Tausendundeine Revolution - Kristina Bergmann - E-Book

Tausendundeine Revolution E-Book

Kristina Bergmann

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Beschreibung

Der Arabische Frühling begann in Tunesien und nahm seinen Fortgang in Ägypten: Innerhalb von Wochen wurden zwei Gewaltregime vom Volk hinweggefegt. Der Funke der Revolution ist mittlerweile auf diverse andere Länder übergesprungen. Die arabische Welt ist in Aufruhr. Die NZZ-Korrespondentin Kristina Bergmann hat Ägypterinnen und Ägypter getroffen, die die Revolution im Januar und Februar 2011 hautnah miterlebt haben und von ihren Erlebnissen erzählen, aber auch von ihren Erwartungen an ein neues, freieres Ägypten und ihren Hoffnungen auf ein besseres Leben. Sowohl Muslime als auch Christen kommen zu Wort, Frauen und Männer unterschiedlicher sozialer Herkunft: ob Arbeiter oder Intellektuelle - sie alle eint die Erfahrung, gemeinsam auf den Straßen und Plätzen Kairos ein Stück Weltgeschichte geschrieben zu haben. Das Buch wird ergänzt mit Beiträgen von Ghada Abdelaal und Chalid al-Chamissi sowie Analysen von Esther Saoub, Cordula Weißköppel, Amira Sayed El Ahl und Doa al-Scharif.

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Seitenzahl: 139

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E-Book-Ausgabe 2015

Copyright © 2012 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

Coverfoto: AP Photo / Amr Nabil

www.lenos.ch

ISBN 978 3 85787 911 1 (EPUB)

ISBN 978 3 85787 912 8 (Mobipocket)

Inhalt

Chronologie

Revolution am NilKristina Bergmann

ErinnerungenAmira Sayed El Ahl

Wie man eine Revolution organisiertKristina Bergmann

Die Entwicklung ausserhalb KairosKristina Bergmann

Die Jugendbewegung 6. AprilKristina Bergmann

Die Revolution gehört auch den FrauenKristina Bergmann

Zwischen Freude und AngstImân Kurrani

Die Revolution im FernsehenMarwa Imâd

Die Rolle der FrauenHânia Schulkâmi

Junge Christen auf dem Zug der DemokratieCordula Weißköppel

Die Kopten im nachrevolutionären ÄgyptenKristina Bergmann

Achtzehn TageGhada Abdelaal

Ich habe die Hoffnung nicht verlorenDoa al-Scharîf

WandelAchmad Dîb

Die MuslimbrüderKristina Bergmann

Der Abend der langen MesserChalid al-Chamissi

Auf PatrouilleMarwân Mûssa

Ägypten lieben – der neue Patriotismus am NilKristina Bergmann

Der Mubârak-ProzessKristina Bergmann

Das VerfassungsreferendumKristina Bergmann

Die Auswirkungen auf die WirtschaftKristina Bergmann

Einbruch im TourismusKristina Bergmann

Die WahlenKristina Bergmann

Die Revolution vergisst ihre Kinder – Ägypten ein Jahr nach Mubâraks SturzEsther Saoub

Das verlorene LachenGhada Abdelaal

Gesichter einer RevolutionKristina Bergmann

Autorinnen und Autoren

Die Beiträge von Chalid al-Chamissi, Achmad Dîb, Marwa Imâd, Doa al-Scharîf sowie »Achtzehn Tage« von Ghada Abdelaal wurden von Kristina Bergmann aus dem Arabischen übersetzt.

Zur Erleichterung der Aussprache arabischer Namen wurden betonte lange Silben mit einem Zirkumflex (^) versehen.

Der Segen heisst Demokratie;der Fluch bleibt ihre Unvollkommenheit.Markus Spillmann, Februar 2011

Chronologie

2011

Anfang Januar

Inspririert durch die Jasminrevolution in Tunesien, rufen ägyptische Aktivisten im Internet zu Demonstrationen gegen Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und das Mubârak-Regime auf.

Dienstag, 25. Januar

Massenproteste in Kairo, es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Demonstationen auch in Alexandria, Mansûra, Ismailîja, Sues und anderen Städten.

Mittwoch, 26. Januar

Bei Massenprotesten in Sues werden Demonstranten und Polizisten verletzt; die Menge zündet eine Polizeiwache und das zentrale Gebäude der Nationaldemokratischen Partei (NDP) an.

Donnerstag, 27. Januar

Der Handel an der Ägyptischen Börse wird ausgesetzt. Auf Anweisung der Regierung wird Ägypten nahezu komplett vom Internet getrennt, auch die SMS-Kommunikation wird unterbunden.

Freitag, 28. Januar

»Tag des Zorns«. Die Polizei zieht abends ab und wird durch die Armee ersetzt. Nächtliche Ausgangssperre. Die Parteizentrale der NDP in Kairo wird von Demonstranten angezündet.

Samstag, 29. Januar

Husni Mubârak setzt eine neue Regierung ein. Zum ersten Mal während seiner dreissigjährigen Herrschaft ernennt er einen Vizepräsidenten, den bisherigen Geheimdienstchef Omar Sulaimân. Neuer Ministerpräsident wird Achmad Schafîk.

Dienstag, 1. Februar

»Marsch der Millionen« in Kairo. In einer Fernsehansprache gibt Mubârak bekannt, er wolle bei den nächsten Wahlen nicht wieder kandidieren. Strassenschlachten zwischen Demonstranten und Mubârak-Anhängern.

Mittwoch, 2. Februar

Die Armee dringt auf ein Ende der Proteste. Mubârak-Anhänger, teils auf Pferden und Kamelen, greifen die Demonstranten auf dem Tachrîrplatz mit Messern, Knüppeln und Steinen an. Zahlreiche Tote und Verletzte.

Freitag, 4. Februar

»Tag des Rücktritts«. Christen und Muslime beten erstmals demonstrativ gemeinsam. Verteidigungsminister Muhammad Tantâwi besucht die Truppen auf dem Tachrîrplatz.

Samstag, 5. Februar

Die gesamte Führung der NDP tritt zurück.

Montag, 7. Februar

Die ägyptische Regierung gibt eine Aufstockung der Gehälter und der Renten der Staatsangestellten um 15 Prozent bekannt.

Mittwoch, 9. Februar

Gewerkschafter und Arbeiter demonstrieren in der Parlamentsstrasse, in der Nähe des Tachrîrplatzes. Im ganzen Land kommt es zu Streiks.

Donnerstag, 10. Februar

Die Armeeführung tritt ohne Mubârak zusammen.

Freitag, 11. Februar

Omar Sulaimân gibt Mubâraks Rücktritt bekannt. Dieser wird mitsamt seiner Familie nach Scharm al-Scheich ausgeflogen. Die Macht wird auf die Armeeführung übertragen.

Samstag, 19. März

Verfassungsreferendum. Die neue Verfassung wird von 77,2 Prozent der Wähler angenommen.

Mittwoch, 13. April

Husni Mubârak und seine Söhne Gamâl und Alaa kommen in Untersuchungshaft.

Samstag, 16. April

Die NDP wird vom Obersten Verwaltungsgericht aufgelöst.

Mittwoch, 3. August

Beginn des Prozesses gegen Husni Mubârak.

Sonntag, 9. Oktober

Bei einer Demonstration von Kopten und Gegnern der Militärregierung werden 25 Menschen getötet.

Montag, 28. November

Beginn der Wahlen zur Volksversammlung.

2012

Sonntag, 29. Januar

Beginn der Wahlen zum Schura-Rat.

Mittwoch, 1. Februar

Bei gewalttätigen Ausschreitungen im Stadion von Port Saîd werden mindestens 74 Menschen getötet und 1000 verletzt.

Samstag, 10. März

Beginn der Registrierung der Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen.

Zusammengestellt von Magdalena Suerbaum

Kristina Bergmann

Revolution am Nil

Den Auftakt zur Revolution habe ich verpasst: Am 25. Januar 2011, dem Tag, nach dem inzwischen viele Institutionen in Kairo benannt worden sind, war ich nicht auf der Strasse. Zwar wusste ich, dass viele Leute am sogenannten »Tag der Polizei« protestieren würden, und hatte bei meiner Redaktion sogar einen Artikel dazu angemeldet. Doch ich hatte nicht erwartet, dass an diesem Tag in Ägypten ein Volksaufstand beginnen würde.

Ich gehöre nicht zu denen, die geglaubt hatten, die Ägypter seien zu bequem und zu fatalistisch, um zu demonstrieren. Doch ich hatte angenommen, es würde erst in einigen Monaten oder Jahren zu einem Aufstand kommen. Das Fass war schon seit einiger Zeit voll gewesen, und es war bloss eine Frage der Zeit, wann ein Tropfen es zum Überlaufen bringen würde. Die meisten Ägypter hatten seit langem genug von ihrem Herrscher, seiner heuchlerischen Art und seinem brutalen Regime. Eigentlich warteten sie nur auf eine gute Gelegenheit, um gegen ihn zu revoltieren, denn sie ahnten, dass ihre Revolution gleich beim ersten Versuch gelingen musste – eine zweite Chance würde es angesichts der repressiven Politik von Mubâraks Machtapparat nicht geben. Wer hätte gedacht, dass diese Gelegenheit die Jasminrevolution in Tunesien sein würde? Und wer, dass die Ägypter sich an einer anderen Nation orientieren würden? Ägypter sind zumeist von sich selbst überzeugt, ja geradezu chauvinistisch. Ratschläge anzunehmen ist nicht ihre Sache. Zu den Maghrebinern (zu denen auch die Tunesier gehören) haben viele Ägypter kaum einen Draht. Einmal mehr hatten sich diese Ressentiments im November 2009 manifestiert, als im entscheidenden Qualifikationsspiel die ägyptische Fussballnationalmannschaft der algerischen unterlag und sich somit nicht für die Weltmeisterschaft in Südafrika qualifizierte: Tausende ägyptische Fans randalierten daraufhin vor der algerischen Botschaft in Kairo. Doch offenbar hegen nicht alle Ägypter diese Abneigung, denn etliche Initianten der hiesigen Revolution standen insbesondere mit Revolutionären aus zwei Ländern in engem Kontakt: Tunesien und Serbien (Mitglieder der Organisation Otpor!1). Von dort bekamen die zumeist jungen Aktivisten Antworten auf brennende Fragen: wie man eine Revolte organisiert und wie sie gelingen kann.

Jeder kennt Skype, Facebook und Twitter. In Ägypten wurden sie seit geraumer Zeit nicht nur zum Austausch von Nettigkeiten, sondern auch für den Widerstand benutzt. Auf Facebook und Twitter tummelten sich Anhänger verschiedener Oppositionsgruppen und riefen dort auch zu Demonstrationen auf. Diese waren in Ägypten, wo seit 1981 das Kriegsrecht herrschte, streng verboten. Es gab sie allenfalls in »geschlossenen« Institutionen, wie zum Beispiel an den Universitäten. Bis zum 25. Januar 2011 waren diese der Hauptort für Kundgebungen gewesen. Das sollte man wissen, wenn ein Ägypter erzählt, er habe »früher« oft an Demonstrationen teilgenommen.

Am Tag danach, also am 26. Januar – es war ein Mittwoch –, ging ich mit einer Kollegin in die Stadt. Wir spürten, dass etwas Wichtiges passiert war. Menschen im Stadtzentrum erzählten uns von den Demonstranten, den Polizisten und den Auseinandersetzungen zwischen ihnen.

Noch aufschlussreicher war dann der Freitag.2 Ich war auf dem Weg zur al-Ashar-Moschee, einem grossen Gebäudekomplex im alten islamischen Viertel, der den sunnitischen Islam seit Jahrhunderten bestimmt. In sie integriert ist die gleichnamige Universität, an der man – nach Geschlechtern getrennt – praktisch alles (nicht nur islamische Fächer) studieren kann. Ich setzte mich in ein Café im vierten Stock eines Hauses gegenüber der Moschee und war gespannt, was nach dem Freitagsgebet gegen Mittag passieren würde. Gewisse Befürchtungen hatte ich, dass die Muslimbrüder den Aufstand für sich vereinnahmen könnten. Ich hatte sogar jemanden gebeten, mich anzurufen, um mir zu berichten, ob vor der Moschee, wo er bete, Muslimbrüder stünden. Doch meine Befürchtung sollte sich als unbegründet erweisen: Die Muslimbrüder hatten beschlossen, sich nicht an den Protesten zu beteiligen. Möglicherweise erkannten sie die Bedeutung der Revolte nicht – oder sie waren eifersüchtig. Eifersüchtig darauf, dass die Menschen ohne die Initiative ihrer Organisation protestierten. Unter Mubârak war es üblich gewesen, dass Muslimbrüder sämtliche Proteste anzettelten und durchführten, doch nun zeichnete sich eine laizistische, liberal geprägte Auflehnung ab. Salafisten – andere sehr religiöse, aber (zumindest damals) unpolitische Islamisten – hielten die Demonstrationen hingegen für falsch. Sie sind der Meinung, dass man jeden Herrscher akzeptieren müsse, solange er Muslim ist. Diese Auffassung teilt die Mehrheit der Ägypterinnen und Ägypter allerdings nicht, sie meinen vielmehr, dass Politik und Religion wenig miteinander zu tun haben und gegen einen Unterdrücker sehr wohl protestiert werden soll.

Nach dem Freitagsgebet strömten die Menschen auf die Strasse. »Auf zum Tachrîrplatz!«, begannen sie zu rufen. Der Platz liegt zweieinhalb Kilometer von der al-Ashar-Moschee entfernt und sollte zum Zentrum der Protestbewegung werden. Religiöse Sprüche hörte man von den Demonstranten kaum, laut skandierten sie indes den Slogan der tunesischen Revolution: »Asch-schaab jurîd iskât an-nizâm.« Die Ägypter, die sonst grossen Wert auf ihren Dialekt legen, übernahmen diesen Leitspruch in seinem hocharabischen Wortlaut, er bedeutet: »Das Volk will den Fall des Regimes.« Ich staunte, doch genau darauf konnte man sich offenbar über alle Grenzen hinweg einigen. Alle riefen ihn – Muslime und Christen, Männer und Frauen, Alte und Junge, Religiöse und Atheisten. Der Slogan setzte sich nicht nur in allen Bevölkerungsschichten durch, sondern auch in anderen arabischen Ländern, in denen die Menschen auf die Strasse gingen. Er lässt erahnen, wie sehr die Araber unter ihren Herrschern litten oder noch immer leiden.

Die Menschenmasse, die sich zum Tachrîrplatz bewegte, schwoll rasch an. Ich hastete die Treppe hinunter und begleitete dann den Demonstrationszug durch die Muskistrasse. Ein Grossaufgebot an Polizei markierte Präsenz. Der (inzwischen verurteilte) Innenminister Habîb al-Adli hatte den Befehl erteilt, Demonstrationen mit allen Mitteln zu verhindern. Tatsächlich schritt die Staatsmacht massiv ein: Sämtliche Zugänge zum Tachrîrplatz waren versperrt. Die Polizei setzte Tränengas, Gummigeschosse und Wasserwerfer ein. Zahlreiche Menschen wurden verletzt. Doch gleichzeitig kursierten Tipps, wie man sich vor dem Tränengas behelfsmässig schützen konnte: »Nicht die Augen reiben!«, riefen einige, andere rieten: »Ein nasses Tuch vor die Nase halten!« oder »An einer Zwiebel riechen!« Hier und da warfen Frauen aufgeschnittene Zwiebeln auf die Strasse. Eine andere Empfehlung hatte mir zuvor der Freund einer Kollegin gegeben: Bei Tränengaseinsatz die Augen mit Cola spülen. So hatte ich vorsorglich ausser Wasser und einem Tuch auch eine Dose Cola mitgenommen. Einen Moment werde ich nie vergessen: Als die Demonstranten später leere Tränengasgranaten aufsammelten, sahen sie, dass nicht nur das Verfallsdatum längst überschritten war, sondern sie auch allesamt importiert waren. Warum, so fragten sie sich, hatten europäische Länder und die USA ausgerechnet einem Diktator wie Mubârak Munition geliefert, die er gegen sein Volk einsetzen konnte?

Gegen sechzehn Uhr gelang es einigen, die polizeilichen Absperrungen zu durchbrechen und den Tachrîrplatz zu besetzen. Ab sofort war er ihr Platz, eine erste wichtige Schlacht war gewonnen. Noch am selben Abend zog die Polizei ab – spurlos. Allerorten wurde gemutmasst, dies sei nur deswegen geschehen, um den Bürgern vor Augen zu führen, wie wichtig die Polizisten im Alltag seien. Oder hatten sie doch Angst vor dem plötzlichen Aufbegehren der Menschen bekommen?

Danach wurde die Polizei durch die Armee ersetzt: ein in Ägypten ungewöhnlicher Vorgang, wo die Armee eigentlich nur gegen äussere Bedrohungen eingesetzt werden darf. Deshalb war sie jahrelang völlig unsichtbar geblieben, doch nun wurden Panzer und Soldaten an allen wichtigen Orten des Landes stationiert. Das konnte nur bedeuten, dass die Staatsführung den Ernst der Lage erkannt hatte. Den Demonstranten kam das entgegen: Die Soldaten galten als freundlich und ruhig, und da jede ägyptische Grossfamilie, Muslime wie Kopten, einen oder mehrere Angehörige in der Armee hat, wurde die Wahrscheinlichkeit, dass diese zu den Waffen griffen, als eher gering eingeschätzt. Hinzu kommt, dass die Armee in Ägypten eine rote Linie darstellt: Nach dem Gesetz darf das Militär nicht beschimpft oder »beleidigt« werden. Die Menschen erkannten schon bald, dass ein Sturz Mubâraks nur um den Preis einer Machtübernahme durch das Militär möglich war. Darauf richteten sie ihren Protest aus. Erst Monate später sollten sich die Ziele der Demonstrationen ändern.

Auf dem eroberten Tachrîrplatz wurde an jenem Freitag zunächst hektisch die Revolution organisiert. Man wollte den Familien daheim, Ägypten und der ganzen Welt beweisen, dass man auch ohne Polizisten für Ordnung sorgen könne. Bürger begannen Essen an Demonstranten zu verteilen und anstelle der Polizisten den Verkehr zu regeln. Sie schafften auch Planen und Decken heran: Um auf dem Platz längere Zeit ausharren zu können, brauchte es schliesslich mehr, als nur genug zu essen und zu trinken. Das Militär begnügte sich damit, Panzer in Stellung zu bringen und abzuwarten. War Mubâraks Abgang schon ausgemachte Sache?

Viele westliche Journalisten meinten damals, die paar hunderttausend Menschen auf dem Platz seien im Vergleich zu 81 Millionen Ägyptern unbedeutend. Ich war und bin damit nicht einverstanden. Demonstrationen waren in Ägypten (wie auch in anderen arabischen Ländern) verboten. Nur ganz Mutige (oder sogar Lebensmüde) hatten sich auf die Strasse gewagt, mehr als 300 Menschen waren nie zusammengekommen. Jedes Mal wurden sie von Geheimpolizisten in Zivil niedergeknüppelt, oft festgenommen und anschliessend nicht selten gefoltert: Zigaretten wurden auf ihrer Haut ausgedrückt, sie erhielten Elektroschocks und wurden oft auch vergewaltigt. Dass also im Januar 2011 längst nicht alle, die gegen Mubârak waren, sich auch aktiv an den Protesten beteiligten, liegt auf der Hand.

Es lässt sich hochrechnen, dass auf jeden Demonstranten, der auf dem Tachrîrplatz protestierte, rund fünfzig Personen kamen, die den Aufstand nur indirekt unterstützten, denn nicht nur aufgrund der Erfahrungen mit der Polizeigewalt erschienen viele nicht. Frauen wurde praktisch immer empfohlen daheimzubleiben; Alte überliessen den Widerstand weitgehend den Jüngeren; Kinder brachte man aus Sorge um die Sicherheit nur in Ausnahmefällen mit. Sogar an den entscheidenden Tagen waren deshalb nie mehr als eine Million Menschen auf dem Tachrîrplatz. Dass es dennoch ein echter Volksaufstand, eine richtige Revolution war, daran kann kein Zweifel bestehen. Die Armee verstand das, Mubârak schliesslich auch.

Es wurde Februar und somit kühler, manchmal war es sogar richtig kalt. Dennoch hatten viele Demonstranten beschlossen, auf dem Tachrîrplatz auszuharren, bis Mubârak gehen würde. Als es zu regnen anfing, spannten sie Plastikfolien auf. Das gab dem Platz ein ganz neues Gesicht. An vielen Stellen waren auch Bilder und Plakate angebracht. Das Schönste aber war, dass der Platz wegen der Menschenmassen nun gänzlich autofrei war – zuvor war er einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte gewesen, täglich hatten ihn rund drei Millionen Autos passiert.

Der Tachrîrplatz besteht aus einem mehrspurigen Kreisverkehr und einer mit Gras und einigen Sträuchern bepflanzten Mittelinsel. An den Platz grenzen einige Verwaltungsgebäude und das Ägyptische Museum. Er wurde im neunzehnten Jahrhundert angelegt, um Kairos Infrastruktur zu verbessern, und nach dem seinerzeit herrschenden Vizekönig Ismaîl Pascha benannt. Nach dem Sturz der Monarchie durch die Freien Offiziere 1952 wurde er in Midân at-Tachrîr, Platz der Befreiung, umgetauft.

Während der Demonstrationen ging ich oft zum Tachrîrplatz. Da die dortige Metrostation Sadat allerdings tagelang gesperrt war, musste ich vorher an der Station Saad Saghlûl aussteigen und den Rest der Strecke zu Fuss gehen. Ich fand schnell Gefallen an diesem täglichen Ritual: Auf dem Weg gab es immer viel zu sehen, und manche Demonstrationen begannen bereits in der Metrostation. Was mochten wohl die Ladenbesitzer und die Anwohner beim Anblick der Menschenmassen denken, die vor allem dienstags und freitags an ihren Häusern vorbeizogen? An den Kreuzungen waren Panzer stationiert. Die Soldaten hatten den Befehl, die Menschen gewähren zu lassen. An einem Freitag unterbrach ich meinen Fussmarsch und versuchte, ein paar Soldaten und Offiziere in ein Gespräch zu verwickeln. Sie waren überrascht und nicht sehr mitteilsam, so dass hauptsächlich ich es war, die redete. Plötzlich sah ich einen mir bekannten Geschäftsinhaber aus dem Vorort Maâdi, in dem ich wohne. Erstaunt fragte ich ihn, was er hier mache, denn Ladenbesitzer waren in Ägypten bekannt dafür, dass sie es verstanden hatten, sich mit Mubârak und seinen Schergen zu arrangieren. »Lassen Sie die Soldaten in Ruhe, die Armee müssen wir akzeptieren«, flüsterte er mir zu und ging rasch weiter.

Einmal hatte ich mir vorgenommen, einige Aufständische in Wort und Bild zu porträtieren. Schon in der Metro begegnete ich interessanten Menschen, beispielsweise einer jungen Frau, die sich über jene Leute ärgerte, die Mubârak noch immer verteidigten und die Revolution attackierten. Sie stritt sich mit zwei jungen Mädchen darüber. Als sie entmutigt an der Station Saad Saghlûl ausstieg, weinte sie. Zögernd umarmte ich sie und sagte ihr, sie solle sich nicht empören, solche Menschen gebe es immer. Ich beschwor sie, weiter für ihre Überzeugung zu kämpfen. Seltsam, dass gerade ich als Ausländerin eine aufständische Ägypterin trösten musste. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und lächelte wieder. Es stellte sich heraus, dass sie am Tachrîrplatz am Mikrofon stand und auch für eine Radiostation arbeitete. Ich machte ein Porträt von ihr.