher, die die Form eines vierzackigen Sterns hatten. Das größere der beiden befand sich auf der linken Seite des Halses, das kleinere auf der gegenüberliegenden Seite. Die Waffe hatte vermutlich beide Schlagadern durchtrennt und einen regelrechten Blutsturz ausgelöst. Berinow musste innerhalb von Sekunden verblutet sein.

Heller trat ein paar Schritte zurück und bat Kasraschwili mit einer Handbewegung, sich die Verletzung näher anzusehen.

»Wie es scheint, ist die Waffe durch die Arteria carotis communis auf der linken Seite eingedrungen und durch dieselbe auf der rechten Seite knapp über dem Schlüsselbein ausgetreten«, schlussfolgerte der Arzt. »Sehen Sie hinter dem Ohr die Verletzung? Wahrscheinlich traf der Täter beim ersten Versuch den Hals nicht, die Spitze der Waffe prallte am Schädelknochen ab.«

Heller betrachtete die Einstichstellen. »Ich kenne diese Art von Wunden«, sagte er. Dann deutete er auf den anderen Leichnam. »Ist das Cherin?«

Kasraschwili nickte, ging zu dem anderen Toten und zog das Tuch weg. Vassili Cherin war vollkommen nackt und sah nicht so aus, als ob er schon seit vier Tagen tot war. Als Heller ihn berührte, stellte er fest, dass der Leichnam durchgefroren war.

Heller beugte sich über den Toten und besah sich dessen Stichwunden. Es waren vier, über den Oberkörper verteilt.

Heller gab ein unzufriedenes Seufzen von sich.

»Wären Sie mir bitte behilflich, den Leichnam zu drehen?«

Der Arzt nickte, ging jedoch zuerst zu einem der Schränke, nahm aus einem Fach zwei Paar Gummihandschuhe heraus und reichte eines davon Heller. Der kurze Blick durch die geöffnete Schranktür hatte Heller gezeigt, wie penibel sauber und ordentlich auch dort alles war. Besorgt warf Heller einen Blick auf die Behandlungsliege, auf der Berinow lag. Von seinem Versuch, den Hals des Toten zu säubern, war die Liege verschmutzt, und auf dem Boden hatte sich eine bräunliche Pfütze gebildet. Heller sah auf und begegnete Kasraschwilis Blick.

»Dies hier ist mein kleines, sauberes Reich inmitten all des Schmutzes. Aber kümmern Sie sich nicht, ich werde eine Reinigung veranlassen.«

Die Männer drehten den Toten auf den Bauch. Heller zählte zehn Einstiche auf dem Rücken des Toten, auch diese in derselben Sternform wie bei Berinow.

»Das war ein Bajonett. Der Täter hat ihn von hinten überfallen. Aber anscheinend war das Bajonett nicht auf einem Gewehr aufgepflanzt. Sonst wären die Verletzungen eher im Unterleib und die Einstiche würden von unten nach oben führen. Der Täter schien die Waffe jedoch von oben nach unten geführt zu haben«, sagte Heller nachdenklich.

Der Georgier fühlte sich scheinbar nicht angesprochen. Als Heller ihn fragend ansah, starrte er nur stumm auf den Toten.

»Ich habe solche Wunden früher häufiger gesehen«, fuhr Heller unbeirrt fort. »Im Ersten Weltkrieg. Ich nehme an, dieses Bajonett gehört zu einem Moisin-Nagant-Gewehr.«

»Sie waren im Krieg? An der russischen Front?« Der Arzt zeigte sich auf einmal interessiert.

»Nein, in Belgien. Ich wurde verletzt, und später im Lazarett sah ich einige Wunden und Narben, die von solchen Bajonetten herrührten.«

Kasraschwili hob den Kopf und sah aus, als wollte er etwas erzählen. Doch er schwieg. Stattdessen ging er zu Berinows Leiche und schlug das Tuch ganz zurück. Zwischen den Beinen des Toten lag genau ein solches Bajonett.

»Er hatte es in der Hand.«

Jetzt war Heller verblüfft. »Die Tatwaffe?«

Der Arzt nickte. »So brachten sie ihn.«

Heller nahm die Waffe vorsichtig mit den Fingerspitzen, betrachtete den Aufsetzverschluss, der vielfach mit einem Hanfstrick umwickelt worden war, um einen festen Griff für die Hand zu garantieren. Es sah aus, als ob diese Waffe schon lange auf diese Art und Weise benutzt worden war. Der Strick war schwarz und speckig.

»Wir dürfen also davon ausgehen, dass es sich um ein und denselben Täter handelt. Dass die Waffe russischen Ursprungs ist, dürfte jedoch nicht auf seine Herkunft schließen lassen. Ich denke, Waffen wie diese lassen sich in rauen Mengen finden. Aber täusche ich mich, ist dies ein älteres Modell? Ich glaube, die heutigen Bajonette sind kürzer.«

Kasraschwili deutete ein Achselzucken an.

»Ich frage mich, warum Cherin hinterrücks überfallen und mehrfach in den Rücken gestochen worden war, Berinow dagegen auf recht ungewöhnliche Weise durch den Hals. Immerhin ist dieses Ziel leicht zu verfehlen. Bei einem frontalen Angriff wäre es einfacher, in die Brust zu stechen.«

»Oder er war Linkshänder und stand hinter Berinow«, warf Kasraschwili ein. Es war ihm nicht anzusehen, ob er sich bloß lustig machte.

»Vermutlich wurde der Täter gestört oder überrascht und musste flüchten. Sonst hätte er die Tatwaffen nicht zurückgelassen und wahrscheinlich auch nicht das hier«, Heller deutete auf den Rucksack in der Ecke.

»Da ist der Kopf drin?« Kasraschwili klang erstaunt. Damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet.

Heller betrachtete den Rucksack nachdenklich. Die Zeiten waren schlecht. Schlechter als je zuvor. Alles schien kaputt zu gehen. Wenn etwas funktionierte, kamen die Russen und nahmen es weg. Es gab kein Holz mehr zum Heizen, erst recht keine Kohle. Auf dem Land gab es genug Lebensmittel, doch die Leute versteckten sie. Die Stadtbevölkerung hungerte. Schwarzmärkte blühten an jeder Ecke. Die nichts zum Tauschen hatten und ehrlich bleiben wollten, mussten hungern. Die Befreier wollten das Volk bekehren, aßen ihm jedoch alles weg. Und wenn sie durch die Straßen marschierten, warfen die Menschen die Fensterläden zu und verrammelten die Türen. Das alles war absurd. Warum sollte es dann nicht auch so sein, dass ein Oberkommissar der Volkspolizei mit einem Kopf im Rucksack durch die Stadt lief?

»Wir haben in den letzten Monaten wieder verstärkt Raubmorde zu beklagen. Vor allem auf den Landstraßen und den Autobahnen werden Wagen überfallen, doch auch in den Randbezirken zur Heide gibt es Diebstahl und Raub. Wer allein in der Dunkelheit unterwegs ist, riskiert sein Leben. Möglich, dass ein und derselbe Täter die beiden überfiel«, sagte Heller. »Raubmord?«

Die Dresdner Heide war nicht weit, wer sich ein wenig auskannte, war in Minuten im Wald verschwunden. Kaum jemand wagte sich im Dunkeln aus dem Haus.

»Beide Offiziere hatten noch ihre Brieftaschen bei sich, Geld und Zigaretten«, bemerkte Kasraschwili trocken und ließ damit keinen Zweifel, dass er es nicht für Raubmord hielt.

»Ich will Rechtsmediziner Doktor Kassner veranlassen, die beiden Leichname zu untersuchen. Sind Sie damit einverstanden, wenn ich ihn hierherbestelle? Und haben Sie etwas dagegen, wenn ich einige Fotos mache?«, sagte Heller energisch.

»Nein, tun Sie das.« Der Arzt nahm seine Brille ab und polierte die Gläser an seinem Kittel. »Genosse Oberkommissar, unter uns, ich weiß nicht, was Generalleutnant Medvedev bezweckt, aber Sie werden sich bei Ihrer Arbeit nicht nur Freunde machen. Die Russen mögen es nicht, wenn man die Nase in ihre Angelegenheiten steckt.«

 

Wie Kasraschwili das gesagt hatte, beschäftigte Heller auf seinem ganzen Weg aus der Kaserne. Als fühlte der Arzt sich nicht dazugehörig, als sei er keiner von ihnen. Er passierte das bewachte Tor und grüßte die Wachsoldaten. Ein Motor heulte auf. Heller erschrak und blieb stehen. Ein russischer Geländewagen mit offenem Verdeck kam auf ihn zu und hielt genau neben ihm am Bordstein. Die lange Funkantenne wippte hin und her.

»Da ist ja mein Lieblingsfaschist.« Der Offizier auf dem Beifahrersitz lachte. Er war dick in Mantel, Schal, Handschuhe und Tschapka eingepackt, sein Gesicht war zwischen den Fellklappen kaum zu erkennen. Doch Heller sah sofort, um wen es sich handelte.

»Oberst Ovtscharov!«

»Sie kennen mich noch.« Ovtscharov klatschte in die behandschuhten Hände. Seine Nase war rot vor Kälte und sein Fahrer schniefte im Sekundentakt. »Ich sah Sie zufällig. Was tun Sie hier?«

Heller wusste, dass der Offizier log. Er hatte auf ihn gewartet. Vielleicht verfolgte er ihn sogar schon, seit er die Kommandantur verlassen hatte.

»Ich recherchiere im Fall Berinow.«

»Tatsächlich? Das tue ich auch. Sie wissen sicher, dass es sich hierbei um eine Angelegenheit der sowjetischen Streitkräfte handelt.«

»Das ist mir bewusst. Aber ich wurde heute Morgen zu diesem Fall gerufen, deshalb gehe ich ihm nach, bis das Verfahren von der deutschen Staatsanwaltschaft eingestellt wird«, antwortete Heller rasch. Auf die Schnelle wusste er nichts anderes zu erwidern. Er konnte sich schlecht auf Medvedev berufen.

»Es gibt in diesem Falle kein Verfahren«, sagte Ovtscharov und zeigte auf den Rucksack, den Heller bei sich trug. »Ist er das? Der Rucksack mit dem Kopf? Gibt es denn einen Beweis dafür, dass er Berinow gehörte oder dass er ihn mit sich führte?«

Heller schüttelte den Kopf.

»Nun, das dachte ich mir. Ich bin mir sicher, es hat mit diesem Fall nichts zu tun. Hat man nicht erst vor Kurzem Leichenteile gefunden? Ich sage Ihnen, ein Zufall, mehr nicht. Und wissen Sie, man kann den Männern nicht alles verbieten. Sie sind auch nur Menschen.«

Heller verstand nicht, was Ovtscharov damit sagen wollte. Doch er wollte nicht nachhaken. Die Situation war ihm unangenehm und er wollte weg. Außerdem fror er, Halsschmerzen kündigten sich an und noch immer drückte ihm der Magen. Die Wachposten hinter ihm mussten jedes Wort gehört haben. Was würden die sich denken, wenn sie ihn im scheinbaren Plauderton mit einem MWD-Offizier sprechen sahen? Die Methoden der Leute Ovtscharovs, die sich im Landgericht auf dem Münchner Platz und im ehemaligen Hotel Heidehof eingenistet hatten, nachdem die Kommandantur von dort ins Justizministerium umgezogen war, unterschieden sich kaum von denen der Gestapo. Konfiszierung, Verschleppung, Folter, Haft. Die Keller des Heidehofs galten als ein Ort, den man unbedingt meiden sollte. Viele der Inhaftierten, ob schuldig oder nicht, wurden ohne Gerichtsverfahren von da aus nach Bautzen gebracht.

»Ist Ihr Sohn denn schon zurück? Wie ich hörte, hatte er das Vergnügen, mehr als zwei Jahre die russische Gastfreundschaft zu genießen.«

»Er ist noch nicht da«, erwiderte Heller und zwang sich zur Zurückhaltung. Wieso kam er auf Klaus? Klaus hätte am gestrigen Tag ankommen sollen, aber Karin hatte mehrere Stunden umsonst am Neustädter Bahnhof gewartet. Ovtscharov war nicht zu durchschauen. Wusste er etwas über seinen Sohn? Verhinderte er vielleicht sogar seine Heimkehr? Nein, ermahnte sich Heller, das ist paranoid, bis vor ein paar Stunden hatte er nichts mit dem Geheimdienstmann zu tun gehabt.

Endlich erbarmte sich Ovtscharov und machte dem unguten Spiel ein Ende. »Nun, es war mir ein Vergnügen, Sie wiedergesehen zu haben. Hier, nehmen Sie. Als Zeichen der Freundschaft.« Ovtscharov langte hinter seinen Sitz, holte ein Päckchen, kaum mehr als ein Bündel zusammengewickeltes Packpapier, hervor und reichte es Heller.

»Was ist das?«, fragte Heller.

»Pajok! Do swidanja!« Ovtscharov gab seinem Fahrer den Befehl zur Abfahrt.

Heller blickte dem Auto nach und wog das Päckchen in der Hand. Es war erstaunlich schwer, aber er ging erst ein paar Schritte weg vom Tor, bevor er vorsichtig das Papier auseinanderfaltete. Er konnte kaum glauben, was er sah: ein großes Stück Fleisch, ein halbes Stück Butter, zwei Karotten und eine kleine Tüte Zucker.

Er hatte noch nicht oft solche Päckchen bekommen. Mit so etwas versuchten sich die sowjetischen Besatzer die Gunst und Zusammenarbeit bestimmter Leute zu erwirken. Pajok war das Zauberwort. Wer nach ihrem Gutdünken handelte, bekam Pajok, und das konnte überlebenswichtig sein. Wer viel Pajok bekam, konnte sich wiederum die Gunst anderer Leute erkaufen. Heller verschloss das Papier wieder, wusste aber nicht so recht, wohin mit dem Päckchen.

»Herr Oberkommissar!«, hörte er da eine Stimme rufen. Es war Oldenbusch, der ihm über die Straße aus dem Ford zuwinkte.

Erleichtert überquerte Heller die Straße.

»Kommen Sie, Max. Ich mag hier nicht lang stehen«, drängte sein Assistent.

»Warum sind Sie so besorgt?«, fragte Heller und ließ sich auf den Beifahrersitz sinken.

»Warum? Gerade hat so ein Russe versucht, den Wagen zu konfiszieren. Mitten auf der Straße.«

Heller schnaubte. So etwas passierte leider häufig. Am helllichten Tag.

»Er wollte mich anhalten, mit einer Maschinenpistole im Anschlag. Ich habe einfach draufgehalten und gehofft, er schießt nicht.« Oldenbusch fuhr los, wendete und fuhr dann über die Radeberger Straße in Richtung Stadtzentrum. »War das nicht einer vom MWD, mit dem Sie gesprochen haben?«

»Allerdings. Hat mich scheinbar erwartet, dort am Tor. Wir sollen uns aus der Sache raushalten, meinte er.«

»Das war zu erwarten. Ist mir auch lieber. Mit deren Streitereien will ich nichts zu tun haben. Bei denen ist doch auch keiner sicher. Selbst einer wie Medvedev kann von einem auf den anderen Tag verschwinden.«

»Ich weiß schon, Werner, aber was machen wir mit dem Kopf?«

»Das muss die Staatsanwaltschaft entscheiden. Wir jedenfalls haben keinen in den Akten, der einen Kopf vermissen würde.«

»Werner, ich wünschte, Sie wären nicht immer so sarkastisch, so etwas schlägt schnell in Zynismus um. Und Zyniker erwarten nichts Gutes mehr von der Welt. Lassen Sie uns bitte einen kleinen Umweg über den Bahnhof Neustadt machen.«

Oldenbusch seufzte. »Ich habe aber kaum noch Benzin im Tank, und es ist längst nicht sicher, ob ich die nächsten Tage welches bekomme. Bleibt das Auto stehen, sind wir aufgeschmissen.«

Heller überlegte. Karin war sicherlich zum Bahnhof gefahren, außerdem wusste Klaus, wo sie wohnten. Er hatte den Krieg und das Lager überlebt, da würde er die letzten Kilometer auch allein bewältigen können. »Gut, fahren Sie uns zu Kassner. Danach ins Kriminalamt. Und die Bilder müssen zügig entwickelt werden.« Heller hob die Kamera an.

Eine Weile fuhren sie schweigend weiter, schließlich verlor Heller den Kampf gegen sein Gewissen und deutete auf das Päckchen auf seinem Schoß. Oldenbusch musste es sowieso längst bemerkt haben.

»Ovtscharov gab mir eine Extraration. Wollen Sie etwas abhaben?«

»Lassen Sie mal Chef, Sie brauchen es mehr als ich. Sie versorgen doch die ältere Dame noch mit, bei der Sie wohnen.«

»Sind Sie denn versorgt?«

»Ich bekomme wöchentlich ein Paket über die Kreisleitung.«

»Ein Russenpaket? Wofür?« Heller sah Oldenbusch fragend an.

Der schenkte ihm einen beinahe mitleidigen Blick. »Das erklärt sich in drei Worten. Sozialistische Einheitspartei Deutschlands.«

Oldenbusch bekam also Pajok, weil er in die SED eingetreten war. Vetternwirtschaft ist das, dachte Heller, nichts anderes. Wo sollte das noch hinführen. Schon jetzt, nach noch nicht einmal zwei Jahren, hatten die Leute genug von den Russen und diesem System der Begünstigungen.

»Genau genommen sind es vier Worte«, brummte er mürrisch.

6. Februar 1947, später Nachmittag

Sein Fuß machte Heller schmerzhaft zu schaffen, als er um halb sechs Uhr abends die letzten Meter auf dem schneeglatten Rißweg nach Hause lief. Entgegen Ovtscharovs Empfehlung hatte er angeordnet, am nächsten Tag mit den paar wenigen Kadaversuchhunden, die die Polizei noch hatte, nach dem zum Kopf zugehörigen Körper zu suchen. Ausgangspunkt sollte die Bautzner Straße auf Höhe der Jägerstraße sein, direkt gegenüber dem Fundort von Berinows Leichnam. Unabhängig vom Tod des russischen Majors betrachtete es Heller als seine Pflicht, der Sache mit dem Kopf nachzugehen. Dies konnte das MWD ihm nicht verbieten. Ein entsprechendes Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt war von der Staatsanwaltschaft eingeleitet worden.

Die Heimfahrt in der Straßenbahn hatte eine halbe Ewigkeit gedauert. Von seinem tristen Büro im Keller des zerstörten Polizeipräsidiums, wo aus Platznot das Kriminalamt untergebracht war, musste er einen Umweg über die Augustusbrücke nehmen, da die Carolabrücke nach wie vor nicht nutzbar war. Die Waggons waren überfüllt, die Stimmung gedrückt. Einmal hatte die Bahn für zehn Minuten stehen bleiben müssen.

»Stromausfall!«, hatte der Schaffner gerufen.

Viele husteten, alle wirkten grau und verhärmt. Jeder trug Taschen, Rucksäcke, Koffer bei sich, immer für den Fall, etwas Ess- oder anderweitig Brauchbares zu finden. Aber nur zu oft kehrten sie mit leerem Gepäck wieder heim. Manchmal hatte jemand einzelne Briketts oder Kohlebrocken in den Manteltaschen stecken, andere trugen gebündeltes Reisig bei sich. Argwöhnisch sahen sich die meisten um, wichen den anderen aus, immer in der Angst, bestohlen zu werden.

Heller hatte die ganze Fahrt in der ruckelnden Bahn stehen müssen, seine Aktentasche mit dem wertvollen Inhalt beinahe ängstlich vor die Brust gepresst. Der Geruch des Fleisches war ihm in die Nase gestiegen, und auch die Umstehenden mussten es gerochen haben.

Mit dem Sonnenuntergang sank die Temperatur empfindlich, dabei hatte es selbst am Tag nicht mehr als minus sieben Grad gehabt. Trotz seines Schals, den er sich um Hals, Mund und Nase gewickelt hatte, fröstelte ihn. Als er das Gartentor von Frau Marquart erreicht hatte, zögerte er einen Moment. Nichts deutete darauf hin, dass Klaus zurück war. Niemand stand am Fenster, niemand kam ihm entgegen. Er durchquerte den kleinen Vorgarten mit langen Schritten, kündigte sich mit einem kurzen Klopfen an und schloss die Tür auf.

»Karin? Sieh mal, was ich habe!«

Karin kam eilig die Treppe herunter. Sie hatte ihren Mantel eng um sich geschlungen und ging auf die Zehenspitzen, um ihm einen flüchtigen Kuss zu geben.

»Da, schau.« Heller öffnete seine Aktentasche, doch seine Frau blickte nur flüchtig hinein.

»Max, Frau Marquart ist krank.«

»Was hat sie?«

»Hohes Fieber. Angina möglicherweise. Hoffentlich ist es keine Lungenentzündung. Ich kann ihr nur Tee geben.«

»Aber heute Morgen ging es ihr doch noch gut!«

»Aber jetzt ist sie krank, Max.«

»Ich kann jetzt niemanden mehr erreichen.«

»Und dieser Professor Ehlig im Klinikum? Mit dem hattest du doch zu tun.«

»Ich will es versuchen.« Max gab Karin die Tasche, die damit gleich in der Küche verschwand, und ging zum Telefon im Erdgeschossflur, das man ihm installiert hatte, als er vor einem Jahr wieder in den Polizeidienst aufgenommen worden war.

 

»Max, du hast ja Fleisch mitgebracht!« Karin kam ihm freudig entgegen, als er zehn Minuten später die Küche betrat.

»Ein Oberst vom Geheimdienst hat es mir gegeben.«

Karins Miene verfinsterte sich.

»Keine Sorge, ich hatte nur ein beiläufiges Gespräch mit ihm.« Heller senkte die Stimme. »Offenbar gibt es einen blutigen Zwist unter russischen Offizieren. Aus dem hätte er mich gern rausgehalten.«

»Der tote Russe vom Waldschlösschen?«

Heller war immer wieder erstaunt, wie schnell sich Gerüchte und Nachrichten verbreiteten.

»Ein bisschen unterhalb davon. Ja, der.«

»Und du hältst dich raus, ja?«

Heller nickte, aber Karin sah ihm prüfend in die Augen. »Lüg mich nicht an!«, ermahnte sie ihn. »Was ist mit Professor Ehlig?«

»Es hat keinen Zweck. Man wollte mich nicht durchstellen. Ehlig sei zurzeit nicht im Dienst. Wir sollen sie ins Krankenhaus bringen, sagte man mir nur.«

»Dann tun wir das.«

»Karin, hier geht es ihr besser. Von den Krankenhäusern gehen jeden Tag Fahrzeuge mit dreißig, vierzig Toten in die Krematorien. Ich habe vorhin mit Kassner gesprochen.« Es war nur ein kurzes Gespräch gewesen, Kassner hatte kaum Zeit gehabt.

»Und der? Kann der helfen?«

»Ich bitte dich, er ist Rechtsmediziner.«

»Wir müssen aber irgendwas tun!«, fuhr Karin auf.

»Wir machen Wickel und geben ihr Tee. Vielleicht erholt sie sich in der Nacht.«

»Und wenn sie stirbt?«

»Karin, es gibt nichts, rein gar nichts, was wir tun können.« Max nahm seine Frau in den Arm. Zuerst sträubte sie sich ein wenig, dann gab sie nach.

»Ich weiß, Max«, flüsterte sie an seiner Brust. »Wohin das nur führen soll.«

Kasraschwili. Heller fiel der sowjetische Arzt ein. Vielleicht konnte er dem etwas abbetteln, etwas Fieberstillendes wenigstens.

»Der Name Kasraschwili, sagt der dir etwas, Karin?«

Karin überlegte kurz. »Ja. Das Klavierkonzert.«

»Richtig.« Jetzt erinnerte sich auch Heller. Fünfzehn Jahre mochte das her sein oder mehr.

»Tariel Kasraschwili, der georgische Klaviervirtuose. Es war zuerst etwas gewöhnungsbedürftig, weißt du noch?«

Heller nickte und log damit ein wenig. Er wusste nicht einmal mehr, wo das Konzert stattgefunden hatte. »Ich habe heute einen Arzt namens Kasraschwili kennengelernt, einen Georgier. Ob sie verwandt sind?« Es war müßig darüber nachzudenken. Vielleicht war dieser Name in Georgien so geläufig wie Müller in Deutschland. Er ließ Karin los. »Vielleicht kann der mir helfen, morgen. Lass mich zu den Nachbarn gehen, vielleicht hat einer etwas Brühe übrig. Ich fürchte nur, es wird keiner etwas geben.«

»Nimm das mit.« Karin drückte ihm das kleine Päckchen Zucker in die Hand.

Heller nahm es widerwillig. Er wollte es nur ungern hergeben, ließ es sich aber nicht anmerken.

Von oben ertönte ein furchtbares Krächzen. Heller fuhr herum.

»Das macht sie immerzu«, erklärte Karin und hielt ihren Mann zurück, als er zur Treppe wollte. »Sie mag niemanden sehen, nur mich.«

Heller nahm seine Mütze und den Schal. »Gibt es Nachrichten von Klaus?«, fragte er, bevor er die Wohnungstür öffnete.

Karin kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

7. Februar 1947, früher Morgen

Heller schreckte aus dem Schlaf auf und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Die Türklingel schrillte zum wiederholten Mal und jemand hämmerte an die Haustür. Schnell warf er die Bettdecke zur Seite, erschauderte vor der plötzlichen Kälte und fuhr in seine ausgetretenen Pantoffeln.

»Mach Licht. Ich bin sowieso wach«, murmelte Karin.

Heller knipste die Nachttischlampe an und sah auf seine Uhr. Es war halb vier Uhr morgens. Wieder klingelte es. Er stand auf und ging in den Flur und schaltete auch hier Licht an. Aus dem Nachbarzimmer war das schwere Keuchen von Frau Marquart zu hören. Wegen ihr hatte er vor Sorge kaum einschlafen können. Es war ihm nicht gelungen, Hilfe aufzutreiben. So blieb Karin nichts anderes übrig, als kalte Wickel zu machen und der kranken Frau die Stirn zu kühlen.

Gleich neben der Tür hing Hellers schwerer Mantel, den er wegen der anhaltenden Kälte auch im Haus trug. Jetzt warf er ihn sich über, rief »Ich komme doch schon!« und ging die Treppe runter. Noch einmal hämmerte es wild an der Tür. Den Gedanken, dass es Klaus sein könnte, hatte er nach dem zweiten Klingeln schon verworfen. Der hätte niemals solchen Lärm veranstaltet.

Bevor er die Haustür öffnete, griff er in die Manteltasche und umfasste seine Dienstpistole. Mit der linken Hand schloss er die Tür auf. Eisige Luft fuhr ihm um die Beine.

Im schwachen Licht der Gaslaterne zeichneten sich die Silhouetten zweier Uniformierter ab. An ihren Tschakos erkannte Heller sie als Volkspolizisten.

»Genosse Oberkommissar?«

»Ja?«

»Oberschutzmann Neubert. Sie werden dringend verlangt. Es hat einen Überfall gegeben, mit Handgranaten und Maschinengewehr«, erklärte einer der Männer.

»Gibt es Tote oder Verletzte?«

»Die Sache ist noch recht unübersichtlich. Sie sollten angerufen werden, doch es kam keine Verbindung zustande.«

»Ich zieh mir nur schnell etwas an.« Bevor er wieder die Treppe hochging, prüfte er sein Telefon. Tatsächlich war die Leitung tot. Mal gab es keinen Strom, mal kein Telefon, als würde jemand nach Gutdünken Hebel bedienen und Knöpfe drücken. Er schüttelte den Kopf.

 

Das Fahrzeug, mit dem die beiden Polizisten Heller abgeholt hatten, war ein von den Russen erbeuteter Opel Blitz mit Holzvergaser. Seine ursprüngliche Farbe war im typischen Grünbraun der Roten Armee überlackiert. Die Buchstaben POLIZEI hatte man mit einer Schablone auf die Türen und die Heckklappe gemalt. Die Pritsche des kleinen Lasters war mit einer Plane überdacht.

Das Fahrzeug hatte alle Mühe, die Steigung zur Bautzner Landstraße zu bewältigen. Kurz vor der Kreuzung starb der Motor ab. Es kostete den Fahrer mehrere Minuten, ihn wieder in Gang zu bringen. Sie hatten sich zu dritt in das Fahrerhäuschen gezwängt. Warm wollte es trotzdem nicht werden.