Feine Würze Dioxin - Erich Schöndorf - E-Book

Feine Würze Dioxin E-Book

Erich Schöndorf

0,0

Beschreibung

"Ein atemloser Thriller, eine Reise in die Abgründe einer Gesellschaft, die sich dem Profit verschrieben hat." Erich Schöndorf Es gibt Gifte, die können nicht nur töten. Man muss nur die in ihnen schlummernden Möglichkeiten erkennen. Und sie dann an Affen ausprobieren. Und danach an hungrigen Kindern im brasilianischen Regenwald. Spätestens dann ist der Weg frei für grenzenlose Profite. Allerdings darf nichts dazwischenkommen. Beispielsweise Kommissar Gronwald und seine mit viel weiblicher Intuition und Jagdinstinkt versehene Kollegin aus der Rechtsmedizin. Ein Thriller, der spannende Einblicke gewährt in die Risiken des technischen Fortschritts und die Folgen von verlorener Moral in Zeiten der Globalisierung.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 629

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Erich Schöndorf

Feine Würze Dioxin

Öko-Thriller

Umschlaggestaltung:Blazek Grafik, Frankfurt am Main

© Nomen Verlag, Frankfurt am Main, 2018Alle Rechte vorbehalten.Printed in Germany

www.nomen-verlag.de

ISBN 978-3-939816-55-3eISBN 978-3-939816-56-0

Inhalt

Ein Großstadtmorgen

Im Keller

Kneipengeschichten

Die Schützenkönigin

Giftalarm

Beruf: Schnüffler

Anglerglück

Passion: Jäger

Eine linke Tour?

Firmenbesuch

Überlebenslogik

Neuigkeiten

Pfälzer Spezialitäten

Affentheater

Seezunge als Belohnung

Seltsame Namen

Ein Unfall

Eine spannende Nacht

Einer steigt aus

Verkehrte Ermittlungen

Die kleine Stadt

Tod in Uniform

Weinen können

Schreibtischtäter

Milde Gaben

Tropennächte

Comandante Estefan

Schlemmerland

Kleine Welt

Curare-forte

Reisende soll man nicht aufhalten

Verbrecherhirne

Zwei Anrufe

Vorbemerkung

Der vorliegende Roman spielt in der Zukunft. Alle seine Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt. Zusammengesetzt ist die Geschichte allerdings aus zahlreichen authentischen Einzelelementen. Die naturwissenschaftlichen Fakten sind korrekt dargestellt.

Das Buch will auf die Gefahren aufmerksam machen, die der Gesellschaft durch ihren fortschreitenden moralischen Verfall drohen. Und es will daran erinnern, dass technischer Fortschritt ebenso wie wirtschaftliche Macht einer konsequenten Kontrolle bedürfen, ohne die sie zum alles vernichtenden Monster werden.

Ein Großstadtmorgen

Die Männer laufen über den Bürgersteig des Oederwegs stadteinwärts. In Höhe des Penny-Marktes wechseln sie die Straßenseite, um knapp 100 Meter weiter in die Germaniastraße einzubiegen. Sie laufen mit weit ausholenden Schritten und ihre Geschwindigkeit sowie der Lärm, den ihre metallbeschlagenen Stiefel verursachen, wenn sie auf die harten Verbundsteine des Gehwegs treffen, gibt ihnen etwas Gefährliches. Es ist Donnerstag Morgen, kurz nach 9.30 Uhr, ein freundlicher Frühherbsttag. Auf den Straßen im Stadtteil Bornheim ist noch alles ruhig. Wenige Einkäufer nur sind unterwegs, und die Studenten, die hier zahlreich wohnen, liegen, nicht nur, weil Semesterferien sind, noch in den Federn.

Auf der Germaniastraße benutzen die Läufer die Fahrspur, denn die schmalen Gehsteige sind zugeparkt. Ihre Schritte werden jetzt langsamer. Einem der dreien fällt es immer schwerer, Anschluss zu halten.

„Wartet doch!“, keucht er.

„Wir halten die Tür auf“, ruft der Führende zurück und versucht mit aller Macht, seine Geschwindigkeit zu halten.

Ihr Ziel ist die Straßenbahnhaltestelle an der Rothschildallee, Ecke Burgstraße. Als sie 300 Meter davon entfernt sind, hören sie hinter sich die Bahn kommen. Sie verschärfen noch einmal ihr Tempo, aber dann sind die zwei Graffiti-bemalten Wagen schon an ihnen vorbei und gleich darauf in die Haltestelle eingefahren. Es reicht nicht mehr. Auch diesmal haben sie verloren.

„Scheiße“, brüllt der Anführer. Die Bahn hätte ihre Rettung bedeutet. Eine Viertelstunde später wären sie an der Hauptwache in das Gewühl der Schnäppchenjäger eingetaucht und vor jeder Verfolgung sicher gewesen. Erst einmal jedenfalls. Aber Menschen wie Klaus Bredow und seine Freunde Kevin Moos und Patrick Minkel denken nicht weiter. Dass die Überwachungskamera in der Nebenstelle der Dresdner Bank gestochen scharfe Bilder von ihnen gemacht hat, dass ihre Pudelmützen viel zu klein waren, um ihre Identifizierung zu verhindern, das kommt ihnen nicht in den Sinn. Da können sie eigentlich nur noch von Glück reden, dass sie ohne Beute verschwinden mussten, weil eine ausgeflippte Rentnerin wild schreiend den gesamten Kundenraum in Panik versetzt und sie binnen Sekunden entmutigt hatte. Denn das Geld, das man ihnen gegeben hätte, wäre Falschgeld und zudem mit einer Sprengladung gesichert gewesen, die exakt drei Minuten nach der Übergabe in die Luft gegangen wäre.

Jetzt stehen sie keuchend auf dem Gehweg vor dem Eingang zu einem Bürokomplex und wissen nicht weiter. Sekunden später die ersten Martinshörner. Sie kommen aus der Stadt und sie nähern sich rasch.

Bald sehen die Männer am Ende der Germaniastraße das zuckende Blaulicht von zwei oder drei Wagen. Sie drängen in den Eingang des Bürogebäudes. Die Wagen rasen vorbei.

„Weiter“, ruft der Anführer, „wir warten auf die nächste Bahn.“

Die nächste Bahn wird in einer Viertelstunde kommen. Gerade sind sie losgelaufen, hören sie erneut das wilde Jaulen eines Polizeiwagens und zwar aus der entgegengesetzten Richtung. Die Beamten, die in diesem Wagen sitzen, haben sie möglicherweise schon gesehen, die Fahndung noch im Ohr, nach der die drei Täter zu Fuß geflüchtet sind.

„Rechts!“, schreit der Anführer und biegt abrupt auf den Schulhof der Käthe-Kollwitz-Schule ein, die unmittelbar an den Bürokomplex anschließt. Die Komplizen folgen automatisch.

Das Hauptgebäude, aus rotem Ziegel gemauert, steht zurückgesetzt und ist über eine breite fünfstufige Treppe erreichbar. Seitlich davon, auf dem ehemals großzügig bemessenen Schulhof, stehen gut ein halbes Dutzend Container – Ersatzräume, denn das alte Gebäude ist zu klein geworden für die vielen Schüler aus den türkischen und marokkanischen Familien, die in den Stadtteil gezogen sind.

Instinktiv steuert Klaus Bredow auf die Container zu. Eine große Alu-Tür ist sein Ziel. Ein kurzer Ruck und er steht 23 Kindern und einer Lehrerin gegenüber. Dicht hinter ihm folgen seine beiden Komplizen.

Die Schüler der Klasse 5d sind vor Schreck wie gelähmt.

„Was wollen Sie hier?“, schreit die junge Lehrerin. „Raus! Machen Sie, dass Sie rauskommen!“ Träumt sie oder soll das der GAU sein? Sekunden später ist die Frage beantwortet. Klaus Bredow schlägt ihr mit der Pistole ins Gesicht. „Hinsetzen und Maul halten!“ Dann öffnet sich die Tür zum Nachbarcontainer und die Lehrerin der 10b stürmt in den Klassenraum. „Mein Gott…“

„Tür zu und hinsetzen!“, schreit Klaus Bredow, während er die Pistole auf sie richtet.

Draußen sind die ersten Polizeibeamten hinter ihrem Streifenwagen in Deckung gegangen. Kevin Moos beobachtet sie durch das schmale Fenster des Containers. Dann öffnet er die Tür einen Spalt weit. „Haut ab! Sofort! Sonst passiert ein Unglück. Wir sind bewaffnet!“ Dabei streckt er die Hand mit seiner Pistole aus dem Türspalt.

„Okay“, ruft einer der Beamten. „Wir fahren wieder raus.“ Mit erhobenen Händen steigen die beiden Polizeibeamten in ihren Wagen und verlassen rückwärts fahrend den Schulhof. Während vor dem Eingang immer mehr Streifenwagen eintreffen und die Luft vom Gejaule der Martinshörner vibriert, rennen die drei Männer kopflos im Klassenraum hin und her. Ihre Slogans, die sie den Kindern und den beiden Lehrerinnen entgegenschreien, haben sie aus dem Fernsehen. „Ruhig sitzen bleiben!“ „Wenn ihr Scheiße baut, schießen wir!“ „Wer abhaut, wird umgelegt!“

Klaus Bredows Blick fällt auf das Telefon an der Wand neben der Tafel. „Du“, keucht er und zeigt mit der Pistole auf die Lehrerin der 5d, „ruf den Direktor an und sag, dass keiner versuchen soll, hier herein zu kommen. Sag ihm, dass wir bewaffnet sind und keinen Spaß verstehen.“

Zitternd geht die junge Lehrerin zum Haustelefon. 2400 – den Anschluss kennen sie alle.

„Herr Koep, hier sind …“

„Ich weiß schon Bescheid“, redet der Direktor beruhigend auf sie ein, „regen Sie sich nicht auf.“

„Sie haben Pistolen. Niemand darf zu uns kommen, sonst …“

„Haben Sie keine Angst. Wir werden alles tun, damit niemandem etwas geschieht. Ihre Kollegin aus dem Nachbarraum ist auch bei Ihnen?"

„Ja.“ Dann unterbricht Klaus Bredow mit einem Druck auf die Gabel die Verbindung.

Die drei Geiselnehmer stammen aus dem Stadtteil Preungesheim. Dort in der Jaspertstraße sind sie geboren und aufgewachsen. Ihr Viertel heißt unter Sozialwissenschaftlern Sozialer Brennpunkt und die Polizisten sprechen einfach vom Knast-Ghetto, weil es nur wenige hundert Meter vom Gefängnis entfernt liegt, und auch, weil mancher aus dem Viertel dort Quartier genommen hat. Die Reihenhäuser des sozialen Wohnungsbaus, gelb und grün gestrichen und mit weißen Birken umstanden, liegen eigentlich ganz idyllisch, wenn die Bewohner dafür noch einen Blick hätten. Aber den haben sie nicht. Sie gehören ausnahmslos zu den Habenichtsen. Arm in jeder Beziehung: ohne Arbeit, ohne Ausbildung und Bildung, ohne Perspektive. Drogen füllen die Lücken. Die Menschen saufen, und wer es sich leisten kann, drückt Heroin oder raucht Crack. Soziales Verhalten lernt man unter diesen Bedingungen nicht. Gewalt ist an der Tagesordnung, die Faust der beliebteste Problemlöser. Keiner der drei Geiselnehmer, die nach dem missglückten Raubüberfall auf die Zweigstelle der Dresdner Bank am Platz der Republik in die Schule geflüchtet sind, kennt seinen Vater. Alle haben sie Stiefväter, die ausnahmslos diesen Namen nicht verdienen. Als Alkoholiker, allein mit sich und ihren Problemen beschäftigt und selbst damit noch überfordert, sind die nicht ansatzweise in der Lage, die Ansprüche zu erfüllen, die die jungen Leute an ihre Ersatzväter stellen – auf der Suche nach Geborgenheit und nach Vorbildern. Als Kevin Moos, mit 18 der Jüngste der drei, im vergangenen Jahr mit seinem „Vater“ vor dem Fernseher saß und sie über Fußball diskutierten, da gab der ihm eine schallende Ohrfeige, nachdem der Junge sich als Bayern München-Fan zu erkennen gegeben hatte – der Ältere so unfertig wie der Junge. Kevin Moos war daraufhin weggelaufen, drei Tage lang war er saufend durch die Stadt gezogen, nachdem seine kleine Welt, in der es endlich einen Vater gegeben hatte, wieder einmal zusammen gebrochen war.

In der Rosmannitterstraße 12, einem leidlich in Stand gesetzten Altbau nicht weit vom Main entfernt, warten auch an diesem Vormittag zwei Dutzend junge Männer und eine Frau auf den Fall der Fälle. Seit 1972 gibt es ihre Einheit, seit dem Jahr der Olympischen Spiele in München, als bei einem Überfall palästinensischer Terroristen auf die Unterkunft der israelischen Sportler 17 Menschen, darunter ein Polizist und alle neun Geiseln, starben. Dieses Drama war notwendig, um die Verantwortlichen von etwas zu überzeugen, was andere schon längst wussten: dass man für besondere Aufgaben auch besonderes Personal braucht.

Der Alarm läuft um 11.14 Uhr auf. Polizeihauptkommissar Kämmerling sitzt heute am roten Telefon. Schon nach dem ersten Klingelzeichen nimmt er den Hörer ab. Der Lagebeamte im Polizeipräsidium hat einen Auftrag und Sekunden später signalisieren hektische Huptöne und eine Lautsprecheransage, dass es wieder einmal soweit ist: Geiselnahme, diesmal – besonders brisant – in einer Schule. Um 11.17 Uhr verlassen die ersten drei 280 PS-Wagen den Standort. Die Männer tragen die speziell für solche Einsätze konzipierte Kleidung: schwarze Overalls, schwarze Gesichtsmasken, Springerstiefel und kohlefaserverstärkte Titanhelme. Alle sind darüber hinaus mit Speziallangwaffen ausgerüstet, Präzisionsgewehre, die vor allem eins können: punktgenau treffen. Die zweite Hälfte des Kommandos benutzt den Mannschaftswagen, und sie wird nicht viel später vor Ort sein, denn auch er ist frisiert und verfügt über mehr als 200 Pferdestärken.

Die Vorhut hat Blaulicht und Martinshorn gesetzt. Hinter der Kreuzung Mainzer Landstraße/Borsigallee schaltet sie ihre Sondersignale aus. Geiselnahmen sind Nervensache – vor allem auf der Täterseite. Die reagiert unter Stress leicht falsch und Polizeisirenen können das betreffende Klientel schnell nervös machen. Die letzten zwei Kilometer werden dennoch zügig zurückgelegt, denn die Beamten bahnen sich mit Polizeikellen und Hupen den Weg über rote Ampeln und über verstellte Kreuzungen.

Währenddessen spielen die Beamten des Spezialeinsatzkommandos, wie die Sonderabteilung der Polizei offiziell heißt, das zigfach geübte Ritual. Sie konzentrieren sich auf das, was in wenigen Minuten kommen kann. Abschalten gegen die äußeren Reize. Besinnung auf die eigenen Fähigkeiten. Du bist cool. Was jetzt kommt, ist deine Sache. Du bist ihr gewachsen. Du wirst heute wieder gewinnen. Runter mit Blutdruck und Puls. Nur dann kann man optimal reagieren und optimal entscheiden. Zum Beispiel, ob sie den Täter nur kampfunfähig schießen oder töten. Diese Entscheidung ist abhängig von der konkreten Gefahrensituation und sie kann nur vom Beamten selbst getroffen werden. Das haben sie oft geübt, aber davor werden sie immer wieder Angst haben.

Man lotst ihre Wagen auf den Parkplatz hinter der Schule. Danach laufen die Männer durch die alten Gebäude vor zum Container-Bereich. Strategisch ist das keine gute Situation. Die Gebäude, in denen sich die Geiselnehmer verschanzt haben, sind vom Haupttrakt aus nur schwer einzusehen. Einsatzleiter Kämmerling lässt sich vom Rektor den Übersichtsplan geben.

„Gibt es unter- oder überirdische Zugänge zu den Containern?“

„Nein. Das sind Kästen, die einfach dort aufgestellt wurden. Es existieren jeweils nur eine Außen- und eine Zwischentür.“ Schlechte Karten für das SEK.

Im Container herrscht jetzt eine Mischung aus Professionalität und Dilettantismus. Der Anführer hat die Übersicht behalten und die Nerven. Seine jüngeren Kumpels dagegen laufen hektisch hin und her und schreien wirres Zeug. Der Boss befiehlt den Kindern, sich in einer Doppelreihe vor die Fensterfront zu setzen. Ein menschlicher Schutzwall, eine bewährte Sache, davon waren erst kürzlich die Zeitungen voll. Die zwei Lehrerinnen bleiben in der Nähe der Geiselnehmer. Dann geht der Wortführer zum Telefon und wählt die Nummer des Direktors.

„Hören Sie“, sagt er, „wenn sich irgendjemand dem Container nähern sollte, gibt es hier Tote!“

„Machen Sie bitte keine Dummheiten“, sagt der Schulleiter flehend. „Die Polizei wird alles tun, was Sie wollen!“

Dann bricht der Telefonkontakt ab. Die Polizei hat die Leitungen gekappt. Man wird sich ab jetzt nur noch über Megaphon unterhalten. Dazu müssen die Gangster ihren Verschlag öffnen. Wenn auch nur um einen Spalt. Das kann eine kleine Chance bedeuten.

Polizeihauptkommissar Kämmerling wägt die Möglichkeiten ab. Eine verwegene Lösung: Ran an die Container. Blendgranaten werfen. Oder ablenken durch Schusswaffengebrauch, vielleicht auch durch einen Hubschrauber über dem Dach. Dann schnell an die Längsseite, Türen und Fenster aufsprengen und in die Gebäude.

Der Hauptkommissar weiß, dass er die Manpower dafür hat. Seine Leute sind die Besten der Besten. Die meisten jünger als 30. Eine Auslese. Auf jeden der Beamten kommen neun, die die Eignungsprüfung nicht bestanden haben. Alle sind sie körperlich topfit. Und das müssen sie auch sein, denn das Verbrechen, mit dem sie es in der Regel zu tun haben, ist zwar dumm, aber stark. Ulrich Kämmerling kann sich allerdings nicht nur auf Bizeps stützen. Seine Leute sind Allround-Spezialisten. Sind auch mental Spitze. Stundenlang unbeweglich am Einsatzort stehen, auf den Täter warten oder auf die Gelegenheit zum Zugriff. Dann – sekundenschnell – explodieren. Das können nicht viele, sondern nur auserwählte. Seine Leute gehören dazu.

Und sie gehören zu denen, die im mitmenschlichen Umgang geschult sind. Auch ein Umstand, der das Unternehmen „Container“ erfolgreich machen könnte. Einer für alle – alle für einen. Seine Leute arbeiten stets für die gemeinsame Sache, sie sind teamfähig.

Rambos – der Polizeihauptkommissar kann das Wort nicht mehr hören – wären hier völlig fehl am Platz. Alle sozialen Bedingungen müssen stimmen. Partnerschaftsprobleme sind ein Ausschlusskriterium. Wer sich um zehn Uhr noch mit seiner Ehefrau zankt – um das Sorgerecht für die Kinder zum Beispiel oder um die Frage, warum die Liebe ein Verfallsdatum hat –, der kann zwei Stunden später nicht die Zehntelsekunde abpassen, in der er mit seinem Schuss die Geisel rettet. Bei allen zweifelhaften Kandidaten hat der Hauptkommissar seine Auffassung durchgesetzt. Nichteinstellung oder Rausschmiss.

Polizeihauptkommissar Kämmerling kann sich die Lösung aber auch anders vorstellen. Parallel zur Containerfront steht auf der südlichen Seite des Schulhofs ein vierstöckiges Wohnhaus. Von dort könnte man die Klassenräume unter Feuer nehmen. Sinn würde das allerdings nur machen, wenn man die Jalousien der Container-Fenster öffnen könnte. Die nämlich sind geschlossen. Der Hauptkommissar erkundigt sich beim Rektor. Der holt den technischen Leiter herbei.

„Über die zentrale Steuerung sind die Läden zu öffnen. Das geht schnell und ist relativ geräuschlos.“

Die Schule hat die Eltern verständigt. Mit Taxen und Privatwagen erscheinen sie jetzt am Tatort. Streifenpolizisten weisen ihnen den Weg auf den großen Parkplatz am hinteren Ende der Gebäude. In der Aula werden sie von Lehrern und entsprechend geschulten Beamten betreut. Der Polizeipräsident, der mittlerweile auch vor Ort ist, beruhigt sie: „Wir werden alles tun, um die Geiselnahme so schnell wie möglich zu beenden.“ Und er sagt auch: „Wir sind auf solche Situationen vorbereitet. Wir wissen, was man tun muss.“ Den Eltern hilft das in ihrer Verzweiflung kaum.

„Ist Haferbeck verständigt?“, fragt der Einsatzleiter.

„Gerade angekommen.“

Der Polizeipsychologe spielt stets eine Schlüsselrolle in Fällen dieser Art. Denn er beurteilt die Gefährlichkeit der Täter, bewertet das Risiko, das sie für die Opfer darstellen. Davon hängt die Polizeitaktik ab. Ob verhandelt wird, wie verhandelt wird, mit welchem Ziel verhandelt wird oder ob vielleicht schon gleich und schnell geschossen wird. Fünf Jahre war der Beamte bei der Polizei in Chicago tätig. Er hat viele einschlägige Erfahrungen gesammelt, die man aber, wie er immer wieder betont, nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragen kann. Nur soviel gilt überall: Je niedriger die Schichtzugehörigkeit, um so schneller schießen die Täter. Perspektivlosigkeit und Verzweiflung machen risikobereit und rücksichtslos.

Udo Haferbeck benötigt Infos zu den Tätern. Die gibt es zunächst nicht. Dann aber haben die Spezialisten des Erkennungsdienstes Erfolg. Beim Vergleich der Fotos, die die Überwachungskamera in der Sparkassenfiliale am Morgen geschossen hat, mit den Beschuldigtenaufnahmen ihrer Lichtbildkartei können sie die Täter identifizieren. Drei hinlänglich bekannte Loser aus dem Ghetto. Wenig später hat der Psychologe auch die Polizeiakten über die Geiselnehmer in der Hand. Es ist umfangreiches Material und damit sieht es nicht gut aus.

„Sie werden sich bald melden.“, sagt der Psychologe.

„Und einen Fluchtwagen verlangen“, ergänzt der Einsatzleiter.

Haferbeck schüttelt den Kopf. „Der Fluchtwagen kommt später. Zuerst werden sie Bier und Schnaps ordern. Oder gibt es im Klassenraum alkoholische Getränke?“

„Natürlich nicht“, wehrt sich der Schulleiter.

„Die drei sind alkoholabhängig?“

„Ziemlich stark sogar, der jüngere ist zudem Heroinkonsument. Sie dürften unmittelbar vor dem Überfall noch etwas getrunken haben, das ist jetzt drei Stunden her, dann kommt gleich der Entzug.“

„Was sollen wir machen?“

„Geben Sie ihnen den Alkohol. Ich weiß zwar nicht, wie sie darauf reagieren. Aber prinzipiell sind solche Leute unter Entzug gefährlicher als unter Drogen.“

Der Schulleiter meldet sich noch einmal zu Wort: „Ich bitte Sie um alles in der Welt, Herr Kommissar, beenden Sie dieses Drama so schnell wie möglich. Ich sage das nicht wegen meinen Lehrern. Ich sage das vor allem wegen den 30 Kindern. Wenn sie noch länger in dieser Situation verbleiben, sind sie krank für ihr restliches Leben. Keine Therapie kann dann noch etwas ausrichten.“ Dass er damit richtig liegt, wissen alle hier.

Einsatzleiter Kämmerling spricht jetzt über das Megaphon. Die Polizei wird nicht eingreifen. Sie sollen bitte den Geiseln nichts tun und ihre Forderungen vortragen. Man wird ihnen selbstverständlich entgegenkommen. Verhandelt werden muss allerdings über den Hof, das Haustelefon ist aufgrund eines technischen Defekts leider ausgefallen.

Dann öffnet sich die Tür einen Spalt weit. Einen Kasten Bier will man und zwei Flaschen Tequila. Und schnell, sonst garantiert man für nichts.

Die Antwort der Polizei kommt prompt. Man wird sich beeilen, aber zehn Minuten dauert es noch, denn die Getränke müssen erst im Supermarkt an der Ecke besorgt werden. Und wenn dort kein Tequila vorrätig ist?

„Wodka!“, schallt es autoritär durch die erneut geöffnete Tür.

Udo Haferbeck hat an einem kleinen Tisch im Flur die Akten noch einmal studiert. Jetzt springt er auf und kommt auf den Hauptkommissar zu, der gerade das Megaphon abgesetzt hat und vom Fenster zurückgegangen ist.

„Ich fürchte, wir haben ein Problem“, sagt der Psychologe.

Der Einsatzleiter macht den Nacken steif.

„Da gibt es ganz markante Auffälligkeiten im Vorstrafenregister der drei. Tierschutzdelikte nämlich und Brandstiftung.“

„Was schließen Sie daraus?“

„Mir ist das beim ersten Durchsehen gar nicht aufgefallen. Sie haben Katzen und Hunde gefangen, an ihr Auto gebunden und zu Tode geschleift. Mehrfach, mit 14 Jahren schon. Als sie deswegen im Tierheim gemeinnützige Arbeit leisten mussten, haben sie einen Hund stranguliert und mit seiner Leine am Gitter aufgehängt. Überall steht: keine Reue, keine Einsicht, ohne Gefühl.“

„Nun haben wir es ja hier nicht mit Tieren zu tun.“

„Das ist soweit richtig. Aber im vergangenen Jahr haben die drei im katholischen Pfarrhaus auch noch Feuer gelegt. Diese Kombination ist heiß. Studien in den Vereinigten Staaten sagen, dass danach mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit Tötungsdelikte am Menschen folgen. Wenn noch Bettnässen hinzu käme, wären es 90 Prozent, aber da gibt es keine Erkenntnisse. Ich glaube nicht, dass außerhalb der Staaten etwas anderes gilt.“

„Sicher?“

„Ziemlich sicher!“

„Was raten Sie uns?“

Der Polizeipsychologe zögert keinen Augenblick: „Schießen!“

„Sie sprechen vom finalen Rettungsschuss?“

„Davon spreche ich. Und der sollte schnell kommen.“

Der Einsatzleiter führt seine Scharfschützen ins Nachbarhaus. Die Wohnung mit der günstigsten Schussperspektive ist abgeschlossen. Die Bewohner sind nicht zu Hause. Die Männer des SEK brechen die Tür auf – eine Sekundensache – und postieren sich am Fenster. Man wird die Nummer mit dem Service-Wagen ausprobieren. Sie ist so alt wie die Geiselnahme selbst, aber die drei aus dem Ghetto werden ihr zum Opfer fallen.

Wer schießt, ist eine längst beschlossene Sache. Die Positionen 1 – 20 sind über die Ergebnisse des Übungsschießens vergeben worden. Der heutige Fall hat Ausnahmecharakter. Es gibt drei Ziele und deswegen müssen auch drei Schützen ausgewählt werden. Hauptkommissar Kämmerling verteilt die Aufgaben. Nummer 3 wird den linken, Nummer 2 den mittleren und Nummer 1 den rechten Geiselnehmer unter Feuer nehmen, falls sie denn, wenn die Jalousien hochgezogen sind, auf eine Reihe gebracht werden können. Wenn eine andere Situation entsteht, wird sich der Einsatzleiter etwas Neues einfallen lassen.

„Alles klar?“, fragt Ulrich Kämmerling.

„Fertig“, antworten die Beamten, während sie ihre futuristischen Präzisionsgewehre in Anschlag bringen. Eine Scheiß-Situation, denkt der Einsatzleiter, trotz aller Routine. Auch weil Nummer 3 heute Geburtstag hat. Bettina Krüger wird 29.

Der Service-Wagen mit dem Bier, Schnaps und den belegten Brötchen rollt langsam zur Container-Tür. Der "Hausmeister", der ihn über den Schulhof vorwärts bewegt, trägt eine Pistole unter seinem braunen Kittel. Auf halben Weg meldet sich der Einsatzleiter zu Wort: „Wir bringen Ihnen jetzt die Getränke und ein paar belegte Brötchen“, spricht er ruhig und gefasst ins Megaphon. „Bitte geben Sie den Kindern Gelegenheit, etwas zu essen. Wir werden Ihren Wünschen selbstverständlich nachkommen und Ihre Forderungen erfüllen.“

Diese Sätze sind Vorgaben des Psychologen. Wenn es noch eine Möglichkeit gibt, die Lage zu entspannen, dann diese: Eingestehen, dass die Täter das Sagen haben, am längeren Hebel sitzen, Herr im Hause sind. Das kennen sie aus dem wirklichen Leben nicht. Und das könnte sie ein klein wenig berechenbarer, weniger aggressiv machen – und auch ablenken von dem Geräusch der sich jetzt öffnenden Jalousien.

Tatsächlich reagieren sie darauf überhaupt nicht. Stattdessen wird die Tür wieder einen Spalt weit geöffnet und der Anführer schreit: „Gehen Sie hinter dem Wagen weg! Und ausziehen! Ziehen Sie sich aus!“ Der „Hausmeister“ ist auf diese Situation vorbereitet. Blitzschnell deponiert er die Pistole an der Rückseite des Wagens und tritt zwei Schritte zur Seite. „Ich bin völlig unbewaffnet“, sagt er im Tonfall eines sedierten Roboters und entledigt sich seiner Kleidung bis auf die Unterhosen. Dann dreht er sich mit erhobenen Händen einmal um seine eigene Achse. „Alles okay?“

„Kommen Sie!“, schallt es zurück.

Von ihrem Standort aus können die Scharfschützen jetzt den gesamten Klassenraum einsehen. Ganz links am hinteren Ende des Zimmers sitzt ein Geiselnehmer auf einem Tisch und richtet die Pistole auf eine der Lehrerinnen, die mit abgewandtem Gesicht vor ihm auf einem Stuhl hockt. Gegenüber, am Lehrerpult, steht ein anderer Täter. Er hat ein kleines Mädchen an sich geklammert und hält ihr seine Pistole an die Schläfe. Der dritte Täter ist nicht zu sehen; er befindet sich offenbar hinter der Außentür, die immer noch einen Spalt offen steht.

„Bleiben Sie bei Ihrer Einschätzung?“, fragt der Einsatzleiter knapp.

„Der Mann ganz rechts bedroht ein Kind. Er hält einer Zehnjährigen die Waffe an die Schläfe. Er wirkt völlig apathisch. Schießen Sie, so schnell Sie können!“

Jetzt ist der Wagen mit den Köstlichkeiten und den anderen Dingen an der Eingangstür angelangt. Im Fadenkreuz des linken und mittleren Scharfschützen befinden sich die Köpfe der Geiselnehmer. Bettina Krüger hat die Tür im Visier.

„Bitte bedienen Sie sich!“, ruft der Hausmeister freundlich.

„Hauen Sie ab“, schallt es aus dem Container. „Abhauen, sage ich. Weg!“

Der Beamte entfernt sich mit erhobenen Händen. Dieses Ass ist verloren. Die Pistole am Wagen auch. Aber sie wird dem neuen Besitzer nichts mehr nützen.

Der Anführer öffnet langsam die Tür. Er hat seinen linken Arm um den Hals der Lehrerin gelegt und sie fest an sich gepresst. Mit der rechten Hand drückt er ihr die Pistole an die Schläfe. Sie ist sein Schutzschild, den er jetzt langsam nach draußen schiebt, damit sie den Wagen ergreifen und in den Klassenraum ziehen kann.

Auf dem Display des Einsatzleiters sind zwei Felder grün und eins ist rot. Der Kopf des dritten Geiselnehmers muss frei werden. Sonst ist ein Schuss nicht zu verantworten.

Die Lehrerin hat jetzt den Metallbügel des Service-Wagens gepackt und zieht ihn langsam zur Tür. Der Einsatzleiter hat einen vierten Schützen geholt. Auf seinem Gewehr steckt eine Akustik-Granate, oder, wie es offiziell heißt, ein Irritations-Körper. Er explodiert an jedem festen Hindernis und dient der Ablenkung von Tätern. Es ist ein Erfolgsprodukt aus den Labors der CIA in Denver. Sein Sound schlägt jedes Hirn und jedes Ohr in seinen Bann. Erst im vergangenen Jahr haben die Amerikaner das Patent allen Nato-Staaten geschenkt - als Dank fürs Mitmachen anderswo.

„Jetzt!“, sagt der Einsatzleiter, als die Lehrerin den Wagen bis zur Containertür gezogen hat. Der Sprengkörper explodiert am entfernten Ende des Flachdachs. Erschrocken dreht der Anführer seinen Kopf nach rechts, während die Geisel verkrampft innehält und auf alles gefasst ist.

Bettina Krüger drückt mit dem Daumen der rechten Hand den kleinen Knopf am oberen Ende des Schafts. Jetzt zeigt das Display von Hauptkommissar Kämmerling für alle Waffen grün. „Feuer!“, sagt der Einsatzleiter knapp in das kleine Mikro seines Head-sets. Dann fallen, im Abstand von Sekundenbruchteilen, drei Schüsse. Fast gleichzeitig stürzen SEK-Beamte aus dem alten Schulgebäude auf die Container zu und klettern durch die Fenster in den Klassenraum. Dort gibt es allerdings für sie nichts mehr zu tun. Die Geiselnehmer sind tot. Die Spezialmunition hat ihre Köpfe zerfetzt. Tot ist allerdings auch die Klassenlehrerin der 5a. Schon in die linke Schläfe getroffen, hat der Anführer noch den Abzug seiner Pistole bedient. Nun liegen beide mit halboffenen Mündern neben dem blutbespritzten Service-Wagen. Die Notärzte haben keine Chance.

"Geisel tot!", schreibt am nächsten Tag die Bild-Zeitung in ihrer Headline. Und im Untertitel heißt es: „Kidnapper sterben im Kugelhagel des SEK - Kinder unverletzt.“

Auf Seite 3 stellt ein Kommentator die Frage, ob die Bilanz des Polizeieinsatzes in Ordnung sei. Eine Antwort gibt er nicht.

Im Keller

Es war der 10. Mai und anscheinend würden auch in diesem Jahr die Eisheiligen wieder ausfallen. Das Thermometer zeigte 23 Grad Celsius und in den Vorgärten blühten Forsythien und Magnolien um die Wette. Ein Stakkato aus unzähligen Vogelhälsen bot dem Lärm der Straßen Paroli und Hyazinthenduft behauptete sich gegen den Gestank der Auspuffgase.

Kurz vor zwei Uhr betrat Annette Basler das kühle Halbdunkel im Eingangsbereich des Rechtsmedizinischen Instituts an der Jefferson-Allee im Süden Frankfurts. Den Gruß der Sekretärin aus dem Anmeldezimmer mit der stets offen stehenden Tür erwiderte sie nur knapp. In ihrem Büro kochte sie sich zunächst Kaffee, um danach einen flüchtigen Blick über die Tagespost zu werfen. Missmutig öffnete sie zwei oder drei Briefe, deren Inhalt sie aber nicht interessierte. Als das Telefon klingelte, hob sie nicht ab, sondern machte es sich in ihrem alten Ledersessel bequem. Dabei legte sie die Beine auf den Schreibtisch und schaute, von Zeit zu Zeit an ihrer Tasse nippend, durch das gegenüberliegende Fenster ins frische Grün des Gartens.

Das würde kein guter Tag werden, war sie sich sicher. Sie kannte auch den Grund. Einmal mehr würde sie heute unter Beobachtung arbeiten. Würde im Keller des Instituts einer nur ganz zu Anfang sprachlosen, dann aber stets wacher werdenden und forscher sich zu Wort meldenden Gruppe gegenüber stehen, deren Fragen zwar Kompetenz verrieten, gleichzeitig aber von Minute zu Minute bedrohlicher wurden. Und sie würde einmal mehr die Fragen der Besucher beantworten und ihre Arbeit erläutern. Das war es, was ihr mittlerweile so gewaltig auf die Nerven ging. Dabei hatte es bis vor kurzem noch ganz anders ausgesehen: Sie fand einen Riesenspaß daran, einer Horde blasser Studenten ihre Arbeit zu zeigen. Wenn sie etwas etwas rüberbringen konnte, wenn sie ihrem Gegenüber ein Aha-Erlebnis verschaffen konnte, war sie glücklich. Soweit sie sich erinnerte, hatte sie immer irgendetwas „rübergebracht“. Mit 15, als Obertertianerin, war sie erstmalig von einer Familie aus dem Bekanntenkreis für Nachhilfestunden angeheuert worden. Es ging um Latein, die gleichaltrige Tochter stand auf glatt fünf. Die Eltern waren verzweifelt und ratlos. Die um Hilfe Gebetene wusste schnell, was Sache war. Ihre Schülerin hatte ganz einfach den Einstieg in die fremde Sprache verpasst, war schon beim Start auf das falsche Gleis geraten. Nur eine handvoll Sitzungen brauchte sie, bis sie ihrem Lehrling erklärt hatte, wie Latein funktioniert, dann war das Problem gelöst. Von fünf auf zwei in nur vier Wochen. Den überglücklichen Eltern war das einen Tausender wert. So ging es weiter. Nachhilfe in Chemie, Deutsch, Englisch, immer erfolgreich, brachte ihr in jungen Jahren schon ein üppig dimensioniertes Taschengeld ein.

Aber das war es nicht, was sie an dieser Tätigkeit interessierte. Zumal sie keine Wünsche hegte, die ihre wohlhabenden Eltern nicht erfüllt hätten. Es war die Faszination, die mit der erfolgreichen Vermittlung von Wissen verbunden war, der Spaß am „Rüberbringen“, andere zu interessieren und, wenn möglich, zu faszinieren. Als Medizinstudentin war sie schnell die beste Assistentin ihres Professors und leitete die Kurse in Anatomie und Pathologie. Studenten zu unterrichten machte ihr genauso viel Spaß, wie Muskeln und Nerven zu sezieren.

Das war mittlerweile anders geworden. Die Betreuung der zahlreichen Besuchergruppen, die sich um die Sektionstische drängelten - Jura- und Medizinstudenten, aber auch interessierte Laien - machte ihr immer weniger Freude. Und heute war das alles in offene Ablehnung umgeschlagen. Gleichzeitig, als sie so dasaß und Kaffee trinkend in den frühen Sommer schaute, wurde ihr bewusst, woran das lag.

Es waren die Fragen der Besucher, spezielle Fragen allerdings, nicht die nach der Erkennbarkeit von Raucherlungen und Säuferlebern. Fragen, die sie selbst betrafen. Wie man als am Krankenbett ausgebildete Ärztin am Sektionstisch arbeiten könne. Ob Arztsein nicht entscheidend mit Heilen zu tun habe und nicht mit der Feststellung von Todesursachen.

Diese Fragen hatte sie einmal lässig beantwortet. Standardantworten waren daraus geworden, stets wortgleiche Erklärungen mit hohem Überzeugungswert - auch und vor allem für sie selbst. Die Erforschung von Todesursachen diene auch der Bekämpfung von Krankheiten und es sei doch wichtig, einen Mörder zu überführen, beziehungsweise einen unschuldig Verdächtigten zu entlasten, hatte sie den Fragestellern mit wachsendem Selbstbewusstsein mitgeteilt. Ihre anfänglichen Zweifel waren schließlich ganz verschwunden - und kamen jetzt zurück.

Und damit auch die Erinnerung. Zum Beispiel an ihre Zeit im Unfallkrankenhaus. Drei- oder fünfmal pro Tag bringt der Rettungshubschrauber Opfer von Verkehrs- und Arbeitsunfällen. Auf der Intensivstation tobt ein wilder Kampf gegen den Tod. Das Visier ist offen und der Ausgang auch. Oft wird verloren. Aber es wird auch gewonnen. Den Angehörigen zu sagen: Er hat überlebt - das war eine wichtige Sache.

In der Jefferson-Allee in Frankfurt gab es diese Dinge nicht mehr. Weder Niederlagen noch Siege. Lange hatte sie von dem Mangel an Enttäuschungen gelebt - jetzt fehlten ihr die Erfolge. Und jetzt meldete sich auch das schlechte Gewissen. Hatte sie es sich zu bequem gemacht? War sie einfach nur weggelaufen und hatte ihre Kollegen alleine gelassen? Vor einem halben Jahr war ihr auf einem Maifest in der Innenstadt ein ehemaliger Kommilitone aus Hamburg begegnet. Er arbeitete als Notarzt in Heidelberg. Fünfmal in der Woche, so seine Schilderung, musste er Menschen wiederbeleben; dreimal mit Erfolg. Sechzig Wochenstunden machte er Bereitschaftsdienst bei wenig Schlaf und nur eingeschränktem Familienleben. Sie hatte nichts dagegenzusetzen.

Von einem Besucher der Akademie Arnoldshain, einer kirchlichen Fortbildungsstätte, gerade dreißig Kilometer entfernt im Taunus gelegen, war sie vor ein paar Wochen gefragt worden, ob sie den Job der Gerichtsmedizinerin noch einmal wählen würde. „Aber natürlich“, hatte sie mit einem souveränen Lachen geantwortet, noch keinen Tag habe sie ihre damalige Entscheidung bereut. Abends, zu Hause vor dem Fernseher, war ihr dann ganz spontan bewusst geworden, dass dies die Antwort war, die sie schon seit Jahr und Tag ihrem Boss nachplapperte. Dann überlegte sie ein erstes Mal, ob diese Antwort richtig war. Was folgte, war eine Nacht voller Albträume.

Ihre Kollegen hatten diese Sorgen nicht. Sie waren mit Begeisterung bei der Sache, auch noch nach vielen Jahren am Institut. Sie sprachen vom letzten Dienst am Menschen, von der postmortalen Krankenversorgung, begriffen sich als Lobby der Toten. Auch wenn Annette Basler das als verbale Falschmünzerei ansah, eines konnte sie ihren Mitarbeitern nicht absprechen: Dass der Job interessant, abwechselungsreich und spannend war. Es ging ja nicht nur um Obduktionen. Gutachten zur Schuldfähigkeit von betrunkenen Autofahrern und Serienmördern, Expertisen über ärztliche Behandlungsfehler, Todeszeitbestimmungen, Lebensalterabschätzungen, Identifizierung fotografierter Bankräuber und die Zuordnung von Skelettfunden – das alles stand noch auf ihrem Programm und diese Posten waren zweifelsfrei von hoher Attraktivität.

Und auch die Geschichte von Dr. Schubert, des erst kürzlich von Berlin an den Main gewechselten Kollegen, die so viel verriet von der Faszination des Berufes, schlug sie immer noch in ihren Bann. Der erfahrene Mediziner mit dem Spezialgebiet „Schussverletzungen“ hatte im Auftrag der Vereinten Nationen im Kosovo an Untersuchungen von Massengräbern teilgenommen. Im Stiefel eines grässlich zugerichteten Albaners war er auf einen Brief gestoßen, den der junge Mann im Wissen um sein Schicksal an seine Verlobte geschrieben hatte. Er sterbe in der Überzeugung, stand da, dass seine Mörder einmal ihre gerechte Strafe erhielten. Diejenigen, die gemeint waren, saßen mittlerweile im Gefängnis in Den Haag. Dr. Schubert hatte seinen Beitrag dazu geleistet.

Manchmal fragte sich Annette Basler, warum sie sich gerade für die Rechtsmedizin entschieden hatte, wo es doch noch eine Reihe anderer Spezialisierungsmöglichkeiten gegeben hatte, von der Chirurgie bis zur Inneren Medizin. Dann dachte sie an den Stress der Nachtschichten, die Hektik der Notfallaufnahmen und die Angst vor der Niederlage. Aber auch an ihren Wunsch, diejenige zu sein, die in der Leiche aus dem stinknormalen Verkehrsunfall die Kugel des Mörders entdeckt.

Ihre Mutter hatte früh vor der Rechtsmedizin gewarnt und die Tochter daran erinnert, dass diese als Kind stets nur mit „kranken“ Puppen gespielt und Stunden in deren Heilung investiert hatte. Du brauchst den lebenden Patienten, war ihre kompromisslose Einschätzung gewesen, aber Annette Basler hatte den guten Rat ignoriert.

Die Besucher heute kamen wiederum von der Akademie im Wald. Es waren Teilnehmer eines Seminars über Ethik und Medizin. Sie hatte kein gutes Gefühl.

Als die große Wanduhr im Flur des Instituts zwei schlug, zog Annette Basler ihren weißen Kittel über und verließ das Büro. Auf dem Weg zum kleinen Hörsaal begegnete ihr der Chef. „Sie sollten sich beeilen, Ihre Gäste warten schon“, sagte Professor Gerster im Vorübergehen und lächelte, wie er das immer tat.

Die Besucher der Rechtsmedizin sind ausnahmslos pünktlich. Manchmal sogar zu pünktlich. Regelmäßig sitzen sie schon eine Viertelstunde vor Beginn der Veranstaltung hochdiszipliniert auf den engen Klappstühlen des Unterrichtsraumes und warten schweigend auf den Referenten. Und vor allem auf das, was sich anschließend ein Stockwerk tiefer abspielen wird. Für die meisten ist es die erste Leiche, die sie dort zu Gesicht bekommen. Eine dramatische Angelegenheit, denn die meisten haben den Tod aus ihrem Alltag verdrängt. Trotz RTL und PRO 7: Richtige Leichen machen uns Lebende leichenblass.

Eine Viertelstunde lang erläutert Annette Basler die Geschichte des Instituts und bereitet das gute Dutzend junger Männer und Frauen auf die Obduktion vor. In groben Zügen sollen sie schon einmal wissen, was auf sie zukommt. Annette Basler wird Kopf, Brust und Bauchraum des Verstorbenen öffnen, sämtliche Organe herausnehmen und untersuchen. Es gibt gute Gründe für dieses Gemetzel. Man will die Wahrheit erfahren und Wahrheit geht in diesem Hause vor Pietät. „Obduktion light“ gibt es nicht. Entweder oder. Wenn die Besucher das verstanden haben, ist schon viel gewonnen.

„Gehen Sie mir einfach nach“, sagt sie, „und atmen Sie zunächst nicht durch die Nase.“

Marschordnung und Atemtechnik sind wichtig, um die Besucher überhaupt zum Sektionstisch zu bringen. Annette Basler weiß das nur zu gut. Bei ihrer allerersten Besuchergruppe - Jurastudenten im ersten Semester - hatte sie das Schlusslicht gespielt und das war gründlich schief gegangen. Auf der Hälfte der schmalen Treppe kam ihr der Kopf der Schlange schon wieder entgegen, noch ein bißchen blasser als zuvor. Irritiert vom schlechten Geruch, der dem unbekannten Kellergewölbe entstieg, und erschreckt durch die beiden nackten Füße, die im Türspalt zum Sektionsraum zu sehen waren, hatten die Studenten umgehend kehrt gemacht und nicht alle waren anschließend wieder zu einem zweiten Versuch aufgebrochen.

„Was erwartet uns eigentlich da unten?“, fragt ein junger Mann mit Schweißperlen auf der Stirn, als sie sich in der Mitte der Treppe befinden. „Ich meine, was ist das für eine Leiche?“

„Eine ganz normale“, gibt Annette Basler zur Antwort und weiß, dass das nicht stimmt.

Dann führt sie ihre Gäste in den Sektionsraum, ein niedriges Kellergewölbe mit weiß getünchten Wänden und einem hell gekachelten Boden. Die Decke ist mit Neonröhren gespickt, die ihr gleißend kaltes Licht auf zwei Edelstahltische in der Raummitte werfen. Schweigend verteilen sich die Besucher um den Tisch am hinteren Ende des Raumes, auf dem ein nackter weiblicher Leichnam liegt.

„So, das ist also unser heutiger Fall“, sagt Annette Basler betont unaufgeregt. Sie weiß, dass Normalität in diesem Augenblick wichtig ist, um den Gästen über den ersten Schock hinwegzuhelfen. „Eine junge Frau, 20 Jahre alt, 1,80 m groß und mit 68 Kilo sehr schlank.“

Kopf und Gesicht der Verstorbenen sind blutverschmiert. Ihre langen schwarzen Haare hängen rotgefärbt und zerzaust über der metallenen Kopfstütze, die der Sektionsgehilfe unter ihren Hals geschoben hat. Aus dem linken Ohr kommend führt eine schmale Blutspur bis zum Schlüsselbein. Das Becken ist merkwürdig verdreht und der rechte Unterschenkel offensichtlich gebrochen; ein Teil des Knochens hat sich durch Gewebe und Haut nach außen gebohrt.

„Was könnte passiert sein?“, fragt Annette Basler ruhig.

Es dauert eine Weile bis zur ersten Antwort. „Ein Verkehrsunfall.“

„Nicht schlecht“, lobt die Ärztin, „das Polizeiprotokoll sagt aber etwas anderes. Danach ist die Verstorbene vom Balkon ihrer Wohnung im dritten Stock gesprungen.“

„Selbstmord?“

„Könnte sein.“

„Was heißt: könnte sein? Was kommt denn sonst noch in Betracht?“

„Vielleicht hat man sie ja gezwungen, zu springen“, sagt Annette Basler und registriert erste überraschte Augenaufschläge, „oder man hat sie geschubst. Nicht alles, was zunächst nach Selbstmord aussieht, ist es auch.“

Annette Basler macht eine kleine Pause. „Unsere Aufgabe ist es zunächst aber, die unmittelbare Todesursache festzustellen. Dann nehmen wir auch noch Stellung zur Theorie der Polizei.“

„Sie meinen, zu der These, dass die Frau Selbstmord begangen hat?“

„Ja, richtig.“

„Aber was wollen Sie dazu sagen? Sie waren doch gar nicht dabei.“ Der junge Mann, dem schon der Gang in den Keller den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte, ist wieder oben auf.

„Vielleicht finden wir ja bei der Toten Verletzungen, die auf einen Kampf vor dem Sturz schließen lassen, typische Abwehrverletzungen, wie wir sagen. Das spräche zum Beispiel gegen einen Selbstmord - aber jetzt fangen wir am besten einfach an.“

Annette Basler zieht Latexhandschuhe über und holt ihr Diktiergerät aus dem Wandschrank.

„Am Anfang jeder Untersuchung steht die äußere Besichtigung der Leiche.“ Annette Basler ist mit einem Mal wieder in ihrem Element, ganz wie am ersten Tag. „Wir schauen nach den Leichenflecken, die uns etwas über den Todeszeitpunkt verraten, sowie nach Verletzungen, oder wir registrieren Besonderheiten wie diese hier.“

Annette Basler greift unvermittelt in die blutverschmierten Haare und zieht sie mit einem Ruck vom Kopf. Die Besucher halten die Luft an.

„Eine Glatze“, sagt jemand nach Ablauf diverser Schrecksekunden ungläubig.

„Richtig“, entgegnet Annette Basler mit einem warmen Lächeln, „es gibt auch kahlköpfige Frauen. Aber was fällt Ihnen im Schädel-Gesichtsbereich noch auf?“

Die Besucher recken die Hälse.

„Keine Augenbrauen“, sagt schließlich jemand.

„Auch richtig“, antwortet Annette Basler, „keine Augenbrauen, keine Wimpern“, - sie hebt den rechten Arm der Leiche hoch -, „keine Achselhaare und keine Schamhaare. Als Arzt wissen Sie darüber hinaus: Die Haare sind nicht abrasiert worden, sondern ausgefallen.“

„Und wie kommt das?“

„Das weiß ich auch nicht.“

Jetzt ist der Sektionsgehilfe an der Reihe, der Mann fürs Grobe. Mit einem Trennschleifer, wie es ihn in jedem Baumarkt zu kaufen gibt, öffnet er den Schädel. Es dampft gewaltig, als er entlang einer Linie oberhalb von Augen und Ohren den Knochen zertrennt. Für einige Augenblicke stinkt es bestialisch. Dann klappt der Gehilfe die Schädeldecke nach hinten weg. Auf der rechten Seite ist sie in zahllose kleine Stücke zersprungen und wird nur noch von der Kopfhaut zusammengehalten. Das Hirn darunter zeigt nicht mehr die klassische Form aus größeren und kleineren Windungen, sondern ist weiße Pampe. Der Gehilfe löst es aus dem Schädel und legt es auf eine Metallbank am Fußende des Tisches.

„Am Zustand der Schädeldecke und der darunterliegenden Hirnmasse erkennt man sehr gut, dass auf diesen Bereich stumpfe Gewalt eingewirkt hat.“

„Sie ist also mit dem Teil des Kopfes auf den Asphalt aufgeschlagen“, konstatiert ein Gast.

Annette Basler muss erneut korrigieren.

„Das wäre ein vorschneller Schluss. Sie können bestenfalls sagen, dass die festgestellten Verletzungen typisch sind für einen Sturz aus großer Höhe mit anschließendem Aufprall auf einen harten Gegenstand.“ Dann macht sie eine kleine Pause, um den fraglichen Befund in ihr Diktiergerät zu sprechen.

„Die gleichen Verletzungen entstehen allerdings auch bei einem Schlag mit einem Bügeleisen oder einer schweren Blumenvase.“

Mit einem großen Messer schneidet die Pathologin das Gehirn in zentimeterbreite Scheiben.

„Das machen wir, um Veränderungen festzustellen, Tumore beispielsweise oder kranke Gefäße. Da ist aber nichts. Allerdings erkennt man jetzt, dass etwa ein Drittel des Gehirns durch die Gewalteinwirkung auf den seitlichen Schädel zerstört wurde - eine Verletzung, die für sich allein schon unmittelbar zum Tode führen kann.“

„Dann könnten Sie doch jetzt aufhören.“

„…. und die Kugel übersehen, die das Opfer im Bauch stecken hat!“

Heute lernen die Gäste im Minutentakt dazu. Annette Basler fühlt sich jetzt rundum gut.

„Aber bleiben wir noch beim Gehirn. Was ich immer mache: die Hirnanhangdrüse, die Hypophyse, untersuchen und auch sicherstellen.“

Mit einem kleinen Meisel legt die Pathologin nun ein kleines Areal am Boden des Zwischenhirns frei. Für ein paar Sekunden verschlägt es ihr die Sprache. Das normalerweise haselkerngroße Organ hat die Ausmaße einer Walnuss. Und es ist auch nicht wie üblich grau-braun, sondern tiefblau und auffallend marmoriert. Ein Besucher hat sich ebenfalls über die Bank gebeugt.

„Sagten Sie nicht: haselkerngroß?“

„Sie haben recht“, antwortet Annette Basler, „die hier ist ein bisschen größer geraten.“

„Gibt es das öfters?“

„Ganz selten, ich weiß gar nicht, wann ich so etwas zum letzten Mal gesehen habe.“

Jetzt sagt Annette Basler wiederum nicht die Wahrheit. Es ist erst sechs Wochen her und sie kann sich haargenau daran erinnern.

„Die Hypophyse stellen wir auf jeden Fall sicher“, sagt Annette Basler noch immer irritiert. Dann entfernt sie das auffällig große Organ mit dem Seziermesser vom Zwischenhirnboden und deponiert es in einer kleinen Tupperdose. In kaum einer Stunde wird das Beweismittel bei minus 40 Grad vor jeder Veränderung sicher sein.

Als sie den neuesten Befund auf Band sprechen will, hat ihr Gerät gerade den Geist aufgegeben. Weiblicher Intuition folgend versucht sie die Technik mit Schütteln zu überlisten. Es misslingt. In diesem Augenblick geht die Tür des Sektionsraumes auf und zwei Mitarbeiter bringen auf einem Buggy eine weitere Leiche herein. Gekonnt hieven sie sie auf den freien Tisch. Dr. Fred Malorny ist zuständig. Auch Kripoleute sind erschienen. Annette Basler schaut kurz auf.

„Ist das die Sache von der Autobahn?“ Dr. Malorny nickt.

„Sagst Du meinen Leuten ein paar Worte dazu?“ Dr. Malorny nickt erneut und macht eine einladende Handbewegung.

„Meine Damen und Herren“, wendet sich die Ärztin an ihre Besucher, „wir unterbrechen für eine Minute. Ich habe mit meinem Diktiergerät ein paar Takte zu reden. Auf dem Nachbartisch liegt ein interessanter Fall. Dr. Malorny wird Ihnen etwas dazu erzählen.“

Annette Basler hält Schütteln weiterhin für das Mittel der Wahl, um ihr Diktiergerät wieder in Gang zu setzen. Heftige mit den Fingerkuppen ausgeführte Klopfattacken sollen es zusätzlich beeindrucken. Nach einer knappen Minute ist Hilfe zur Stelle.

„Darf ich?“ Hinter ihr hat sich eine sympathische Stimme gemeldet. Sie gehört einem jüngeren Mann mit blonden halblangen Haaren, einem Siebentagebart und einer Secondhand-Brille.

„Entschuldigung, ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Mein Name ist Neuhaus, Staatsanwalt Neuhaus. Ich bin wegen des Autobahnfalles hier. In technischen Dingen gelte ich als nicht ganz untalentiert, wenn ich mal schauen darf …“

Der Staatsanwalt nimmt das Corpus delicti in Augenschein und drückt sämtliche Tasten und Knöpfe. Annette Basler glaubt zu erkennen, dass er sich dabei viel Zeit lässt.

„Ich habe Sie allerdings schon öfter hier unten gesehen“, sagt Dirk Neuhaus, während er eine neue Testreihe beginnt, „aber immer am Nachbartisch.“

„Ganz fremd sind Sie mir auch nicht“, entgegnet Annette Basler höflich, obwohl sie sich nicht erinnern kann, ihren freundlichen Helfer auch nur einmal wahrgenommen zu haben.

Irgendwann hat Dirk Neuhaus den Fall gelöst. „Der Akku ist leer, Sie haben einen neuen zur Hand?“

„Ja, selbstverständlich - und vielen Dank.“

„Gern geschehen“, antwortet der Staatsanwalt mit einem etwas zu breiten Lächeln, wobei Annette Basler das Gefühl hat, als wolle er noch etwas sagen, etwa: Wenn wir uns hier unten noch einmal treffen, dann wünsche ich mir wieder ein defektes Diktiergerät.

Ein komischer Typ, denkt die Ärztin, aber irgendwie ganz nett. Sie geht hinüber zum Nachbartisch. Dr. Malorny erläutert den Besuchern gerade seinen Fall.

Fred Malorny ist der Sunnyboy des Hauses. Man sieht ihn nur lächeln. Wenn er darauf angesprochen wird, sagt er, er lache aus Demut und nicht aus Übermut. Im Angesicht von so viel Tod freue er sich über jede Minute seines Lebens. Das klingt überzeugend. Psychologen würden aber Bedenken anmelden. Lachen, sagen sie, hat im Alltagsgeschäft nur wenig mit Gefühlen zu tun. Es ist soziale Handlung, dient etwa der Abwehr oder der Täuschung. Aber was soll´s? Alle im Hause wissen: Die Psychologie des Lachens ist noch längst nicht enträtselt und über das Lachen in Sektionssälen ist die erste Arbeit noch zu schreiben.

„Seit langem wieder einmal ein doppelt gesicherter Selbstmord“, sagt Dr. Malorny. „Die Fälle sind eher vom Menschlichen her interessant, nicht so sehr vom Medizinischen.“ Dabei wischt er dem Verstorbenen mit einem Schwamm das Blut vom Gesicht. An der rechten Schläfe ist ein centgroßes Loch erkennbar.

Am frühen Morgen ist der 42-Jährige nach den vorläufigen polizeilichen Erkenntnissen im Westen Frankfurts auf eine Autobahnbrücke geklettert, hat einen Strick am Geländer befestigt und das andere Ende als Schlinge um den Hals gelegt. Beim Sprung in die Tiefe hat er sich mit einer Pistole in den Kopf geschossen. Menschen, die ihrem Leben in dieser Weise ein Ende setzen, wähnen sich in einer ausweglosen Situation. Sie gehen auf Nummer sicher. Wenn ihre Pistole versagt oder die Kugel nicht die gewünschte Wirkung hat, besorgt der Strick das Geschäft. Und wenn der reißen sollte, wartet in 50 Meter Tiefe der sichere Tod, im Zweifelsfall unter einem 40-Tonner. Hier haben weder Pistole noch Seil versagt.

„Und was war die konkrete Todesursache?“

„Das werden wir nicht sagen können. Sowohl die Kugel als auch der Strick waren für sich allein geeignet, den Tod herbeizuführen. Irgendwas hat gewonnen - mit vielleicht einer Sekunde Vorsprung. Aber das versteht sich alles nur als vorläufiges Ergebnis, vielleicht finden wir ja noch eine zweite Kugel aus einer fremden Pistole, dann sieht alles wieder ganz anders aus.“

„Das ist aber unwahrscheinlich.“

„Ja, sehr, aber nicht unmöglich.“

„Was ist das für ein Mann?“, fragt jemand.

„Ein Arzt“, antwortet Dr. Malorny. Betretenes Schweigen.

„Weiß man, warum er sich das Leben genommen hat? War er krank?“

„Das wird sich zeigen.“

„Wir spekulieren da in eine andere Richtung“, wirft der Staatsanwalt ein. „Bei uns gibt es nämlich eine Akte über ihn.“ Die beiden Kripomänner mit den knorrigen Colts im Gürtel grinsen.

„Hätte der sich nicht wenigstens eine angenehmere Todesart wählen können?“

„Ob wir uns umbringen und wie wir das tun, hängt nicht nur von unserem Schicksal und unseren Möglichkeiten ab, sondern vor allem von unseren Genen.“

Annette Basler geht zurück an ihren Tisch. Sie ist nachdenklich geworden. Diese Hypophyse. Diese Haarlosigkeit. Und dann die Geschichte von vor sechs Wochen. Sie hat einen Verdacht, den sie nicht zu Ende denken kann. Aber warum hat sie die Riesendrüse so überrascht? Hat sie es nicht geahnt in Anbetracht des kahlen Körpers der Toten? Sie weiß im Augenblick keine Antwort.

Jetzt ist sie noch auf die Bauchspeicheldrüse gespannt. Ungeduldig seziert sie in Richtung Bauchraum. Als der Sektionsgehilfe mit einem Bolzenschneider die Rippen unmittelbar am Brustbein knackt, um Herz und Lunge zugänglich zu machen, verziehen die Gäste das Gesicht und einige schauen weg. Als der Magen entfernt wird, liegt die Bauchspeicheldrüse frei. Was sie jetzt sieht, hat sie insgeheim schon gewußt, aber sie ist doch erschrocken.

Das normalerweise 100 Gramm schwere, für die Insulinproduktion zuständige Organ sieht aus wie aufgeblasen. Weisse Knötchen überziehen die feuerrote Oberfläche und wurmdicke Aufwerfungen inszenieren ein wahrhaftes Krampfader-Mimikry.

Annette Basler schluckt zweimal und hat sich dann schnell wieder gefangen. Die Gäste sollen ihre Betroffenheit nicht spüren. Aber verheimlichen will sie ihnen auch nichts.

„Eine gleichfalls nicht normgemäße Pankreas“, sagt sie, während sie ein großes Stück davon für den Gefrierschrank abschneidet. „Dafür ist aber die Leber erkennbar jungfräulich.“

„Kein Alkohol?“

„Kein Missbrauch jedenfalls.“

„Hat die Verstorbene eigentlich geraucht?“

Keine Frage wird von Laien hier unten öfter gestellt als diese.

„Tut mir leid“, Annette Basler zuckte mit den Schultern, „nach zwei bis drei Jahrzehnten ist keine Großstadtlunge mehr sauber. Egal, ob gepafft wurde oder nicht. Sehen Sie hier.“ Sie nimmt die Lunge aus der Metallwanne und wischt das Blut von der mattglänzenden Oberfläche. Zahllose schwarze Ablagerungen, kaum stecknadelkopfgroß, werden sichtbar und machen die Besucher, Raucher wie Nichtraucher, ratlos.

Nach einer guten Stunde ist die Obduktion beendet. Der Sektionsgehilfe kippt den Inhalt der Edelstahlwanne zurück in den leeren Körper der Verstorbenen. Während er beginnt, den Leichnam mit einer langen Nadel und einem dicken Faden zuzunähen, bittet Annette Basler ihre Besucher nach oben. Auf der Treppe drückt sich der junge Mann mit den Schweißperlen an ihre Seite.

„Darf ich Sie noch etwas fragen, etwas ganz Persönliches?“

„Bitte schön, Sie dürfen.“

„Haben Sie schon einmal - ich will mal so fragen: die Fassung verloren bei Ihrer Arbeit hier unten, geweint, meine ich?“ Annette Basler ist für einen Augenblick irritiert.

„Ja“, sagt sie schließlich, „ich habe schon einmal geweint hier unten.“

„Um was ging es, wenn ich fragen darf?“

Die Ärztin antwortet erst einige Stufen später.

„Um ein kleines Mädchen, sechs Jahre alt, totgefahren auf dem Heimweg vom Kinderfasching. Sie lag auf dem Tisch, noch im Clownskostüm, mit einer roten Pappnase und goldenen Sternen auf den weißen Wangen.“

„Im Normalfall weinen Rechtsmediziner aber nicht bei ihrer Arbeit?“

„Nein, solche Gefühle können wir uns in der Regel nicht leisten. Wenn es allzu hart kommt, gehen wir zum Kühlschrank. Der ist stets gut bestückt.“

Todesursache: stumpfe Gewalteinwirkung auf den Schädel, wird sie in ihr Gutachten schreiben. Aber sie weiß, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Sie weiß, dass hinter den fehlenden Haaren und den beiden deformierten Drüsen noch eine andere Wahrheit steckt. Dazu wird sie nichts schreiben. Was sollte sie auch schreiben?

Kneipengeschichten

Annette Basler ist 33 Jahre alt und hat in Hamburg Medizin studiert. Nach bestandenem Staatsexamen ist sie nach Berlin gezogen, um in der Hochburg des Verbrechens ihren Facharzt für Rechtsmedizin zu machen. Fünf Jahre hat das noch gedauert, 300 Obduktionen, 200 Gerichtstermine und 40 Leichenfundortuntersuchungen lang, eine Rosskur, von der Außenstehende nichts ahnen. Dann liest sie von einer freien Stelle in der Mainmetropole. Sie bewirbt sich, lange schon hauptstadtmüde, und wird genommen, als eine unter 25 Kandidaten. Schon drei Tage später beginnt sie ihre Tätigkeit am Rechtsmedizinischen Institut der Universität Frankfurt am Main.

Ihre Wohnung hat sie in der Gartenstraße im Stadtteil Sachsenhausen, den die Einheimischen Dribdebach nennen, weil er auf der anderen Mainseite liegt, und den die Touristen nur als das Äppelwoi-Viertel kennen. Die anderthalb-Zimmer-Altbauwohnung ist mit 1.000 Euro Warmmiete nicht gerade billig, dafür aber, vom Fluglärm abgesehen, ruhig gelegen mit einem schönen Ausblick über die Skyline der Stadt bis hin zum Höhenzug des Taunus. Der entscheidende Vorteil der Wohnung besteht allerdings in der Nähe zu ihrer Arbeitsstätte. Nur zehn Minuten Fußweg sind es bis zu ihrem Büro in der Jefferson-Allee. So ist sie weder auf die immer vollen öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen noch auf ein eigenes Auto. Das ist auch gut so, denn sie besitzt nicht einmal einen Führerschein.

Wie bei allen Singles schwankt ihre Stimmung täglich zwischen himmelhoch-jauchzend und tieftraurig. In ihren depressiven Phasen träumt sie von trauter Zweisamkeit und wohlgeratenen Kindern. Dass sie diesem Traum noch nicht nachgegeben hat, liegt daran, dass sie den dahintersteckenden genetischen Plan durchschaut hat. Der Natur kommt es ausschließlich auf Arterhaltung an: Glück, dauerhaftes jedenfalls, gehört nicht zu ihrem Programm, sondern wird zur Planerfüllung nur vorgespiegelt. Annette Basler kennt die Realität. Laut hupend geht es zum Standesamt und schon ein Jahr später schleichen die Beteiligten zum Scheidungsrichter - am liebsten durch den Hintereingang. Da setzt sie lieber auf die Vorteile von Autonomie und Unabhängigkeit, wenn die auch manchmal arg theoretisch ausfallen.

Annette Basler hat durchgehalten - mit einem kleinen Aussetzer während ihres Studiums. Da war sie ein Jahr lang mit einem Kommilitonen befreundet und man hatte auch schon über eine gemeinsame Zukunft gesprochen. Aber als sich der junge Mann kurz nach dem Physikum die erstem Maßanzüge zulegte und auf Partys den apollinaristrinkenden Langweiler spielte, der ab halb elf die Uhr nicht mehr aus dem Auge ließ, beendete Annette Basler die Beziehung rasch.

Annettes Mutter wäre an dieser Trennung fast verzweifelt, hielt sie doch den jungen Mann im feinen Zwirn für den besten Fang, den ihre Tochter machen konnte. Monatelang pflegte sie noch den Kontakt mit dem verlassenen Liebhaber, während sie ihre Tochter, die sie für frech und aufsässig hielt, schlichtweg ignorierte. Der Vater hingegen sah das ganz anders. Als gebürtiger Bentheimer hatte er viel von der Mentalität seiner holländischen Nachbarn. Jeder solle nach seiner Fasson glücklich werden, war sein Credo. Eine Schönheit im klassischen Sinne sei seine Tochter zwar nicht, räumte er gerne gegenüber seiner Ehefrau ein, also keine Julia Roberts oder Claudia Schiffer. Aber ihre ausgesprochen weiblich proportionierte Pummeligkeit, ihre kessen, kurzgeschnittenen blonden Haare und der Hauch von Sommersprossen im engen Umfeld ihrer Nase stellten zusammen mit ihrer intellektuellen, selbstbewussten Art gerade die Mischung dar, die ihr auch nach Beendigung der Single-Phase noch allerbeste Partnerchancen böte. Eine heiße Liebe zwischen ihr und einem 20 Jahre älteren, gut situierten Medizinprofessor hielt er ebenso für möglich wie zu einem profilierten Vertreter des politischen Lebens. Eine spätere Beziehung zu einem arbeitslosen Tierpfleger wollte er aber, wie er seine Tochter kannte, ebenfalls nicht ausschließen.

Nicht nur Mütter wissen um ihre Töchter. Aber den Vätern glaubt man so schnell nicht, vor allem, wenn sie dann noch Tabus berühren. Dass Annette mit einem dezenten Anflug von Erotik versehen sei, besonders verführerisch, weil dem ersten Blick nicht zugänglich, hat Vater Basler zuhause nie angesprochen. Mutter Basler, in Paderborn geboren und auch dort aufgewachsen, hätte sich heftig beschwert, denn dort ist die Welt noch in Ordnung.

Freitag Nachmittag, halb sechs. Annette Basler ist gerade eine Stunde zu Hause. Das Wochenende beginnt und sie hat frei. Sie studiert das Fernsehprogramm und überlegt, ob sie zum Italiener gegenüber essen gehen soll. Diverse Reste vom Vorabend sind die Alternative. Dann klingelt das Telefon.

„Hallo, Frau Dr. Basler, Dirk Neuhaus, erinnern Sie sich noch an mich? Wir haben uns vorgestern in der Rechtsmedizin gesehen. Ich durfte mich um Ihr Diktiergerät kümmern.“

„Der Herr Staatsanwalt, natürlich erinnere ich mich. Sie haben mein Diktat gerettet! - Und jetzt darf ich mich revanchieren?“

Irgendwie frech, denkt Dirk Neuhaus und sieht seine Chancen schon schwinden.

„Ja, natürlich, indem Sie meine Einladung annehmen“, antwortet er kurz entschlossen, „sagen wir 20 Uhr im Sawadi. Sie kennen das Lokal in der Großen Friedberger Straße? Allerbeste Thailändische Küche.“

Jetzt hat Annette Basler ein Problem. Nicht, dass ihr Ansprachen dieser Art unbekannt wären. Axel Herzog, der Toxikologe im Institut, praktiziert sie im Vier-Wochen-Rhythmus, bisher allerdings ohne Erfolg. Aber der Staatsanwalt ist ihr spontan sympathisch gewesen.

„Oh mein Gott“, sagt sie und ist dann ganz offen, „Ihre Einladung kommt ein bisschen überraschend für mich.“

„Ehrlich gesagt, für mich auch“, entgegnet Dirk Neuhaus.

Jetzt müssen beide lachen.

„Sagen Sie ganz einfach Ja, ohne noch lange zu überlegen“, macht der Staatsanwalt Mut.

„Einverstanden, ich sage Ja“, entgegnet die Ärztin, nachdem ihr unmittelbar zuvor ein verlockender Gedanke durch den Kopf geschossen ist. „Aber ich habe kein Auto.“

„Ich auch nicht“, beruhigt sie der Hoffnungsträger am anderen Ende der Leitung. „Ich hole Sie mit einem Taxi ab.“

Das Restaurant Sawadi ist ein heißer Tipp für diejenigen, die die Schnauze voll haben von Pommes frites und Jägerschnitzel. Dirk Neuhaus hat einen kleinen Tisch reservieren lassen, abseits des großen Trubels in dem stets gut besuchten Lokal. Sie essen Glasnudeln mit grönländischen Shrimps und einen asiatischen Gemüseteller. Die Sauce ist schweinescharf, aber beide mögen das. Auf Anraten des Staatsanwaltes trinken sie Bier.

„Thailänder haben Wein im Keller, den noch nicht einmal Japaner trinken.“

„In welchem Dezernat arbeiten Sie?“, fragt Annette Basler ihren Gastgeber, nachdem eine 35-Kilo-Frau mit eng geschnittenen Augen die leeren Teller abgeräumt hat.

„Umwelt“, antwortet der Staatsanwalt, „Umwelt, Ärzte- und Pharmazieverfahren, alles, was mit Chemie und Medizin zu tun hat.“

„Und dann kommen Sie zur Obduktion eines Selbstmörders?“

„Das war Zufall. Ich habe Bereitschaftsdienst in dieser Woche, bin für alles zuständig. Der Bad Homburger Arzt, der sich von der Autobahnbrücke gestürzt hat, war für uns aus anderen Gründen interessant. Wir haben gegen ihn wegen des Verdachts des illegalen Organhandels ermittelt.“

„Hatte das etwas mit seinem mutmaßlichen Selbstmord zu tun?“

„Nein, offenbar nicht. Er war krank. An seinem linken Lungenflügel klebte ein faustdicker Tumor.“

Annette Basler nimmt einen großen Schluck aus dem Tulpenglas. Dann fragt sie unvermittelt:

„Hatten Sie schon einmal etwas mit Tötungsdelikten zu tun?“

„Aber ja, fünf Jahre lang“, antwortet Dirk Neuhaus, „so lange habe ich im Allgemeinen Dezernat gearbeitet: Diebstahl, Raub, Vergewaltigung und auch Mord und Totschlag - die klassische Kriminalität, wie man sagt.“

Annette Basler nickt nachdenklich, während sie ihrem Gegenüber prüfend in die Augen schaut.

„Wenn es Sie stört, dass ich Sie mit beruflichen Dingen auch noch in der Kneipe belästige, dann sagen Sie es bitte.“

„Um Gottes Willen, nein“, beeilt sich Dirk Neuhaus in erkennbarer Mühe, die Bedenken seines Gastes zu zerstreuen. „Wir denken doch sowieso an nichts anderes.“ Nach ein paar Sekunden ergänzt er lächelnd: „Von Ausnahmen abgesehen.“

Sie prosten sich zu und bestellen gleich darauf neu.

„Wieviel Tötungsdelikte haben Sie bearbeitet?“

„Keine Ahnung.“

„Ungefähr?“

„Ungefähr - ein paar Dutzend vielleicht.“

„Normale Sachen oder auch Exoten?“

„Alles. Wir können uns unsere Fälle nicht aussuchen. Ob ich zuständig bin, hängt vom Namen des Beschuldigten oder des Opfers ab. Der Anfangsbuchstabe ist entscheidend.“

Das Gespräch wird für einen Augenblick unterbrochen. Ein halbes Dutzend junger Männer in bester Stimmung zwängt sich am Tisch vorbei in Richtung Tresen.

„Warten Sie bitte noch zwei Minuten, dann ist der Platz am Fenster frei“, sagt der Thai am Zapfhahn.

„Die Koks-Mafia“, flüstert Dirk Neuhaus. „Kennen Sie die Typen?“

Annette Basler schüttelt den Kopf.

„Unsere bekanntesten Anwälte. Jung, dynamisch, immer in Bewegung. Sie sind jeden Tag am Gericht, stauben die lukrativsten Mandate ab. Ein Teil ihrer Kreativität beziehen sie allerdings über die Nase.“

Annette Basler muss lachen.

„Aber die können sich das Zeug wenigstens leisten. Unter 20.000 übernehmen die keinen Fall - Vorschuss!“

„Geben sie dann auch eine Erfolgsgarantie?“

„Nein, so was macht niemand.“

„Sind sie wenigstens gut?“

„Nicht besser als andere auch. Sie sind einfach irgendwann berühmt geworden und leben jetzt von ihrer Aura. Um ihre Namen ranken sich Geschichten. Die Angst der Täter schafft Mythen.“

Die wohlgelaunte Männerrunde sitzt jetzt am Fenstertisch.

„Erinnern Sie sich noch an meinen Fall von vorgestern Nachmittag?“ Annette Basler ist wieder ernst geworden.

„Eine junge Frau“, erinnert sich Dirk Neuhaus, „ebenfalls ein Selbstmord - oder?“

Annette Basler schaut irgendwo hin.

„Ich weiß nicht, ob Ihnen das aufgefallen ist. Der Körper war völlig unbehaart.“

Für Dirk Neuhaus kein Anlass, sich zu wundern. „Ist das so ungewöhnlich?“

„Ist es das nicht?“

„Vielleicht hat die Verstorbene vorher eine Chemotherapie gemacht. Möglicherweise ohne Erfolg, und das ist dann auch der Grund für ihren Selbstmord gewesen.“

„Es gab keine Chemo. Wir haben die Unterlagen des Hausarztes beigezogen. Im übrigen waren auch keine Anhaltspunkte für eine Krebserkrankung festzustellen.“

„Aber Haarausfall hat doch noch andere Ursachen.“

„Sie meinen den totalen Haarausfall? - natürlich, auch der. Hormonstörungen werden diskutiert und Autoimmunreaktionen. Diese Dinge lassen sich allerdings nur schwer oder gar nicht nachweisen. Aber darum geht es nicht in erster Linie. Etwas anderes macht mich nachdenklich. Ihre Hypophyse war markant vergrößert und auffallend bläulich verfärbt. Genau wie die Bauchspeicheldrüse.“

„Macht das eine Rechtsmedizinerin schon bösgläubig?“

Wann beißt er an?, denkt die Ärztin und legt nach: „Das ist noch nicht alles. Vor etwa sechs Wochen hatte ich einen 51-jährigen Mann auf dem Tisch, ebenfalls Selbstmord. Er hatte sich vor eine Straßenbahn geworfen. Auch er war gänzlich unbehaart, hatte eine stark veränderte Hypophyse und seine Pankreas war an beiden seitlichen Enden ballonartig vergrößert. Der eine Fall wie der andere.“

„Aber das spricht doch nur für eine gemeinsame Grunderkrankung der beiden.“

„Die allerdings noch nirgendwo beschrieben ist“, spöttelt Annette Basler, „und für die es keinerlei Belege gibt, ein echtes Phantom! Und noch etwas anderes haben die Toten gemeinsam. Sie wohnten beiden in Bergen-Enkheim.“

„Na und?“

„… und arbeiteten beide in derselben Firma.“

„Wahrscheinlich am Flughafen, wo alle arbeiten.“

„Nein, viel kleiner: bei Toledo-Wellness.“

Die Gruppe am Fenstertisch hat den Staatsanwalt erkannt und spendiert zwei Cognac.

Dirk Neuhaus ist eine Spur nachdenklicher geworden. Aber dann sagt er: