Terrorziel Wasser - Erich Schöndorf - E-Book

Terrorziel Wasser E-Book

Erich Schöndorf

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Beschreibung

Steht die Menschheit unmittelbar vor einer Phase des Öko- oder High-Tech-Terrorismus? Diese Problematik behandelt Autor Erich Schöndorf im Zentrum seines Thrillers "Terrorziel: Wasser": "Eine Gruppe von Frankfurter Studenten plant einen gigantischen Terroranschlag, der den 11.9. (September) in den Schatten stellen soll: Das Trinkwassersystem von Las Vegas, Symbol der Dekadenz des Westens, soll mit einem im High-Tech-Labor gezüchteten, absolut tödlichen Virus vergiftet werden. Kommissar René Gronewald von der Frankfurter Kripo kommt ihnen auf die Spur. Er schaltet Detective Robert Vasco von der Las Vegas Police in die Ermittlungen ein. Vasco soll die Studenten am Visitors Day am Trinkwasserbassin auf frischer Tat ertappen und verhaften. Doch Vasco ist Indianer und als solcher hat er noch eine Rechnung offen ... Der Öko-Thriller Terrorziel Wasser zeigt, was der Menschheit blühen könnte, wenn sich Terroristen nicht mehr Sprengstoffgürteln oder Autobomben bedienen, sondern das Verderben aus dem High-Tech-Labor über die Menschen kommen würde. Eine erfundene Geschichte, doch ein beängstigend realistisches Szenario."

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nomen

Erich Schöndorf

Terrorziel Wasser

Öko-Thriller

nomen

Alle Personen und Namen sowie die Handlung

sind frei erfunden.

Umschlaggestaltung:

Blazek Grafik, Frankfurt am Main

© Nomen Verlag, Frankfurt am Main, 2016

Alle Rechte vorbehalten.

www.nomen-verlag.de

ISBN 978-3-939816-37-9eISBN 978-3-939816-36-2

Saskatchewan, Kanada, Mai

Richard Schorra drückt den roten Knopf am Display und gibt noch einmal kurz Gas. Dann heben vierhundert PS das achtgliedrige Schaufelwerk seines John-Deere-Schleppers spielerisch in die Höhe. Es ist noch zu früh zum Pflügen. Nach dem langen und strengen Winter steckt zu viel Feuchtigkeit im Boden. Was er jetzt umpflügt, wird zu einer steinharten Masse abtrocknen, die sich jeder weiteren Bearbeitung entzieht. Der Farmer stellt die Maschine in den Schuppen, der verloren in der ausgeräumten Landschaft steht, und steigt in seinen Pickup. Zuhause kann er an den Fensterläden weiterstreichen oder mit dem kleinen Marc, seinem jüngsten Enkel, Schulaufgaben machen. Rund um die Uhr ist immer etwas zu tun, und Richard Schorra ist glücklich dabei.

Auf einer kleinen Anhöhe hält er auch an diesem Tag wieder an und blickt zufrieden über die achthundert Hektar seines Besitzes im Südwestzipfel von Saskatchewan, der zweitgrößten Provinz Kanadas. Graues, wellenförmiges Land soweit das Auge reicht. Ein paar wenige Gebüschgruppen versuchen dem Auge Orientierung zu geben. Am Horizont glänzen die schneebedeckten Gipfel der Selkirk Mountains in der Mittagssonne. In sechs oder sieben Wochen wird es hier freundlicher aussehen. Dann hat der blühende Raps das Land, sein Land, in ein Meer voller gelber Blüten verwandelt, hat Millionen von Insekten angelockt, deren Flügelschläge die Luft erzittern lassen und hat einen frischen, beschwingten Duft über die Felder gelegt.

Die Delgado-Farm ist sein Leben. Er hat sie von seinen Eltern geerbt, die Mitte der dreißiger Jahre von Deutschland hierhergezogen waren, nicht aus wirtschaftlicher Not oder Abenteuerlust, sondern aus Angst vor dem, was sie auf ihre alte Heimat zukommen sahen. In einigen Jahren wird sein ältester Sohn Herb die Farm übernehmen. Ihm hat er die Begeisterung für die Landwirtschaft vererbt, weniger dessen jüngerem Bruder Ron, der früh schon die akademische Richtung eingeschlagen und Rechtswissenschaften studiert hatte.

Gemütlich fährt er weiter zur Farm, vorbei an grauen Stoppelfeldern. Seine Eltern haben das Land der unwirtlichen Prärie abgerungen, für die kein anderer einen Cent bezahlt hätte. Richard hat dann begonnen, den Raps zu veredeln, hat das Saatgut von Hand ausgelesen, nur die Schoten der kräftigsten und gesündesten Pflanzen genommen und die Körner noch einmal durch ein Sieb getrennt. Jetzt erntet er annähernd zwei Tonnen der Ölsaat pro Hektar, ein Spitzenwert.

Der Besuch, der sich für den späten Nachmittag angesagt hat, passt ihm nicht. Die drei Vertreter von CincinnatiSeed, der Nummer eins unter den Agromultis weltweit, wollen ihn für die Gentechnik begeistern, aber da weiß er bereits jetzt, dass ihnen das nicht gelingen wird. Sie haben immer wieder angerufen, Informationsmaterial geschickt, und weil Richard Schorra ein höflicher Mensch ist, hat er sie schließlich zu sich nach Hause eingeladen.

Pünktlich um sechzehn Uhr fährt der silbergraue Pontiac Montana auf den Hof der Farm. Die drei Männer mögen zwischen Anfang und Ende vierzig sein, sind gut gekleidet, vielleicht ein bisschen zu gut für die ländliche Umgebung, und tragen schwarze Aktentaschen bei sich.

„Wir können uns vorstellen“, sagt Albert Hopkins, der Verkaufsleiter des Konzerns für die südlichen Distrikte Saskatchewans, „dass ihre Skepsis gegenüber der Gentechnik mit Ihrer Herkunft zu tun hat. Im alten Europa hat man ja immer noch erhebliche Probleme damit.“

„Kann gut sein“, erwidert der Farmer, während er seinen Gästen Kaffee einschenkt, „aber Europa hat gute Gründe für seine Haltung.“

„Amerika hat bessere für seinen Standpunkt“, trumpft Albert Hopkins auf, aber er tut das auf eine sehr sympathische Weise. „Wir sind heute allerdings nicht gekommen um Glaubenskriege zu führen. Wir wollen Ihnen ein Angebot machen. Und ein paar Worte zur Erläuterung sagen.“

Ein Begleiter öffnet die Aktentasche.

„Keine Angst“, beruhigt der Verkaufsleiter seinen Gastgeber, „ich will Sie nicht mit Werbematerial zuschütten. Nur eine einzige Seite mit den Vorzügen unseres Produkts.“

Der Begleiter legt ein bunt bedrucktes Blatt auf den Tisch.

„Zehn Punkte, die Sie überzeugen – oder auch nicht. Unser gentechnisch optimierter Raps macht nur Sinn in Verbindung mit unserem Herbizid Clean Over. Beide sind aufeinander abgestimmt. Clean Over schadet unserem Raps nämlich nicht, überhaupt nicht. Aber Clean Over vernichtet alle anderen Pflanzen, sprich Unkräuter, auf Ihrem Acker. Und es tut dies unabhängig vom Entwicklungsstand des Unkrauts. Das ist der entscheidende Punkt. Wie oft passiert es denn, dass Sie wegen schlechten Wetters zwei Wochen lang mit Ihren Maschinen nicht auf den Acker können! Danach ist es für eine Spritzung mit herkömmlichen Herbiziden zu spät, weil beispielsweise die Vogelmiere ein Stadium erreicht hat, in dem das alte Mittel nicht mehr wirkt. Das Ergebnis ist ein total verunkrauteter Acker. Die Ernte können Sie vergessen!“ Dann mustert er seinen Gastgeber mit einem strengen Blick. „Wissen Sie, wie hoch unsere unkrautbedingten Ernteausfälle beispielsweise vor zehn Jahren waren, als es unser Produkt noch nicht gab? – Vierhunderttausend Tonnen allein in Kanada!“

Schließlich noch das Paradeargument der Gentechnik: Sie allein ist in der Lage, den Hunger in der Welt zu besiegen. Und daher gehört dieser Technologie die Zukunft. Ganz zum Schluss ein Schnäppchen der besonderen Art: „Als Neukunde“, sagt Albert Hopkins feierlich, „gewähren wir Ihnen auf das Herbizid einen Preisnachlass von fünfzehn Prozent – in den ersten drei Jahren!“ Was er nicht sagt: Dass CincinnatiSeed die Anwendungsempfehlungen so abgefasst hat, dass die Farmer auf den Genraps gut zehn Prozent mehr Herbizide spritzen müssen als auf normale Rapssorten.

Die drei Männer, die am frühen Abend die Farm verlassen, haben das untrügliche Gefühl, dass sie auf diesem Weg nicht zum Ziel kommen.

Die Firma hat den großen Konferenzraum im Saskatoon Star gemietet.Die siebzehnNiederlassungsleiter, die um den ovalen Tisch Platz genommen haben, warten ungeduldig auf den Boss.Als der schließlich durch die Tür kommt und mit leichten, federnden Schritten zu seinem Platz am Kopfende des Tisches eilt, brandet Beifall auf, denn alle wissen, dass er gute Nachrichten im Gepäck hat.

„Ich bin kein Freund langer Worte“, sagt John Wershley, nachdem er seine Gäste persönlich begrüßt hat, „daher mache ich es entsprechend kurz. CincinnatiSeed hat weltweit wieder kräftig zugelegt. Im Vergleich der einzelnen Länder nimmt Kanada eine Spitzenstellung ein. In der Gentechnik-Sparte gibt es zweistellige Zuwachsraten. Die Farmer beißen überall an.“

Während er spricht, wirft ein Beamer die Zahlen des wirtschaftlichen Erfolges auf eine Leinwand.

„Das hat entscheidend damit zu tun, dass wir diese Menschen überzeugen konnten. Vor allem beim Raps, der in der Vergangenheit ein paar Probleme gemacht hat, ist uns das jetzt gelungen. Im gesamten vergangenen Geschäftsjahr gab es diesbezüglich keine einzige Reklamation mehr.“ Die Säulen auf der Leinwand werden von links nach rechts immer kleiner und über der letzten Jahreszahl ist keine mehr zu sehen.

„Aber nicht nur, dass unsere Wissenschaftler die Verträglichkeit des Clean Over gegenüber den Nutzpflanzen verbessert haben. Vergangene Woche ist ihnen in den Labors in Cincinnati etwas gelungen, was ich als Quantensprung in der Biotechnologie bezeichnen möchte.“ John Wershley hält in stillem Triumph ein Blatt Papier in die Höhe. „Die Nachricht ist drei Tage alt und auch firmenintern noch topsecret, und ich darf auch Sie bitten, damit vertraulich umzugehen, denn die Mutter in den Vereinigten Staaten spielt mit dem Gedanken, diese Information zunächst im Kleingedruckten zu verstecken.“

Der Chef von CincinnatiSeed Kanada legt das Fax zurück auf den Tisch und mustert alle Anwesenden nacheinander über den Rand seiner Lesebrille. „Wir haben einen Genraps entwickelt, dessen Samen nicht keimfähig ist.“

Einen kurzen Augenblick ist es still im Konferenzzimmer, dann klopfen die Niederlassungsleiter begeistert auf den Tisch.

„Eine Sekunde noch!“ John Wershley hebt befehlend die Hände. „Damit das nicht falsch verstanden wird, außerhalb, meine ich: Es kann nicht richtig sein, dass manche Farmer ein einziges Mal unser Produkt kaufen und dann nicht mehr, weil sie einen Teil ihrer Ernte für die Neuaussaat abzweigen oder damit noch Geschäfte machen. Obwohl wir das vertraglich ausgeschlossen haben, ist das in der Vergangenheit regelmäßig geschehen. Damit ist jetzt Schluss. Die Farmer, die unseren Raps anbauen, müssen jedes Jahr ihr Saatgut bei uns neu kaufen. Wir brauchen also die Früchte unserer teuren Forschungsarbeit nicht mehr mit Leuten zu teilen, die keinen Anspruch darauf haben.“

Die Niederlassungsleiter greifen euphorisch zu den Colaund Saftflaschen, die in immer gleichem Arrangement auf dem Tisch aufgebaut sind. Als versierte Kaufleute haben sie längst die Vorteile der Neuentwicklung hochgerechnet. Um mehr als fünfzehn Prozent werden ihre Profite steigen. Einige wenige Landwirte werden abspringen und die Verträge am Ende der Laufzeit nicht verlängern. Aber das wird nicht ins Gewicht fallen. Die meisten ihrer Kunden haben sich in der Gentechnik eingerichtet und genießen deren Vorteile, ohne die Nachteile zu registrieren. Sie werden es hinnehmen, dass sie bei der Aussaat nicht mehr schummeln können. Die Neuen wird man nach altbewährtem Muster ködern und ihnen das Saatgut oder das Herbizid am Anfang billiger abgeben. Es steht gut um CincinnatiSeed Kanada. Nur an der Grenze zwischen Saskatchewan und Alberta gibt es ein kleines Problem.

Am Ende des offiziellen Teils der Veranstaltung nimmt der Boss ganz diskret Albert Hopkins und seinen Vertreter zur Seite.

„Im Westen noch immer nichts Neues?“

Der Niederlassungsleiter von Saskatchewan Süd schüttelt den Kopf. „Es ist wie verhext. Die zwei Dutzend Farmer jenseits des Karibu River stellen sich stur. Treibende Kraft ist offenbar Richard Schorra, er bewirtschaftet den größten Hof in der Gegend.“

„Was haben Sie bisher unternommen?“

„Letzte Woche waren wir bei ihm zuhause. Nichts zu machen, trotz Rabattzusagen. Seit zwei Jahren beliefert er zu allem Unglück noch einen Bioproduzenten in Frankreich, der auf gentechnikfreie Rohstoffe Wert legt.“

„Das ist schlecht“, erwidert John Wershley und runzelt nachdenklich die Stirn. „Richard Schorra ist das Tor zu den Nordprovinzen, wo noch einige Schätze zu heben sind. Wir müssen ihn knacken.“

„Das ist leicht gesagt.“

„Aber wir dürfen uns von ihm nicht aufhalten lassen – Stufe zwei?“

Albert Hopkins nickt, erst verhalten, schließlich heftig. „Er hat es schließlich in der Hand. Wir sind ihm weit entgegengekommen, sehr weit!“

„Habe ich das richtig in Erinnerung: Richards Farm wird im Süden von einer flachen Hügelkette begrenzt“

„Paloma Hills. Bob Murray hat sie unter dem Pflug.“

„Auch Raps?“

„In der ganzen Gegend wächst nichts anderes. Murray ist ein ewiger Verlierer. Er steht immer kurz vor der Pleite. Was allerdings nachvollziehbar ist. Das Gelände ist einfach schwierig. Schmal und hoch gelegen, immer dem Wind ausgesetzt, zieht es sich fast fünf Meilen an Richards Feldern entlang. Wir haben ihn nie angesprochen. Er ist viel zu unsicher.“

„Aber jetzt ist er vielleicht wichtig für uns. Kaufen Sie ihn!“

Hopkins schaut seinen Chef fragend an.

„Ja, Sie haben richtig verstanden. Schenken Sie ihm unser Saatgut und das Clean Over dazu. Oder schwatzen sie ihm meinetwegen die ganze Farm ab und setzen Sie einen von uns drauf. Nur sorgen Sie dafür, dass dort noch in diesem Jahr unser Produkt wächst.“

Die kalten Winde aus der Arktis haben sich in diesem Jahr früh auf den Weg gemacht. Für die kommenden Tage hat der Wetterbericht einen Temperatursturz von zwanzig Grad Celsius vorhergesagt. Richard Schorra ist froh, dass er die Ernte schon eingebracht hat. Über 1.400 Tonnen Raps weist der Wiegeschein der Ölsaatenbörse in Swift Current aus, hundert Tonnen mehr als im Vorjahr. Das ist allerdings nicht der einzige Grund für seinen Rekordgewinn. Vilmont, ein französischer Hersteller gentechnikfreier und schonend erzeugter Nahrungsmittel, hat sechzig Tonnen der Ernte übernommen, für einen weit überdurchschnittlichen Preis.

In diesem Winter hat sich die Familie viel vorgenommen. Neben der obligatorischen Wartung des Maschinenparks und den Reparaturarbeiten am Haus will Richard Schorra eine Familienchronik erstellen und die Züchtungserfolge der vergangenen Jahre dokumentieren. Und selbstverständlich freuen sich die Schorras auf den Besuch ihrer Kinder und die langen Abende am Kamin bei deutschem Bier und einem Obstbrand vom Bodensee, der Heimat der Eltern.

Martha Schorra deckt den Tisch, als das Faxgerät anspringt. Während sie das Papier von der Rolle reißt, erkennt sie den Briefkopf ihres französischen Abnehmers.

„Vilmont schreibt uns“, ruft sie ihrem Mann zu, der sich gerade die Hände abtrocknet. Richard Schorra nimmt das Fax entgegen und liest es im Stehen.

„Das kann doch nicht wahr sein!“ Er lässt das Blatt sinken und schaut seine Frau entgeistert an. „Der Raps sei nicht sauber. Er enthalte zehn Prozent gentechnisch veränderte Samen.“

Martha Schorra überfliegt jetzt selbst das Schreiben.

„Das ist ein Messfehler!“

„Sie haben fünf Proben gezogen und alle haben diesen Wert ergeben!“

Mit dunklen Ahnungen im Kopf geht der Farmer zum Telefon. Er erreicht seinen Sohn in dessen Anwaltspraxis in Rosetown.

„Du hast doch sicher Rückstellproben auf der Farm?“

„Was heißt Rückstellproben? Meine Saat für das kommende Jahr!“

„Bring’ ein Kilo rüber ins Institut der Lebensmittelüberwachung. Ich rede mit Dr. Warrington, er soll die Untersuchung vorziehen. Sobald das Ergebnis vorliegt, komme ich auf die Farm.“

Das Ergebnis, das der junge Anwalt seinen Eltern am nächsten Tag aus der Stadt mitbringt, ist für diese eine Katastrophe. Es deckt sich mit dem Resultat der französischen Expertise. Ein Zehntel der diesjährigen Ernte besteht aus gentechnisch verändertem Material.

„Ich verstehe das einfach nicht“, sagt Richard Schorra beschwörend, „die Aussaat bestand zu einhundert Prozent aus der Ernte des Vorjahres und alle meine Nachbarn arbeiten gentechnikfrei.“

„Bist du sicher?“

Richard Schorra stutzt. „Bob Murray“, zischt er und geht zum Telefon, wo er die Nummer der Farm auf den Hügeln wählt.

„Bob“, sagt der Farmer mit zitternder Stimme, „bist du mir nicht eine Erklärung schuldig?“

„Wieso sollte ich?“, braust sein Nachbar augenblicklich auf.

„Bleib ganz ruhig, Bob und denke über meine Frage nach.“

„Richard“, kommt es drohend zurück, „ich sage dir jetzt etwas und darüber denkst du mal nach. Sie haben mir ein gutes Angebot gemacht und ich habe es angenommen, kapiert? Solange ich hier oben sitze, geht es mir schlecht. Hat mir irgendwann irgendjemand geholfen? Hast du mir geholfen, Richard?“

„Sie haben dir ein gutes Angebot gemacht – was heißt das?“

„Das spinnst du dir gefälligst selbst zusammen, denn ich darf es dir nicht sagen. Sonst bin ich wieder der kleine Arsch, der ich lange genug war.“ Dann legt Bob Murray auf.

„Keine Frage, wie das gelaufen ist“, sagt Richard Schorra, als er sich blass und eingefallen in seinen Sessel setzt. „Cincinnati-Seed hat Bob auf Genraps umgerüstet und seine Pollen und Samen haben mein Land verseucht.“

„Meinst du, es steckt System dahinter?“

„Was denn sonst“, lacht der Farmer gequält. „Gibt es einen anderen Grund für sie, dieser kleinen Nummer aus der Patsche zu helfen, als mich fertig zu machen?“

„Was hast du jetzt vor?“

„Schön, mein Junge, dass du mich das in dieser Situation fragst“, antwortet der Farmer halb wütend und halb verzweifelt. „Genau das wollte ich von dir wissen. Das erste Mal einen Rat vom eigenen Sohn, dessen Jurastudium man komplett finanziert hat.“

Als Martha und Richard am nächsten Morgen zum Frühstück in die Küche kommen, hat Ron gerade mit Vilmont telefoniert.

„Ein unbekannter Anrufer soll auf die Notwendigkeit einer Beprobung unseres Rapses hingewiesen haben.“

„Ein unbekannter Anrufer“, grummelt Richard. „So unbekannt ist der bestimmt nicht.“

„Vilmont sagt aber auch, dass sie unsere Ware unabhängig von dem Anruf überprüft hätten. Gentechnikfrei sei in Europa ein Muss.“

Das Telefon klingelt. Ron nimmt den Hörer ab.

„Einen Augenblick bitte – Vater, ein Mr. Hopkins.“

Richard Schorra übernimmt den Hörer und hält die Sprechmuschel zu. Dann drückt er die Raumklangtaste. „Gut zuhören, was sie uns jetzt erzählen. Hopkins ist der für uns zuständige Verkaufsleiter von CincinnatiSeed.“ Er gibt die Muschel frei.

„Bitte?“

„Hallo, Mr. Schorra, Albert Hopkins am Apparat, Ihr Mann von CincinnatiSeed. Wir durften Sie im Frühjahr besuchen.“

„Ich erinnere mich“, erwidert Richard Schorra abweisend. „Um was geht es?“

„Nun, hier erzählt man sich, dass Sie ziemlich Pech hatten.“

„Und weiter?“

„Sechzig Tonnen sind eine Menge Zeugs. Und die Geschäftsbeziehungen nach Frankreich dürften sich damit, drücken wir es mal vorsichtig aus, nicht verbessert haben.“

„Ist das alles, was Sie mir sagen wollen?“

Albert Hopkins macht eine kleine Pause. „Irgendwie haben Sie Recht, wenn Sie mich jetzt nicht so ganz freundlich behandeln. Was ich Ihnen sage, das wissen Sie alles schon selbst. Auch dass Ihr ursprüngliches Saatgut ruiniert ist.“

„Das kann man reinigen“, lacht der Farmer unsicher in die Muschel.

„Mag sein“, erwidert der Mann von CincinnatiSeed freundlich, „aber das ist eine sehr theoretische Möglichkeit, wie Sie mir zugeben müssen. Was Sie vielleicht noch nicht wissen: Unser Angebot steht immer noch. Und wir können es heute sogar noch ergänzen. Wenn Sie unterschreiben, übernehmen wir die Vilmont-Tranche – zum vereinbarten Preis. Ich will von Ihnen jetzt gar keine Antwort haben. Schauen sie noch mal in die Unterlagen, die wir Ihnen geschickt haben, und denken Sie in aller Ruhe über unseren Vorschlag nach. Ich melde mich wieder bei Ihnen, sagen wir, morgen Abend?“

„Nachgeben?“ Richard Schorra schüttelt fest entschlossen den Kopf. „Nachgeben heißt aufgeben. Das kommt für mich nicht in Frage.“

„Es spricht einiges für deine Haltung“, sagt Ron. „Ich habe mir vergangene Nacht die Verträge angesehen.“ Der Anwalt nimmt einen Stapel Papier vom Tisch und hält ihn hoch. „Wenn du unterschreibst, kaufst du nicht nur ihren Raps, sondern auch ihr Clean Over.“

„Ist mir bekannt“, wirft der Farmer ein.

„Und macht ja auch Sinn. Allerdings, der Rest ist glatte Willkür. Du darfst nämlich von deiner Ernte nichts mehr abzweigen, um es im nächsten Jahr als Saatgut zu verwenden. Im Vertrag ist ein Nachbauverbot festgeschrieben. Zudem hat der Vertrag eine Laufzeit von zehn Jahren. Solange musst du ihr Saatgut und ihr Spritzmittel kaufen – jedes Jahr neu. Und dann gibt es noch eine interessante Information, die bezeichnenderweise im Anhang des Vertrages untergebracht ist.“ Ron bittet seine Eltern, die die ganze Zeit über nervös im Zimmer auf und ab gegangen sind, an den Tisch.

„Hier!“ Er deutet auf einen kurzen Passus, den er rot gekennzeichnet hat. „Im Kleingedruckten vom Kleingedruckten erfährst du, dass sie im Hinblick auf das Nachbauverbot vorgesorgt haben. Du kannst deine Ernte gar nicht mehr neu aussäen. Sie ist nicht mehr keimfähig!“

„Sie haben den Raps sterilisiert?“

„Über eine zweite Manipulation am Erbgut. Ein fremdes Gen verhindert, dass die Körner keimen.“

Auf Richard Schorras Stirn stehen dicke Schweißperlen. „Mein Gott“, stößt er aufgeregt hervor, „sie wollen die Kontrolle über das Saatgut. Jeder weiß, wer die Kontrolle über das Saatgut hat, hat die Kontrolle über die Nahrungsmittel. Und wer die Kontrolle über die Nahrungsmittel hat, der hat die Kontrolle über das Land.“

Der Farmer ist wieder aufgestanden und zum Fenster gegangen. Sein Blick schweift über seine kahlen Äcker. Als er sich umdreht, zittern seine Wangenknochen

„Meine Eltern haben seinerzeit Deutschland verlassen, um in einem neuen Land ihre Freiheit wiederzufinden; und jetzt verlieren sie sie wieder – an CincinnatiSeed!“

Ron Schorra fingert ein weiteres Blatt aus dem Stapel. „Um die Sache komplett zu machen: CincinnatiSeed schreibt, dass Clean Over gesundheitlich völlig unbedenklich sei. Ein Wissenschaftler wird mit dem Satz zitiert, man könne es sogar trinken. Im Internet habe ich heute Nacht aber eine andere Wahrheit gefunden. Das Mittel wird für jede dritte Berufskrankheit unter den kalifornischen Farmern verantwortlich gemacht.“

„Es ist alles gesagt“, resümiert Richard Schorra mit versteinertem Gesicht. „Ich hoffe, Du sorgst dafür, dass unser Fall vorgezogen wird.“

„Bitte, Herr Rechtsanwalt! Sie sind der Kläger und haben das Wort.“

Richter Ted Morgan wirkt müde und desinteressiert.

„Herr Vorsitzender“, sagt Ron Schorra, „wir verlangen von dem Unternehmen CincinnatiSeed Kanada Schadenersatz wegen Umweltverseuchung und Saatgutzerstörung. Der Kläger, Richard Schorra, baut auf achthundert Hektar Raps aus eigener Züchtung an. Die Ernte dieses Jahres war zu zehn Prozent mit genverändertem Raps der Beklagten verunreinigt. Wir wissen nicht, wie der Raps der Beklagten auf das Feld meines Vaters kam. Das ist auch nicht von Belang. Entscheidend ist vielmehr, dass meine Mandantschaft ihren verunreinigten Raps weit unter Wert verkaufen musste und ihr kein einwandfreies Saatgut mehr zur Verfügung steht.“

„Was trägt der Beklagten-Vertreter vor?“

CincinnatiSeed Kanada hat gut vorgesorgt. Hugh Miller, der Chef der Rechtsabteilung, ist höchstpersönlich erschienen und hat noch zwei Junganwälte mitgebracht. Der Boss ergreift das Wort.

„Hohes Gericht, meine Mandantschaft fühlt sich in der Rolle des Beklagten nicht wohl und erhebt Gegenklage. Auch wir verlangen Schadenersatz und zwar wegen des unerlaubten Anbaus unseres patentgeschützten Rapses durch den Kläger.“

„Herr Schorra?“ Der Blick des Richters schwenkt genervt zum Nachbartisch, wo der junge Anwalt einen Moment um Haltung ringt. Damit hat er nicht gerechnet. CincinnatiSeed dreht den Spieß um.

„Von einem Anbau kann keine Rede sein“, erwidert er schließlich halbwegs gefasst. „Unser Vertragspartner in Frankreich hat eine Verunreinigung von zehn Prozent festgestellt und auch die Lebensmittel-Überwachung hat entsprechende Feststellungen getroffen. Genraps macht nur Sinn bei einem hundertprozentigen Anbau. Nur dann kann er mit Clean Over gespritzt werden, das den herkömmlichen Raps komplett abtöten würde. Der Genraps ist sicher nicht von meiner Mandantschaft ausgebracht worden, sondern wahrscheinlich vom Feld seines Nachbarn dorthin geweht worden.“

„Hohes Gericht, eine interessante Rechtsfrage, die der Klägervertreter hier aufgeworfen hat.“ Hugh Miller ist ein Fuchs und gut vorbereitet und er interveniert augenblicklich. „Leider aber schon höchstrichterlich entschieden. Ein Anbau setzt nicht voraus, dass der Farmer die Pflanzen vorsätzlich auf seinen Grund und Boden gebracht hat. Es reicht zum Beispiel, wenn die Samen vom Wind dorthin verfrachtet wurden. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, dass der Eigentümer des Landes dadurch einen wirtschaftlichen Vorteil errungen hat.“

„Sie beziehen sich auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in Montreal unter dem Aktenzeichen 212 UjS 4456/01?“

„Richtig, aber das ist nur eines unserer juristischen Standbeine. Bevor mein Kollege dem Gericht die entsprechenden Unterlagen vorlegen wird, erlaube ich mir noch ein paar Anmerkungen zur Gentechnik-Problematik im Allgemeinen.“

„Abgelehnt“, sagt Richter Morgan barsch. „Die Argumente sind bekannt. Sie wollen dem Gericht Unterlagen vorlegen?“

Einer der beiden Begleiter von Hugh Miller überreicht dem Richter ein Konvolut von Papieren.

„Ich darf den Inhalt kurz erläutern“, fährt der Boss unbeeindruckt fort. „Wir haben vom Acker des Klägers ebenfalls Proben genommen. Sie waren hochgradig, nämlich zu siebzig bis hundert Prozent, mit gentechnisch verändertem Raps – wie würde der Klägervertreter jetzt sagen – verunreinigt.Diese Werte schafft kein Wind.“

Auf CincinnatiSeeds zweiten Joker reagiert Ron Schorra schon gelassener.

„Hatten Sie von uns eine Erlaubnis, eine Probe zu nehmen?“

„Wissen Sie, dass man sich Beweismittel unter bestimmten Umständen auch ohne Zustimmung vom Betroffenen beschaffen kann?“

„Wer hat die Proben genommen?“

„Unsere Mitarbeiter aus dem Stammhaus in Saskatoon.“

„Wo wurden die Proben untersucht?“

„Im zentralen Labor der Firma in Cincinnati.“

„Nicht in einem unabhängigen Labor?“

„Bestreiten Sie die Qualität unserer Arbeit oder die Zuverlässigkeit unserer Wissenschaftler?“

„Ich stelle nur fest, dass die Proben, die der Beklagte als Beweismittel vorlegt, von ihm selbst genommen und untersucht wurden. Ich widerspreche ihrer Verwertung.“

Hugh Miller zeigt sich unbeeindruckt und zieht ein weiteres Ass aus dem Ärmel. „Zugegeben, auch das mag rechtlich nicht ganz koscher sein, aber die Verhältnisse haben meine Mandantschaft dazu gezwungen. Wenn wir den Verdacht haben, dass ein Farmer unerlaubt unseren Genraps anbaut, spritzen wir vom Hubschrauber aus ein kleines Areal, vielleicht hundert Quadratmeter, mit Clean Over. Eine Woche später überfliegen wir das Feld erneut. Wenn der Raps stehen geblieben ist, hat sich unser Verdacht bestätigt.“

„Sie haben also das Feld des Klägers auf diese Weise kontrolliert?“ Richter Morgan klopft nervös mit den Fingerkuppen auf das Pult.

„Das ist richtig.“

„Was haben Ihre Kontrollen ergeben?“

„Es waren keine Veränderungen feststellbar.“

„Herr Vorsitzender!“ Ron Schorra macht seiner Empörung Luft. „Angesichts dieser erneuten Eigentumsbeeinträchtigung meines Mandanten kündige ich eine Erhöhung der Klagesumme an. Darüber hinaus möchte ich sämtliche an den Kontrollen beteiligte Mitarbeiter von CincinnatiSeed als Zeugen hören.“

Richter Morgan zieht den Ärmel seiner Robe hoch, um auf die Uhr zu sehen. „Da steht uns ein langer Prozess ins Haus“, sagt er so, als ginge es ihn nichts an, „dessen Ausgang zudem ungewiss ist. Es sei denn, wir ziehen einen frühen Schlussstrich.“ Er macht eine kleine Pause, während er die Kontrahenten drohend ins Visier nimmt. „Klage und Widerklage werden zurückgenommen. CincinnatiSeed erstattet dem Kläger dessen Kosten. Überlegen Sie sich diesen Vorschlag. In einer Woche sehen wir uns an dieser Stelle wieder.“

Damit ist die Sitzung geschlossen.

„Darf ich Sie zu einem Schluck Kaffee in die Kantine einladen?“, fragt Hugh Miller seinen Gegner, als sie gemeinsam den Gerichtssaal verlassen, um augenzwinkernd hinzuzufügen: „Der Krieg ist doch vorbei, jedenfalls für heute.“

Wenig später sitzen sie sich in der Cafeteria gegenüber und der Krieg ist tatsächlich vorbei, für den einen allerdings mehr als für den anderen.

„Wie lange sind Sie schon im Geschäft, Mr. Schorra?“ Hugh Millers Stimme klingt sanft und fürsorglich und hat nichts mehr mit der professionellen Schärfe der vergangenen Stunden gemein. „Meine Frage bezieht sich keinesfalls auf Ihren Vortrag im Saal, im Gegenteil, Sie waren brillant, sondern auf Ihr jugendliches Aussehen. Man könnte meinen, Sie kommen gerade von der Uni.“

„Da liegen Sie gar nicht so verkehrt“, erwidert Ron Schorra, „vergangenen Monat haben wir in der Kanzlei mein Einjähriges gefeiert.“

„Sie haben in Edmonton studiert, wie ich hörte?“

Der Farmerssohn nickt knapp. „Zwischendurch war ich für ein Semester in Montreal.“

„Montreal!“ Der Mann von CincinnatiSeed erinnert sich und lächelt. „In Montreal habe ich mein gesamtes Studium absolviert – dreizehn Semester. Sagt Ihnen der Name Silverman etwas, Professor Howard Silverman?“ Augenblicke später winkt der Anwalt ab. „So ein Quatsch, das war lange vor Ihrer Zeit. Sie hatten andere Lehrer.“

Die Bedienung nimmt die Bestellungen auf.

„Für mich einen Pott Kaffee“, sagt Ron Schorra.

„Mir bringen Sie bitte einen Orangensaft und einen Hamburger.“ Hugh Miller entschuldigt sich sogleich bei seinem Gast. „Ich muss ständig eine Kleinigkeit essen ‒ Diabetes.“

Die Bedienung hat alles notiert und bedankt sich artig wie alle Bedienungen auf dem Kontinent.

„Montreal war bekannt für seine liberale Lehre, ist das immer noch so?“

„Oh ja!“ Ron Schorra nickt erneut, während er sich bemüht, die Absichten seines Gegenübers zu durchschauen.

„Mann Gottes!“ Hugh Millers Augen blicken in die Vergangenheit. „Als ich die Uni verlassen habe, wollte ich mich selbstständig machen, als Rechtsanwalt. Wollte den ewigen Verlierern zu ihrem Recht verhelfen. Es lief gerade eine Serie im Fernsehen, ‚Anwalt der Gerechtigkeit‛ oder so ähnlich, ein junger Advokat, ledig, im Wohnwagen zuhause, aber erfolgreich. Schwarze, Latinos, Wohnsitzlose – das waren seine Mandanten, die zwar nicht zahlen konnten, die er trotzdem immer wieder rauspaukte. In seine Fußstapfen wollte ich treten.“

„Sie haben sich anders entschieden. Darf man fragen, warum?“

Hugh Miller ist einen Augenblick lang unsicher und nachdenklich. Sein Blick wandert über den Fußboden und hangelt sich über die Gäste an der Bar zurück zu ihrem Tisch. „Drei Wochen nachdem unsere Examensnoten veröffentlicht worden waren, meldete sich CincinnatiSeed.“

„Sie hatten gut abgeschnitten?“

„Um ehrlich zu sein: sehr gut. Sie haben mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte.“

„Der Anwalt der Gerechtigkeit war damit ad acta gelegt?“

Die Bedienung serviert das Essen und den Kaffee und wünscht einen guten Appetit.

„Lassen Sie es mich so sagen: Hin und wieder klopft er noch einmal an. So wie heute. Als ich Sie reden hörte, da stand der Anwalt aus dem Wohnwagen plötzlich vor mir auf der Bühne. Der ich einmal sein wollte, der aber jetzt mein Gegner war. Wissen Sie, wie ich mich gefühlt habe?“ Hugh Miller schält das Besteck aus der Serviette. „Schäbig habe ich mich gefühlt, einfach schäbig. Meine Vergangenheit hatte mich eingeholt und machte mir heftige Vorhaltungen. Gerade hatte ich dem Gericht vorgetragen, dass Ihr Vater unsere Produkte unerlaubt anbaut.“

„Sie glauben nicht an diese Behauptung?“

„Meinen Sie, es kommt darauf an, was ich glaube?“

„Auf was sonst?“

„Auf das was das Unternehmen glaubt oder was es will.“

„Anwälte sind Rechtsverdreher!“

„Und erst die Firmenanwälte! Es sind Mutanten des Rechts, zuständig für die Legitimation der Raffgier.“

„Mr. Miller ist ein Teil dieser Institution?“

„Selbstverständlich – seit 30 Jahren. Heute ist mir das alles wieder einmal so richtig bewusstgeworden. Auch wie es dazu kam.“ Hugh Miller schiebt den Hamburger zur Seite. „Eine geschickte Verführung, würde ich sagen. Sie zahlen gut und du fängst an, dir etwas zu leisten. Du bietest deiner Familie allerlei Annehmlichkeiten und Luxus und willst diesen Lebensstandard nicht verlieren, sondern noch erhöhen. Das ist gar nicht schwer, du musst nur Leistung bringen, dafür sorgen, dass die Firma immer mehr Gewinn einfährt, dann machst auch du dein Schnäppchen. Mehr Geld bedeutet gleichzeitig mehr Ansehen, mehr Prestige, mehr Macht.“ Der Anwalt erlebt noch einmal die Faszination seines Irrwegs. „Die Dinge schaukeln sich gegenseitig hoch und irgendwann kannst du da nicht mehr raus. Du willst es ja auch gar nicht mehr. Wir reden in diesem Land viel von Drogen und meinen Kokain. Es gibt Schlimmeres, Mr. Schorra.“

Der Anwalt von CincinnatiSeed schaut traurig auf seinen Hamburger, der immer noch unangetastet auf dem Teller liegt.

„Begriffe wie Recht und Gerechtigkeit kommen in meinem Alltagsgeschäft doch gar nicht mehr vor. Bestenfalls spielen sie noch eine Nebenrolle. Wenn der Sierra-Club wieder einmal unserer Gentechnik die Rechnung aufgemacht hatte, griff CincinnatiSeed zu seinem Totschlagsargument. Gegen den Hunger in der Welt hilft nur die Gentechnik! Das klang überzeugend und hat uns junge Mitarbeiter bei der Stange gehalten.“

„Sie glauben das heute nicht mehr?“

Hugh Miller winkt ärgerlich ab. „Der Hunger interessiert sie doch gar nicht. Sie manipulieren die Pflanzen, um den Farmern ihre Herbizide und ihr Saatgut zu verkaufen. Es geht um den Profit, um sonst nichts. Sie persönlich können doch ein Lied davon singen.“

„Wenn man Sie so hört, könnte man meinen, Sie wollen gerade die Seiten wechseln“, bemerkt Ron Schorra eher belustigt.

„Warum sollte ich das tun?“

„Vielleicht um sich Ihren Traum vom Anwalt der Gerechtigkeit zu erfüllen?“

„Der Mann im Film war erfolgreich, derjenige, der ihn im richtigen Leben spielt, kann es nicht sein. Es waren nämlich nicht nur Geld und Macht, die mich bei der Firma gehalten haben, sondern flankierend auch die Überzeugung, dass da eine Sache am Laufen ist, die niemand mehr aufhält. Das Experiment, das wir unter dem Projektnamen Kapitalismus oder Globalisierung gestartet haben, mit dem technischen Fortschritt als Speerspitze, ist uns aus dem Ruder gelaufen. Es gehorcht einzig der Logik des Geldes und entzieht sich ansonsten jeder Kontrolle. Nehmen Sie nur das Öl. Wir alle wissen, dass eigentlich kein einziges Barrel mehr verbrannt werden dürfte. Aber glauben Sie ernsthaft, es wird damit Schluss gemacht, bevor der letzte Tropfen aus der Erde gepumpt worden ist?“

„Bei der Gentechnik könnte es sehr schnell eine böse Überraschung für Ihre Firma geben!“

„Aber Mr. Schorra! In der Gentechnik ist der Geist längst aus der Flasche und wird sich seinen Weg suchen. Vor fünf Jahren haben unsere Wissenschaftler in Cincinnati den Raps resistent gegen Clean Over gemacht, vor einem halben Jahr ist ihnen die Synthese eines Gens gelungen, das dem Raps seine Keimfähigkeit nimmt, und wissen Sie, woran sie zurzeit arbeiten?“ Hugh Miller senkt resigniert den Blick. „An einer Pflanze, die nur noch die Düngemittel unseres Unternehmens verträgt. Und das ist nicht das Ende, das ist erst der Anfang. Und für alle ihre neuen Produkte werden sich die Konzerne auch ihre Märkte schaffen.“

„Ich denke beispielsweise an die Absatzmärkte in Europa. Dort mag man keine Genprodukte.“

„Mal abgesehen davon, dass die Märkte der Zukunft woanders liegen: Rechnen Sie im Ernst damit, die Multis lassen sich ihre Milliardengeschäfte vom Verbraucher verderben? Sie haben nicht nur die Politik auf ihrer Seite, sie haben vor allem auch gute Ideen. Sie sind kreativ. Was, denken Sie, sagt der Europäer zum Genweizen aus Amerika, wenn sein heimischer Weizen einem Pilz zum Opfer fällt, der ganz zufällig aus einem Labor entwichen ist?“

„Vielleicht scheitert CincinnatiSeed ja an einem kleinen Provinzrichter namens Ted Morgan. Er ist ein aufrechter Mann.“

„Und ein weiser Mann“, beeilt sich Hugh Miller zu ergänzen, indem er die Augenbrauen hochzieht und heftig mit dem Kopf nickt, „bedenken Sie das bitte. Sie wissen doch so gut wie ich, dass sein Vergleichsvorschlag den Namen noch nicht einmal verdient hat. Im Klartext bedeutet er: aus für Schorra! Aber das war kein böser Wille von ihm, das war die Einsicht in das Unabänderliche in der Welt, von dem ich vorhin sprach.“

„Wir werden neue Untersuchungen durchführen lassen.“

„Und CincinnatiSeed wird einfach nur durch die Instanzen marschieren. So lange, bis Ihnen schwindlig wird, Mr. Schorra!“ Erstmals verliert die Stimme des alten Anwalts ihre Vertrautheit. „Es drängt sich mir der Verdacht auf, dass Sie nicht ganz frei von Naivität sind. Glauben Sie mir, der Geist ist aus der Flasche und hat sich auf den Weg gemacht. Reisende soll man nicht aufhalten und diesen Kandidaten kann man nicht aufhalten. Ihr Vater wird unterschreiben, und dann wächst auf seinem Land nur noch Genraps. Und er ist gut beraten, es zu tun, solange wir ihm noch günstige Angebote machen. In zehn Jahren wachsen sowieso in Nordamerika nur noch gentechnisch veränderte Nutzpflanzen. Und kurze Zeit später ist der Rest der Welt an der Reihe.“

„Dann haben die Bauern wieder den Status von Leibeigenen. Finden Sie das richtig?“

„Ihre Frage macht keinen Sinn! Es geht nicht um richtig oder falsch oder um gerecht oder ungerecht. Der Profit führt Regie, nur darum geht es.“

„Ich denke das jetzt einmal konsequent zu Ende: Nichts läuft ewig, alles läuft irgendwann einmal gegen die Wand.“

„Ich weiß, was Sie meinen, und damit haben Sie zweifellos Recht. Wenn Despoten zu mächtig werden und es auf die Spitze treiben, ist ihr Schicksal besiegelt. Revolution nennt man das. Die Nacht der langen Messer, und am nächsten Morgen ist alles anders – oder auch nicht. Als Deutschstämmiger kennen Sie sicherlich das Zitat von Brecht: Die Tröge sind dieselben geblieben, nur die Schweine haben gewechselt.“

„Sie halten verständlicherweise nicht viel von Revolutionen, aber zumindest waren sie eine Genugtuung für die Unterdrückten.“

Der junge Anwalt informiert am Abend telefonisch seinen Vater über die Verhandlung bei Richter Morgan. Er hält es für richtig, seinen Eltern reinen Wein einzuschenken. Mit seinem Vergleichsvorschlag hat der Richter deutlich gemacht, auf welcher Seite er steht. Diese Instanz ist wohl verloren, und im Hinblick auf die nächste steht nur fest, dass sie noch teurer werden wird. Bei einem abermaligen Verlust wäre die Farm nicht mehr zu halten. Andererseits steht das Lebenswerk der Familie auf dem Spiel. Richard ist ein Kämpfer, aber die Auseinandersetzungen der letzten Monate haben ihm arg zugesetzt. Er ist abgemagert, und manchmal glaubt man Spuren von Resignation in seinem Gesicht erkennen zu können. Ron macht sich Sorgen. Er hat seinen Besuch schon für den nächsten Tag angekündigt.

Die Haustür ist nicht abgeschlossen und im Wohnzimmer bellt der Hund. Sonst sitzen seine Eltern um diese Zeit in der Küche beim Mittagessen. Dort aber ist niemand, und als er ins Wohnzimmer tritt, kommt ihm der Hund winselnd entgegen. Ron eilt zum Schlafzimmer und klopft an die Tür. „Mum, Paps.“

„Er hat zuerst Ihre Mutter erschossen und dann sich selbst“, erläutert der Rechtsmediziner. „Wir haben einen Abschiedsbrief gefunden. Offensichtlich kein Fremdverschulden, sondern ein einverständlicher Doppelselbstmord, wie wir sagen.“

Frankfurt am Main, 2. Juni

Sie nennen den gewaltigen Komplex im Frankfurter Norden Pentagon, wohl wissend, dass das imposante Gebäude an der Miquelallee keine fünf, sondern nur vier Ecken hat. Die Stadt kann mit diesem Fauxpas leben, er ist nicht ihr einziger und nicht ihr schlimmster. Und es gibt zudem eine Begründung für diese numerische Fehlleistung. Auch das Polizeipräsidium der Mainmetropole will Macht demonstrieren, genauso wie die Zentrale der Militärs jenseits des Atlantiks, und so greift es denn auch auf die Symbolik der Wagenburg zurück, auf glatte, abweisende Fassaden und Angst machendes Grau. Da kommt es auf die Anzahl der Ecken nicht mehr so entscheidend an.

Über ein Jahr ist Kriminalhauptkommissar René Gronwald nicht mehr hier gewesen. Am Flughafen hat er seinen Dienst versehen, im Gebäude D des Frachtzentrums, das die Polizei angemietet hatte, hat tagein, tagaus die Mitarbeiter der Airlines und Bediensteten der Flughafengesellschaft ausgeklügelten Sicherheitschecks unterzogen, hat den Leuten von Al-Kaida, wie er hoffte, das Spiel verdorben und dabei den Traum vom Fliegen über schwierige Zeiten gerettet.

Am Anfang seiner Tätigkeit hatte er sich erfolgreich eingeredet, es an seinem neuen Platz gar nicht so schlecht getroffen zu haben. Aber je mehr die Kontrollen zur Routine geworden waren, wie auch das ewig lange Surfen in den Datenseen des MAD und die stereotypen Anfragen bei den ausländischen Sicherheitsdiensten, desto größer wurden seine Zweifel am Sinn der neuen Aufgabe. Bei der Zeitungslektüre und vor den abendlichen Fernsehnachrichten wurde ihm immer wieder schmerzlich bewusst, dass man diese Leute letztlich gar nicht aufhalten konnte. Die Terroristen, auf die er angesetzt war, hatten einen großen strategischen Vorteil. Sie waren nicht angewiesen auf Frankfurt, Köln oder Berlin. Wenn ihnen dort die Risiken zu groß wurden, weil die Kontrollen zu gut organisiert waren, dann gingen sie eben woanders hin. In der globalisierten Welt war der Feind überall. Die Manager-Schule in Mexiko City, das amerikanische Konsulat in Surinam, die Niederlassung des IWF in Genf – der Tisch war reich gedeckt und sie räumten ihn gnadenlos ab. Gerade hatte der Focus eine Statistik der Anschläge veröffentlicht. Terroristen bombten immer schneller, immer erfolgreicher, und sie nutzten immer mehr die Fläche. Auf der Weltkarte der terroristischen Anschläge waren nur noch die Eiswüsten an den Polen ohne Fähnchen.

Was der Kommissar als konsequenter Realist auch noch ins Kalkül zog, war die Möglichkeit, dass Al-Kaida und Co. Deutschland gar nicht im Visier hatten. Selbst die neue Regierung hatte Distanz zu Amerika gehalten, hatte Kritisches zu dem rückfällig gewordenen Israel gesagt und fünfzig Millionen für die Verbesserung der Infrastruktur in Palästina zur Verfügung gestellt. Dass dies die Gotteskrieger nicht zwingend von Anschlägen in Deutschland abhalten würde, weil sie es ja vor allem auf die Ungläubigen abgesehen haben, weiß der Kommissar auch. Aber es beschäftigt ihn hin und wieder schon die Vorstellung, dass sein Job am Rhein-Main-Airport nicht so wichtig ist wie der entsprechende am Kennedy-Flughafen in New York.

Zu diesen Zweifeln gesellte sich schließlich noch die Erinnerung an seine Zeit vor dem Flughafen und die machte die Katastrophe perfekt. Im Sonderdezernat SD 11 der Frankfurter Polizei war er zu Hause gewesen. Angesetzt auf die Vertreter des Modern Offense, des neuen Verbrechens. Da hatte die Polizeiführung schon eine richtige und richtungweisende Entscheidung getroffen, als sie dieses Dezernat aus der Taufe hob. Weil die Kriminalität ihren angestammten Platz verlassen und zu einem beispiellosen Raubzug aufgebrochen war, hatte die Polizei nachgezogen. Das neue Dezernat war eine Antwort darauf, dass der moderne Verbrecher zu jeder Tat bereit war, wenn sie nur genug Profit versprach. Diese Klientel hatte René Gronwald schon immer im Auge gehabt und deswegen hatte er sich für diesen Job auch sogleich beworben. Als Mann der ersten Stunde stand er schließlich auch für den Erfolg der Gruppe. Schon ganz am Anfang hatten sie einen spektakulären Coup gelandet, als sie einen Organhändlerring hochgenommen hatten, der sich nicht nur bei den Opfern des kolumbianischen Rauschgiftkrieges bediente, sondern in den Favelas in Rio und Sao Paulo nach Vorgaben der europäischen Besteller gezielt morden ließ. Wenig später waren sie internationalen Tierhändlern auf die Schliche gekommen, die die Geschenkideen derjenigen umsetzten, die schon alles hatten und auf Madagaskar die letzten Lemuren plünderten und auf Galapagos dem allerletzten Exemplar der Riesenschildkröte nachstellten. Zum Schluss dann das Ende für eine deutsch-österreichische Schweinerei: Ärzte, Apotheker und Chemiker synthetisierten eine Verbindung und brachten sie schwarz auf den Markt. Angeblich ein Wundermittel gegen MS. Fünf Euro kostet die Chemikalie in der Herstellung, für 50.000 wird sie verscherbelt. Keinem hilft sie, aber zwischen zehn und zwanzig Prozent der Konsumenten sterben an ihr.

Das war seine Welt. Da fühlte sich der Kommissar zuhause und nicht nur zu Besuch, wie jetzt am Flughafen, denn das war es, was er brauchte: Platz für seine Phantasie und Freiraum, um seine Ideen umzusetzen.

Nun hatten ihm seine Vorgesetzten den Wechsel zum Flughafen ja auch nicht als Entgegenkommen oder gar als Beförderung verkauft. Das wäre peinlich und zudem gar nicht in deren Sinn gewesen. Seine Versetzung war eine Strafaktion gewesen und als solche auch dargestellt worden. Die Chefs hatten Klartext geredet. Denn der rebellische Kommissar sollte wissen, wo der Spaß aufhört und erkennen, wo seine Grenzen sind. Und es sollte natürlich auch eine Warnung an alle anderen sein, die irgendwann einmal mit ähnlichen Gedanken spielen würden.

Keine Frage, René Gronwald hatte zu hoch gepokert. Den Bogen überspannt. War ohne Mandat tätig geworden, hatte im brasilianischen Dschungel stinknormale polizeiliche Ermittlungen angestellt, zwar während seines Urlaubs, aber ohne Wissen der nationalen Behörden und gegen den ausdrücklichen Befehl seiner Frankfurter Vorgesetzten. Das hatte man ihm übelgenommen. Aber immer, wenn er dabei war, Verständnis für die Gegenseite aufzubringen, reagierte sein Selbstwertgefühl prompt und heftig. Einverstanden, er hatte die Regeln verletzt, aber damit ein gigantisches Komplott aufgedeckt und zahllose Menschenleben gerettet. Ein US-Multi hatte mit einer in seinem Frankfurter Werk entwickelten Dioxin-Variante sein Fastfood zu süchtigmachenden Leckerbissen umgerüstet und war dabei, das neue, tödliche Produkt an einer Schule zu erproben. Das Spiel hatten der Kommissar und seine Begleiterin dem Konzern gründlich verdorben. Einfach war das nicht gewesen und erst recht nicht ungefährlich. Aber das wollen sie zuhause nicht sehen. Er aber sieht es, sieht vor allem den Erfolg seines risikoreichen Engagements, er, der Jäger und Überzeugungstäter, für den der Zweck im Zweifel jedes Mittel heiligt.

An der Pforte stellt René Gronwald irritiert fest, dass er eine Viertelstunde zu früh ist. Pünktlich ist er immer gewesen, aber zu früh nie. Er weist sich aus und geht durch den Innenhof zu den Aufzügen an der Südseite des Gebäudes. In der Cafeteria im ersten Stock setzt er sich an einen kleinen Tisch vor der breiten Fensterfront und hofft, dass ihn kein alter Bekannter anspricht.

Warum hat ihn der Präsident einbestellt? Wie ein böser Geist ist diese Frage seit ein paar Tagen in seinem Kopf immer wieder präsent. Das ärgert ihn, denn eigentlich ist der Laden für ihn erledigt. Rausschmeißen können sie ihn nicht mehr, und wenn sie ihn jetzt noch einmal woanders hinsetzen, dann ist ihm das egal. Vom Job am Flughafen hat er eh die Nase voll, und ob es noch schlimmer kommen könnte, entzieht sich seiner Vorstellung. Sollen sie ihn doch in die Abteilung Wohnungseinbrüche mit einer Aufklärungsquote von unter zehn Prozent oder in die Registratur versetzen, wo wirklich alle Träume enden. Er wird seine vierzig Stunden arbeiten, keine achtzig wie seinerzeit, wird sein Geld kassieren und sich mit der Planung seines nächsten Urlaubs befassen.

Aber wenn er in sich hineinhorcht, dann ist da neben dem starken Gefühl der Selbstbehauptung, das er wenig später als Resignation, als Eingeständnis seines Scheiterns verstehen wird, auch ein Funke Hoffnung. Lange verhindert seine Verbitterung, sein Trotzkopf, dass er der neuen Perspektive einen Namen gibt. Aber er kennt das Gefühl. Als er nach seinem Polizei-Examen auf dem Weg zur Bekanntgabe der Noten war, war sein Kopf ähnlich programmiert. Als gelernter Pessimist war er überzeugt davon, alle Klausuren in den Sand gesetzt zu haben. Versteckt im Hinterkopf hatte sich allerdings die Idee eingerichtet, dass er überwiegend gute Gedanken zu Papier gebracht hatte. Die Noten bestätigten dann später seine geheimen Hoffnungen.

Vielleicht geht es ja gar nicht um eine weitere Disziplinierung. Vielleicht bedeutet dieser Tag für ihn einen neuen Anfang. Vielleicht brauchen sie ihn ja wieder. Dass er gut ist, haben sie doch nie bestritten. Und jetzt haben sie ein Problem, aber es fehlt ihnen die Manpower. Ein Problem, das sie unbedingt lösen wollen oder lösen müssen und deswegen bereit sind, den geschassten Regelverletzer zu bemühen. Von dem sie eins sehr genau wissen: Dass er es geschafft hat, 9.000 Kilometer entfernt, allein mit Hilfe einer kriminalistisch unerfahrenen Ärztin – von der es im Polizeiprotokoll heißt: Status als Lebensgefährtin des Herrn Gronwald ungesichert – die Dioxin-Mafia aufzumischen.

Sie brauchen ihn wieder, signalisiert sein Instinkt.

„Kommen sie doch bitte und nehmen Sie schon einmal Platz. Der Präsident befindet sich noch in einer Besprechung.“ Die Sekretärin ist von ausgesuchter Höflichkeit, als sie den Kommissar vor den Schreibtisch ihres Chefs dirigiert.

„Fünf Minuten“, sagt sie mit einem gewinnenden Lächeln, „höchstens“, und dann ist sie wieder in ihrem Zimmer verschwunden.

Das Büro des Präsidenten ist gut doppelt so groß wie das der normalen Kripoleute, die hier arbeiten. Auch die Einrichtung ist besser, man könnte fast sagen, sie ist luxuriös. Der Schreibtisch aus hochglanzpolierter Buche, kombiniert mit matten Aluminiumteilen. Dazu passend die Regale an den Seitenwänden, in denen neben juristischer Literatur auch Exemplare der Weltliteratur stehen, an der dem Schreibtisch gegenüberliegenden Wand ein großes Ölgemälde, die Botschaft des Werkes so unbekannt wie der Maler, der immerhin seinen Namen mit fetten Pinselstrichen in die rechte untere Ecke geschrieben hat. Auf dem Sideboard schließlich ein Ventilator, der nicht in Betrieb ist, weil die geschlossenen Jalousien über der breiten Fensterfront das Sonnenlicht wieder nach draußen komplimentieren. Der Stuhl, auf dem der Kommissar Platz genommen hat, ist ein 3.000-Euro-Exemplar aus einer sächsischen Privat-Manu-faktur. Ein Geschenk, sagt der Präsident, wenn er danach gefragt wird.

Aus den versprochenen fünf Minuten werden zehn Minuten, aber die sind immer noch akzeptabel, zumal der Präsident seine Verspätung überzeugend entschuldigt.

„Der Staatssekretär war da. Sie wissen doch, Zeitlimits zu überschreiten gehört zum Selbstverständnis des Ministeriums.“ Dann schüttelt Achim Schmidt-Fellinger dem Kommissar die Hand und nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz.

„Hat man Ihnen noch nichts angeboten?“

„Nicht nötig“, antwortet der Kommissar höflich.

„Wie Sie wollen“, gibt der Präsident jovial zurück, „wenn sich das ändern sollte, dann sagen Sie bitte Bescheid.“ Dann drückt er auf die Gegensprechtaste: „Frau Lindner, bitte für mich einen Kaffee.“

„Und Herr Gronwald?“, fragt sie förmlich zurück.

„Vielleicht später.“

Seitlich neben der Tischlampe hat der Präsident eine ganze Batterie von Pfeifen aufgebaut. Unterschiedlich in Größe, Form und Farbe lehnen sie sich im Fünfundvierzig-Grad-Winkel an eine holzgeschnitzte Halterung. Den Kommissar erinnert das Arrangement an die Pforte des ehemaligen Polizeireviers am Wiesenhüttenplatz. Dort, mitten im Rotlichtviertel, standen seinerzeit in gleicher Ordentlichkeit ein knappes Dutzend Maschinenpistolen hinter der großen Glasscheibe, die die heile Welt der Ordnungshüter von der feindlichen Außenwelt trennte, und signalisierten allen Kunden, wer hier am längeren Hebel saß.

Der Präsident entscheidet sich für die Birkenholz-Pfeife und stopft sie mit viel Routine und mit noch mehr Hingabe.

„Wie geht es Ihnen“, sagt er dabei unvermittelt, „nach einem Jahr Flughafen?“

„Mein Gott“, denkt der Kommissar und sagt: „Job ist Job. Den mache ich dort genauso wie anderswo.“

„Ja, natürlich“, erwidert der Präsident, während er sein Feuerzeug aus dem Sakko holt, „man hört ja auch nur Gutes von Ihnen. Ihr Boss meint, Sie sind sein bester Mann.“

„Arschloch“, denkt der Kommissar und verzichtet auf eine Antwort. Es dauert eine Weile und ein feiner, würziger Geruch macht sich im Büro breit. Erinnerungen an Brasilien werden wach, an die Bar im Hotel Paraiso, wo alle Besucher Pfeife oder Zigarre rauchten und die Sicht noch schlechter war als am zwanzig Meilen entfernten Rio Xingu, wo die Wälder brannten.

Wortlos serviert die Sekretärin Kaffee, und als sie die Tür hinter sich geschlossen hat, sagt der Präsident: „Sie haben sich sicher gefragt, warum ich Sie einbestellt habe, so offensichtlich grundlos und aus heiterem Himmel.“ Der Kommissar nickt knapp und versucht sich mit einer freundlichen Miene. „Ich hätte es Ihnen ja dazu schreiben oder sagen können, aber ich denke, diese Angelegenheit geht nur uns beide etwas an und es sollte möglichst wenig davon nach außen dringen.“ Mit einem Blick zum Zimmer seiner Sekretärin fügt er mit gedämpfter Stimme hinzu: „Das gilt auch innerhalb meines Hauses.“

Der Präsident nimmt einen Schluck aus seiner Tasse und stopft die Pfeife nach. Dann stützt er seine Ellenbogen auf den Schreibtisch und sagt sehr bestimmt: „Damit wir uns nicht missverstehen: Die Geschichte heute hat nichts mit Ihrer Versetzung im vergangenen Jahr zu tun. Sie ist keine Wiedergutmachungsaktion. Ich habe mich diesbezüglich nicht zu korrigieren oder auch nur zu erklären. Sie haben die Regeln verletzt, und darauf musste ich reagieren.“

Längst hat der Kommissar die Maske aufgesetzt, diese Schablone aus entspannten Gesichtszügen, neutralem Blick und fehlender Mimik, die man nur schwer durchschauen kann, hinter der es aber jetzt heftig rumort. Es ist keine Wiedergutmachung, sagt der Chef, also ist es doch eine. Sie brauchen ihn wieder! Aber die Heimlichtuerei irritiert ihn. Keines seiner großen Verfahren, das er bei SD 11 bearbeitet hatte, war auf dieser Ebene angesiedelt gewesen: Top-Secret, streng vertraulich, noch nicht einmal die Sekretärin durfte davon wissen.

„Ich möchte Sie mit einer neuen Aufgabe betrauen“, wird der Präsident jetzt konkret. „Es ist zugegebenermaßen eine schwierige, eine sehr schwierige Aufgabe. Aber Sie sind auch nicht irgendwer.“ Das klingt bitter in den Ohren des Kommissars. „Man könnte vielleicht sogar sagen“, fährt der Präsident fort, „das Verfahren ist auf Sie zugeschnitten – auch weil es Ihnen, sagen wir, weltanschaulich, keine Probleme bereiten dürfte.“

Dann sagt der Präsident wie beiläufig: „Eine Terrorismus-Sache. Wenn Sie so wollen, die Fortsetzung Ihrer Flughafen-Tätigkeit. Allerdings eine andere Qualität.“ Der Präsident nimmt eine Laufmappe von einem Aktenstapel und schlägt sie auf. „Wir haben ein anonymes Schreiben bekommen mit einer Warnung vor einem bevorstehenden Anschlag.“

Damit hat der Kommissar nicht gerechnet. Schon deswegen nicht, weil es genug Beamte gibt, die sich mit dem Anti-Terror-Kampf befassen. Überall sind innerhalb der vergangenen Jahre entsprechende Abteilungen eingerichtet worden, bei der Kripo, den Landeskriminalämtern, dem Bundeskriminalamt, innerhalb der Geheimdienste und des MAD. Schon wird gespottet, der Terrorismusbereich sei der einzige, wo auf einen Täter hundert Fahnder kämen. Es sind zudem die besten Köpfe, die dorthin abgeordnet wurden und jetzt auf Arbeit warten.

„Sie wundern sich sicher“, sagt der Präsident, der in der Maske seines Gegenübers einen Anflug von Verwunderung zu erkennen glaubt, „dass ich auf Sie zurückkomme. Das will ich Ihnen gerne erklären. Vorweg aber noch etwas Grundsätzliches und zwar zum Thema Terrorismus. Da sollte es zwischen uns keine Differenzen oder Missverständnisse geben. Denn wenn Sie den Fall übernehmen, dann haben Sie es allein mit mir zu tun und ich habe es nur mit Ihnen zu tun. Ansonsten ist niemand in die Sache involviert.“

Der Präsident klopft seine Pfeife aus und bestellt noch einmal Kaffee, diesmal auch für den Kommissar, von dem die Anspannung abgefallen ist wie eine lästige Haut und der seit langer Zeit wieder einmal ein Gefühl der Befreiung und Bestätigung erlebt.

„Sehen Sie, wir könnten uns jetzt augenzwinkernd verständigen über das besagte Thema. Der Polizeipräsident und der Mann vom Sicherheitsdienst Flughafen. Keine Frage, dass keiner von beiden auch nur ein gutes Haar am Terrorismus lassen würde. Aber wir sollten da schon konkreter werden. Ich jedenfalls möchte Ihnen sagen, was ich denke und warum ich das so sehe.“

Die Sekretärin öffnet einen Spalt weit die Tür und meldet sich zum Essen ab. Ihr Chef wünscht ihr einen guten Appetit und schiebt seinen Sessel ein Stück vom Schreibtisch weg. Dann legt er die Beine übereinander und lockert seine Krawatte.

„In diesem Haus“, fährt der Präsident fort, „reden wir offen über alles. Ich freue mich, wenn moderne gesellschaftliche Probleme auch polizeiintern kontrovers diskutiert werden. Diese Haltung hat mir viel Kritik eingebracht. Denn immer noch träumen einige ewig Gestrige in unserer Behörde vom alten Chorgeist und von bedingungsloser Kumpanei. Von der Polizei als letztem Bollwerk in der reißenden Flut des Verbrechens. Das führt dazu, dass diese Leute sich einigeln und auf diese Weise immun werden gegen alles, was dieses Bollwerk schwächen oder beschädigen könnte. Gemeint ist das moderne Denken, und indem sie sich dagegen abschotten, bleiben diese Leute nach und nach auf der Strecke. Aber das ist mir egal. Hier weht ein liberaler Wind, und das soll auch so bleiben.“

„Vielleicht hätte man das auch in einer gewissen Weise nach außen dokumentieren sollen“, wagt sich der Kommissar ein Stück weit aus der Deckung. Der Präsident stutzt einen Augenblick. „Sie meinen das neue Präsidium? Oh ja, da haben sie Recht! Es drückt alles andere als Offenheit aus. Aber das war vor meiner Zeit, und ich hatte da nicht mitzureden. Angeblich stammt der Vorschlag für den Festungsbau aus Amerika. Sie wissen doch, Frankfurt ist mit Chicago verschwistert. Wie dem auch sei“, der Präsident rückt wieder näher an seinen Schreibtisch heran, „in Sachen Terrorismus hört meine Diskussionsbereitschaft auf. Und wissen Sie auch warum?“ Der Präsident will gar keine Antwort. „Weil der Terrorismus Tabus bricht, die nicht gebrochen werden dürfen. Weil er die Axt an die Wurzeln unserer Zivilisation legt. Ich sage nicht Kultur, sondern ich sage Zivilisation. Und ich argumentiere nicht über die Opferzahlen, obwohl das schon eindrucksvoll genug wäre: Dreitausend in Manhattan, tausend in Genua und noch einmal so viel bei der A-380-Geschichte vor Hongkong. Und dann noch die vielen kleinen Anschläge, deren Opfer sich auch zu einer gewaltigen Zahl addieren. Nein, da bin ich fast ein Sympathisant von Attac, indem ich sage, so viele Menschen kommen weltweit innerhalb einer Woche auch im Straßenverkehr um, und das nehmen wir klaglos hin. Zahlen sagen nicht alles und manchmal sagen sie gar nichts. Es ist ein Tabubruch, der den Terrorismus so gefährlich macht. Dinge tun, die man nicht tut. Die kein Mensch unter welchen Bedingungen auch immer tun darf.“

„Ein interessanter Aspekt“, erwidert der Kommissar. „Ich hätte keine Probleme, das auch so zu sehen. Wobei man allerdings wissen muss, dass ich insoweit – die Juristen würden sagen – befangen bin. Die Anwälte von Al-Kaida würden das jedenfalls so sehen.“

Der Präsident stutzt einen Moment. „Darf ich erfahren, wie Al-Kaida den Befangenheitsantrag begründen würde?“

„Nun, meine geschiedene Frau – Sie wissen, dass ich seit vergangenen Herbst geschieden bin? – meine geschiedene Frau ist zum Islam konvertiert.“ Er sagt stets konvertiert, wenn er das Ereignis schildert, spricht nicht davon, dass sie übergetreten sei oder zum Islam gewechselt habe; denn er will der Entscheidung seiner Frau einen intellektuellen Rahmen geben, will die Entscheidung als frei und wohlüberlegt darstellen, als echte Glaubensangelegenheit und nicht als Beleg für sein eigenes Scheitern, als dass man sie ja in Verbindung mit der Scheidung sehen könnte. Mittlerweile kann er einigermaßen über das Ende seiner Ehe sprechen, zumal sie sich schon die letzten zehn Jahre nichts mehr zu sagen hatten und mit der Zeit auch die gegenseitigen Kränkungen zugenommen hatten. Die religiöse Eskapade seiner Ex kurz nach der Scheidung war ihm aber komplett in den Klamotten hängen geblieben. Auch jetzt, trotz des seriösen Kontextes und der nur kurzen Ansprache des Themas, hatten sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet. Noch grausamer war es ihm am Anfang an seinem Stammtisch in Sachsenhausen ergangen, wo die Kollegen vom Flughafen nach alter Polizistenmanier sehr direkt über die Beweggründe für den Positionswechsel der Geschiedenen spekulierten. Obwohl nicht ernst gemeint, hatten ihn diese Sprüche schon bald von dort ferngehalten.

Der Präsident kneift die Lippen zusammen. „Ehrlich gesagt, Herr Gronwald, die Situation überfordert mich vielleicht ein wenig. Soll man Ihnen da gratulieren oder soll man Ihnen Trost zusprechen?“

„Am besten weder das eine noch das andere“, antwortet der Kommissar, „aber Sie sollen es wissen, wenn wir über den Fall reden.“

„Gut, ich weiß es jetzt. Im Gegenzug kann ich Ihnen versichern, dass dieser Umstand an meiner Entscheidung, Ihnen den Fall anzutragen, nichts ändert.“

Der Präsident nimmt ein Blatt aus der Laufmappe und schiebt es über den Schreibtisch zum Kommissar hinüber. „Das ist der anonyme Brief, eine Kopie, das Original ist noch unter Verschluss. Lesen Sie es in aller Ruhe einmal durch.“

Das DIN-A4-Blatt sieht auf den ersten Blick aus wie eine postmodern gekachelte Badezimmerwand. Es ist komplett beschrieben. Der Text besteht aus ausgeschnittenen Buchstaben oder ganzen Worten, die akribisch genau im Zeilenformat angeordnet sind. Die Zeilen wiederum sind zu Blöcken zusammengefasst, die durch Freizeilen voneinander getrennt sind. Das Ganze schimmert grau-beige, durchsetzt mit zahlreichen rötlichen Rechtecken.

„Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren!

Leider bin ich heute gezwungen, Ihre wertvolle Zeit in Anspruch zu nehmen. Das tut mir leid, aber ich könnte mir vorstellen, dass sich die Lektüre für Sie lohnt, zumal Sie ja Ihr Geld mit diesen Sachen verdienen. Mir ist schon klar, dass Sie auf diese Weise mit sehr viel Unfug bedacht werden. Dies hier ist keiner. Meine Info sollten Sie ernst nehmen: Sie toppen den 11. September!

Die Gruppe: ♀♂♂

Ihre Profession: Studentische Nichtsnutze

Ihre Namen: Ketterle, Michel und Volhard

Der 11. September ist eine Bagatelle. Machen Sie aus diesem Vorgang keine Routine-Angelegenheit. Geben Sie dieses Schreiben nicht in den Umlauf. Handeln Sie verantwortungsbewusst und zielgerichtet. Setzen Sie Ihre besten Leute ein. Ein Zeitproblem sollten Sie nicht haben, aber Ihr Gegner ist stark. Glauben Sie bloß nicht, dass die Skala bei 3.000 endet. Nehmen Sie diese Mitteilung ernst. Ich melde mich nicht mehr, ich bin aus dem Schneider. Aber mich würde es schon interessieren, was Sie unternommen haben. Vielleicht lassen Sie es mich über eine Notiz in der Frankfurter Rundschau wissen.

Seien Sie herzlich gegrüßt und daran erinnert: Sie toppen den 11. September!“

„Ein Meisterwerk“, sagt der Präsident, als der Kommissar nach der Lektüre vom Blatt hochschaut, „handwerklich jedenfalls ein Meisterwerk.“

„Kann man wohl sagen“, erwidert der Kommissar, indem er anerkennend mit dem Kopf nickt. „Ein wirklich schönes Design und offenbar auch orthografisch weitestgehend in Ordnung.“

„Kein einziger Fehler“, bestätigt der Präsident, „und eine geschliffene Sprache. Das ist das Erstaunliche daran. Bei solchen Schreiben erwartet man doch eigentlich gebrochenes Deutsch.“

„Und am Ende nicht diese Höflichkeitsformel, sondern Inschallah!“ Der Präsident ist aufgestanden und geht im Zimmer auf und ab. „Das Ding gibt uns Rätsel auf. Zunächst einmal sorgt es für einen gewaltigen Ärger, wie alles, was anonym ins Haus kommt. Denn es macht viel Arbeit, bei der letztlich nichts rumkommt. Ich muss Ihnen das ja nicht erzählen. Wie oft hatten Sie anonyme Anzeigen auf dem Tisch mit nur ganz vagen Angaben?“ Der Kommissar winkt wortlos ab. „Sehen Sie; und wie oft haben Ihre Nachforschungen tatsächlich zum Erfolg geführt? In den seltensten Fällen, darf ich vermuten. Die Staatsschützer hier im Haus haben schon gepasst. Das Ding gehört ihrer Meinung nach in den Reißwolf, zumal die Namen der Terroristen offenbar frei erfunden sind.“

„Warum so unversöhnlich?“

„Ohne Begründung. Kollege Müller, der neue Vize von K 18 hat die Sache ins Lächerliche gezogen. Er könne sich vorstellen, dass ein Kunststudent das Schreiben als Teil seiner Diplomarbeit verfasst habe oder dass RTL oder ein anderer Klamauksender dahinterstecke.“

„Dann sollten wir es wenigstens in unserem Kriminalmuseum ausstellen, im Schaukasten für Kurioses, Untertitel: Sprachgenie auf Abwegen.“

„Nein, nein“, der Präsident schüttelt energisch den Kopf und nimmt wieder am Schreibtisch Platz. „Ich sehe das anders, ganz anders. So harmlos muss die Sache nicht sein. Eine zwingende Begründung dafür habe ich nicht. Aber irgendetwas in meinem Bauch sagt mir das.“

„Ihre Intuition vielleicht?“

„Meine Intuition, meine Eingebung, mein sechster Sinn oder mein siebter Sinn, nennen Sie es, wie Sie wollen. Und lachen Sie wegen mir auch darüber; denn es steht einem Polizeichef ja nicht unbedingt gut zu Gesicht, wenn er sich in die Esoterik-Ecke begibt. Aber ich will es nicht riskieren, das Ding einfach zu entsorgen, ob in den Reißwolf oder in den Schaukasten.“

„Und jetzt soll ich mich darum kümmern?“

„Sie sollen ermitteln, das tun, was Sie gelernt haben und auch perfekt beherrschen – manchmal nur am falschen Platz. Und Sie sollen möglichst schnell herausfinden, ob an der Sache etwas dran ist.“

„Aber ich weiß immer noch nicht, warum Ihre Wahl gerade auf mich gefallen ist“, hakt der Kommissar nach, „eigentlich gehört das Verfahren doch zu K 18.“

„Da sagen Sie etwas!“ Der Präsident lacht laut auf. „Die das Schreiben für das Produkt eines Kunststudenten halten. Meinen Sie, da kommt etwas bei rum?“

„Oder sie geben es an das BKA. Da sitzen doch die Spezialisten!“

„Habe ich in Erwägung gezogen. Aber dann bin ich vorsichtshalber noch mal im Ministerium vorstellig geworden. Zugegebenermaßen, um mich abzusichern. Aber da wird immer noch in erster Linie taktisch gedacht. Der Spur sei in angemessener Weise nachzugehen, hieß es dort. Als ich gebeten habe, das doch ein wenig konkreter zu fassen, haben sie nur andere Sprechblasen nachgeschoben.“

„Mit wem haben Sie im Ministerium gesprochen?“

„Mit Udo Klein, mit wem sonst?“

„Mein Gott!“, rutscht es dem Kommissar heraus. Staatssekretär Klein hat ihm im vergangenen Jahr die Versetzungsurkunde ausgehändigt.

„So sind sie halt, die aus dem Ministerium“, bedauert der Präsident, „aber ihre chronische Unsicherheit eröffnet der Gegenseite auch wieder neue Chancen.“

„Die wären?“

„Man maskiert die eigene Position als wertneutralen Vorschlag und schon hat man sie da, wo man sie haben will.“

„Was haben Sie Udo Klein erzählt?“

„Zunächst die Geschichte aus meinem Bauch, als bewusster Angstmacher. Dann bin ich wieder einen Schritt zurückgegangen, habe ihm vorgeschlagen, die Sache auf kleiner Flamme zu kochen, in der Küche allerdings einen Fünf-Sterne-Koch zu beschäftigen. Udo Klein hat gestrahlt – und in diesem Augenblick waren Sie mein Mann.“

Der Kommissar nippt zeitschindend an seiner Tasse.

„Sie müssen sich hier nicht entscheiden“, beruhigt der Präsident seinen Gast. „Aber sagen wir: Morgen früh um neun erwarte ich Ihren Anruf. Sie sagen Sekt oder Selters. In beiden Fällen bleiben Sie am Flughafen. Bei Selters ändert sich dort für Sie gar nichts, bei Sekt ziehen Sie um ins Gebäude 10.“

„Hier im Präsidium wäre kein Platz für mich?“

„Schon, aber wir wollen doch möglichst wenig Aufsehen erregen. Bleiben Sie mal schön am Flughafen. Wenn Sie den neuen Job übernehmen, sitzen Sie in einem Luxusbüro.“