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Die Terranisch-Stellare Föderation ist das größte Reich, das die Menschheit jemals aufgebaut hat. Unter ihrer Führung eroberten die Bewohner der Erde vor fast dreihundert Jahren die Sterne. Doch die Nation steht an einem Scheideweg. Im Solsystem intrigieren extremistische Politiker und schmieden Pläne, um die Macht der Föderation auszuweiten. Major Allister Thorpe kehrt nach Ablauf seiner Militärzeit auf seine Heimatwelt Clementis zurück, nur um festzustellen, dass sich die Straßen, in denen er aufgewachsen ist, grundlegend verändert haben. Allister versucht, sich aus Ärger herauszuhalten, was sich als schwerer entpuppt als erwartet. Wer versucht, unpolitisch zu bleiben, findet sich zwischen allen Fronten wieder. Als eine Naturkatastrophe Clementis heimsucht, ist er einer der Ersten am Ort des Geschehens. Doch Allister merkt bald, dass etwas auf seinem Heimatplaneten nicht stimmt. Dunkle Kräfte gewinnen zusehends an Boden. Beide Seiten steuern unversehens auf einen Bürgerkrieg zu, den keiner zu verhindern imstande zu sein scheint. Die Armeen der Zentralregierung und der Kolonien rüsten sich mit der gefürchtetsten Waffe zum Kampf: den Mikes – den mechanischen Infanteriekampfeinheiten. Bis zu sieben Meter hohe und bis an die Zähne bewaffnete Kampfkolosse, die auf ihrem Weg nichts als eine Spur der Verwüstung hinterlassen …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Prolog
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Epilog
Weitere Atlantis-Titel
Portland war eine der letzten verbliebenen Hochburgen der Rebellen. Und sie stand in Flammen. Die Verteidiger der Stadt hatten an allen Zugängen Barrikaden aufgeschichtet. Vergebliche Liebesmüh.
Nicht einmal zehn Kilometer von der Stadtgrenze entfernt war ein Bataillon ArtillerieMikes aufmarschiert. Ihre Mehrfachraketenwerfer und weitreichenden Artilleriegeschütze bombardierten die Metropole ohne Unterlass und ohne Rücksicht. Die Stadt war nahezu menschenleer. Vor dem Sturm auf die Rebellenfestung hatte man dem Gegner erlaubt, die Zivilbevölkerung innerhalb von zwölf Stunden zu evakuieren. Es war das Einzige, was man an der Art und Weise, wie dieser Feldzug geführt wurde, akzeptabel nennen durfte.
Major Allister Thorpe Junior, Kommandant des 2. Bataillons der 3. walisischen Ulanen, pflanzte den Fuß seiner 60 Tonnen schweren Schattenkobra auf eine behelfsmäßige Barrikade, bestehend aus Bussen und Lastwagen. Der AngriffsMike machte sie mühelos platt. Das Kreischen des zerquetschten Metalls klang wie ein Hohnruf in Richtung der Rebellen.
Das 3. walisische Ulanenregiment rückte seit dem Morgengrauen in den Kern der Rebellenfestung vor und zerschlug auf seinem Weg jeglichen Widerstand.
Links von ihm feuerte ein 40-Tonnen-Feuerfrosch seine sechs 90-mm-Mörser ab. Die Geschosse stiegen hoch in die Luft und überwanden damit eine weitere Verteidigungsstellung. Auf ihrem Scheitelpunkt machten sie kehrt und hämmerten auf die feindliche Infanterie dahinter ein. Ihre Linie brach und zog sich ungeordnet zurück. Die Infanteristen waren ungepanzert und gegenüber ihren technologisch hochgerüsteten Gegnern praktisch wehrlos. Die wenigen gepanzerten Truppen der Rebellen waren vor der Stadt in einer letzten aufopfernden Entscheidungsschlacht fast völlig vernichtet worden. Seitdem trieben die Regierungstruppen ihre Widersacher nur noch vor sich her.
Aber selbst wenn die Konfrontation zuvor anderes ausgegangen wäre, so hätte es am Endresultat des Krieges kaum einen Unterschied gemacht.
Sie kamen an einem Mehrfamilienhaus vorbei. Allister bemerkte Gestalten, die sich im Schutz einer Brüstung bewegten. Sie hofften offenbar, unentdeckt zu bleiben.
Allister zögerte einen Moment. Am liebsten hätte er sie einfach ignoriert. Er bewunderte ihren Widerstandswillen und ihren hartnäckigen Kampfgeist. Außerdem war er Soldat, um Menschen zu beschützen, nicht um verzweifelte, halb verhungerte Aufständische zu jagen. Militärisch gesehen wäre das allerdings ein unverzeihlicher Fehler gewesen. Sie konnten mit Raketenwerfern bewaffnet sein. In diesem Fall stellten sie eine Bedrohung dar. Er durfte nicht riskieren, dass seine Platoonkameraden zu Schaden kamen.
»Geier eins an Geier drei! Feinde auf drei Uhr hoch.« Das letzte Wort wies den MikePiloten darauf hin, dass sich seine Ziele auf dem Dach befanden.
Der Feuerfrosch schwenkte herum. Seine Mörser spuckten erneut Tod und Vernichtung. Mit nur zwei Salven räumte er das Dach leer. Die Bedrohung war beseitigt.
Allister wollte sich wieder abwenden, da erhob sich einer der Rebellen aus einer Blutlache. Der linke Arm war kaum noch zu gebrauchen. In seinem rechten flammte ein Molotow-Cocktail auf. Das Geschoss zerbarst auf dem oberen Torso des Feuerfrosch und flüssiges Feuer ergoss sich über dessen Panzerung, ohne ihn in seinem Tun auch nur zu behindern.
Ein 25-Tonnen-Wiesel hob die Arme. Die Maschinengewehre röhrten und bereiteten dem Rebellen endgültig ein Ende.
Allister schüttelte mitfühlend den Kopf. Molotow-Cocktails. Mehr hatten die Rebellen auf dem Dach nicht besessen. Welche unerfüllbaren Hoffnungen hatten sie auf ihren letzten Pfad geführt? War es ihr Plan gewesen, in einem Akt völlig sinnloser Selbstaufopferung draufzugehen? Niemand würde je davon erfahren. Sie hatten sich umsonst vor die Geschütze des walisischen Regiments geworfen.
»Geier eins an Basis eins«, sprach er in sein Kommgerät.
»Hier Basis eins«, antwortete die Stimme von Lieutenant Colonel Peter Drew. »Bericht!«
»Wir haben beinahe das Stadtzentrum erreicht. Widerstand minimal.« Eine weitere Raketensalve fauchte über seine Maschine hinweg. Allister neigte die Schattenkobra leicht nach hinten und folgte deren Flugbahn mit den Augen, bis sie westlich seiner Position aufschlugen. Der Himmel färbte sich rot vor Detonationen. »Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, die Artillerieangriffe einzustellen.«
»Negativ«, wehrte Drew auf der Stelle ab. »Es gibt Berichte, dass sich MikeEinheiten der Rebellen sammeln zu einem letzten Gefecht.«
Allister runzelte die Stirn. »Mikes der Rebellen? Ganz sicher?«
»Bestätige«, antwortete der Colonel. »Die Überreste der nordamerikanischen Regimenter, die sich dem Aufstand angeschlossen haben.«
Die Runzeln auf Allisters Stirn wurden tiefer. Er war der Meinung gewesen, die schweren Einheiten des Gegners wären bereits vor Tagen aufgerieben worden. Dass noch welche übrig sein sollten, kam ihm merkwürdig vor. Wo kamen die auf einmal her? Der Aufstand zog wohl weitere Kreise, als er gedacht hatte. Was als begrenztes lokales Phänomen begann, entpuppte sich mittlerweile als Flächenbrand.
»Colonel, sollen wir uns zurückziehen, bis die Artillerie ihren Job erledigt hat?«
»Negativ«, beharrte Drew. »Rücken Sie vor und bereiten Sie diesen verdammten Rebellen endlich das verdiente Ende, Major. Das ist ein Befehl!«
Allister knirschte mit den Zähnen. Seine Leute wurden für nichts und wieder nichts verheizt. Er schaltete auf einen privaten Kanal zu seinem Führungsplatoon.
»Gary? Daniel? Joseph? Habt ihr mitgehört?«
Nacheinander bestätigten die drei verbliebenen Mitglieder seiner Platoons. Normalerweise bestand ein MikePlatoon aus sechs Piloten samt ihren Maschinen. Die zwei anderen hatte es gestern beziehungsweise vorgestern erwischt, als sein Bataillon die Stellungen der Aufständischen rund um Portland geknackt hatte. Insgesamt hatte seine Einheit seit Beginn der Rebellion fast dreißig Prozent Verluste erlitten. Damit lagen diese laut anerkannter Militärdoktrin gut und gerne zehn Prozent über angemessenen Opferzahlen für eine Militäroperation. Und diesen Schlächter Drew schien das kein bisschen zu kümmern.
»Was machen wir jetzt, Boss?«, wollte Captain Joseph Morris wissen, seine Nummer zwei.
»Was können wir denn tun?«, hielt Allister dagegen. »Befehl ist Befehl.« Er stoppte die Schattenkobra und nahm sich einen Moment Zeit, die taktische Lage zu klären. Er aktivierte ein Hologramm, das aus einem der Satelliten über ihnen im Orbit seine Informationen erhielt und sich in Echtzeit aktualisierte.
Josephs 65-Tonnen-Gralsritter kam unmittelbar neben ihm zum Stehen. »Und? Wie ist die Lage?«, wollte sein Stellvertreter über Funk wissen.
Auf dem Hologramm sammelte sich eine Anzahl roter Symbole ungefähr vier Klicks westlich ihrer Position. Allister rieb sich nachdenklich das Kinn. »Die Brandenburger Totenkopfhusaren halten unsere linke Flanke, die australischen Lighthorsemen die rechte«, erwiderte er nachdenklich. »Das sind beides gute Einheiten, an die wir uns anlehnen können.«
Seine Nummer zwei kannte ihn aber lange genug, um den Tonfall des kommandierenden Offiziers folgerichtig zu interpretieren. »Aber irgendwas bereitet dir Sorgen«, meinte Joseph.
»Sowohl die Husaren als auch die Australier bereiten ein Zangenmanöver vor, was an und für sich eine gute Sache wäre, wenn der einzige Fluchtweg der Rebellen nicht in unsere Richtung führen würde.«
»Du meinst, man treibt sie in unsere Arme? Das ist etwas Gutes, oder? Die Deutschen und die Australier sind der Hammer und wir der Amboss.«
»Schon, aber du hast Drew gehört. Hat er irgendetwas darüber gesagt, dass wir Teil einer ausgeklügelten Falle wären?«
»Nicht wirklich.« Nun klang auch Joseph nachdenklich. »Was, glaubst du, bedeutet das?«
Allister leckte sich über die Lippen. »Ich bin nicht sicher.« Er schaltete zurück auf einen allgemeinen Kanal. »Geier eins an alle Geier-Einheiten. Auf meiner Position als Feuerlinie formieren und auf Befehl hin vorrücken.« Er zögerte kurz. »Aber haltet euch von der Artillerie fern«, fügte er hinzu.
Obwohl es streng genommen gegen Drews Befehle verstieß, gab es keine Einwände. Ein Grundsatz von MikePiloten lautete: Wenn die Artillerie spricht, dann hören alle anderen besser zu. Allister hatte aus bitterer Erfahrung gelernt, diesem Sprichwort zu vertrauen. Weitere Granaten und Raketen zischten über seinen Standort hinweg und bedeckten die Fläche Portlands westlich und östlich seiner Position. Auf dem taktischen Hologramm rückten die Totenkopfhusaren und die Lighthorsemen vor und nahmen die verbliebenen Kräfte in die Zange.
Es entbrannte ein kurzes Gefecht. Beide Seiten erlitten Verluste. Die Symbole von Mikes, Panzern, Hubschraubern und gepanzerter Infanterie erloschen mit schockierender Regelmäßigkeit. Es geschah aber, was nicht anders zu erwarten war. Die Aufständischen wurden überwältigt und wandten sich in die einzige Richtung, die ihnen noch offenstand. Die roten Symbole marschierten geschlossen auf die Stellungen der Dritten Waliser zu.
»Bereithalten!«, fauchte Allister über Funk. »Es geht los!«
Der erste Feindkontakt bestand in mehreren Panzern. Es handelte sich durch die Bank um schwere, gut bewaffnete Maschinen, die sofort das Feuer auf die regierungstreuen Kampfkolosse eröffneten.
Ein alter Warrior erwischte Allisters Torso mit der 120-mm-Kanone. Sofort meldete sein Bordcomputer den Treffer. Er hatte seine Maschine fast eine ganze Tonne Panzerung gekostet.
Er antwortete mit den zwei Repetierkanonen. Dabei handelte es sich um durchschlagskräftige Waffen mit einem Kaliber von 35 Millimetern für den Nahkampf. Die Geschosse fraßen sich tief in die Frontpanzerung, pulverisierten die Besatzung und brachten die eingelagerte Munition zur Explosion. Der Turm flog buchstäblich in die Luft.
Währenddessen erledigten Joseph und ein weiterer Platoonkamerad ein Pärchen Jupiter II-Kampfpanzer und erlitten dabei ebenfalls lediglich Panzerungsverluste. Wenn man aber die bereits überstandenen Gefechtsschäden in die Rechnung mit einbezog, dann wurde die Lage langsam kritisch.
Der Vormarsch des Gegners kam jäh zum Stocken, als die Reste des bereits mitgenommenen Bataillons der Dritten Waliser auf der Bildfläche erschien. Allister behielt die Bewegungen des ersten und zweiten Bataillons dabei ständig im Auge. Sie hielten sich auffällig im Hintergrund. Ein Umstand, der ihm gar nicht gefiel. Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen … Allister stutzte … Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, seine Einheit wurde den Wölfen zum Fraß vorgeworfen.
Die Sturmspitze der Rebellen wurde zurückgetrieben. Die Piloten des dritten Bataillons erhielten dadurch aber noch längst keine Gelegenheit, sich auszuruhen. Aus einer Seitengasse strömten Infanteristen – zwar die ungepanzerte Variante, aber dafür war praktisch jeder mit einem Raketenwerfer ausgerüstet. Und in einer solchen Anzahl konnten auch diese einen Mike zu Boden ringen.
Allister wollte eine Warnung ausstoßen. Seine Kehle wurde staubtrocken. Hinter den Infanteristen schob sich die Silhouette eines 90-Tonnen-Rapier aus den Schatten der Hochhäuser. Die neun Meter über den umkämpften Straßen aufragende Maschine richtete umgehend ihr umfangreiches Waffenarsenal aus.
Energiewaffen nutzten künstliche hergestellte Edelsteine zur Konzentrierung der notwendigen Energie. Daraus ergab sich das beim Ausstoß charakteristische den Edelsteinen entsprechende Farbschema. Aus diesem Grund sprach man umgangssprachlich beim Leichten Perikles-F-15 von Smaragd-, beim Mittelschweren Achilles-N-19 von Saphir- und beim Schweren Herkules-P-32 von Rubinlaser.
Mit seinen beiden Maschinenkanonen, gepaart mit der Repetierkanone und den zwei Rubinlasern, zerstörte der mächtige AngriffsMike Daniel Browns ohnehin schon angeschlagenen Moskito. Die Dreißig-Tonnen-Maschine hatte keine Chance gegen diesen Koloss. Noch während der ScoutMike seines Platoonkameraden stürzte, wusste Allister, dass sein langjähriger Freund und Waffenbruder gefallen war. Die Salve hatte die Cockpitpanzerung glatt durchschlagen.
Als Nächstes war der Feuerfrosch an der Reihe. Der leichte ArtillerieMike war kein adäquater Gegner für einen solchen Titanen auf dem Schlachtfeld. Auch er fiel nach zwei Raketensalven und einer gebündelten Attacke der Lichtwerfer des Rapier.
Die Infanterie brachte sich schmerzhaft in Erinnerung, als unzählige Geschosse von der Straße zu den über ihnen aufragenden Kampfmaschinen fauchten und mehrere von Allisters Gefolgsleuten von Explosionen eingehüllt wurden.
Seine Schattenkobra wankte bedenklich, als er den Rückwärtsgang einlegte und auf Abstand zu diesem formidablen Gegner ging. »Bataillon neu formieren!«, wies er seine Leute an. »Haltet die Stellung! Haltet die Stellung!«
Auf seinem Hologramm registrierte er, dass die Husaren und die Lighthorsemen zwar den Ring um die Rebellen schlossen, aber keinerlei Anstalten machten, diesen den Todesstoß zu versetzen. Sie trieben sie einfach weiterhin in Allisters Einheit hinein. Der Major fluchte lautstark in der Stille seines Cockpits.
Mehrere Mikes nahmen den Rapier unter Dauerfeuer und zeitigten damit einigen Erfolg. Bereits erlittene Kampfschäden bereiteten dem Piloten nun große Probleme. Das Repetiergeschütz sowie beide Raketenwerfer fielen aus. Der Rapier zog sich in die vorübergehende Deckung der Hochhäuser zurück. Die Infanterie erlitt schwerste Verluste und auch deren Linie wankte und brach schließlich.
Bevor der Neunzigtonner zwischen den Gebäuden verschwand, holte sich Allister dessen Einheitsmarkierung näher heran. Es handelte sich um einen Stetson unter dem die Zahlen eins, eins in großen goldenen Lettern prangten.
Allister biss dermaßen fest die Zähne aufeinander, dass die Kiefer schmerzten. »Das ist die 11. Oregon-Division«, sagte er zu niemand Bestimmtem. »Was zum Teufel machen die denn hier?«
Dass sich eine solche nordamerikanische Eliteeinheit den Hungeraufständen angeschlossen hatte, war ihm gar nicht bewusst gewesen. Auch der föderale Geheimdienst hatte diesbezüglich keinerlei Informationen beschafft. Ein eisiger Schauder lief ihm über den Rücken. Oder sie waren geliefert, aber nicht an ihn weitergeleitet worden.
»Drew, du verdammtes Arschloch!«, brach es aus ihm heraus.
»Boss?«, hörte er drängend Josephs Stimme über Funk. »Da kommen noch mehr.«
Der Kommandeur des 2. Bataillons konzentrierte sich abermals auf das Hologramm. Seine Nummer zwei hatte recht. Eine Front roter Symbole bewegte sich schnell in ihre Richtung. Es waren zu wenige, um die Stellungen der Regierungstruppen zu durchbrechen, aber genug, um Allisters Einheit durch den Fleischwolf zu drehen.
Auf einmal drang Drews Stimme aus dem Funkgerät. Der Colonel machte den Eindruck, als sei er ziemlich zufrieden mit sich. »2. Bataillon! Zurückziehen! Sofort!«
Allister verschwendete keine Sekunde damit, über diesen Befehl nachzugrübeln. »Ihr habt den Colonel gehört. Vom Feind lösen und auf Position Baker neu sammeln.«
Die Einheiten unter seinem Kommando brachen umgehend den Kampf ab und gingen auf Abstand, verfolgt von den Kampfmaschinen der 11. Division. Noch während sich die Waliser zurückzogen, fauchten weitere Granaten und Raketen der in Stellung gegangenen ArtillerieMikes über ihren Kopf hinweg, und zwar eine Menge. Bevor einer der beiden Parteien sich so ganz bewusst wurde, was geschah, führten die Regierungstruppen ein Flächenbombardement durch, das nicht nur die 11. Oregon-Division einschloss, sondern auch Nachzügler aus Allisters eigener Einheit. Ein 40-Tonnen-ScoutMike vom Typ Partisan wurden von mehreren Granaten und Raketen am Torso und beiden Beinen getroffen.
Die an und für sich robuste Maschine knickte seitlich weg. Der Pilot hatte keine Chance, die Kontrolle zurückzuerlangen. Das Cockpit eines Mike befand sich bei größeren Maschinen im Kopf und bei den meisten anderen in der Brust. Bei Bedarf war der Pilot in der Lage, das unzerbrechliche Sichtfenster durch eine herabfahrende Stahllamelle zu ersetzen, wodurch aus dem Cockpit eine von der Außenwelt völlig abgeschottete, rundum gepanzerte Kapsel wurde, die gleichzeitig Teil des Rettungssystems war. Brust und Kopf der Kampfmaschine brachen auf und entließen die Rettungskapsel ins Freie. Sie stieg auf einer Flammenzunge in den Himmel empor. Wenn alles so wie geplant verlief, dann würde sie den Piloten aus der Gefahrenzone bringen und wohlbehalten irgendwo außerhalb der Stadt absetzen, wo Föderationsinfanterie ihn schließlich anhand des Peilsenders finden und in Sicherheit bringen konnten.
Ein Wolfsräuber der Rebellen feuerte auf die im Steigen begriffene Kapsel. Zorn ergriff von dem Major Besitz. Er richtete seine Repetierkanonen und die beiden 2er-Raketenlafetten aus und schickte den Inhalt der Waffen auf die Reise.
Die vier Fernlenkgeschosse zogen eine Korkenzieherspur hinter sich her, bevor sie in den Torso einschlugen. Die Projektile aus den beiden Kanonen frästen Panzerung vom linken Bein und durchbrachen anschließend den metallischen Knochen dahinter. Auch dieser Mike knallte mit brachialer Gewalt auf den Asphalt. Aus irgendeinem Grund löste dessen Pilot allerdings nicht das Rettungssystem aus. Möglicherweise war er ohne Bewusstsein oder schon tot.
»Feuer einstellen!«, brüllte der Major. »Feuer einstellen! Eigene Einheiten unter Beschuss!« Niemand antwortete. Was aber noch weitaus schlimmer war, das Bombardement hörte gar nicht mehr auf. Die revoltierende 11. Division wurde von dem Angriff völlig überrumpelt. Die Föderationsartillerie schoss Ihre Infanterie, Panzer und Mikes förmlich in Stücke. Zu den Einheiten, die der Falle entkamen, zählten ein paar wenige Hubschrauber, die regierungstreue Lufteinheiten entweder zur Landung zwangen oder abschossen.
Die Überreste des 2. Bataillons retteten sich außerhalb der Stadt auf eine kleine Anhöhe. In weniger als einem Klick Entfernung sah man die schweren, vierbeinigen ArtillerieMikes, die ihren Beschuss auch dann noch nicht einstellten, als vom Gegner längst kein Widerstand mehr zu erwarten war.
Das war kein Krieg mehr. Den Rebellen wurde eine Lektion erteilt, damit von ihnen nie wieder jemand auf die Idee kam, sich gegen die Zentralregierung zu erheben. Und auch sonst niemand.
Allister wandte seine Schattenkobra in Richtung Stadt. Portland brannte lichterloh. Die Totenkopfhusaren und die Lighthorsemen zogen sich aus dem Stadtkern zurück. Sie hatten kaum Federn lassen müssen. Außerhalb von Portland machten sich frische Einheiten bereit, vorzudringen, sobald der Feuersturm sich etwas legte. Die Rebellenhochburg war so gut wie gefallen.
»Allister«, sprach Joseph ihn vertraulich an, »was zum Teufel ist da gerade geschehen?«
Der Major benötigte einen Augenblick, um sich zu sammeln. »Man hat Portland zur Killbox gemacht. Und uns hat man benutzt, um die Aufständischen in die Falle zu locken.«
Wie nicht anders zu erwarten war die Schlacht um Portland bereits am nächsten Tag beendet. Wer den massiven Artillerieangriff überlebte, kapitulierte beim Eintreffen frischer regierungstreuer Kräfte bereits wenige Stunden später bedingungslos.
Allister kaute zornig auf einem vertrockneten Grashalm herum, während er die lange Schlange in Gefangenschaft geratener Rebellensoldaten mit stumpfen, ausdruckslosen Gesichtern an sich vorüberstapfen sah. Bewacht wurden sie von grimmig aussehenden Föderationsinfanteristen.
Allister lehnte am rechten Fuß seiner Schattenkobra, während mehrere Techniker über das Chassis schwärmten, um eine erste Schadensanalyse vorzunehmen. Joseph Morris schlenderte in Begleitung eines weiteren MikePiloten zu ihm herüber. Allister löste sich von der Maschine und ging ihnen entgegen. Auf seinem Weg spuckte er den Grashalm aus.
Die drei trafen sich auf halbem Weg. Ein Platoon bestehend aus sechs LuftabwehrMikes marschierte gemächlich an ihnen vorüber. Die Kampfmaschinen strecken die Waffen drohend in den Himmel. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass LuftabwehrMikes ihre umfangreiche Bewaffnung nicht nur gegen Ziele am Himmel einsetzen konnten, sondern auch gegen Feinde am Boden. Ihre Zielerfassungs- und -verfolgungssysteme waren lediglich dazu prädestiniert, Luftziele ins Visier zu nehmen. Sie waren darüber hinaus nicht minder effektiv gegen andere Mikes.
Allister glaubte allerdings, dass ihr Schutz unnötig sein würde. Es gab keine bewaffnete Streitmacht im Umkreis von vierhundert Kilometern, die ihnen gefährlich werden konnte. Sie hatten die Aufständischen in diesem Abschnitt besiegt – besiegt und vernichtet. Aber momentan gab es anderes, was den Offizier beschäftigte. Er nickte Joseph auffordernd zu.
»Und?«
Der Mann machte einen geistesabwesenden Eindruck, bevor er sich auf den Befehlshaber konzentrierte. »Das ist Major Frederick Lefevre«, stellte er seinen Begleiter vor. »Er kommandiert das 2. Bataillon der 2. Antibes-Husaren. Und du hattest recht.« Josef sprach ohne Punkt und Komma, was für den überlegten MikePiloten untypisch war. Das Thema trieb ihn sichtlich an.
Allister richtete sein Augenmerk auf den anderen Major. »Es stimmt also?«, hakte er nach. Der Major der 3. walisischen Ulanen wollte ganz sichergehen. Zu seinem Schrecken nickte der Offizierskollege auf der Stelle.
»Mit uns haben sie dasselbe gemacht«, bestätigte Lefevre. »Im Osten der Stadt. Wir kamen gerade noch raus. Ich habe trotzdem drei gute Leute verloren.«
Die Worte des anderen Majors bestätigten seine schlimmsten Befürchtungen und es nährte den Zorn, der tief in seinem Magen gärte und hartnäckig daran arbeitete, an die Oberfläche zu treten.
Mehrere Piloten aus dem 1. und 3. Bataillon der Ulanen gingen lachend und angeregt untereinander tuschelnd an ihnen vorbei. Als sie die drei Offiziere bemerkten, wurden ihre Schritte kurz langsamer und Allister glaubte, die Bemerkung cb zu hören.
Im Militär der Föderation stellte cb eine beliebte Beleidigung dar für Soldaten, die nicht aus dem Solsystem oder den Kernsystemen der Föderation stammten, sondern von den Kolonien.
Die Buchstaben standen für country bumpkin, dem englischen wenig schmeichelhaften Begriff für Landei. Die Bewohner der Kernsysteme nahmen für sich gern in Anspruch, etwas Besseres zu sein. Sie sahen auf die Bewohner der Kolonien herab. Vor allem beim Militär war die Diskriminierung Alltag. Rekruten aus den Kolonien wurden gern in bestimmten Bataillonen zusammengefasst, damit sie so wenig wie möglich mit den Soldaten anderer Einheiten in Kontakt kamen. Das Ganze erinnerte an eine Art Quarantäne.
Sie könnten die anderen Soldaten ja mit irgendwelchen Krankheiten und Viren infizieren. Vor allem mit dem Virus der Freiheit. Bewohner der Kolonien genossen in der Regel wesentlich mehr Freiraum, als dies auf den Kernwelten oder gar der Erde gemeinhin üblich war.
Das 2. Bataillon der 3. walisischen Ulanen bestand ausschließlich aus Rekruten, die sich aus den Kolonien freiwillig zum Föderationsdienst gemeldet hatten. Lefevres Einheit der Antibes-Husaren genauso.
Das Verhalten ihrer Befehlshaber und die enormen Verluste, die sie erlitten hatten, ließen nur den einen Schluss zu: Man betrachtete sie als entbehrlich. Vor allem verglichen mit Einheiten, die sich aus Bürgern der Kernsysteme zusammensetzten. Man hatte sie absichtlich in die Killbox geschickt, um die Rebellen aus der Reserve zu locken. Weil man der Meinung war, ihr Leben sei nichts wert. Weil man der Meinung war, sie zu verlieren, stelle keine Tragödie dar. Lefevre sah sich bei seinem Ausbruch verstohlen um.
Nun kochte die Wut zur Gänze in Allister hoch. »Verdammte, korrupte Bande! Diese verdammten Schweine!«, wetterte der Major.
Joseph hob beschwichtigend die Hände. »Ich verstehe dich ja, aber bitte schraub deine Lautstärke ein bisschen herunter. Man hört dir zu.« Tatsächlich zeigten einige Offiziere in der näheren Umgebung urplötzlich reges Interesse an ihrem Gespräch.
»Sollen sie ruhig!«, polterte Allister weiter und wandte sich den neugierigen Augen und Ohren zu. »Seh ich so aus, als kümmere es mich, was ihr denkt? Kommt her, wenn ihr was wollt!«
Joseph packte seinen Vorgesetzten an der Schulter und riss diesen herum. Lefevre postierte sich als lebendes Schutzschild zwischen dem vor Wut tobenden Major und ihren Zuschauern.
»Verdammt, ich verstehe dich ja, aber um Himmels willen, komm runter!«, beschwor Joseph ihn. »Ich hab keine Lust, wegen dir im Bau zu landen. Oder Schlimmeres.«
Anklagend deutete Allister auf das immer noch brennende Portland. »Wir haben dort gute Leute verloren, Jo. Anständige Menschen, Kameraden, Freunde. Und es war nicht das erste Mal. Ich habe es so satt, dass unsere Leben als weniger wichtig eingestuft werden. Wären wir auf der Erde geboren worden, dann sähe die Sache komplett anders aus.«
»Du hast recht«, bestätigte Joseph. »Aber so sind die Dinge nun mal.«
»So sollten sie nicht sein«, entgegnete der Major. »Sieh dich mal um. Dieser Krieg war falsch. Den hätten wir gar nicht führen dürfen. Der mittlere Westen Nordamerikas war einst die Kornkammer der Kernsysteme. Die Menschen waren satt und zufrieden. Nun verödet der Boden immer mehr. Der Aufstand ist ja nicht grundlos ausgebrochen. Unsere Bürger hatten einfach Hunger und waren verzweifelt. Und ich habe mich nicht zum Militär gemeldet, um verzweifelte Menschen abzuschlachten. Wie lange wird es dauern, bis der nächste Aufstand ausbricht?«
»Lange«, mischte sich Lefevre ein. »Die Zentralregierung hat den Rebellen einen Denkzettel verpasst, den man sich hinter die Ohren schreiben wird. Was glauben Sie, warum dermaßen hart vorgegangen wurde? Auf absehbare Zeit soll niemand mehr auch nur denken, dass es sich lohnt aufzubegehren.«
»Ohne mich.« Allister schüttelte den Kopf. »Ich mach da nicht mehr mit. Meine Dienstzeit läuft in drei Wochen ab, dann bin ich raus.«
»Wenn das nur so simpel wäre«, warf Joseph ein. »In Kriegszeiten kann das Militär die Dienstzeit einseitig verlängern. Und der Aufstand ist noch nicht vorbei. Es gibt weiterhin Kämpfe und abtrünnige Einheiten der nordamerikanischen Verbände.«
Allister wischte den Einwand mit erhobener Hand beiseite. »Ist mir egal. Ich beende meinen Föderationsdienst.«
Joseph und Lefevre wechselten einen verstörten Blick. Seine Nummer zwei senkte die Stimme. »Bist du verrückt? Das ist Fahnenflucht. Für so einen Scheiß stellt man dich ruckzuck an die Wand.«
Allister wollte antworten, aber auf einmal brach Tumult im Lager aus. Er hielt einen der vorübereilenden Soldaten am Arm fest. Dieser wandte sich ihm mit funkelnden Augen zu.
»Was ist denn los?«
»Habt ihr es noch nicht gehört?«, meinte der Mann. »Es ist vorbei. Der Krieg ist vorbei. Seattle und Vancouver sind gefallen.«
Allister fühlte sich wie betäubt. Er ließ den Uniformärmel los und der Soldat rannte weiter, als wäre nichts geschehen.
»Seattle und Vancouver«, wiederholte Josef. »Die letzten großen Rebellenfestungen. Wenn das stimmt …«
»Dann ist der Krieg wirklich vorbei«, bestätigte Lefevre. Er sah erleichtert zum Himmel. »Wir können endlich wieder nach Hause, wenn wir das wollen.«
Wie aufs Stichwort fuhr eine Limousine mit offenem Verdeck an ihnen vorbei. Es handelte sich um einen Oldtimer aus dem frühen 21. Jahrhundert. Solche Gefährte sah man nicht mehr allzu oft.
Auf dem Rücksitz saß ein grauhaariger Mann in den Sechzigern mit grauem Vollbart. Er trug einen einfachen schwarzen Anzug und stellte eine Visage zur Schau, als würde er zu einer Beerdigung fahren.
Die drei Offiziere sahen dem Wagen hinterher, bis dieser von einer jubelnden Menschenmenge verschluckt wurde.
Allisters Augenbrauen wanderten hoch bis zum Haaransatz. Er deutete dem Wagen hinterher. »War das gerade …«
Joseph nickte. »Mark de Havilland. Der ehemalige Direktor für den nordamerikanischen Sektor und der Mann, der den Aufstand begonnen hat.«
»Der kommt sicher, um zu kapitulieren«, meinte Lefevre. »Dann stimmt es also. Der Krieg ist vorbei.«
»Und uns lässt man nach Hause gehen.« Allister sah gen Himmel. Er war kein religiöser Mensch, aber heute war ihm danach, seinem Schöpfer ein Dankesgebet zu schicken.
Dieser Tag war in mehrerlei Hinsicht eine Zäsur. Er sah das Ende der nordamerikanischen Hungeraufstände und gleichzeitig kehrte ein Schiff des ReconCorps – einer Unterabteilung der Föderationsmarine – in den heimatlichen Hafen zurück.
Das ReconCorps war eine Initiative, die vor etwa hundertfünfzig Jahren in die Wege geleitet worden war. Im Verlauf von gut acht Jahrzehnten waren im Umkreis der Kolonien sowie einiger Kernsysteme mehrere Tiefenraumteleskope installiert worden, die in den Weiten des Weltalls vor allem nach interessanten Bodenschätzen Ausschau halten sollten, die zu fördern sich lohnen könnte.
Der Raubbau im Solsystem hatte die dortigen Ressourcen nahezu erschöpft. Und auch die Kernwelten würden nicht mehr lange den Bedarf der Heimatwelt decken können. Die Kolonien waren von jeher arm an Bodenschätzen gewesen. Das Einzige, was sie liefern konnten, waren Wasser und Nahrungsmittel. Das half aber nicht dabei, die Industrie am Laufen zu halten.
Alle zwanzig Jahre entsandte man eigens dafür entwickelte und konstruierte Raumschiffe, um die Teleskope anzufliegen und die Daten der riesigen Konstrukte zu ernten. Allein dieser Vorgang dauerte fast acht Monate. Die gesamte Mission hatte annähernd drei Jahre gedauert. Bisher war aber nie etwas von Wert dabei herausgekommen. Bisher …
Die Jeanne d’Arc wurde bei ihrem Eintreffen im Solsystem bereits erwartet. Zwei Zerstörer nahmen die d’Arc in die Zange und eskortierten sie zu einer der Raumstationen im Orbit der Erde.
Das Schiff bestand aus wenig mehr als einer Kommandobrücke, einem kleinen Wohnbereich, dem Antrieb und einem gewaltigen Tank für die Brennstoffreserven, die der Sprungantrieb verbrauchte. An den Flugkontrollen saß der Missionsleiter Adrian Thorpe.
Der Commander beugte sich verwirrt vor und beäugte die zwei Kriegsschiffe misstrauisch. »Den Empfang hatte ich mir anders vorgestellt«, verlieh er seinem Misstrauen Ausdruck.
Charlotte Valentine, die Kopilotin, lehnte sich auf ihrem Pilotensessel entspannt zurück. »Du weißt, wie das Militär so tickt. Die kratzen sich nicht einmal am Hintern, ohne sich ans Protokoll zu halten.«
Adrian leckte sich über die Lippen. Er akzeptierte die Erklärung, auch wenn er sich immer noch nicht wohlfühlte, unter den Geschützen der Zerstörer in die Heimat zurückzukehren.
Das ReconCorps war eine Abteilung, die eigens dafür gegründet worden war, den Bereich des erforschten Weltraums rund um das Föderationsgebiet zu erweitern. Hierfür war die Jeanne d’Arc fast drei Jahre unterwegs gewesen.
Ihre Berührungspunkte mit der Terranisch-Stellaren Föderation hatte lediglich im Aufnehmen frischen Brennstoffs bestanden. Im Gegensatz zu den meisten Schiffen waren die Tanks der d’Arc groß genug, um vier Sprünge nacheinander durchzuführen. Der Großteil der militärischen sowie der zivilen Flotte war nur zu zwei aufeinanderfolgenden Sprüngen in der Lage.
Anschließend mussten die Einheiten des ReconCorps Wochen damit zubringen, neuen Brennstoff im nächsten Gasriesen zu schürfen, da sie jenseits des Föderationsraumes keinen Zugriff auf eine Tankstation besaßen. Dadurch wurden interstellare Reisen für die Freiwilligen des Corps oftmals sowohl zermürbend als auch extrem langwierig.
Aufgrund des Mangels an Ressourcen und Stauraum bestand die Besatzung der d’Arc aus drei Personen. Das dritte Mitglied der Crew ließ sich von der vorherrschenden Schwerelosigkeit auf die Brücke tragen.
Navigator Dimitri Lasinskys Gesicht zeigte das Vergnügen einer Katze, die gerade einen Wellensittich verspeist hatte. Er hielt sich an Adrians und Charlottes Lehne fest.
»Vielleicht liegt es daran, dass unsere Vorgesetzten so zufrieden mit uns sind. Immerhin findet man nicht jeden Tag die Lösung auf die großen Probleme der Menschheit.«
Der Missionscommander schnaubte. »Woher sollten sie das wissen?« Er tätschelte die Konsole neben sich, auf der die gesammelten Daten verwahrt wurden. »Wir müssen erst noch Bericht erstatten.«
Dimitris Mundwinkel zogen sich so weit in Richtung seiner Ohren nach oben, dass das Antlitz des Navigators wirkte wie ein Totenschädel. »Ich habe ihnen eine Nachricht geschickt. Gleich nachdem wir im Solsystem materialisierten.«
Adrian drehte den Sessel dermaßen schnell herum, dass sein Navigator den Halt verlor und beinahe quer über die Brücke gesegelt wäre. Im letzten Moment gelang es ihm, sich an Charlottes Lehne festzukrallen.
»Was hast du gemacht?«
Dimitri wirkte verwirrt. »Ich habe eine Nachricht geschickt. Wieso? Was ist denn?«
Adrians Augen verengten sich gefährlich. Charlotte sah sich zu einer Erklärung genötigt. »Du kennst die Vorschriften genau, Dimitri. Kein externer Kontakt ohne Adrians Genehmigung.«
Der Navigator verzog missmutig das Gesicht. »Hätte ich mir gleich denken können, dass du auf seiner Seite stehst. Nur weil er dich regelmäßig flachlegt, musst du ihm nicht ständig zur Seite springen.«
Adrian hätte sich um ein Haar vom Sitz abgeschnallt, um den vorlauten Kerl zur Rede zu stellen. Charlottes ruhige Art hielt ihn davon ab, indem sie schlicht ihre Hand auf die seine legte. »Lass den Idioten reden.«
Adrian entspannte sich. Seine nächsten Worte richteten sich an Dimitri. »Darüber unterhalten wir uns noch. Beginn mit den Berechnungen für das Andockmanöver.«
Der Navigator schielte verwundert durch das Brückenfenster. »Es dauert noch fast einen Tag, bis das akut wird. Ausreichend Zeit.«
»Sofort!«, beharrte der Missionscommander.
Dimitri wandte sich um und trieb vor sich her grummelnd von der Brücke, glaubte er doch, dass der unnötige Befehl als Schikane gemeint war, um ihn für seine unbedachte Äußerung zu bestrafen. Adrian hatte indessen andere Dinge im Kopf. Er wartete, bis der Navigator die Brücke verlassen hatte, ehe er das Speichergerät in die Konsole einführte.
»Was machst du da?«, wollte Charlotte wissen.
»Ein Back-up unserer Daten. Nur für alle Fälle.« Seine Kopilotin schenkte ihm einen kurzen undeutbaren Blick, akzeptierte die Äußerung allerdings stillschweigend.
Charlotte tippte mit dem rechten Zeigefinger einen nervösen Rhythmus auf die Lehne ihres Sessels. Adrian schloss den Vorgang ab, öffnete seinen Pilotenoverall und steckte den Datenträger hinein.
»Dein Misstrauen ist ansteckend«, kommentierte die Nummer zwei der Mission. »Was versprichst du dir davon?«
»Was wir gefunden haben, darf nicht in der Versenkung verschwinden«, kommentierte der Missionscommander.
Die Frau runzelte die Stirn. »Glaubst du, das könnte geschehen?« Ein Lächeln lockerte ihre angespannten Muskeln. Sie winkte ab. »Du bist ja paranoid.«
Adrian deutete wortlos auf die zwei Kriegsschiffe, die durch das Brückenfenster gut zu erkennen waren. Sie hatten die d’Arc flankiert. Er konnte es zwar nicht mit Bestimmtheit sagen, aber Adrian gewann zusehends den Eindruck, sie hatten ihre Geschütze auf das Erkundungsschiff gerichtet.
Verdrossenheit löste die aufgesetzte Heiterkeit auf Charlottes Gesicht ab. »Du bist ja verrückt. Warum sollten sie unsere Erkenntnisse geheim halten?«
»Warum wohl?«, erwiderte er. »Aus den üblichen Anlässen: Geld und Macht. Den Menschen der Föderation geht es beschissen.« Er tätschelte seine linke Brustseite, wo sich unter dem Overall die Speichereinheit verbarg. »Aber das hier ändert alles.«
»Natürlich ändert das alles«, antwortete sie in der Art eines Menschen, der sich abmühte, eine unliebsame Wahrheit auszuklammern. »Es wird alles besser. Die Dinge könnte sich dadurch zum Guten wenden.«
Adrian begutachtete missmutig, wie die Jeanne d’Arc auf eine Raumstation zuhielt, deren Andockeinrichtung auf einmal überaus bedrohlich aussah. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen, die das Sagen haben, es genauso sehen.«
Valerie Bogdanow, frisch gewählte Generaldirektorin der Terranisch-Stellaren Föderation, schritt selbstbewusst den lang gestreckten Korridor entlang. Eigentlich hätte die Frau, die die Vierziger vor Kurzem überschritten hatte, guter Dinge sein müssen. Vor weniger als fünf Tagen war sie von ihren Kollegen aus ihrem alten Posten auf den weitaus prestigeträchtigeren der Generaldirektorin gewählt worden.
Damit hatte sie das höchste Amt innerhalb der Föderation erreicht, das man als Normalsterbliche gewinnen konnte. Sie war am Ziel ihrer Wünsche angelangt – wären da nicht so ein paar kleine Wermutstropfen, die ihr den Erfolg auf unangenehme Weise vergällten.
Sie erreichte eine schmucklose Tür, vor der zwei Soldaten der Garde auf Wache standen. Diese Männer dienten nicht ausschließlich zeremoniellen Zwecken. Sie trugen Körperpanzer und ihre Gewehre waren mit scharfer Munition bestückt. Sie hatten geschworen, jeden Eindringling abzuwehren, und sei es auf Kosten des eigenen Lebens.
Natürlich war es absurd, dass es jemand bis hierher schaffte. Sollte dem tatsächlich eines Tages so sein, wäre die Föderation bereits lange vorher Geschichte.
Die Soldaten präsentierten ihre Waffe. Valerie nickte ihnen kurz zu und hatte die Männer auch schon wieder vergessen, als sie die Tür öffnete und das Machtzentrum der Terranisch-Stellaren Föderation betrat.
Sie wurde bereits ungeduldig erwartet. Ihr Assistent Morgan Hidland schob den Stuhl am Kopfende des Tisches zurück. Die Anwesenden erhoben sich respektvoll. Valerie begab sich ohne Zögern an den ihr zustehenden Platz. Doch anstatt sich zu setzen, nahm sich das Staatsoberhaupt einen Moment Zeit, all ihre Gegenüber eingehend zu mustern. Diese Männer und Frauen stellten politische Macht innerhalb der Föderation dar, seit die Einzelstaaten vor zweihundert Jahren abgeschafft worden waren. Die UN war kurz danach unblutig denselben Weg gegangen, da es ohne Regierungen keinem Zweck mehr diente, dieses ohnehin handlungsunfähige Gremium weiterhin zu unterhalten.
Zu ihrer Rechten stand Jürgen Metzger, der Direktor des Europäischen Konsortiums, das aus der ehemaligen Europäischen Union hervorgegangen war. Das Konsortium erstreckte sich seit dem Ende des letzten Krieges von Portugal bis zum Ural und symbolisierte eine enorme wirtschaftliche Größe im Rat.
Obwohl sie schon lange mit dem Mann zusammenarbeitete, stellte er für sie in den kommenden politischen Winkelzügen eine unbekannte Größe dar. Er hatte ihr sehr viel zu verdanken. Das bedeutete aber nicht zwangsläufig, dass sie mit der Unterstützung des Mannes rechnen durfte. Metzger kochte meistens sein eigenes Süppchen.
Neben ihm stand Omi Watanabe – die Direktorin des Japanisch-Pazifischen Kollektivs. Dieses erstreckte sich nicht mehr nur über die japanischen Inseln, sondern schloss die Küstenregionen Chinas, Vietnams, Indiens und Koreas mit ein und erstreckte sich sogar teilweise ein paar Hundert Kilometer tief ins asiatische Hinterland. Darüber hinaus zählten die Philippinen und Australien zum Herrschaftsgebiet Watanabes. Das Kollektiv wäre ein machtvoller Verbündeter. Politisch, wirtschaftlich und militärisch.
Nach dem letzten zerstörerischen Krieg auf dem Kontinent hatte sich Japan die Schwäche Russlands und Chinas zunutze gemacht und weite Gebiete annektiert, wodurch es enorm an Einfluss gewonnen hatte.
Wie üblich trat die Frau jenseits der Sechziger in traditionellen japanischen Gewändern auf. Ihre wahren Gedanken verbarg sie gekonnt hinter einem nichtssagenden Lächeln. Sie wäre vielleicht auf Valeries Seite. Der japanisch-pazifische Sektor hatte am meisten von ihren Plänen zu gewinnen.
Neben ihr befand sich Benjamin Usman von der Afrikanischen Union. Der dunkelhäutige Mann mit dem feingetrimmten Schnurrbart bemühte sich, mehr Ansehen für Afrika zu gewinnen. Das machte ihn unter Umständen zum Verbündeten. Die Afrikanische Union hatte im Verlauf der letzten hundertfünfzig Jahre an Selbstvertrauen und Bedeutung gewonnen und sich zum unverzichtbaren Teil der Föderation gemausert. Sie wurde allerdings weiterhin häufig wie ein Entwicklungsland behandelt, was deren Bevölkerung verständlicherweise sauer aufstieß. Usman würde eine Gelegenheit begrüßen, die Union aufsteigen zu lassen.
Auf der linken Seite stand Eveline Holbrook, die Direktorin der Gesamtamerikanischen Kooperation, die sich aus den Kontinenten Nord- und Südamerika zusammensetzte.
Mit ihren zweiunddreißig Jahren war die Frau eigentlich viel zu jung für einen solchen verantwortungsvollen Posten. Ihr Vorgänger de Havilland war aus dem Amt entfernt worden, nachdem er seinen Sektor zum Aufstand gegen die Regierung geführt hatte. Daraus resultierten die Hungeraufstände, die man mit solcher Mühe und Aufwand hatte niederschlagen müssen. Was der Rat niemals verzeihen konnte, war Verrat. Die Direktoren waren schlicht und ergreifend dafür da, die Bevölkerung in ihren Sektoren ruhig zu halten. Wenn sie nicht einmal das schafften, wofür brauchte man sie dann noch?
Man konnte von Glück reden, dass der Aufstand auf das Gebiet der ehemaligen Vereinigten Staaten beschränkt geblieben war. Hätten sich die Kämpfe auf beide amerikanischen Kontinente ausgeweitet, wäre ein Flächenbrand die unausweichliche Konsequenz gewesen.
Eveline hielt den Kopf gesenkt und versuchte nach Möglichkeit, niemandem aufzufallen. Sie besaß noch nicht das Durchsetzungsvermögen, um bei den Großen mitzuspielen. Das ließ sich möglicherweise ausnutzen.
Neben Holbrook stand Lu Shen Wei, der Direktor der Zentralasiatischen Kolchose. Er nahm nun den Posten ein, den Valerie vor ihrer Wahl innegehabt hatte. Offiziell hatte sie neutral gegenüber den Direktoren zu sein. Inoffiziell besaß sie natürlich eine gewisse Affinität zu ihrem Heimatsektor. Und sie erwartete von diesem auch Loyalität ihr gegenüber.
Nachdem Europa sich an russischem und Japan an chinesischem Territorium so ausufernd bedient hatten, waren China und Russland übereingekommen, sich zusammenzuschließen, um weiteren Gebietsverlusten vorzubeugen. Dabei hatten sie noch ganz nebenbei das, was von den anderen asiatischen Ländern übrig war, in das eigene Staatsgebiet eingegliedert. Dies geschah nicht ganz freiwillig.
Die Kämpfe waren blutig gewesen und hatten zu einer Verschwendung von anderswo dringend benötigten Bodenschätzen geführt, bis auch die letzte asiatische Opposition ausgeschaltet war. Der Zusammenschluss hatte Asien aber erstaunliche Stabilität beschert. Es war der letzte Krieg auf dem Boden der Erde gewesen. Valerie verzog unwillig das Gesicht. Bis jetzt. Bis zu den Hungeraufständen.
Die Generaldirektorin hob auffordernd die Hände. »Bitte nehmen Sie Platz.« Die Direktoren folgten der Einladung. Ihr Assistent blieb wie ein hilfreicher Schatten hinter ihrem Stuhl stehen.
Jeder Direktor herrschte über sein jeweiliges Gebiet in fast autonomer Manier, war nur dem Generaldirektor gegenüber verantwortlich. Die ehemaligen Einzelstaaten waren aufgelöst worden und an ihre Stelle waren Regionen getreten, die jeweils von einem Gouverneur beaufsichtigt wurden. Jeder Direktor herrschte darüber hinaus über eines der Kernsysteme, während der Generaldirektor das komplette Solsystem zu verwalten hatte.
Die in diesem Raum konzentrierte Macht stellte die größte in der Menschheitsgeschichte dar. Es war ein berauschendes Gefühl.
Es gab immer wieder Geplänkel und Intrigen, sowohl unter den Direktoren untereinander als auch vonseiten der Direktoren gegenüber dem Generaldirektor. Aber keines dieser kleingeistigen Wesen würde es jemals wagen, militärisch gegen die Obrigkeit vorzugehen. Sie wussten, wie viel sie dadurch zu verlieren hatten.
Der jeweilige Generaldirektor besaß genügend Rückhalt und Ressourcen, um jeden Aufstand im Keim zu ersticken, wie der nordamerikanische Sektor so schmerzlich vor kurzer Zeit hatte lernen müssen. Das brachte sie zum ersten Tagesordnungspunkt.
Ihr Augenmerk richtete sich schlagartig auf Eveline Holbrook, die unter dem Blick ihrer Chefin förmlich in sich zusammenfiel.
Normalerweise gehörte diesem Rat ein Vertreter der Kolonien an. Es handelte sich lediglich um einen Alibi-Posten, der dafür sorgen sollte, dass den Bewohnern der Kolonien nach Möglichkeit nie klar wurde, wie wenig sie im Gesamtgefüge zu sagen hatten. Natürlich durfte ihr Vertreter zu Wort kommen und natürlich durfte er Missstände anprangern. Aber jede Entscheidung wurde durch einfache Mehrheit gefällt, und da der koloniale Vertreter im Rat allein stand, hatte er kaum Möglichkeiten, spürbare Veränderungen zum Besten der Kolonien durchzusetzen.
Ein gutes Beispiel waren die kürzlich verschärften zusätzlichen Zölle, die die Föderation gegenüber ihren ausgewanderten Schützlingen erhob, um eine weitere Einnahmequelle zu generieren. Die Abgaben durften in Form von Geldzahlungen oder von erhöhten Lebensmittellieferungen erbracht werden. Die empörten Proteste des Kolonialbotschafters waren ungehört verhallt.
Zur aktuellen Sitzung war der Mann aber nicht eingeladen worden. Er musste nicht alles wissen. Und speziell dieses Mal war es unnötig, ihm auf die Nase zu binden, was seinen Kolonien blühte.
»Kommen wir erst zum erfreulichen Teil der heutigen Besprechung«, eröffnete Valerie. »De Havilland hat bedingungslos kapituliert. Der Krieg ist vorüber.« Beifall brandete auf, der ein ganz klein wenig zu gekünstelt wirkte, um wirklich spontan zu sein. Die Direktoren hatten sich offenbar abgesprochen, um sich bei ihr einzuschleimen. Holbrook klatschte am lautesten.
Valeries stechender Blick blieb auf ihrer Kollegin haften, bis diese abermals den Kopf senkte. »Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, wo der Aufstand stattfand und weshalb. Die Gesamtamerikanische Kooperation hat sich als instabil und illoyal erwiesen. Das kann nicht toleriert werden.«
Eveline Holbrook schluckte schwer, war sich der Aufmerksamkeit der anderen Direktoren nur allzu bewusst. Sie machte Anstalten, etwas zu sagen, verkniff sich dann aber jeden Kommentar. Valerie konnte nicht sagen, ob da Unsicherheit und Ängstlichkeit ihr hässliches Gesicht zeigten oder ob die Frau einfach nur vorsichtig war, in einer neuen politischen Umgebung, in der sie nicht sicher sein konnte, wer zu ihren Freunden zählte. Im Moment füllte sie eine angreifbare Position aus. Jeder der Anwesenden würde das geringste Anzeichen von Schwäche gnadenlos zum eigenen Vorteil ausnutzen.
Valerie räusperte sich verhalten. »Aus diesem Grund stehen ein paar wichtige Entscheidungen an.« An ihrem Arbeitsplatz fuhr ein Touchscreen aus. Die Direktoren folgten ihrem Beispiel. »Aufgrund des Fehlverhaltens einiger amerikanischer Einheiten, die sich der Rebellion angeschlossen haben, müssen wir gewisse Umstrukturierungen vornehmen.«
Eveline sah auf. »Umstrukturierungen? Welcher Art?«
»Auf dem Gebiet Nordamerikas werden bis auf Weiteres Truppen anderer Regionen stationiert, um zu verhindern, dass es zu erneuten Ausschreitungen kommt.«
Die Direktorin der Kooperation starrte Valerie an, als hätte diese den Verstand verloren. »Sie reden von Besatzungstruppen.«
Die Generaldirektorin zuckte die Achseln. »Nennen Sie es, wie Sie wollen, Eveline, aber ich werde nicht gestatten, dass so etwas ein weiteres Mal vorkommt.« Sie deutete auf Lu Shen Wei. »Die Zentralasiatische Kolchose wird Truppen in der Nähe von Seattle, Portland und weiter im Landesinneren stationieren. Dadurch sind sie in der Lage, innerhalb weniger Stunden an jeden Ort Amerikas verlegt zu werden, an dem es Ärger gibt.«
»Wie viele Einheiten?«, verlangte Eveline mit hochrotem Kopf zu erfahren.
»Mindestens drei MikeDivisionen sowie eine noch zu bestimmende Anzahl an Infanterie.«
Evelines Kopf zuckte hoch. »Drei Divisionen?!«
Valerie blieb völlig ruhig. »Ganz recht. Außerdem wird die Kooperation die Insel Hawaii bis auf Weiteres an das Japanisch-Pazifische Kollektiv abtreten. Inklusive der Flottenbasis.«
Das Gesicht der anderen Direktorin verlor jede Farbe. Indessen wirkte Omi Watanabe sehr zufrieden mit sich. Die Übergabe der Insel Hawaii bedeutete letzten Endes nichts anderes, als dass japanisch-pazifische Verbände jederzeit auf dem nordamerikanischen Kontinent zum Einsatz kommen konnten. Dadurch war das Kollektiv allzeit in der Lage, militärischen Druck auszuüben, um wirtschaftliche Zugeständnisse durchzusetzen.
Des Weiteren verfügte Hawaii über eine gut ausgebaute Marinebasis. Das Kollektiv war schon lange scharf auf diese Insel. Es war das einzig verbliebene Hindernis auf dem Weg zur völligen Kontrolle des pazifischen Raums durch Japan.
Valerie lieferte sich mit Eveline über einige Augenblicke ein Blickduell – bis die Direktorin Amerikas sich geschlagen gab. »Wie lange gelten diese … diese Maßnahmen?«
»Bis sich die Kooperation unser Vertrauen wieder verdient hat. Das kann Monate dauern – oder aber auch Jahre. Es hängt ganz allein von Ihren Leuten ab.«
»Was wird mit de Havilland geschehen?«
»Hinrichten!«, forderte Lu Shen Wei. »Auf der Stelle!«
»Nein«, widersprach Valerie. »Das wäre ein Fehler. Ich habe nicht die geringste Lust, ihn zum Märtyrer zu machen. Wir bringen den ehemaligen Direktor zu einer gesicherten Einrichtung abseits des Solsystems. Lebendig und unversehrt. Ab und zu lassen wir die Medien einen ungehinderten Blick auf ihn werfen. Vielleicht darf er sogar das eine oder andere von uns gesteuerte Interview geben. Den Leuten soll einerseits klar sein, dass wir keine Monster sind und selbst mit unseren Feinden menschenwürdig umgehen. Andererseits soll er anderen radikalen Kräften als mahnendes Beispiel dienen. Seinen Namen wird man im Lauf der Zeit immer weniger hören. Der Mann wird in Vergessenheit geraten. Und eines Tages, wenn kein Hahn mehr nach ihm kräht, dann geht er abends ins Bett und wacht am nächsten Morgen nicht mehr auf. Schnell und sauber.« Sie warf der Direktorin Amerikas einen weiteren hämischen Blick zu. »Und bevor wir ihn wegschaffen, überlege ich, ob europäische Truppen Jamaica besetzen sollen. Nur um den Amerikanern klarzumachen, wo ihr Platz ist.«
»Sie können hungernde Bürgern nicht dafür bestrafen, verzweifelt zu sein«, brachte Eveline hervor. »Wenn man Menschen wie Tiere behandelt, dann reagieren sie auch wie Tiere.«
»Gut, dass Sie das ansprechen«, meinte Valerie jovial. »Das bringt mich direkt zum nächsten Thema.« Sie betätigte eine Taste und auf dem Touchscreen eines jeden Direktors erschien eine Karte der Erde mit den aktuellen Gebietsverteilungen. Die Generaldirektorin lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Ich muss wohl nicht extra betonen, wie ernst die Lage ist.« Ein Diagramm wurde eingeblendet. »Auf der Erde allein leben jetzt pi mal Daumen achtzehn Milliarden Menschen. Dieser Planet hat die Tragfähigkeit an Lebewesen längst überschritten. Der kürzliche Aufstand ist lediglich das Symptom einer schwärenden Krankheit, unter der unsere Welt leidet. Und dieses Siechtum heißt Mensch.«
Bei den letzten Worten sahen ihre Mitdirektoren alarmiert auf. Sie hatte diese harsche Formulierung mit voller Absicht gewählt. Sie wollte keinen Zweifel daran lassen, worum es ihr ging.
»Und was sollen wir dagegen unternehmen?«, verlangte Jürgen Metzger zu erfahren. »Wir können schließlich nicht einfach einen angemessenen Prozentsatz unserer Bevölkerungen vom Planeten schaffen.«
Ein schmales Lächeln umspielte Valeries Mundwinkel. »Und wieso nicht?«
Die drei vorgebrachten Worte hingen bedeutungsschwanger im Raum. Metzger kniff leicht die Augen zusammen. »Wie meinen Sie das?«
»Seien wir mal schonungslos ehrlich: Menschen von der Erde wegzubringen, ist die einzige Hoffnung, die unserer Heimatwelt bleibt. Und auf den Kolonien gibt es genügend Platz. Verglichen mit den Kernsystemen sind diese nur spärlich besiedelt.«
»Spärlich würde ich es nicht nennen«, gab Omi Watanabe zu bedenken.
»Aber es gibt immer noch wesentlich mehr Platz als bei uns«, warf Benjamin Usman ein. Valerie verbarg ihre Freude gekonnt hinter der Maske einer professionellen Politikerin. Sie hatte gehofft, sich auf die Afrikanische Union verlassen zu können.
Metzger schüttelte den Kopf. »So verlockend dieser Gedanke auch ist, er ist unmöglich durchführbar.«
»Ich wiederhole: Wieso nicht?«, fragte Valerie.
»Die Kolonien werden nicht einfach dasitzen und dabei zusehen, wie Bürger von der Erde ihre Welten überfluten. Ihr Widerstand ist vorprogrammiert. Der von Ihnen vorgeschlagene Weg führt in einen neuen Bürgerkrieg. Kolonien gegen Kernsysteme. Die Hungeraufstände werden dagegen aussehen wie eine Unstimmigkeit zwischen Liebenden.«
Das Lächeln der Generaldirektorin wurde breiter. »Ich habe einen Plan, der der Föderation die Autorität sichert, alle Forderungen gegenüber unseren kolonialen Schwestern und Brüdern durchzusetzen. Es wird eine minimale Anzahl von Opfern geben. Auf der Seite der Kolonien, aber vor allem unter unseren eigenen Leuten. Bevor den Kolonisten klar wird, was vor sich geht, ist die erste Auswanderungswelle bereits eingetroffen und hat Siedlungen errichtet. Ist die Okkupation erst einmal eingeleitet, wird sie nicht rückgängig zu machen sein.«
Ein erneuter Tastendruck blendete auf jedem Bildschirm die Einzelheiten ihres Planes ein. Die Direktoren studierten die Ausführungen eingehend. Hier und da war zustimmendes Nicken zu sehen.
»Sobald die Okkupation in die Wege geleitet wurde, löst man die Kolonialmiliz auf und jedes Direktorat der Erde erhält Zugriff auf einen noch zu bestimmenden Anteil der Beute.« Nun grinste sie breit. »Keine Sorge, jeder bekommt ein Stück vom Kuchen. Sogar Eveline.« Spöttisches Hüsteln wurde rund um den Tisch laut. »Die erste Phase der Operation wurde sogar schon eingeleitet. Ich benötige nun die Zustimmung des Rates, mit der Aktion fortzufahren.« Sie sah sich in der Runde um. Zweifel sah sie beim einen oder anderen. Die vorherrschende Emotion schien jedoch Gier zu sein. Das war wirklich gut. Mit Gier ließ sich etwas anfangen. Wenn man auf etwas vertrauen konnte, dann auf die Unersättlichkeit der Menschen. Verblüffenderweise war es ausgerechnet Eveline Holbrook, die Valerie Widerworte entgegenbrachte.
»Was ist mit der Jeanne d’Arc?«, fragte das neueste Mitglied des Rates.
»Was soll mit ihr sein?« Valerie blinzelte verwirrt.
Die Direktorin Amerikas reckte das Kinn. »Bevor wir einen neuen Krieg riskieren, sollten wir nicht erst diese Daten verifizieren, und falls sie zutreffen …«
»Dann was?«, unterbrach die Generaldirektorin sie unwirsch. Valerie Bogdanow beugte sich kampflustig vor. »Was passiert denn, wenn die breite Öffentlichkeit davon erfährt, was unsere Teleskope gefunden haben? Was glauben Sie?«
Die Aggressivität der Generaldirektorin ließ Eveline erneut in sich zusammenschrumpfen.
»Ich sage Ihnen, was passiert: Wir würden die Kontrolle verlieren. Das werde ich keinesfalls gestatten. Die Angelegenheit beinhaltet das Potenzial, die Föderation in ihren Grundfesten zu erschüttern. Unsere Nation könnte sogar daran zerbrechen.« Sie schüttelte vehement den Kopf. »Nein, meine Gute. Ich habe dafür gesorgt, dass die Besatzung der Jeanne d’Arc isoliert wird. Die Menschen der Föderation werden erst erfahren, was sich dort draußen befindet, wenn ich … wenn wir es erlauben. Keine Sekunde vorher. Und bevor es so weit ist, müssen wir vollends die Herrschaft über die Kolonien ausüben. Erst dann treten wir mit unseren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit.«
»Aber was ist mit der Besatzung des Erkundungsschiffes?«, fragte die japanische Direktorin. »Sie können sie nicht ewig isolieren.«
»Das muss ich auch nicht. Mit denen wird entsprechend verfahren.«
Niemand hakte nach, was das zu bedeuten hatte. Es war ihnen ohnehin völlig klar. Sie wollten es auch gar nicht genauer wissen.
»Außerdem wird es keinen neuen Krieg geben«, versicherte die Generaldirektorin. »Mein Plan wird genau das verhindern. Die Okkupation wird abgeschlossen, bevor den Kolonialen bewusst wird, was vor sich geht. Das Ganze wird mit einem Minimum an Opfern auf beiden Seiten ablaufen. Vertrauen Sie mir!«
»Das klingt viel zu einfach«, hielt Holbrook dagegen.
»Sie können davon halten, was Sie wollen, aber es gibt keinen anderen Weg, um die Einheit der Föderation zu gewährleisten.« Die Generaldirektorin sah jedem der Anwesenden in die Augen. Die meisten wandten den Blick ab, wagten es nicht, der mächtigen Politikerin die Stirn zu bieten. »Sie alle haben die Ausführungen meines Planes gelesen. Ich bitte lediglich um Ihre Zustimmung, fortfahren zu dürfen.« Bogdanow war sich ziemlich sicher, wie die Unterredung enden würde. Die meisten ihrer Mit-Direktoren hatte sie in der Tasche – und alle wussten es. Aber einen gewissen Unsicherheitsfaktor gab es bei solchen Dingen immer.
»Und jetzt kommen wir zur Abstimmung«, verlangte Valerie Bogdanow. »Wer ist dafür, dass ich meinen Plan die Kolonien betreffend vorantreibe?« Sie hob die Hand. Nacheinander hoben sich alle Hände bis auf zwei. Die Eveline Holbrooks und Jürgen Metzgers. Sie verzog die Gesichtszüge. Das würde sie nicht vergessen.
»Ausgezeichnet, der Antrag ist angenommen«, beschied sie und musterte die zwei Abweichler mit festem Blick. Ja, in der Tat, das würde sie sich gut merken.
Nur wenige Kilometer entfernt in einem kleinen Büro in einem unscheinbaren Gebäude kappte Henry Bloomberg die Verbindung zu der in dem Besprechungsraum angebrachten Wanze und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Der in die Föderation entsandte Botschafter der Kolonien war sich seiner Rolle in dieser Tragikomödie wohl bewusst. Offiziell diente er in der Föderationshauptstadt Casablanca, um die Interessen der kolonialen Bürger innerhalb der Regierung der Terranisch-Stellaren Föderation zu wahren.
Inoffiziell aber wusste er, was für ein grandioser Witz das Ganze war. Er stellte lediglich den Alibi-Kolonialen dar, der sprechen durfte, wenn es sich um Belangloses handelte, aber der in Wahrheit bei den wichtigen Themen gefälligst das Maul zu halten und alle Entscheidungen der Regierung gehorsam abzunicken hatten.
Der vorliegende Fall stellte ein gutes Beispiel dar. Bei derart wichtigen Themen wie der Zukunft der Kolonien oder deren Verhältnis zu den Kernsystemen lud man ihn gar nicht erst ein.
Aus diesem Grund hatte er auch eine Wanze im Raum angebracht. Gerade die Themen, die in seiner Abwesenheit erörtert wurden, waren für den Botschafter von hohem Interesse.
Bloomberg beugte sich vor und spielte das aufgezeichnete Gespräch noch einmal ab. Er streichelte sich hin und wieder nachdenklich über das glatt rasierte Kinn, während er die Besprechung Revue passieren ließ.
Nachdem die Aufzeichnung geendet hatte, knirschte der Mann verhalten mit den Zähnen. Weder Bogdanow noch einer ihrer politischen Schergen hatte erwähnt, worum es sich bei dem ominösen Plan, von dem die machthungrige Frau sprach, handelte. So dumm waren seine Gegenspieler leider nicht.
Die Direktoren waren von einer Paranoia beseelt, die nicht ganz unbegründet war. Daher wurden solche Dinge über ihre Bildschirme erörtert und nicht untereinander besprochen.
Der Botschafter seufzte. Es war schwer genug gewesen, die Wanze anzubringen. Trotz aller Versuche war es ihm nicht gelungen, einen Trojaner in das IT-System des Besprechungsraums einzuschleusen, wodurch er in die Lage versetzt worden wäre, auch die schriftlichen Aufzeichnungen einzusehen.
Er zuckte die Achseln. Sei’s drum. Was er zu hören bekommen hatte, war schlimm genug und besorgte ihn über alle Maßen. Der Botschafter beugte sich vor und drückte einen Knopf auf der Tischplatte.
»Ingrid? Ich lasse bitten.«
Bloomberg hatte noch nicht ausgesprochen, da ging die Tür auf und ein hochgewachsener Mann mit fein geschnittenen Gesichtszügen gekleidet in einen einfachen, dunklen Anzug betrat den Raum.