Teufelsbande - Andreas Franz - E-Book
SONDERANGEBOT

Teufelsbande E-Book

Andreas Franz

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tatort Frankfurt am Main. Auf einer Autobahnbrücke bietet sich Kommissarin Julia Durant ein entsetzlicher Anblick: ein verbranntes Motorrad, darauf die Überreste eines versengten Körpers. Das Opfer eines Bandenkrieges im Biker-Milieu? Die Ermittler stoßen auf eine Mauer des Schweigens. Höchste Zeit, den Kollegen Brandt aus dem benachbarten Revier zu Rate zu ziehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 597

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andreas Franz / Daniel Holbe

Teufelsbande

Ein neuer Fall für Julia Durant

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein neuer Fall für die Kultkommissarin!

Tatort Frankfurt am Main:

Auf einer Autobahnbrücke wird ein verbranntes Motorrad gefunden, darauf die Überreste eines versengten Körpers. Das Opfer eines Bandenkriegs im Biker-Milieu?

Die Ermittler stoßen auf eine Mauer des Schweigens.

Inhaltsübersicht

MottoPrologGroßes JubiläumsgewinnspielSamstagSonntagMontagDienstagMittwochDonnerstagFreitagEpilogIn eigener Sache
[home]

 

 

 

Nur der Tod entscheidet über den Ruf eines Menschen.

Diese Weisheit ist als Wandgraffito einer Gefängniszelle in Easy Rider zu sehen.

 

Doch die Zeiten von Easy Rider sind lange vorbei.

 

Internationale Polizeibehörden sind sich einig:

Von allen Gruppierungen der organisierten Kriminalität geht von den Outlaw-Motorcycle-Gangs derzeit die größte und am schnellsten wachsende Gefahr aus.

[home]

Prolog

Michael schwitzte unter seiner Sturmhaube. Das synthetische Gewebe spannte unangenehm unter dem Kinn und rieb kratzend über die Bartstoppeln seiner Wangen. Völliger Schwachsinn, eine solche Maske zu verwenden, dachte er mürrisch. Ein schwarzer Nylonstrumpf, der auch die Augen bedeckte, wäre weitaus effektiver gewesen. Aber Michael hatte nichts zu melden, er musste gehorchen, wenn er dazugehören wollte.

»Mike?«

»Hm?«

»Trödel nicht rum. Bist du bereit?«

»Ja.«

»Dann los, alles wie besprochen. Hast du dir eine Pille eingeworfen?«

»Nein.«

»Warum nicht? Es war doch abgemacht, dass du …«

»Ich krieg das schon hin, bleib mal locker.«

»Dann los, es ist fünf vor.«

Lutz, sein deutlich älterer Kumpan, stellte den Kragen seiner Jacke hoch. Er brauchte keine Maske, schließlich konnte er seine Dockermütze so tief ins Gesicht ziehen, dass man kaum mehr etwas erkannte. Und außerdem würde er ja auch draußen stehen bleiben. Mit einem Mal überkam Mike die unbändige Sehnsucht, zu Hause in seinem Zimmer zu sitzen und Musik zu hören oder am Computer zu spielen.

Doch Lutz’ Befehlston erstickte einen solchen Wunsch im Keim. »Bloß keine Mätzchen, ich sag’s dir! Ich behalte dich genau im Auge, und in zehn Minuten ist hier Schluss. Also trödel nicht rum.«

Mike faltete die Hände ineinander und prüfte, ob seine schwarzen, seidenen Handschuhe gut saßen. Die Handflächen waren feucht und klebrig, überhaupt schwitzte er am ganzen Körper. War es das Adrenalin? Oder Ekel? Oder war es am Ende schlicht und ergreifend die blanke Angst?

Doch bevor sich die Zweifel erneut breitmachen konnten und sein Begleiter ihn mit einem unsanften Stoß in die Rippen anspornen musste, nahm Mike allen Mut zusammen. Er wand seinen schlanken Körper um die Hausecke, glitt an dem schmalen, von Backsteinen ummauerten Schaufenster vorbei und drückte die zum Großteil aus Strukturglas bestehende, vergitterte Tür des Geschäftes nach innen.

Die junge Frau fuhr erschrocken herum, als der elektronische Gong des Türkontaktschalters ihr noch vor dem obligatorischen Schaben der Gummilippe auf dem unebenen Laminatboden verriet, dass ein später Kunde das Geschäft betreten hatte. Mein Gott, es ist doch schon kurz vor sechs, dachte sie und richtete sich mit einem leisen Seufzen auf. In der rechten Hand hielt sie eine Illustrierte, die sie erschrocken zu Boden fallen ließ, als sie den maskierten Mann erblickte, der wie angewurzelt in der Mitte des kleinen Verkaufsraums stand.

Auch Mike schluckte, das Herz schlug ihm bis zum Hals, als wollte es ihm aus der Kehle springen. Der kalte Schweiß rann seinen Rücken hinab, und er wäre am liebsten umgekehrt und gerannt und gerannt, bis ans Ende der Stadt. Aber zwischen ihm und dieser Phantasie befanden sich eine vergitterte Tür und der zwei Zentner schwere Lutz, dessen stechenden Blick er bei jeder Bewegung auf sich haften spürte.

»Wo ist die andere, die Alte?«, fragte Mike tonlos.

»Mei… meine Mutter?«, stammelte die junge Frau unsicher und biss sich sofort auf die Unterlippe.

»Wo ist sie?«, zischte Mike.

»Sie h… hat einen Termin außer Haus«, antwortete die junge Frau, eher noch ein Mädchen, denn sie war kaum älter als er selbst. »Es ist niemand da außer mir, Ehrenwort«, sprach sie weiter. Ihre Stimme zitterte, die Pupillen waren geweitet, und ein panischer Ausdruck verzerrte ihr Gesicht, das eigentlich recht hübsch war, wie Mike in den Sinn kam. Verdammt.

Gedanken rasten in seinem Kopf umher und schienen von innen mit Hämmern und Spitzhacken an seine Schädeldecke zu trommeln. Verdammt!

»In den Hinterraum, Schlampe, aber schnell!«, stieß er zwischen aufeinandergepressten Zähnen hervor.

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, zog er ein silbern glänzendes Stilett aus der Tasche und ließ es mit einem Fingerdruck aufschnappen. Der Bruchteil der Sekunde, in dem das Klicken ertönte, wirkte auf beide wie eine Ewigkeit.

Zitternd und mit den Händen tastend trat das Mädchen zurück, erst nur einen Schritt, dann folgte ein zweiter. Sie ließ Mike nicht für einen Moment aus den Augen. Ihr Mund formte tonlose Buchstaben, bis es ihr endlich gelang, einen Satz zu formulieren.

»B… bitte«, kam es flehend, »die Kasse ist nicht voll, aber Sie können …«

»Schnauze!«, rief Mike und hob das Messer.

Er näherte sich ihr mit zwei großen Schritten, griff sich mit der Linken an den Hosenbund und suchte das obere Ende der Knopfleiste.

»Hinlegen!«, befahl er dann, als sie das enge Hinterzimmer erreichten, dessen wenige Quadratmeter größtenteils von einem Tisch, einem fleckigen Drehstuhl und einem blechernen Karteischrank eingenommen wurden. In einem Wandregal stand eine blaue Kaffeemaschine, deren leere Glaskanne unzählige Kalkringe aufwies.

Die Frau keuchte und stolperte beinahe rückwärts über den Stuhl. Mike trat an sie heran, so dicht, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten, und presste ihr die Messerklinge an die Rippen.

»Je mehr du dich wehrst, umso mehr tue ich dir weh«, zischte er. »Hinlegen, sage ich, und mach die Beine breit.«

Mit diesen Worten drückte er sie zu Boden. Als er sich mit der Linken die Knopfleiste aufriss und seine Hose einige Zentimeter herunterließ, vernahm er ein Schluchzen.

»Bitte, nein«, wimmerte es. Verzweifelt drückte sie die Knie aneinander, in der schwindenden Hoffnung, noch abzuwenden, was gleich geschehen würde.

»Muss ich dich knebeln oder hältst du endlich dein Maul?«

»Ich bin still, nein, bitte …«

Doch Mike hatte längst eine Rolle Gewebeband aus seiner Tasche gezogen. Den verzweifelten Aufschrei unterdrückte er mit einem zehn Zentimeter langen Stück des festklebenden Tapes und entschied sich spontan, auch die Hände der jungen Frau zu fixieren.

»Warum zappelst du nicht?«, fragte er. »Gefällt’s dir etwa auf die harte Tour?«

Doch die Augen der Kleinen sprachen eine andere Sprache.

Er stieß sie rücklings auf den abgewetzten Teppich und machte sich an ihrer Hose zu schaffen. Wie lange noch?, dachte er bei sich. Lutz hatte zehn Minuten vorgegeben, wie viele waren davon bereits verstrichen?

Er kniete sich vor sein Opfer und fuhr sich mit der Hand in die Boxershorts. Was zum Teufel …? Völlig schlaff und wie blutleer hing sein Genital zwischen den Beinen. Komm schon, dachte er verzweifelt und wagte kaum, seinen Blick wieder in Richtung des Mädchens zu richten. Er wusste nicht mit Bestimmtheit, ob sie ihn sehen konnte, ihr Kopf lag regungslos auf dem Boden, und ihr Brustkorb hob und senkte sich in kurzem, schnellem Wechsel.

Mike fiel das Viagra ein, auf welches Lutz vorhin angespielt hatte. Doch wer dachte schon in diesem Alter daran, so etwas einzuwerfen? Andererseits, in einer solchen Situation … Verdammt, schalt sich Mike, hätte ich nur diese verdammte Pille geschluckt. Er rieb sich mit der Hand in der Hose hin und her, zog sich den linken Handschuh aus, versuchte es erneut. Doch nichts geschah, Beklemmung stieg in ihm auf.

»Hast du’s bald?«, unterbrach Lutz’ Stimme das Geschehen, und erschrocken richtete die Kleine ihren Oberkörper ein Stück weit auf. Sofort schlug Mike ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. »Gottverdammte Schlampe!«, fauchte er sie an. »Du elendes Miststück.«

Dann richtete er sich auf.

»Schon fertig«, antwortete er mit halb nach hinten gedrehtem Kopf und fester Stimme.

»Dann mach hin, Kleiner«, kam es sofort zurück. »Leer die Kasse aus, und wir hauen ab. Zeit ist um.«

Als Mike sich die Hose zuknöpfte und den Handschuh überstreifte, glaubte er, in den Augen des Mädchens eine gewisse Erleichterung zu erkennen. Möglicherweise war es nur Einbildung, denn sie lag schließlich noch immer wehrlos, gefesselt und geknebelt auf dem Boden. Eine Wunde auf der Wange ließ darauf schließen, dass sie die Blessuren des heutigen Abends noch einige Tage mit sich herumtragen würde, aber immerhin war ihr Schlimmeres erspart geblieben.

Ob sie nun erleichtert war oder nicht, Mike war es jedenfalls, wenngleich er es in diesem Moment weder zeigen noch spüren durfte. Das Adrenalin blockierte sein Denkvermögen, draußen wartete Lutz, und hinzu kam trotz allem die Scham, die ihm ununterbrochen vorzuhalten schien, dass ihn im entscheidenden Moment die Manneskraft im Stich gelassen hatte.

»Du hast mehr Glück, als du ahnst«, murmelte er leise in Richtung der Frau, aus deren Augen nun Tränen kullerten. Im Hinausgehen ließ er das Stilett fallen und stupste es mit der Fußspitze so an, dass es in ihre Reichweite schlitterte.

Verdammt, dachte er erneut. Verdammt!

[home]

Großes Jubiläumsgewinnspiel

Jetzt nach den Sternen greifen und gewinnen!

Wir verlosen 1 Volkswagen up!, 5 Sony-Ebook-Reader

und Buch-Sofortgewinne im Wert von 500,- €.

http://www.knaur.de/e50

[home]

Samstag

Samstag, 22. September 2012, 22:45 Uhr

Torkelnd näherte sich Martin Kohlberger der hölzernen Schwingtür am Ende des schmalen Flures. Die Musik dröhnte im hinteren Bereich des Hauses nur halb so laut, aber noch immer ziemlich kräftig. Iron Maiden, Motörhead, Rammstein; zu späterer Stunde, wenn nur noch der harte Kern versammelt war, kam aus den Boxen selten etwas Sanfteres. Kohlberger, von den meisten hier nur »Matty« oder »Maddie«genannt, war ein beinahe eins neunzig großer und über zwei Zentner schwerer Koloss, der durch seine bloße Anwesenheit Respekt erzielte. Nicht ohne Grund gehörte er zu den gefragtesten Türstehern in der Hanauer und Offenbacher Clubszene. Früher einmal hatte er sich außerdem noch im Frankfurter Rotlichtmilieu verdingt, doch dieses Pflaster war ihm vor ein paar Jahren zu heiß geworden. Eine Hälfte der Läden wurde mittlerweile von Türken oder Osteuropäern kontrolliert, die zweite Hälfte teilten sich diverse andere Volksgruppen. Früher war das anders gewesen, da hatten die Black Wheels das Sagen gehabt, ein Motorradclub, den Kohlberger bis aufs Blut hasste. Und doch waren es bessere Zeiten gewesen; die Konkurrenz eindeutig erkennbar, die Kämpfe hart, aber auch von einem gewissen Respekt bestimmt.

»Jenseits des Mains gedeiht nur Übles«, pflegte Kohlberger heutzutage zu sagen, was verlässlich und regelmäßig immer dann zitiert wurde, wenn in den Lokalnachrichten die Rede von Prozessen gegen Biker-Gangs, Drogenrazzien im Milieu oder ganz allgemein von der Frankfurter Mafiaszene war. Das Revier war penibel abgesteckt, keiner überquerte den Fluss in nördlicher Richtung, jenen tiefblauen Einschnitt, der wie gottgewollt die Stadtgebiete von Frankfurt und Hanau zerschnitt und die südlichen Stadtteile und Offenbach davon abtrennte. Und es war ebenfalls schon lange niemand mehr über die Gegenrichtung in das Gebiet seiner eigenen Gang, der Mogin Outlaws, eingedrungen.

Mit einer fahrigen Bewegung stieß Kohlberger das hölzerne Türblatt nach innen, krachend schlug es an die Wand und schwang anschließend knarrend in seinen Scharnieren hin und her. Er trat an das Pissoir heran und griff Halt suchend nach einer der verchromten Metallstangen, die neben jedem der drei Porzellanbecken angebracht waren. Langsam und konzentriert öffnete er zuerst den Ledergürtel und anschließend die Knopfleiste seiner löchrigen Jeans, nestelte sein Geschlechtsteil aus der Boxershorts und richtete den Strahl so zielgenau er konnte in das Becken. Er blinzelte benommen und verfluchte mit träger Zunge den Wodka, der an diesem Abend wieder literweise geflossen war. Er schloss seine Faust noch fester um den Halter, dankbar, jene Bügel vor ein paar Jahren genau zu diesem Zweck angebracht zu haben.

Das dumpfe Dröhnen der Anlage übertönte das sich nähernde Stampfen der schweren Stiefel, und erst als die Tür erneut aufschwang, realisierte der benebelte Kohlberger, dass er nicht mehr allein war. Er fuhr unbeholfen herum, da er das Geschehen nur in Zeitlupe wahrnahm, und lallte Unverständliches. Urin spritzte auf seine Hosenbeine und seine abgewetzten ledernen Stiefelspitzen.

»Was verdammt …«

Seine Reflexe waren nicht schnell genug, um zu realisieren, was sich in den folgenden Sekunden abspielte. Erst als sich zwei Hände mit erbarmungsloser Kraft um seinen Hals legten und zudrückten, wurde ihm gewahr, dass sein Kopf in einer knisternden, nach Weichmachern riechenden Plastiktüte steckte. Panik, einer der wenigen menschlichen Überlebensinstinkte, die sich durch Rauschmittel zwar betäuben, nicht aber ausschalten lassen, ergriff Kohlberger, und er begann verzweifelt, um sich zu rudern. Er konnte nichts sehen, und seine Angreifer – es schien noch mindestens ein zweiter hinzugekommen zu sein – auch nicht identifizieren, denn sie tauschten nur knappe, zischende Anweisungen aus, und einer fluchte: »Verdammt, selbst im Suff hat der Kraft wie ein Bulle.«

Doch seine Kraft reichte nicht aus. Der rechte Arm wurde ihm auf den Rücken gedreht, stechender Schmerz durchzuckte Bizeps und Schultergelenk, und auch den anderen Arm vermochte er nicht in die Nähe der tödlichen Plastiktüte zu bekommen, in deren Innerem der Sauerstoff durch das schnelle, stoßweise Atmen langsam ausging. Als Nächstes spürte Kohlberger, wie ihm die Knie weich wurden und er in sich zusammensackte. Der plötzliche Schmerz in der Nierengegend, als seine Hüfte schmerzhaft auf den unteren Rand des Pissoirs schlug, war das Letzte, was er wahrnahm. Danach schwanden ihm die Sinne.

[home]

Sonntag

Sonntag, 23. September 2012, 5:20 Uhr

Julia Durant, Hauptkommissarin bei der Frankfurter Mordkommission, tastete schlaftrunken nach dem vibrierenden Handy, dessen Resonanz durch den hölzernen Nachttisch zu einem unangenehmen Schnarren verstärkt wurde. Parallel zu der Vibration des Akkus erklang lautstarke Musik, der Standardklingelton, den sie sich stets für ihre Bereitschaftsdienste einstellte.

»Fünfmal klingeln? Respekt«, ertönte die rauchige Stimme von Alice Marquardt, einer Kollegin des KDD.

»Was?«

»Vergessen Sie’s. Tut mir leid, Ihre Tiefschlafphase zu unterbrechen, aber es gibt einen Zwischenfall auf der Kaiserleibrücke.«

»Einen Zwischenfall?«, wiederholte Durant ungeduldig. Längst hatte sie sich aufgesetzt, fuhr sich mit der Hand durch das vom Schlaf zerzauste Haar und presste das Handy fest ans Ohr. »Ich bin wach genug für Details, also schießen Sie los.«

Marquardt räusperte sich. »Autobahn 661, in südlicher Richtung. Sie können’s nicht verfehlen. Ein toter Motorradfahrer auf der Brücke, aber kein Unfall, viel mehr habe ich noch nicht. Die Meldung kam von der Autobahnpolizei, und die warten jetzt auf jemanden von der Kripo. Offenbar hat das Motorrad gebrannt, eine ziemlich große Nummer also, denn sie mussten die rechte Fahrspur sperren.«

»Hm, okay. Haben Sie Spusi und so weiter schon informiert?«

»Wir sind dran. Aber beeilen Sie sich besser.«

»Mache ich«, erwiderte Julia. »An Schlafen ist jetzt ohnehin nicht mehr zu denken.«

Es war der übliche Fluch von Bereitschaftsdiensten. Drei, vier Wochenenden ohne nennenswerte Vorkommnisse, und ausgerechnet heute, wo sie gerade einmal vier Stunden Schlaf abbekommen hatte, musste sie schon wieder raus.

»Noch etwas«, fügte Marquardt hastig hinzu, bevor die Kommissarin das Gespräch wegdrücken konnte, um sich anzuziehen.

»Ja?«

»Sie können über die Autobahn direkt hingelangen, haben die Kollegen gesagt, aber es ist dort bereits ein recht großer Andrang. Wenn Sie sich im Hafenviertel einigermaßen auskennen, parken Sie vielleicht besser unter der Brücke und nehmen die Fußgängertreppe.«

»Überleg ich mir«, sagte Julia und unterdrückte ein Gähnen. Sie zog die zerwühlte Bettdecke glatt und schüttelte das Kissen kurz auf, weil sie geschwitzt hatte. Danach trottete sie ins Badezimmer, wo sie ihre Morgentoilette erledigte und sich anzog. Ein prüfender Blick in den Spiegel verriet Julia, dass sie zum einen dringend eine neue Haartönung brauchte, denn das schulterlange, kastanienbraune Haar wurde von einigen lästigen hellen Strähnchen durchzogen. Julia Durant mied das Wort Grau gewissenhaft, fand aber auch die verharmlosende Bezeichnung Silberfäden ziemlich lächerlich. Du bist eben nicht mehr fünfundzwanzig, dachte sie ein wenig trotzig. Nein, ganz und gar nicht mehr. Nächstes Jahr bist du schon doppelt so alt.

Julia stellte sich auf die Zehenspitzen, denn der Spiegel hing ein wenig zu hoch für Personen unter eins achtzig, und zu diesen Maßen fehlten ihr beinahe zwanzig Zentimeter. Mit den Zeigefingern zog sie sich die feinen Krähenfüße an den Augenwinkeln glatt, die bei weitem nicht so ausgeprägt waren wie bei anderen Frauen ihres Alters. Im Gegenteil. Julia Durant war noch immer eine ausgesprochen attraktive Frau, die regelmäßig Sport trieb und zumindest meistens versuchte, ihren harten Job bei der Mordkommission vor der Haustür abzulegen. Trotzdem spürte sie, dass sie nicht mehr über dieselben Kräfte verfügte wie in den frühen neunziger Jahren, als sie von München nach Frankfurt gewechselt war.

Mit dem Föhn trocknete sie sich kurz die im Nacken noch immer etwas feuchten Haare und zog sie mit der Bürste einigermaßen in Form. Kaum zehn Minuten nachdem sie der Anruf erreicht hatte, verließ sie eilig ihre Wohnung im Nordend und entschied, quer durch die Stadt zu fahren, die in den frühen Morgenstunden noch verschlafen dalag und ihr ein zügiges Durchkommen versprach.

Nur weitere zehn Minuten später erreichte Julia Durant die Autobahnauffahrt am Ratsweg und nahm kurzentschlossen den direkten Weg. Bereits kurz nach dem Auffahren blitzten ihr durch die Dunkelheit die blauen Blinklichter der Einsatzfahrzeuge entgegen. Noch zeichnete sich keine Morgendämmerung ab, nur finstere Nacht, durchflutet von den Bremslichtern der wenigen Autos, die sich zweihundert Meter vor der Kaiserleibrücke auf die mittlere und die linke Spur einfädeln mussten, weil ein Einsatzwagen und eine grell glühende Warnfackel die rechte Fahrbahnspur und den schmalen Standstreifen absperrte.

»Meine Güte«, murmelte Julia, während sie ihre Fahrt verlangsamte. Ein großer Löschwagen der Feuerwehr rangierte gerade bedächtig hin und her, dahinter parkte ein roter Kombi, schätzungsweise der Einsatzleiter oder jemand von der Brandwache. Notarzt und Rettungswagen standen weiter hinten, außerdem eine zusätzliche Streife. Die Kommissarin vermutete das Motorrad inmitten der hin- und hereilenden Menschen, dort, wo ein großer Standscheinwerfer flammend weißes Licht auf einen bestimmten Bereich am Rand der Fahrbahn konzentrierte. Als sie ihren Wagen in der Nähe des Brückenbogens hinter dem Streifenwagen abstellte, näherte sich sofort ein Beamter.

»Guten Morgen«, grüßte er freundlich, als Julia ausstieg. Er hatte sie offenbar als Kollegin erkannt, doch die Kommissarin erinnerte sich nicht, sein Gesicht schon einmal gesehen zu haben.

»Guten Morgen. Durant vom K 11. Klären Sie mich auf?«

»Aufgeklärt sind Sie sicher längst«, schmunzelte der Beamte, und Durant rollte mit den Augen, »aber ich kann Ihnen anbieten, Sie zum Tatort zu bringen.«

»Tatort oder Fundort?«

»Gute Frage, aber es heißt, es könnte auch der Tatort sein.«

Die Tür ihres kleinen Peugeots schnappte ins Schloss, und Julia folgte dem Beamten in Richtung der Leitplanke, die zusammen mit einem hüfthohen Geländer den Standstreifen von einem schmalen Gehweg trennte, der ihr zuvor noch nie aufgefallen war.

»Hier können Fußgänger drüber?«, fragte sie ein wenig ungläubig.

»Und Radfahrer, ja«, nickte der Kollege und stieg mit einem kurzen Ächzen über die Leitplanke. Julia folgte ihm und war insgeheim froh, ihre bequeme Jeans vom Vortag angezogen zu haben, denn das scharfe, schmutzige Metall der Leitplanke schabte unheilverkündend an ihrem Hosenbein.

Sie schritten unter zwei runden, durch einen schmalen Steg miteinander verbundenen Stahlröhren hindurch, die sich in einem weitläufigen Bogen nach oben streckten. Blau, erinnerte Julia sich; es waren blau lackierte Metallbögen, die den Main an einem der wichtigsten Knotenpunkte der Stadt zweihundert Meter weit überspannten.

Ein Mord?, dachte sie. Ausgerechnet hier?

Als sie die Brückenmitte passierten, warf die Kommissarin einen Blick auf die beleuchtete Skyline, die zu ihrer Rechten in einiger Entfernung funkelte. Sie klappte den Kragen ihrer Jacke nach oben und fröstelte. Für den Spätsommer war es frühmorgens bereits höllisch kalt, vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein, denn übermüdete Menschen, die aus dem warmen Bett gescheucht werden, sind kälteempfindlich, wie sie wusste. Außerdem blies ein kalter, unangenehmer Wind.

»Da vorn steht die Maschine«, deutete der Beamte mit dem Zeigefinger, »aber ich sag’s Ihnen: kein schöner Anblick.«

»Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken, ich habe schon einiges gesehen.«

Julia schob sich an ihm vorbei und kniff die Augen zusammen. Das grelle Licht war nun zum Greifen nahe, der Boden war bedeckt von einer hellen Schicht getrockneten Löschschaums, möglicherweise war es auch ein Pulver. Linker Hand, jenseits des Geländers auf dem Standstreifen, befand sich ein bulliges Motorrad in leichter Schräglage, offenbar lehnte es auf dem Seitenständer. Es war einer jener Chopper, auf denen man aufrecht sitzt, die Beine nach vorne gestreckt, während die Arme waagerecht den hohen Lenker fassen. Darauf saß ein Mensch. Julia traute ihren Augen kaum, denn sie hatte damit gerechnet, dass Feuerwehr oder Ersthelfer die Person von der Maschine gezogen hatten oder aber der Fahrer selbst hinabgesprungen wäre. Erst auf den zweiten Blick erfasste sie den Grund, weshalb die verkohlte Leiche sich noch immer auf ihrer Maschine befand. Die Handgelenke waren mit Handschellen an den Lenker gefesselt, und es sah so aus, als seien auch die Beine an dem Motorrad fixiert.

»Heilige Scheiße«, entfuhr es ihr, und sie beugte sich so weit nach vorn, wie das verschmierte Geländer es ihr erlaubte.

»Unglaublich oder?«, erklang es aus dem Hintergrund. »Drauf gefesselt und abgefackelt, das werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Selbst die Maschine ist angekettet, das ist schon fast wie in ’nem Western, wo Indianer und Pferd aufeinander sitzend bestattet werden.«

»Wie?« Julia fuhr herum, weil sie nur halb zugehört hatte.

»Na, diese Inszenierung«, wiederholte der Beamte. »Ich bin gespannt, was da hinterher bei rauskommt.«

»Lassen Sie uns erst einmal unsere Arbeit machen, bitte.« Julia versuchte unter der Schicht aus Löschmittel, Leder und verkohltem Metall Hinweise zu erkennen, was sich hier zugetragen haben könnte. Der Kollege hatte recht, nicht die Beine waren an die Maschine gebunden, sondern das Motorrad mittels einer schweren Kette an der Leitplanke fixiert. Vermutlich sollte das Fahrzeug gegen Umfallen gesichert werden. Ohne jeden Zweifel hatte sich hier Schreckliches zugetragen, an dem mindestens eine weitere Person beteiligt war.

»Fundort und Tatort«, murmelte sie anerkennend. »Da haben Sie wohl gar nicht so falschgelegen.«

»Danke«, lächelte der Beamte. »Ich geh dann mal wieder zurück und warte auf die Nächsten. Sie bringen doch die Kavallerie mit, hoffe ich?«

»Spurensicherung und so weiter sind informiert, ja. Wäre gut, wenn Sie die Kollegen dann zügig hierherführen. Haben Sie da vorne auch jemanden?« Julia deutete auf den herabführenden Bogen am Südende der Brücke. »Wenn jemand von der Rechtsmedizin anrückt, werden die sicher von dort unten kommen.«

»Nein, da drüben haben wir nichts verloren«, grinste der Beamte schief. »Außerdem steht unten eine Streife und riegelt den Zugang ab. Die werden sich dann schon drum kümmern.«

»Wieso haben Sie da nichts verloren?«

»Offenbach«, entgegnete er knapp und deutete auf die Mitte des Flusses unter ihnen. »Die Stadtgrenze verläuft hier auf dem Main. Muss ich noch mehr sagen?«

Julia Durant schüttelte den Kopf und seufzte. »Nein, schon klar«, sie rollte erneut mit den Augen, »ich habe verstanden.«

Frankfurt am Main und Offenbach – man konnte dies wohl nur als Einheimischer verstehen. Sie waren so unterschiedlich, wie zwei Städte nur sein konnten, und doch konnte niemand so recht sagen, an welchen Faktoren man diese Unterschiede festmachen sollte. Für gebürtige Offenbacher war Frankfurt ein Moloch, eine Stadt, die sich wie ein Virus in alle Richtungen ausbreitete und die umliegenden Gebiete einfach schluckte. Dabei gab man sich weltmännisch und zukunftsorientiert, aber in der Praxis waren es eher Herablassung und Überheblichkeit.

Offenbach war viel mehr als ein unbedeutender Vorort der Mainmetropole, mehr als nur das Arbeiter- und Ausländerviertel, mehr als das Industriegebiet der eleganten Stadt. Doch wer in Frankfurt aus dem Fenster blickte, der sah auf der anderen Mainseite eben nur Fabrikschlote, Hafenarbeiter, und in den Nachrichten las man aus Offenbach – wenn überhaupt – Meldungen über Kriminalität anstatt über Kultur. Julia Durant konnte an einer Hand abzählen, wie oft sie sich mit dem benachbarten Stadtbezirk auseinandergesetzt hatte, den gemeinsamen Fall mit ihrem Kollegen Peter Brandt vor einigen Jahren mal außen vor gelassen. Doch sie hegte auch keine Animositäten und favorisierte keinen der bitter rivalisierenden Fußballvereine. Sie verstand nicht einmal, warum diese Rivalität überhaupt noch bestand, denn die Eintracht und die Kickers spielten längst in verschiedenen Ligen, doch diese Tatsache würde sie kaum mit Peter Brandt diskutieren wollen. Durant war eine gebürtige Münchnerin, was ihr den Zwang ersparte, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Julia liebte Frankfurt, wo sie seit rund zwanzig Jahren lebte und arbeitete und Anschluss gefunden hatte, und sie liebte auch ihren Job, immerhin leitete sie Mordermittlungen im größten und modernsten Polizeipräsidium Hessens.

Die Kommissarin ließ ihren Blick prüfend über den toten Körper wandern, der in unnatürlich lässig scheinender Haltung auf dem Sattel der Harley saß. Er trug einen offenen Motorradhelm – mehr ein Deckel als eine sichere Kopfbedeckung, wie Julia dachte. Kein Visier, kein Schutz für Nacken, Gesicht und Kinn, aber andererseits hätte ein geschlossener Helm ihm heute Nacht auch nicht das Leben gerettet. Die Gesichtshaut war verkohlt, der Mund weit geöffnet, von den Augen nicht mehr zu sehen als schwarzbraune Verkrustungen in den Höhlen. Das Gleiche galt für die Hände. Diese waren wie der Rest des Körpers zum Teil mit Rückständen des Löschmittels bedeckt. Während der Oberkörper offenbar in einer Lederjacke steckte, hatte der Tote an den Beinen vermutlich eine Jeans getragen. Diese war mit der Haut verschmolzen und bildete eine undefinierbare Masse, von der ein äußerst unangenehmer Geruch ausging, wie die Kommissarin beim Hinabbeugen bemerkte.

»Andrea wird ihre Freude haben«, murmelte sie mehr zu sich selbst. Doch dann bemerkte sie einen Feuerwehrmann, der sich ihr von der Fahrspur her näherte.

»Durant, Mordkommission«, stellte sie sich kurz vor. »Waren Sie am Einsatz beteiligt?«

»Jepp«, kam es kurz angebunden zurück.

Julia fuhr mit dem Finger einen Halbkreis über den mit einem hellen Schmierfilm bedeckten Asphalt.

»Hat das alles gebrannt, als Sie hier eintrafen?«

»Lichterloh, wir hatten kaum ’ne andere Chance, als einfach draufzuhalten. Ein Autofahrer ist um das Motorrad herumgehüpft wie ein aufgescheuchtes Huhn, der hatte mit einem dieser kleinen Löscher sein Glück probiert. Wenn Sie mich fragen: So viel Herz fasst sich heutzutage kaum noch einer, und das, obwohl wir alle einmal die Ersthelferausbildung gemacht haben.«

»Hm. Aber es fährt ja auch nicht jeder einen Feuerlöscher spazieren.«

»Das stimmt. Doch es werden immer mehr, und im Notfall kann man es ja auch mit einer Decke oder einem Mantel versuchen. Wie auch immer, für den Fahrer gab es offenbar keine Rettung mehr, als wir eintrafen. Aber selbst wenn er mit den Armen gefuchtelt oder geschrien hätte, ohne Löschmaßnahme hätten wir niemals zu ihm gelangen können. Das Gummi der Reifen, Benzin, Öl, Kleidung; das brennt unglaublich heiß, und die Dämpfe sind hochgiftig.«

»Okay, ich verstehe«, nickte Julia, deren nächste Frage damit bereits beantwortet war. »Bitte halten Sie sich bereit, damit Sie den Kollegen der Spurensicherung und der Rechtsmedizin genau benennen können, welche Löschmittel Sie verwendet haben, und eventuell werden wir später noch einmal auf Details zurückkommen.«

Es würde die Arbeit der Rechtsmedizin ungemein behindern, dass die ganze Szenerie derart verunreinigt war, um es mit den Worten des leitenden Forensikers Platzeck auszudrücken. Julia konnte sich sein Gesicht schon vorstellen, aber auf der anderen Seite galt bei einem augenscheinlichen Verkehrsunfall nun mal das Prinzip, erst Leben zu retten und danach über alles andere nachzudenken.

»Okay, ich bin ja noch ’ne Weile hier«, sagte der Feuerwehrmann und tastete seine Taschen ab, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er wird doch wohl keine Zigaretten herausholen, dachte Julia, aber dann sah sie, dass es sich um eine Packung Kaugummi handelte.

»Auch einen?«, fragte er, als er ihren Blick registrierte. »Hilft gegen den süßen Röstgeschmack und den Ölfilm auf der Zunge.«

»Danke, lieber nicht«, lehnte die Kommissarin ab und richtete ihren Blick wieder auf die schätzungsweise zwei Meter lange Kette, die den Rahmen des Motorrades an die Leitplanke fesselte. Etwas Teuflisches musste sich hier zugetragen haben, so viel war sicher.

Als sie von rechts schlurfende Schritte vernahm, wandte sie sich langsam um, in der Erwartung, Andrea Sievers zu sehen, die toughe Rechtsmedizinerin, die, soweit Julia informiert war, ebenfalls übers Wochenende Bereitschaft hatte. Gemeinsam mit Andrea, die einige Jahre jünger, aber nicht minder erfahren war, hatte die Kommissarin schon so manchen vertrackten Fall lösen können, denn dem scharfen Auge der Ärztin entging kaum ein Detail. Doch statt eines weißen Kittels und des obligatorischen Lederkoffers, in dem Andrea ein akribisch sortiertes Sammelsurium von teurem medizinischem Besteck hortete, bekam Julia etwas anderes zu sehen.

Es war die untersetzte Gestalt eines Mannes, Mitte fünfzig, markantes Kinn. Er stapfte leicht gebückt und hielt sich den im kalten Wind flatternden Stoffmantel mit der Faust zusammen. Seine Haare waren zerzaust, und irgendwie, obwohl sein Mantel weder verknittert noch beigefarben war, musste Julia unvermittelt an Inspektor Columbo denken. Dann lächelte sie und richtete sich mit einem freundlichen Nicken vollständig auf.

»Peter Brandt!«, sagte sie dann. »Was verschafft mir dieses unerwartete Vergnügen?«

»Frau Durant?« Brandts Stimme klang ebenfalls verwundert. »Das Gleiche könnte ich Sie fragen. Wer hat Sie denn herbestellt?«

»Die Autobahnpolizei. Und Sie?«

»Es gab eine Meldung über verdächtige Aktivitäten am Aufgang der Brücke. Dort, wo ich grad herkomme.« Brandt deutete mit dem Daumen über die Schulter hinter sich. »Eine Streife ist hingefahren, doch da war nichts mehr zu sehen. Na, und dann ist hier oben das Chaos ausgebrochen, und prompt hat bei mir das Telefon geklingelt.«

»Verstehe.«

»Glauben Sie mir, ich dränge mich hier nirgendwo rein, ganz im Gegenteil«, betonte Brandt und machte eine abwehrende Geste mit den Händen.

»Ich reiß mich auch nicht darum«, erwiderte Julia kühl, denn ihr missfiel die ruppige Art ihres Kollegen, »aber die A661 ist nun mal bis zum Offenbacher Kreuz runter noch unsere Spielwiese.«

»Wobei wir genau genommen auf dem Fuß- und Radweg stehen. Die ganze Brücke gehört Ihnen also nicht«, warf Brandt mürrisch ein. Es gab kaum etwas, was er mehr hasste als den für Frankfurter so typischen Eroberungsdrang und die überhebliche Tendenz, alles an sich reißen zu wollen. Eine Eigenschaft, die zumindest der gebürtige Offenbacher den Städtern jenseits des Mains nur allzu gerne zuschrieb.

»Trotzdem möchte ich sonntags vor Sonnenaufgang nicht wirklich über Zuständigkeiten diskutieren. Wir leben immerhin nicht mehr in den Achtzigern und stehen nicht auf dem Randstreifen der Transitautobahn Hamburg–Berlin, sondern haben hier einen Toten, der allem Anschein nach nicht freiwillig abgetreten ist. Und«, lenkte Durant dann mit einem verstohlenen Zwinkern ein, »seine Maschine hat Offenbacher Kennzeichen. Riskieren Sie also ruhig mal einen Blick.«

»Hm«, meinte Brandt nachdenklich, während er den Toten von Kopf bis Fuß musterte. »Es stimmt also, was man sich so erzählt.«

Julia sah ihn fragend an, und er fügte erklärend hinzu: »Die Uniformierten haben davon gesprochen, dass er angekettet und angezündet wurde. Mir kam das spanisch vor, aber es stimmt ja offensichtlich. Haben Sie eine Idee dazu?«

»Nicht die leiseste«, gab Julia achselzuckend zu. »Aber ich baue auf Andreas Erkenntnisse, haben Sie sie nicht zufällig anrauschen sehen?«

»Wieso sollte ich?« Brandts Miene verdüsterte sich. Vor einigen Jahren hatte er eine romantische Beziehung mit Andrea Sievers gehabt, die etliche Jahre jünger war als er. Obwohl sie blendend miteinander ausgekommen waren und Andrea auch mit Brandts heranwachsenden Töchtern nicht das geringste Problem gehabt hatte, war ihre Partnerschaft auseinandergebrochen. Nicht dass es heute noch wie ein Damoklesschwert über ihnen hing, aber Brandt konnte nicht vergessen, dass Andrea ihn recht kalt abserviert hatte, nachdem sie sich ihm Jahre zuvor regelrecht an den Hals geworfen hatte. Aber er wusste auch, dass das seine ganz persönliche Sicht der Dinge war, vielleicht hatte er sogar durch seine dauernde Sorge, dass er zu alt für eine solch junge, blendend aussehende Partnerin sei, eine selbsterfüllende Prophezeiung geschaffen. Andererseits war Peter Brandt längst wieder glücklich gebunden, und die private Vergangenheit mit der Pathologin belastete das professionelle Verhältnis kaum mehr.

»Nur so, ich gehe davon aus, dass Andrea von Ihrer Mainseite her anrücken wird. Immerhin ist das Institut in Sachsenhausen«, antwortete die Kommissarin, die um die Vergangenheit der beiden wusste, ihre Frage allerdings überhaupt nicht darauf bezogen hatte.

»Schon gut, nehmen Sie mir meine Laune nicht übel. Ich werde nur ungern eine Stunde vor dem Aufstehen aus dem Schlaf gerissen.«

»Als stünden Sie sonntags schon um sieben auf«, kommentierte Julia grinsend. »Aber mir geht’s da ähnlich«, nickte sie dann, »glauben Sie mir. Wer wird schon gerne so früh geweckt.«

»Sie haben aber meines Wissens keine erwachsene Tochter, oder?«

»Nein, davon wüsste ich wohl.«

»Sehen Sie. Ich hätte es kaum für möglich gehalten, aber seit die Mädchen erwachsen sind und ihr eigenes Leben führen, mache ich mir noch mehr Sorgen um sie. Verrückt, oder?«

»Ich glaube, das ist ganz normal«, gab Julia zurück und versuchte, sich Situationen aus ihrer Jugend in Erinnerung zu rufen. »Väter und ihre Töchter, das ist wohl eine ganz spezielle Verbindung.«

»Hm, wie auch immer«, sagte Brandt. »Aber obwohl Michelle für ihre einundzwanzig wirklich vernünftig ist und mir keinen Grund zur Sorge gibt, liege ich manchmal nachts wach und bekomme Panik, wenn sie nicht heimkommt.«

»Sie wohnt noch bei Ihnen?«

»Ja, wieso auch nicht? Seit meine Älteste nach Spanien gegangen ist, ist doch Platz. Sarah studiert dort Romanistik, aber Michelle geht vorerst hier an die Uni.«

»Ich wusste gar nicht, dass man in Offenbach studieren kann«, antwortete Julia spitzzüngig und mit einem koketten Zwinkern.

»Pff, da sage ich jetzt mal besser nichts dazu«, brummelte Peter Brandt.

»Na, habt ihr auch Spaß miteinander?«, erklang Andrea Sievers’ Stimme ein wenig heiser, und die Kommissare fuhren herum.

»Hey, guten Morgen«, lächelte Julia, und auch Brandt nickte freundlich.

»Andrea.«

»Darf man fragen, was ihr beiden hier zusammen treibt? Gab es eine Reform der Präsidien, von der mir keiner was gesagt hat, oder wie muss ich das verstehen?« Andrea legte grübelnd den Kopf zur Seite. Dabei stachen ihre Augen in Brandts Richtung, was diesem unangenehm war. Er deutete mit dem Finger in Richtung Main und antwortete knapp: »Zuständigkeitsgrenze.«

»Hm. Und das muss ausgerechnet oberirdisch sein, bei dieser Kälte?«, entgegnete Andrea und hüstelte. »Ihr hättet euch lieber mal einen warmen U-Bahn-Tunnel oder so ausgesucht, denn so werde ich meinen Frosch im Hals nie los.«

»Nimm dir doch eines der Ganzkörperkondome von Platzeck, wenn seine Truppe endlich mal hier aufläuft«, schlug Julia grinsend vor. »Garantiert winddicht.«

»Nein, ich baue lieber darauf, schnell ins Institut zu kommen«, wehrte die Pathologin ab und stellte ihren Lederkoffer neben sich. Sie wandte sich wieder an Brandt und zwinkerte ihm zu. »Noch immer der Gentleman? Dann hilf mir mal bitte beim Drübersteigen und reiche mir anschließend den Koffer.«

Elegant schwang sie sich über das Geländer und die Leitplanke, nahm mit einem dankenden Lächeln den Koffer entgegen und betrachtete die Leiche.

»Offenbar männlich, trägt seine Rundungen an den Hüften und nicht auf der Brust«, murmelte sie. »Verbrannt, wobei der Grad der Verbrennung unter der Kleidung noch nicht einzuschätzen ist. Im Gesicht aber dritter, wenn nicht sogar vierter Verbrennungsgrad, da muss ich mit der Feuerwehr sprechen, um die Temperatur der Flammen zu erfahren. Für euch von Interesse ist wahrscheinlich eher, ob der Mann an den Verbrennungen gestorben ist, korrekt?«

»Ja, das wäre die wichtigste Frage«, bestätigte Brandt.

»Kannst du in so einem Fall eigentlich den Todeszeitpunkt über die Körpertemperatur bestimmen?«, erkundigte Julia sich.

»Nicht damit allein, aber Körper und Zellen, insbesondere die inneren Organe, sind ja nicht vollständig verkohlt. Da geht schon noch was, doch ich werde mich nicht an Ort und Stelle von euch darauf festnageln lassen. Ich mache hier zunächst eine grobe Leichenschau und nehme ihn mir anschließend auf dem Seziertisch in Ruhe vor. Na ja«, sie zog die Augenbrauen nach oben, »einen faulen Sonntag vor dem heißen Ofen hatte ich mir etwas anders vorgestellt, aber gut.«

»Verdammt, Andrea!«, schalt Julia, die sich immer wieder aufs Neue über den morbiden Humor ihrer Kollegin wundern musste. Andererseits wusste sie, dass der tagtägliche Kontakt mit zum Teil grausam entstellten Leichen ein ungemein dickes Fell erforderte. Wenn Humor oder – besser – Sarkasmus eine geeignete Abwehrmechanik der Psyche waren, dann bitte. Andrea Sievers zumindest erweckte nie den Anschein, als wachse ihr der Job über den Kopf. Im Gegenteil, meistens versprühte sie Energie für zwei, eine Eigenschaft, um die sie Julia Durant insgeheim manchmal etwas beneidete.

Endlich näherte sich über die Autobahn auch der Wagen von Platzeck. Er steuerte ihn zielstrebig in die große Lücke, die der Löschzug freigemacht hatte, und stieg mit zwei Kollegen aus. Julia Durant winkte ihn zu sich, und er begrüßte zuerst Andrea, dann die beiden Kommissare.

»Toll, hier brauchen wir ja überhaupt nicht erst auszupacken«, kommentierte er anschließend mit gerümpfter Nase. »Feuer und Löschmittel haben den Großteil der Spuren garantiert vernichtet.«

»Wir haben’s uns weiß Gott nicht ausgesucht«, erwiderte Brandt.

»Aber irgendjemand hat sich das ausgesucht«, warf Durant ein. »Die Position der Leiche, dann das Anketten, und jemand hat ihn schließlich auch angezündet. Wir sind auf jede Erkenntnis dringend angewiesen.«

»Schon klar«, gab Platzeck zurück. »Wir tun unser Bestes. Ich fordere noch zwei Mann an, damit wir die Fahrbahn nicht länger als nötig blockieren. Die Jungs von der Autobahnpolizei werden schon unruhig.«

»Ist mir egal«, sagte Durant. »Es ist schließlich Sonntag, die Sperrung bleibt so lange wie nötig bestehen.«

»Dann lass uns mal loslegen, ich werfe mich jetzt in Schale«, sagte Platzeck und wandte sich in Richtung seiner Mitarbeiter, die bereits in ihre Schutzanzüge stiegen. Einer der beiden gab einem Beamten zu verstehen, welcher Bereich mit Absperrband gesichert werden musste, und dieser nickte.

Julia Durant und Peter Brandt beschlossen, die Kollegen ungestört ihre Arbeit verrichten zu lassen, und sammelten bei den Beamten der Autobahnpolizei die noch relativ dürftigen Informationen.

Zwanzig Minuten später wandte Julia sich im Vorübergehen an ihren Kollegen: »Zeit für uns, vorerst die Biege zu machen, wie?«

Brandt nickte. »Gönnen wir uns noch einen Kaffee und fassen die Fakten zusammen?«

»Ja, wieso nicht. Bei mir oder bei Ihnen?«, fragte die Kommissarin dann lächelnd und deutete mit Daumen und Zeigefinger abwechselnd auf beide Uferseiten des Mains.

»Sie bestimmen, ich zahle.«

»Aha, es steckt also doch ein Gentleman unter der harten Schale«, neckte Durant, und sie verließen kurz darauf die Brücke in Richtung Süden.

Sonntag, 7:15 Uhr

In einem McDonald’s unweit des Kaiserleikreisels, einem der wichtigsten Knotenpunkte der Stadt, dessen Name man wöchentlich meist mehrmals im Verkehrsfunk zu hören bekam, bestellte Peter Brandt zwei große Tassen Kaffee. Sie suchten sich einen ruhigen Platz, Julia gönnte sich außerdem ein Laugenbrötchen und brachte Butter und Marmelade mit.

»Ach, so eine Portion Rührei würd ich mir ja auch noch gönnen«, überlegte Brandt, blickte dann hinab auf seinen Bauchansatz und stand auf. »Was soll’s, leerer Bauch studiert nicht gern. Bin gleich wieder da.«

»Nur zu«, lächelte Julia und warf einen Blick auf ihr Handy. War es zu früh, Hellmer aus dem Bett zu klingeln? Sie beschloss, ihm noch ein wenig Zeit zu geben, schließlich gab es in diesem Moment noch nicht viel zu tun, zudem war ja noch zu klären, welches Präsidium sich denn nun um den Fall kümmern würde. Die Kommissarin steckte das Gerät zurück in die Tasche und ließ ihren Blick durch das Restaurant wandern, in dem sich für einen frühen Sonntagmorgen erstaunlich viele Menschen befanden. Darunter waren ein Grüppchen übernächtigter Teenies, denen man nur wünschen konnte, besser nicht in eine Polizeikontrolle zu geraten, und einige Männer mittleren Alters, mit müdem Blick und unrasiertem Gesicht. Lkw-Fahrer vielleicht, überlegte Julia gerade, als Brandt mit einem Tablett zurückkehrte. Er wirkte äußerst zufrieden, während er zwei kleine Papiertütchen mit Pfeffer und Salz aufriss und deren Inhalt gleichmäßig über dem unnatürlich leuchtenden Gelb des Rühreis ausstreute.

»So kalt, wie es draußen ist, könnte man ja beinahe schon wieder drüber nachdenken, sich Winterspeck zuzulegen«, kommentierte er, als er sich die Gabel zum ersten Mal großzügig füllte.

»Ganz meine Meinung«, grinste Julia, die sich beide Brötchenhälften geschmiert und bereits zweimal genussvoll abgebissen hatte. »Wobei Sie ja nicht übergewichtig sind.«

»Danke, aber ich habe nicht nach Komplimenten gefischt. Mein Arzt wäre überglücklich, wenn ich zehn Kilos runter hätte, und ich habe mir auch selbst vorgenommen, ihm diesen Gefallen zu tun. Na ja, wenigstens auf halbem Weg werde ich versuchen, ihm entgegenzukommen«, seufzte er und fügte rasch hinzu, obwohl er insgeheim alles andere als überzeugt davon war: »Mehr halte ich ohnehin nicht für notwendig.«

»Nun, dann lassen Sie sich’s schmecken.«

Sie aßen ein paar Minuten schweigend, dann zog die Kommissarin ein Notizbuch heraus.

»Ich bin mal so frei und beginne«, sagte sie, denn Brandt stocherte noch eifrig zwischen Rührei und Bacon herum. »Wir haben ein relativ genaues Zeitschema, da der Notruf punktgenau registriert wurde. Beginnen wir also mit dem Tathergang, in Ordnung?«

»Klar.«

»Gegen kurz vor halb fünf entdeckt ein Autofahrer ein brennendes Motorrad auf der Brücke. Er hält an, verlässt seinen Wagen und versucht, mit einem Feuerlöscher, den er mit sich führte, zu löschen. Er betätigt außerdem den Notruf, dies geschah um 4:32 Uhr, nach seinem erfolglosen Löschversuch. Feuerwehr, Notarzt und Autobahnpolizei sind jeweils in wenigen Minuten vor Ort. Der Motorradfahrer hat bereits beim Löschversuch unseres Ersthelfers keine Anzeichen gemacht, dass er noch lebte. Schreie oder Bewegungen wurden von keinem der Beteiligten beobachtet. Doch andererseits hatte der Mann Handschellen, und das Motorrad war ebenfalls fixiert. Irgendjemand muss es also gegen Viertel nach vier in Brand gesteckt haben. Stimmen Sie dem so weit zu?«

»Worauf basiert die Einschätzung mit Viertel nach vier?«

»Nur ein grober Wert«, erläuterte Julia. »Fast jeder Autofahrer hat heutzutage ein Handy, und selbst zu dieser frühen Tageszeit ist auf der A661 ausreichend Verkehr, dass ein brennendes Fahrzeug wohl kaum länger als ein paar Minuten ungemeldet bliebe.«

»Das denke ich auch«, nickte Brandt. »Die Feuerwehr hat mir zudem bestätigt, dass das Feuer nicht viel länger als ein paar Minuten gebrannt haben könne. Öl und Benzin sind zwar größtenteils verdampft und verbrannt, aber in so ein Motorrad passt ja auch nicht viel rein. Das Reifengummi ist zum Teil verbrannt, und für die Verbrennungen am Körper braucht es keine lange Feuereinwirkung. Es spricht allerdings einiges dafür, dass Körper und Maschine von oben bis unten mit Brandbeschleuniger übergossen wurden. Schätzungsweise Benzin, das wäre zumindest logisch. Insofern kommen wir mit 4:15 Uhr wohl ganz gut hin.«

»Haben Sie mit dem Augenzeugen gesprochen?«, wollte Julia wissen, denn sie hatte am Tatort vergeblich Ausschau nach ihm gehalten.

»Er wurde zur Beobachtung in die Klinik gebracht, wegen Rauch und so. Ich habe mich auch gewundert, aber mit Ärzten und Sanitätern am Unfallort lege ich mich schon lange nicht mehr an. Wir haben ja seine Personalien«, Brandt grinste, »und seinen Wagen möchte er bestimmt auch irgendwann wiederhaben.«

»Okay, damit kann ich leben. Welches Krankenhaus?«

»Klinikum Offenbach. Das hat schon beinahe etwas Ironisches. Wussten Sie, dass wir dort eines der führenden Verbrennungszentren des Landes haben?«

»Nein, das war mir nicht bewusst«, gab Julia zu. »Hat der Mann denn selbst Verbrennungen davongetragen?«

»Weiß ich nicht.« Brandt zuckte mit den Schultern. »Kann schon passieren, dass man sich beim Löschversuch selbst die eine oder andere Blase holt. Aber falls ja, ist er dort in guten Händen.«

»Ich würde gerne möglichst bald zu ihm fahren, machen wir das gemeinsam?«

»Ja, wieso nicht? Jemand anderen haben wir ja nicht zu befragen derzeit. Aber ich habe die Kollegen der Autobahnpolizei mal auf die Webcams hingewiesen.«

»Welche Webcams denn?« Julia runzelte die Augenbrauen und kratzte sich am Kinn.

»Verkehrsüberwachung«, erwiderte Brandt triumphierend. »Sagen Sie bloß, das gibt es im modernen Frankfurt nicht?«

»Ist mir vollkommen wurscht«, konterte Julia, »jedenfalls war es für mich bislang nicht von Interesse. Ich habe das Präsidium in Laufweite und bin nur selten auf Verkehrsmeldungen angewiesen.«

»Schon gut, war nicht so gemeint«, lachte Brandt versöhnlich. »Es gibt eine Kamera über dem Offenbacher Kreuz, die ist vermutlich etwas weitab vom Schuss, aber seit einiger Zeit wird auch der Kaiserleikreisel elektronisch überwacht. Verkehrsflussanalyse, Sie wissen schon, irgendwelche Statistiker setzen sich zusammen und überlegen, wie sie den alltäglichen Stau aus der Welt schaffen können. Wenn Sie mich fragen, braucht es dazu keine Mathegenies, sondern die A66 muss endlich erweitert werden. Aber das passt euch Frankfurtern ja nicht.«

»Ich bin Münchnerin«, warf Julia trocken ein.

»Wie? Ach, sei’s drum. Jedenfalls besteht zumindest eine geringe Chance, dass wir für das Zeitfenster der Tat einige Aufnahmen der Gegend bekommen. Von irgendwoher muss der Fahrer ja gekommen sein und, was noch viel spannender ist, von irgendwoher auch seine Mörder.«

»Klingt nach einem Strohhalm, aber prinzipiell ein guter Ansatz. Kümmert sich schon jemand drum?«

Brandt bejahte, und Julia Durant überlegte einen Augenblick, dann notierte sie sich etwas auf ihrem Notizblock. »Wir gehen also von 4:15 Uhr aus«, wiederholte sie, »stockfinstere Nacht, wenig Verkehr. Die Brücke ist ein recht prominenter Platz für einen Mord, und so wie es aussieht, ist die Tat ja nicht nur geplant, sondern auch ganz bewusst in Szene gesetzt worden.«

»Richtig. Es ist, als sollte eine ganz bestimmte Botschaft ausgesendet werden. Die Frage ist nur, an wen? Und was soll die Botschaft zum Ausdruck bringen?«

»Sobald wir wissen, um wen es sich handelt, wissen wir hoffentlich mehr«, schloss Julia. »Das Kennzeichen war kein Treffer?«

»Nein, es ist nirgends registriert. Keine TÜV-Plakette, keine Fahndungsmeldung, aber es ist auch definitiv kein neues. Beulen, Lackschäden, alte Bohrungen – wir lassen es am besten gezielt auf frühere Verwendung checken. Außerdem gibt es doch die Datenbank der Zulassungsstelle, wo Kennzeichen reserviert werden können. Auch das sollten wir prüfen. Ich habe allerdings das ungute Gefühl, als entpuppe sich dies als eine Sackgasse, möglicherweise ist es sogar eine gezielte Irreführung.«

»Na gut, dann schlage ich vor, wir suchen unseren Augenzeugen auf. Mit ein wenig Glück erhalten wir noch ein paar Eindrücke von dem, was er bei seinem Eintreffen vorgefunden hat. Die Täter konnten zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht weit gekommen sein.«

»Kommt drauf an, ob sie zu Fuß oder über die Autobahn unterwegs waren«, gab Brandt zu bedenken, »vielleicht waren das ja auch die verdächtigen Aktivitäten am Fuße unserer Brückenseite.«

»Was waren das denn überhaupt für ominöse Aktivitäten?«, erkundigte sich Durant.

»Ein Anrufer hat gemeldet, dass ihm ein dunkler Lieferwagen und einige Personen aufgefallen seien. Leider ist das Mainufer in dieser Ecke eine Gegend, in der man häufig auf geheimnisvolle Fahrzeuge und zwielichtige Gestalten trifft«, seufzte Brandt. »Ebenso wie auf Falschmeldungen. So richtig weiter bringt uns das wohl kaum.«

Einige Minuten später verließen sie das Schnellrestaurant.

Sonntag, 8:22 Uhr

Die Sonne war längst aufgegangen, und obwohl es noch immer recht kühl war, ließ der Himmel auf einen halbwegs angenehmen Tag hoffen. Peter Brandt fröstelte dennoch, als er aus seinem Alfa stieg; für seinen Geschmack hätte es ruhig noch ein paar Grad wärmer sein können. Der diesjährige Sommer war der absolute Hohn gewesen, ständig unterkühlte Temperaturen, und die richtig warmen Tage konnte man an einer Hand abzählen. Für die zahllosen Schüler, deren Sommerferien im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser gefallen waren, war es wohl der enttäuschendste Sommer ihres Lebens gewesen. Erst in der zweiten Augusthälfte hatte sich langsam Besserung eingestellt, aber da drückten sie längst wieder die Schulbank.

Julia Durant parkte mit ihrem Wagen einige Meter hinter ihm, und gemeinsam betraten sie nun den beeindruckend großen Gebäudekomplex des Klinikums Offenbach.

»Nicht dass Sie es jetzt wieder als Angriff werten«, durchbrach Julia kurz darauf das Schweigen, »aber ich hätte niemals damit gerechnet, hier auf eine so große Klinik zu treffen.«

»Das geht vielen so«, sagte Brandt. »Aber wenn es um Verbrennungen geht, kommen sie trotzdem alle zu uns – aus der Wetterau, aus dem Taunus und aus dem Spessart. Das ist wie mit der Kinderklinik in Hanau, die hat auch einen gewissen Bekanntheitsgrad, aber solange man es nicht braucht, ist der Rest der Stadt uninteressant für einen.«

»Dafür haben Sie eine wachsende Aufklärungsquote«, warf Julia ein, als die beiden gerade um die Ecke in einen langen Gang einbogen, an dessen Ende sich ihr Zeuge Albert Manstein befinden sollte. So zumindest hatte die Information der diensthabenden Schwester gelautet.

»Das stimmt, auf die sind wir stolz. Obwohl es natürlich auch weniger Verbrechen gibt, so ehrlich muss man diese Zahlen schon betrachten. In dieser Hinsicht möchten wir nicht mit Ihnen tauschen.«

»Kann ich gut nachvollziehen«, seufzte Julia. Das vergangene Jahr hatte gleich am ersten Tag mit einem Paukenschlag begonnen und war danach nicht unbedingt ruhiger geworden. Die Kommissarin hatte nur mit Mühe und Not einen dreiwöchigen Urlaub antreten können. Bis kurz vor dem Abflug hatte sie noch darum bangen müssen, und ihr Begleiter mit ihr. Doch daran wollte Julia im Augenblick nicht denken, und sie schob die Erinnerungen schnell beiseite. Dafür kam ihr etwas anderes in den Sinn.

»Sagen Sie, ich habe von der Sache mit Nicole Eberl gehört, Ihrer Partnerin …«

Peter Brandt blieb abrupt stehen, und seine Miene verfinsterte sich.

»Ich weiß, dass sie meine Partnerin war«, erwiderte er mit tonloser Stimme. »Sie war aber noch viel mehr als das, ich möchte, dass Sie das wissen, bevor wir uns weiter unterhalten. Was haben Sie denn gehört?«

»Entschuldigung, ich wollte nicht pietätlos sein«, wehrte Julia ab, die nicht mit einer so heftigen Reaktion gerechnet hatte.

Nicole Eberl, die für Brandt weitaus mehr gewesen als nur eine Teamkollegin, war vor einiger Zeit nach kurzem, aber heftigem Krankheitsverlauf gestorben. Viel zu jung hatte sie an einer seltenen Form von multipler Sklerose gelitten und eine trauernde Familie hinterlassen. Nicole hatte Brandt schon vor seiner Scheidung gekannt, ihm in schweren Zeiten beigestanden, und es gab wohl kaum jemanden, dem er so bedingungslos vertraut hatte. Und dann dieser plötzliche Ausbruch, besser gesagt, das viel zu späte Erkennen und Deuten von Symptomen. Gerne hätte Peter Brandt seiner Partnerin in den letzten Wochen und Monaten ihres Lebens etwas von der Kraft zurückgegeben, die sie ihm einst gab, doch es war alles viel zu schnell gegangen. Und Nicole hatte keinen Beistand gewollt, keine trauernden Freunde und keine Mitleidsbekundungen. Nun war sie fort, für immer gegangen; bei ihrer Bestattung, auf der auch die Kollegen aus Frankfurt ihr die letzte Ehre erwiesen hatten, wurde die Hoffnung geschürt, dass sie nun an einem besseren Ort sei. Auf grüner Aue, am frischen Wasser, so in etwa hatte der Pfarrer es ausgedrückt, doch all dies hatte den unerträglichen Schmerz des Verlustes nicht lindern können. Nicole Eberl hatte eine Lücke hinterlassen, wohl mehr eine Wunde, die man nicht so einfach schließen konnte, und möglicherweise lag hierin auch der Grund, warum es bislang keinen dauerhaften Ersatz für ihre Stelle gab.

»Was wollen Sie denn nun wissen?«, fragte Brandt, dessen Blick noch immer leer wirkte.

»Ich wollte mich nur erkundigen, wie es um Ihr Team bestellt ist«, antwortete Julia mitfühlend. »Glauben Sie mir, ich habe selbst schon Verluste erfahren, ich hatte Sie da nicht an einem wunden Punkt treffen wollen. Ich habe nur überlegt, wie es weitergeht mit dem Fall.«

»Wieso, wir wollten das doch später entscheiden. Was hat Nicole damit zu tun?«

»Nichts direkt«, wehrte Julia ab, »aber wenn das eine große Nummer wird, brauchen wir eine Menge Leute. Wie ist es personell bestellt bei Ihnen?«

»Wir kommen schon klar«, murrte Brandt, in dessen Tonfall nun wieder die übliche Ablehnung mitschwang, die Julia nur allzu gut von ihm kannte.

»Ich sag ja nichts mehr.« Julia sah ihn nachdenklich an und fügte mit Nachdruck hinzu: »Lassen Sie aber bitte, wenn wir jetzt da reingehen, diese Frankfurt-Offenbach-Geschichte vor der Tür.«

 

Albert Manstein war ein einundvierzigjähriger Immobilienmakler, den Julia Durant jünger geschätzt hätte. Vermutlich lag es an der Glatze, die, zusammen mit der dunklen, auffällig geformten Brille, keine Hinweise auf das Alter gab. Zudem war seine Haut praktisch faltenfrei, von gleichmäßigem Teint, und selbst jetzt, übermüdet und zweifelsohne schockiert von der Unfallszene, strahlten seine blauen Augen eine unbeschwerte Jugendlichkeit aus. All dies machte Manstein zu einem attraktiven, nicht aber puppenhaften Menschen, der eine gewisse Vertrauenswürdigkeit ausstrahlte. Wie musste er erst auftreten, wenn er nicht an den Armen bandagiert und mit einem Kittel bekleidet im Krankenhausbett läge? Die Kommissarin kam zu dem Ergebnis, dass sie von einem Makler wie ihm auch guten Gewissens eine Immobilie gekauft hätte.

»Guten Morgen, mein Name ist Durant von der Frankfurter Kriminalpolizei, das ist mein Offenbacher Kollege, Peter Brandt.«

»Morgen«, entgegnete Manstein mit leiser Stimme, die angenehm tief und vertrauenerweckend klang.

»Vermutlich haben unsere Kollegen Ihnen bereits angekündigt, dass wir kommen«, fuhr Brandt fort, und Manstein nickte. »Es gibt noch einiges zu klären, wir vernehmen Sie als Zeuge einer Straftat, denn wie Sie vielleicht schon erfahren haben, wurde der Motorradfahrer allem Anschein nach ermordet.«

»Ermordet?« Manstein richtete sich ungläubig auf und stöhnte auf.

»Haben Sie Schmerzen?«, erkundigte sich Durant.

»Ja, in den Armen. Es war schrecklich heiß, aber ich musste dieses verdammte Teil ja in Richtung der Flammen halten.«

»Den Feuerlöscher?«

»Genau. Scheißteil, im Katalog hieß es, dass man damit einen Motorbrand löschen könne. Aber erstens ist das Ding binnen Sekunden leer, und zweitens ist die Reichweite ein Witz.«

»Hm. Es ehrt Sie, dass Sie angehalten haben«, nickte Brandt ihm zu.

»Dafür hab ich jetzt verbrannte Unterarme«, seufzte Manstein. »Die anderen drei vor mir, die nicht angehalten haben, liegen jetzt zu Hause im warmen Bett oder sind schon im nächsten Bundesland und frühstücken, während ich hier in einem schmuddeligen Zimmer liege.«

»Sie meinen drei Fahrzeuge?«, erkundigte sich Julia.

»Ja, sag ich doch. Allesamt rüber auf die Linke und Gas gegeben. Da musste ich ja anhalten, oder?«

»Wo kamen Sie denn überhaupt her? Ihrem Personalausweis nach wohnen Sie in Egelsbach, also ganz in der Nähe.«

»Kassel. Ich war auf einem Jahrgangstreffen.«

»Oha, und dann fahren Sie nachts noch zurück?«

»Ja, wieso nicht? Genügend Koffein kann man unterwegs ja tanken.«

»Nur Koffein?«, fragte Brandt dazwischen und dehnte die Worte ungläubig.

»Ja, testen Sie’s doch«, erwiderte Manstein patzig. »Glauben Sie, wenn ich gesoffen hätte, wäre ich ausgestiegen? Abgesehen davon, dass ich dann überhaupt nicht erst gefahren wäre. Für mich gilt die Null-Promille-Grenze, ich fahre vierzigtausend Kilometer im Jahr, da kann ich mir einen Verlust des Führerscheins nicht leisten.«

»War nur eine Frage«, beschwichtige Julia ihn mit einem Lächeln. »Wurden Sie getestet?«

»Blut abgenommen, ja, aber wofür, weiß ich nicht. Mir war flau, vermutlich, weil ich einiges von dem Qualm geschluckt habe. Bevor ich diese Cortisonwickel gekriegt habe«, er hob mit einem schiefen Lächeln die Arme an, »haben die mich besser untersucht, als mein Hausarzt es bei der Vorsorge macht.«

»Müssen Sie hierbleiben?«

»Keine Ahnung, hab noch keinen Arzt zu Gesicht bekommen. Aber ich möchte hier so bald wie möglich raus. Was passiert eigentlich mit meinem Auto?«

»Zunächst bräuchten wir noch einige Details von Ihnen. Danach machen wir uns Gedanken, wie wir Ihren Wagen von der Brücke bekommen. Ich verspreche Ihnen, wir werden ihn nicht in den Main fallen lassen.« Julia lächelte.

»Na gut. Was möchten Sie wissen?«

»Erinnern Sie sich an die genaue Uhrzeit, als Sie das Feuer bemerkt haben?«

»Nein, so gegen halb, denke ich. Nachts kann man sich ja nicht auf Nachrichten und Verkehrsfunk verlassen, also gibt’s da keinen Anhaltspunkt. Außerdem habe ich CD gehört. Das habe ich aber schon zu Protokoll gegeben.«

»Wissen wir. Für uns ist es trotzdem sehr wichtig, den Zeitpunkt möglichst genau zu bestimmen. Wie steht es denn mit den Kennzeichen oder Wagentypen dieser drei Fahrzeuge? Haben Sie da noch irgendwelche Erinnerungen dran?«

»Nein. Allerdings bin ich mir relativ sicher, dass es Nummernschilder von hier gewesen sind. Ich achte unterwegs nämlich auf fremde Kürzel, müssen Sie wissen. Bei so vielen Kilometern muss man sich ja mit irgendwas die Zeit vertreiben.«

»Also keine echte Hilfe, leider«, nickte Brandt, dem spontan fünf Kürzel in den Sinn kamen. Offenbach, Frankfurt, Hanau, Main-Kinzig-Kreis, Bad Homburg, Darmstadt und Aschaffenburg; es waren sogar sieben. »Dann konzentrieren wir uns auf den Zeitraum zwischen Ihrem Anhalten und dem Notruf. Diese Zeit haben wir ja, er ist um 4:32 Uhr eingegangen. Können Sie uns sagen, wie lange Sie außerhalb Ihres Fahrzeugs waren? Der Löschvorgang hat Ihrer Aussage nach nur wenige Sekunden gedauert.«

»Nein, bedaure.« Manstein schüttelte resigniert den Kopf. »Ich kann mich da nicht festlegen, es können Minuten, aber auch nur Sekunden gewesen sein.«

»Versuchen wir es doch schrittweise«, schlug Julia vor. »Wo befanden Sie sich, als Sie das Feuer bemerkt haben?«

»Hm, wohl Nähe Eissporthalle, wenn Sie so fragen. Die Strecke verläuft ja kerzengerade ab da.«

»Wie schnell sind Sie gefahren?«

Manstein grinste müde. »Nicht schneller als achtzig. Aber das sage ich nicht wegen der Geschwindigkeitsbegrenzung, sondern diese nervige Baustelle macht es einfach unbequem, mit über hundert da entlangzuholpern. Also achtzig kommt wohl hin.«

»Gut, dann rechnen wir eine halbe Minute bis zum Unfallort, eventuell etwas mehr«, überlegte Julia. »Haben Sie abgebremst?«

»Ja, ziemlich heftig sogar. Als ich gesehen habe, wie die anderen ausgewichen sind, bin ich erst mal in die Eisen gestiegen.«

»Dann gehen wir mal von einer Minute bis zum Anhalten aus. Ihr Wagen steht am Brückenausgang, das bedeutet, Sie haben die Stelle erst passiert.«

»Ja, ich wollte zunächst schauen, was los ist. Glauben Sie mir, aus dem Alter, in dem man freudig auf ein loderndes Feuer zurennt, bin ich schon ein paar Jährchen draußen. Außerdem neige ich nicht dazu, vorschnell nachts auf den Seitenstreifen zu fahren. Schwups, ist man sein Auto los und liegt abgestochen im Graben, na, Ihnen brauche ich ja nicht zu erzählen, wie schlecht die Welt da draußen ist.«

»Trotzdem haben Sie angehalten«, beharrte Julia. »Was geschah dann?«

»Ich habe gesehen, dass sich in den Flammen ein Motorrad mit einer Person drauf befindet. Also greife ich den Feuerlöscher unterm Sitz. Zuerst habe ich noch überlegt, die Jacke anzuziehen, aber das hätte Zeit gekostet. Also bin ich zur Brandstelle gerannt und habe draufgehalten.«

»Fünfzig Meter, ich schätze, Sie sind ein guter Sprinter«, dachte Brandt laut. »Zwanzig Sekunden?«

»Inklusive der Fummelei am Feuerlöscher, ja«, lächelte Manstein. »Früher hatte ich da weitaus bessere Zeiten.«

»Und das Handy?«, erkundigte sich Julia Durant. »Hatten Sie das bei sich?«

»Nein, das hatte ich natürlich am Ladekabel hängen. Also bin ich, nachdem der Löscher leer war, wieder zurück zum Auto geeilt.«

»Was sicher länger gedauert hat als auf dem Hinweg«, schloss Brandt. »Immerhin waren Sie ja außer Atem und hatten Rauch abbekommen.«

»Mag sein. Aber ich bin gerannt wie der Teufel.«

»Rechnen wir also für den Löschversuch und den Rückweg insgesamt zwei Minuten?«, fragte Julia.

»Nein, weniger«, beharrte Manstein und wollte ausladend abwinken, was ihm ein schmerzverzerrtes Gesicht einbrachte. »Ich habe einfach draufgehalten, das waren nur Sekunden. Hinterher hab ich gedacht, man soll besser stoßweise sprühen, aber in so einer Extremsituation schaltet das Gehirn wohl einfach ab.«

»Das ist aber doch alles relativ präzise«, nickte Julia. »Ich komme auf etwa drei Minuten bis zum Anruf, wenn wir von einem schnellen Ablauf ohne Pausen ausgehen.«

»Pausen?«, wiederholte Manstein gereizt. »Glauben Sie denn, ich hätte mir unterwegs ein Nickerchen gegönnt?«

»Nein, doch es gibt Zeiträume, in denen ein Mensch unentschieden ist, verharrt oder auch kurzzeitig handlungsunfähig ist. Diese Momente kann man hinterher nicht mehr benennen, aber es könnte zum Beispiel sein, dass Sie zwischen dem Absetzen des Feuerlöschers und dem Rückweg zum Auto einige Sekunden fassungslos dagestanden haben. Eine völlig normale psychische Reaktion.«

»Von Psychokram halte ich nichts.« Manstein schüttelte heftig den Kopf. »Und ich habe garantiert nicht tatenlos in die Flammen gestarrt. Auto, Handy, dort dann nach dem Anruf die Jacke gegriffen und zurückgeeilt. Ich wollte die Flammen ausschlagen, hatte daran gedacht, runter ans Wasser zu gehen und sie nass zu machen und solchen Kram. Aber ich war mit Sicherheit nicht untätig.«

»Herr Manstein, das war keineswegs ein Vorwurf«, schaltete Brandt sich ins Gespräch. »Sie haben uns weitergeholfen, vielen Dank. Möglicherweise kontaktieren wir Sie im Verlauf der Ermittlungen noch einmal.«

»Hm, meinetwegen.«

»Herr Manstein, hier ist meine Karte, falls Ihnen noch etwas einfällt«, sagte Julia Durant und legte eine ihrer Visitenkarten auf die Tischfläche des Rollwagens neben dem Bett. »Und obwohl Sie das in diesem Moment vielleicht als unnötig empfinden, sollten Sie sich überlegen, ob Sie mit jemandem über Ihr Erlebnis sprechen möchten. Jemand Professionelles, meine ich.«

»Ein Seelenklempner?«, rief Manstein spöttisch. »Wieso das denn?«

»Immerhin haben Sie heute jemanden grausam sterben sehen«, warf Brandt ein.

»Wieso? Ich dachte, er war längst tot?« Manstein klang irritiert.

»Wer hat das gesagt?«

»Na, einer der Feuerwehrleute, glaube ich«, erwiderte er schnell. »Aber da wurde so viel durcheinandergeredet, ich kann es jetzt nicht beschwören. Kann auch ein Sanitäter gewesen sein.«

»Tot oder nicht«, schloss Julia Durant das Gespräch, »es liegt jedenfalls ein traumatisches Erlebnis vor, und glauben Sie mir, diese Bilder kommen wieder. Man kann es verdrängen oder versuchen zu bearbeiten, deshalb mein Rat, es mit Letzterem zu versuchen.«

»Mal sehen. Was ist denn jetzt mit meinem Auto?«

»Haben Sie den Schlüssel?«, erkundigte sich Brandt.

»Nein, ich habe ihn einem Ihrer Kollegen gegeben, als klarwurde, dass ich mit ins Krankenhaus fahren muss.«

»Dann werde ich veranlassen, dass man Sie anruft«, versicherte Brandt ihm. »Ihr Handy haben Sie hier?«

»Ja, und sogar mit vollem Akku. Aber verraten Sie es nicht der Schwester«, grinste Manstein.

Dann verabschiedeten sie sich, und die beiden Kommissare verließen die Klinik.

Sonntag, 11:20 Uhr

Polizeipräsidium Frankfurt.

Kommissariatsleiter Berger rieb sich angestrengt die Schläfen. Er saß zurückgelehnt in seinem orthopädischen Sessel, den er seit einem schweren Bandscheibenvorfall sein Eigen nannte, und ließ den Blick durch das unpersönlich eingerichtete Büro wandern.