Thaddaeus Xaverius Peregrinus Haenke - Dietrich Angerstein - E-Book

Thaddaeus Xaverius Peregrinus Haenke E-Book

Dietrich Angerstein

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Beschreibung

War es ein Zufall, dass der junge Versicherungsliquidator Fernando Montenegro in jene graue Stadt der Widersprüche am Rand der Wüste Tarapacá entsandt wurde, wo er auf den Nachlass eines Naturforschers stieß, den die Welt längst vergessen hatte, in dem jedoch mit Recht manche den Vorgänger des großen Alexander von Humboldt sehen? Thaddaeus Xaverius Peregrinus Haenke nahm Ende des 18. Jahrhunderts als Gast des spanischen Königs an der Malaspina-Expedition teil, durchquerte in der Folge für undurchdringlich gehaltene südamerikanische Berg- und Waldregionen, wagte sich in den Norden des Gran Chaco – Gebiete, die vor ihm noch kein Europäer betreten hatte. Ein Leben, in dem die Wissenschaft zu Abenteuer und Berufung wurde.

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Seitenzahl: 264

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023Vindobona Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-949263-73-6

ISBN e-book: 978-3-949263-74-3

Lektorat: Dagmar Berger

Umschlagfotos: Vinzenz Raimund Grüner: Thaddaeus Haenke. ÖNB. Zur Verfügung gestellt via Wikimedia Commons:https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Vinzenz_Raimund_Gr%C3%BCner_-_Thadd%C3%A4us_Haenke_%C3%96NB.jpg (letzter Zugriff am 04.08.22);Ivansmuk | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: Vindobona Verlag

www.vindobonaverlag.com

Vorwort

Thaddaeus Xaverius Peregrinus Haenke

(Tadeo Javier Peregrino Haenke)

* 6. Dezember 1761 in Kreibitz/Chrbska (Böhmen)

† 4. November 1816 in Santa Cruz de Elizona/Cochabamba (Bolivien)

Dietrich Angerstein

Ein Missionar der Wissenschaften

Thaddaeus Xaverius Peregrinus Haenke

Leben und Vollendung des Forschers im Spiegel

Graue Stadt der Widersprüche I

„Ja, hier geschah es, hier hatte ich meinen ersten großen Auftrag im Dienst derGeneraliaabzuwickeln. Damals war ich noch recht neu im Geschäft, hatte man mich bisher nach der Ausbildung nur an kleine Aufgaben rangelassen, so kam es plötzlich ganz anders. Im Fall Iquique war Not am Mann. Ein Kollege ausgefallen, kein Ersatzmann zur Stelle, also schickte man mich in die Wüste, ja ganz richtig, direkt in die Wüste.“

So war es, das Leben eines Versicherungsliquidators, wie er in derGeneralia Seguros S. A. genannt wurde: Hinfahren oder -fliegen, Schaden besichtigen, Dokumente der Behörden anfordern und schließlich den Versicherten den Vorschlag einer Regulierung machen, der meist auf reales Entsetzen zu stoßen pflegte, mitunter aber auch von derGeneraliamit einer Prämie für den Liquidator – und die in Höhe von ein paar Prozenten der ersparten Abfindung – belohnt wurde. Ich muss allerdings gestehen, in der Regel habe ich immer versucht, ungefähr ausgewogen zu liegen, die Geschädigten einigermaßen zufriedenzustellen, so, dass die Zahlungen noch im Rahmen der mir auferlegten Begrenzungen lagen.

Das hatte ich alles recht gut überstanden, war zu bescheidenem Wohlstand gelangt, hatte geheiratet – natürlich eine Kollegin aus dem Büro –, drei Kinder in die Welt gesetzt und durfte mich nun nach runden fünfunddreißig schwer erarbeiteten Jahren, wie man es sich anhören musste, in den wohlverdienten Ruhestand versetzen lassen.

Allerdings, da gab es einen realen Unterschied. Mir hatte meine Arbeit Spaß gemacht, für ständige Abwechslung hatte der Umgang mit vielen Menschen gesorgt, täglich hatte ich Neues erlebt. Stunden der Zufriedenheit hatten bei Weitem die Stunden des Ärgers übertroffen, die zwar nie fehlten, die ich jedoch abends zu Haus oder in einem ausgelegenen Hotelbett unbekümmert beiseitezuschieben gewohnt gewesen war. Fehlen würde mir jetzt die Beschäftigung, auch wenn man mir bei der Abschiedsfeier im Büro mehrfach und das sogar von höchster Stelle versichert hat, man werde selbstverständlich in Zukunft auf meinen weisen Rat nicht verzichten wollen und diesen in Zweifelsfällen einzuholen beabsichtigen. Glaube es, wer da wolle!

Ein Ende wie voraussehbar bei derGeneralia. Heute will ich nun der Mutter meiner Kinder die Stellen zeigen, an denen ich ganz unverhofft zu Ruhm im Dienst derGeneraliagekommen war, und das nur, weil ein Kollege ausgefallen war und ich ohne Erfahrung auf dem Gebiet der großen Havarien rasch einspringen musste, hatte man mich bisher doch nur an leichte Unfälle gelassen. Und dann gab es gerade im Falle Iquique noch einiges zu erzählen, ein empfindsames Erlebnis, wie es mir einmal jemand benannte, das ich damals in meinem offiziellen Bericht nicht erwähnt und das mir und derGeneraliaein paar zusätzliche Spesen verursacht hatte. Das war mein großes Geheimnis, aber ab heute soll es nicht nur meins bleiben.

Nun, der Besuch in Iquique beginnt heute so wie damals vor rund dreißig Jahren. Zwar gibt es jetzt weitaus bessere Flugverbindungen, auch einen neuen Flugplatz und ebenso viele neue Nobelhotels, aber die gern geübte Unsitte, erst einmal einen neuen, bislang unbekannten Gast abwimmeln zu wollen, ist die alte geblieben. Vielleicht hinterlassen meine Frau und ich trotz modischer Reisekleidung auf den ersten Blick nicht den Eindruck von Besitzern gutgefüllter Bankkonten mit Priority-Kreditkarte, aber das löst sich rasch, sobald ich wie rein zufällig meine LAN-Premiumkarte sehen lasse, die mich als Vielflieger der Business-Klasse ausweist. Überraschend avanciere ich zuDon Fernando, sogar eine kleine Suite zum Vorzugspreis steht zur Verfügung. (Der Gast sei gerade erst ausgezogen, in ein paar Minuten sei sie fertig. Wusste man das nicht vorher?)

Ansonsten hat sich Iquique gewaltig verändert. Straßen zeigen sich frisch saniert, alte historische Gebäude renoviert, dahinter aber noch die alten Schuppen aus der Salpeterzeit, leer, ungenutzt. Hand in Hand ziehen wir durch die Stadt, nehmen ein Taxi und fahren zu der Stelle, an der sich vor ein wenig mehr als dreißig Jahren der Zusammenstoß ereignet hatte, der mir unerwartetes Lob und eine Prämie bescherte. Die Stelle ist kaum noch auffindbar, eine neue Autobahn windet sich über den Granit die achthundert Meter zum Hochplateau empor, die alte Straße wird kaum noch benutzt; herumliegende, herabgerollte Steine und kleine Sandberge lassen auf mangelnden Unterhalt schließen.

„Siehst du, dort lagen noch Gleise und da kamen die Waggons herunter, sprangen über die fehlenden Schienen und sausten hier auf die Straße.“

Von Schienen ist nichts mehr zu sehen, nur ein alter, abseits halb im Sand versunkener Meilenstein lässt ahnen, dass hier einmal Züge gefahren sind.

„Ich war damals noch nicht lange bei derGeneralia, ich glaube gerade einmal ein Jahr, ich erinnere mich an den Fall, er war jahrlang Gesprächsstoff im Büro. Der Schrotthändler, der die Wagen beladen hatte, das war ein im ganzen Land bekannter Mann, berüchtigt dafür, dass er oft heimlich ohne Erlaubnis ganze stillgelegte Salpeterwerke abriss und alles als Schrott verschwinden ließ.“

„Wurde der zur Rechenschaft gezogen?“

„Ach der, der konnte sich prima herausreden. DieGeneraliatrat als Nebenkläger auf, das ging hin und her, herausgekommen ist, glaube ich, nichts.

Aber jetzt will ich dir mein Geheimnis jener Tage anvertrauen und deshalb fahren wir nun zu einem Haus, in dem ich damals Unterkunft fand, denn in den wenigen fragwürdigen Hotels jener Jahre wollte man mich nicht haben. Und dann werde ich dir erzählen, was damals im Jahre 1960 geschah hier in Iquique, und ich werde es dir so erzählen, als ob wir beide dabei gewesen wären, so richtig mitten drin.“

Die Adresse ist mir noch gegenwärtig, ‚fahren Sie zu‘, jetzt hier herum, dann dort, die Umgebung ist kaum wiederzuerkennen, doch schließlich stehen wir vor einer baufälligen Hütte. Fenster und Türen abgebaut, zerschlagen oder gestohlen, das Dach teils eingebrochen, teils irgendwann mal liederlich geflickt, der winzige Vorgarten verwildert und vertrocknet. Die Enttäuschung, das Entsetzen müssen mir ins Gesicht geschrieben erscheinen, meine Frau greift mich fester an der Hand.

„Ach diese Bude“, der Fahrer hat sich uns zugesellt, „die steht schon seit Jahren leer. Sie soll einem Engländer gehört haben, der in den Krieg zog, aber nie wiederkam. Dann hat eine alte Frau drin gelebt, aber die ist auch vor Jahren gestorben. Jetzt wird das alles bald abgerissen. Hier soll ein großer Gebäudekomplex entstehen, ein Riesenbetonkasten, der wird den ganzen Block einnehmen. Eigentlich schade, so geht noch eine Erinnerung an das alte Iquique dahin.“

Mir wird seltsam zumute, leicht schwindlig oder was ist es? Das alte Haus steht vor mir, der Türklopfer knallt wie ein Kanonenschuss. Ich höre denOnkelstreiten mit Doña María José. Irgendwo muss ich mich rasch hinsetzen. Da der Zementklotz, war der schon früher da? Wo bleibt meine Frau, wo der Taxifahrer? Unerwartet erscheint derOnkel hinter dem Haus, fragt: „Soll ich Sie zu Pater Bruno bringen?“ Wer ist Pater Bruno?

María José steht unter dem Türrahmen: „Es gibt Linsen, mögen Sie Linsen? Lesen Sie ruhig weiter! Mister Clark kommt nicht wieder, alle Briefe kommen zurück: ADDRESSEE UNKNOWN.“

Papiere, Fotos liegen am Boden, ein dickes, schweres Buch mit goldenen Buchstaben, kaum kann ich es bewegen.

Unter mir das Waschbecken mit einer verblichenen Rose. „Das warme Wasser kommt aus der Küche, das dauert ein Weilchen. In Iquique müssen Sie sich in Geduld üben.“

„Ja, ja – die Loren. Die sind hier runtergebraust. Es war ein schauriges Bild, der Bus, die Autos, die Schreie. Es dauerte mehr als eine halbe Stunde, bis die Polizei kam …“

„Weißt du, Carmen, fahren wir lieber zurück ins Hotel, hier möchte ich jetzt nicht bleiben.“

Iquique 1960 – Montag 6. Juni

„Also, es tut mir sehr leid, aber wir haben wirklich kein Zimmer mehr frei. Sie wissen, jetzt sind die großen Bergbauprojekte im Kommen und die wenigen Hotels am Platz ausgebucht.“

„Das kann doch nicht wahr sein. Ich habe vorgestern hier angerufen und man hat mir die Reservierung bestätigt, für heute und die nächsten fünf Tage.“

Der dienstlich freundliche, so vorgeschriebene Blick eines Hotelbeamten am Empfang weicht schlagartig dem mürrischen, sauertöpfischen, an weiter hinten wartende Arbeit erinnernde Gesichtsausdruck eines überlasteten Angestellten im schwarzen Anzug, der obendrein überzeugt ist, unterbezahlt zu sein. „Wenn ich dem da sage, das Haus sei ausgebucht, so ist es auch so und da gibt es nichts mehr zu erklären.“

„So? Mit wem haben Sie denn gesprochen, hier liegt keine Reservierung vor!? Wer war denn das?“

Ich fördere ein Paket zerknüllter Papiere aus der Tasche, ein abgerissenes Flugticket, zerknitterte Gepäckabschnitte, eine Taxiquittung und einiges mehr, da taucht auch der gesuchte Zettel mit dem Namen auf.

„Medina, ein Herr Medina.“

Deutliche Erleichterung spüre ich bei meinem Gegenüber. Aus der Verantwortung ist er jetzt raus.

„Ach der! Das ist hier ein Lehrling im Hause, ein Trainee. Der hat keine Ahnung, wie das hier läuft. Der kommt auch erst am Nachmittag, jetzt ist er in der Berufsschule. Aber der kann keine Reservierung angenommen haben, hätte es auch gar nicht tun dürfen, denn dafür ist unser Reservierungsbüro zuständig und das hätte Ihnen gleich gesagt, dass in diesem Hause nichts zu machen ist. Versuchen Sie es doch einmal dort gegenüber in der Stadt, imEspaña, oder weiter unten an der Cavancha, da entstehen neue Hotels, vielleicht bekommen Sie dort etwas. Ich glaube aber, dass auch da nichts zu machen ist.“

Jetzt stehe ich also auf der Straße. Hinter mir der Taxifahrer grinst erst einmal in sich hinein, glaubt, berechtigt zu sein, auch noch seine Meinung zugeben zu müssen:

„Habe ich Ihnen das nicht gleich gesagt? Hier in Iquique ist zurzeit die Hölle los. Aber versuchen wir es doch einmal an der Cavancha, vielleicht finden wir noch ein freies Zimmerchen.“

Es hilft alles nichts. Die wenigen Hotels am Platze sind ausgebucht, in manchen werde ich mit mitleidigen Blicken gleich an der Tür abgefertigt und davongejagt. Schon habe ich mich damit abgefunden, die Nächte auf einer Bank auf der Plaza verbringen oder gegen Vorauszahlung in einem fragwürdigen Etablissement mit weiblicher Begleitung vorliebnehmen zu müssen. Die gibt es in mehrfacher Auflage, erfährt man schon wenige Minuten nach der Ankunft. Dazu die nächtliche Kälte, denn so warm, wie es hier tagsüber ist, so kalt soll es in der Nacht trotz der milden Seewinde werden.

Da alle Versuche in einen Fehlschlag auslaufen, wird nunmehr mein Taxifahrer mobil. Bisher hat er sich nur damit begnügt, mich bis zur Hoteltür zu begleiten und dort das vorauszusehende Ergebnis abzuwarten. Inzwischen steigt sein Taxameter emsig und stetig, insofern trägt diese vergebliche Hoteltour auch kräftig dazu bei, sein Budget ertragreich aufzubessern. Dann jedoch, scheint ihm der Geduldsfaden zu reißen:

„Ich wüsste da eine recht gute und bequeme Unterkunft, allerdings privat und ohne Rechnung, das heißt ohne Beleg. Eine Freundin meiner Frau bewohnt ganz allein ein großes, altes und sehr schön eingerichtetes Haus, es ist eins von diesen feudalen Häusern aus der Zeit der Salpeterbarone, sie hütet es seit Jahren für einen Mister Clark von der Liverpool Nitrate Company. Dieser Herr ist nie wieder hier erschienen, man hat nichts mehr von ihm gehört, seit er in den ersten Tagen des letzten Großen Krieges nach England zurückgekehrt ist. Der Dame, die in diesem Hause heute noch wohnt, trug er sein Haus und ein paar andere Liegenschaften hier in Tarapacá auf, sie war sowieso schon seit Jahren seine Hausdame gewesen und hatte sich um alles gekümmert, wenn er auf Reisen gegangen war. Sie sollte auf alles aufpassen, bis er wiederkäme.“

Ich hatte schon viel von den Grundstücken gehört, die im Laufe der Jahre von ihren Besitzern einfach aufgegeben, liegengelassen worden waren, als der Salpeterboom endete, was ja nicht über Nacht geschehen war, sondern im Zeitlupentempo ablief. Manche der so aufgegebenen Grundstücke hatte die Stadt übernommen, als die überfälligen, unbezahlten Grundsteuern in astronomische Höhen angestiegen waren, sie alsdann weiterveräußert oder sozialen Einrichtungen wie dem Roten Kreuz, der Freiwilligen Feuerwehr, einem Sportverein oder der Kinderhilfe überlassen. Andere Grundstücke waren dieser Enteignungswelle entgangen, indem von mysteriösen Dritten die Steuern weiterbezahlt wurden, welche sich auch oft als Verwalter des Grundstückes im Namen des Besitzers ausgaben. So manch einer hatte sich auf diese Weise einen komfortablen Ruhesitz zulegen können, denn selten, wenn überhaupt, ließ sich einer der früheren Besitzer jemals wieder blicken. Nur, sollte ein solcher Nutznießer eines Tages versuchen, ein derart schönes Grundstück zu verkaufen, gerät er allerdings in Schwierigkeiten, dann kostet es schon einen guten Anwalt und allerhand Nebenauslagen, ein derart unklares Besitzverhältnis zur Zufriedenheit zu regeln. Allerdings, mit einer Klage ist in solchen Fällen kaum zu rechnen, selten lassen frühere Eigentümer etwas von sich hören. Sie verleben ihr Geld mittlerweile ganz woanders, da wo es schöner ist als hier in Hitze und Staub.

Verfallen zeugen dahinter die Schuppen und Lagerhäuser vom Ende eines Wohlstandes und rasch vergehender Üppigkeit.

Ja, was bleibt mir an diesem Tag anderes übrig, als das freundliche Angebot meines Fahrers anzunehmen. Schon reißt er das Steuer seines abgefahrenen – wenn auch gut erhaltenen – Ford Jahrgang 1955 herum und wir brausen mit Vollgas dem angebotenen Wohnsitz entgegen.

„Wir müssen uns beeilen, Iquique ist voll. Das haben Sie ja schon gesehen.“

Wie ich später gegenüber meiner Versicherung diese Ausgabe belegen werde, sollte meiner Intelligenz und meinem Gewissen überlassen bleiben, aber da wird sich bestimmt ein Weg finden, irgendwo einen Beleg herbeizuzaubern. Wäre ja nicht das erste Mal.

Jetzt, glaube ich, ist der Moment gekommen, meine Anwesenheit in dieser Stadt aufzuklären, einer Stadt, die sich mit rasender Geschwindigkeit in ein wenig mehr als fünfzehn Jahrzehnten aus einem schmutzigen Fischerdorf zu einer Großstadt entwickelte, deren Häuser der Salpeterbarone sich durchaus mit solchen eines Großbürgertums aus kalifornischer Goldgräberzeit vergleichen lassen konnten. Und ebenso wie der Goldgräber-Rush entschwand, so ebbte auch der Fluss des „Weißen Goldes“ von Tarapacá ab. Es begann erst mit den kleinen Unternehmen, dann traf es die großen und schließlich die ganz großen.

Was sollte ich nun hier vollbringen? Das war einfach zu erklären. Beim Abbau alter verrosteter Anlagen einer seit Jahren nicht mehr betriebenen Salpeter-Eisenbahn war es zu einem Unfall gekommen, waren mit Schrott beladene Güterwagen führerlos auf einem Schienenrest bergab gerollt und an einem noch vorhandenen, nicht mehr gekennzeichneten Bahnübergang auf einen Bus und mehrere Personenwagen geprallt. Tote und Verwundete hatte es gegeben, der Schaden war hoch und natürlich wollte die von mir vertreteneGeneraliaSeguros S. A.Versicherungdie auf sie zukommenden Zahlungen möglichst niedrig halten. Auch seien die Versicherungsklauseln in diesem Fall nicht mehr einwandfrei klar, war mir vor meiner Abreise gesagt worden, die Verträge seien zwar vor Jahrzehnten abgeschlossen, die Polizzen immer regelmäßig gezahlt worden, aber war da nicht grobe Fahrlässigkeit im Spiel gewesen? Weshalb war der Bahnübergang nicht mehr gesichert, obwohl noch Schienen lagen, auch wenn da gar kein Zug mehr fahren konnte ? Ein zerfallener Bretterzaun, der irgendwo das alte Gleis querte, hätte als Sicherung wirklich nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden dürfen, war auch durch die mit voller Wucht herabsausenden Waggons zersplittert, dazwischen fehlende, abgebaute Schienenstücke waren einfach übersprungen worden. Selbstverständlich hatten die laufend eingegangenen Prämien eine schöne regelmäßige Einnahme bedeutet, in derGeneraliahatte man sich auch nie Gedanken gemacht, warum und wofür jemand da Geld locker machte, der Agent in Iquique hatte sich jahrelang über eine schöne Provision freuen dürfen, aber jetzt zahlen zu müssen?

Lassen wir das aber erst einmal für morgen, jetzt stehen wir vor dem angebotenen Haus. Nicht in einer der restaurierten Pracht-Alleen, sondern in einer Nebenstraße hinter der breiten Strandpromenade, die – umsäumt von kleinen und mittleren Übernachtungsstätten, die mich alle nicht haben wollten – nach Cavancha führt. So richtig finde ich mich nicht gleich durch, das Haus jedoch macht auf mich einen freundlichen und sauberen Eindruck, das heißt, es gefällt mir auf den ersten Blick. Mein Fahrer steht auch gleich an der Tür und lässt den uralten eisernen Klopfer fallen, sein Ton knallt wie ein Kanonenschuss weit auf die andere Straßenseite, so wie es sich eben für ein Haus aus den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts gehört.

Kaum verhallt, lässt das Knarren des Holzes und ein Quietschen nicht geölter Scharniere das Öffnen einer Tür mehr hören als erkennen.

„Ach du bist das.“ Solche wenigen Worte deuten nicht auf einen freundlichen Empfang.

„Hola, María José, hier bringe ich dir einen netten Gast. Du weißt, alle Hotels sind ausgebucht und ich glaube, das wäre der richtige Mann für dein Haus. Das ist Herr … Ach, ich habe Ihren Namen ganz vergessen, wie heißen Sie sogleich?“

Den hatte ich ihm ja noch gar nicht genannt. Er hätte ihn ja bei dem Gerede an den Tresen der Hotelrezeptionen verstehen können, aber da hat er wahrscheinlich gar nicht richtig hingehört. Ich stelle mich also vor:

„Fernando Montenegro, Versicherungsliquidator derGeneralia, zu Ihren Diensten.“ So hat man hierzulande zu sagen, so gehört es sich.

„Also, der Herr hier“, dabei weise ich auf den Fahrer, der mit beiden Händen in den Hosentaschen halbseitig hinter mir Weiteres erwartet, „hat mir Ihr Haus empfohlen, alldieweil meine Hotelreservierung nicht geklappt hat und er meinte, Ihr Haus sei genau das richtige.“

„Soso. Dann kommen Sie mal rein, ich zeige Ihnen das Zimmer, das Ihnen bestimmt gefallen wird. Mein Name ist Maria José Jenke, herzlich willkommen. Zu essen habe ich auch noch und du …“ – das richtete sich jetzt an den Fahrer – „… du lädst das Gepäck ab, bringst es rein und dann kannst du verschwinden, um Geld zu verdienen. Deine Familie hat es bitternötig.“

Allerdings, dieser Mann lässt sich natürlich so schnell nicht abweisen.

„Ja, und wer bezahlt die ganze Fahrerei?“

Richtig, hatte ich ganz vergessen. Der Fahrer nennt mir den Preis, ich vergleiche mit dem Taxameter, stimmt überein, lege ein bescheidenes Trinkgeld dazu – das kann ich als Spesen bei derGeneraliaabrechnen – und, nach meinem Eindruck zu urteilen, ganz zufrieden braust er davon. Er soll mir auch in Zukunft ein treuer Fahrer sein.

„Jetzt zeige ich Ihnen Ihr Zimmer, kommen Sie mit. Sie müssen verstehen, dieses ist ein altes Haus, aber solide gebaut, hat manches Erdbeben und sogar ein Großfeuer überstanden. Also keine Angst. Die Einrichtung ist ein bisschen altmodisch, manche Leute mögen das, ich auch.“

Das Zimmer ist groß, weiträumig angelegt,bietet viel Platz. Zwei Betten, bronzepolierte Gestelle, rot-weiß karierte Wäsche, ein großer Schrank, natürlich, damals kannte man noch keine Einbauschränke, echtes Holz, keine billige Furnierung, ein kleiner ovaler Tisch mit gehäkelter Decke, ein Waschtisch mit Schüssel und Wasserkrug, ein paar Wasserflecken im Holz, gehen nach so vielen Jahren bestimmt nicht mehr ab.

„Schauen Sie nicht so unangenehm überrascht drein! Da ist Ihr Bad, da drüben.“

Ach so. Auch das geräumig, eine große Wanne und ein Waschbecken, auf dessen Boden eine verwaschene Rose blüht.

„Das warme Wasser kommt aus der Küche, da müssen Sie immer ein kleines Weilchen warten. Es ist eine uralte Einrichtung, die Warmwasser erzeugt, früher einmal mit Holz und Kohlen beheizt, vor Jahren habe ich sie auf Gas umbauen lassen. Funktioniert wie neu, nur eben ein wenig langsam.“

An der Wand über dem Bett, schon etwas dunkel verblichen dank unzähliger darüber geflossener Jahre, umrahmt von schwarzem Holz, blickt eine nur mit einem verführerisch durchsichtigen Schleier bekleidete junge Dame am Ufer eines stillen Gewässers zum Besucher, während im Hintergrund ein Hirsch mit eindrucksvollem Geweih durch die Bäume eines Waldes die Szene betrachtet. Anhand der Frisur der jungen Dame schließe ich darauf, dass der Maler dieses eindrucksvollen Gemäldes wohl um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert gelebt haben müsste. Unter diesem Kunstwerk sollte ich bestimmt die nächsten Tage wohlbehütet schlafen können.

„Na, gefällt es Ihnen? Hier können Sie ruhig schlafen, Straßenlärm kommt hier nicht durch. Aber jetzt fällt mir ein, Sie haben wohl noch nichts gegessen? Es ist ja schon zwei Uhr. In einer halben Stunde habe ich für Sie ein improvisiertes Mittagessen fertig, bestimmt nicht so toll wie in den Hotels, in denen man Sie nicht haben wollte, aber es wird Ihnen schmecken. Also in einer halben Stunde erwarte ich Sie hier vorn, geradeaus durch den Gang.“

Eine Handbewegung weist den Weg zur Küche.

Mein geringes Gepäck lasse ich erst einmal zwischen Bett und Tisch mit Häkeldecke stehen, werfe nochmals einen Blick in das Bad, stelle fest, dass ich um Handtücher bitten muss, und schlendere dann langsam durch den halbdunklen Gang dahin, wo ich aufgrund bekannter Geräusche und Gerüche die Küche vermute.

„Ach, da kommen Sie ja schon. Hier gleich rechts ist der Salon, dahin werde ich das Essen bringen, dort werden Sie einen großen runden Tisch finden, da essen wir. Inzwischen können Sie sich in dem Raum ein wenig umschauen, alles sieht aus wie in einem Museum. Ich meine die Möbel, und da liegen auch viele alte Bücher, Zeitungen und Fotografien herum. Sehen Sie sich die einmal an, Erinnerungen aus vergangenen Zeiten, nicht alles von mir, aber trotzdem interessant.“

So eingeladen versinke ich in einem der gewaltigen Sessel, von meiner Großmutter Bergere genannt, oder liege ich da eventuell falsch mit meinen Erinnerungen an das Haus in Santiago an der Plaza Egaña? In den Häusern meiner Berufskollegen, selbstverständlich mit moderner Einrichtung aus dem Warenhauskatalog, habe ich solche Möbelstücke nicht mehr gesehen.

Gleich neben mir, auf dem Absatz einer Anrichte – auch das erweckt Erinnerungen an meine Oma – ein Karton, überquellend vor Fotografien. Den greife ich mir erst einmal, das Essen wird wohl noch ein Weilchen auf sich warten lassen, zumindest den Geräuschen aus der Küche nach zu urteilen. Ein paar Fotos fallen heraus, schwarz-weiß, auf allen eine wunderhübsche junge Dame zu sehen, elegant gekleidet, wie man vor siebzig oder mehr Jahren ausging, langer Rock, Seidenbluse, auf der einen oder anderen Aufnahme mit Hut, der – weitausladend mit Federn verziert – darunter eine dunkle Locke spitzbübisch mehr ahnen denn sehen lässt. Sonnenschirm darf nicht fehlen. Drumherum junge Herren, korrekt im dunklen Anzug, steifen Hemdkragen und Krawatte. Auf anderen alle schön aufgereiht, links der Korso der jungen Damen, rechts die Herren, und im Hintergrund aufgebaut ein Tisch mit Getränken und noch weiter dahinter fünf Damen im mittleren Alter mit strengem Blick, sie wachen ganz offensichtlich darüber, dass es weiter vorn korrekt und moralisch einwandfrei zugeht.

Ein anderes Foto zeigt die gleiche Gruppe vor einem lang gestreckten Gebäude, diagonal zum Verlauf der Straße. Dieses verquere Gebäude kenne ich: das Verwaltungsgebäude der Antofagasta-Bolivien-Eisenbahn in Antofagasta, der Hafenstadt, an die sechshundert Kilometer südlich von hier gelegen.

„Na, wühlen Sie in den alten Archiven des Hauses?“

Erschrocken, man hat mich erwischt. Ich sammele die Fotografien ein, versuche sie wieder im Karton unterzubringen, das will nicht recht klappen, der ist auch ein wenig zu klein für die ganze Sammlung, eine Seitenwand zerrissen, immer wieder fällt das eine oder andere Blatt heraus. Ich spüre, es ist an der Zeit etwas Passendes zu sagen:

„Schöne Aufnahmen. Ich erkenne Antofagasta, das Gebäude der Eisenbahn. Das kenne ich, denn die Eisenbahn hat auch bei uns Versicherungen abgeschlossen und hin und wieder musste ich die Verwaltung der Bahn besuchen. Sie haben wohl eine wunderschöne Jugend in Antofagasta verlebt, so wie ich das sehe. Hinter diesem Gebäude auf dem Foto liegen Gleise direkt zum Hafen, ich sehe wirklich Antofagasta.“

„Ach ja, Antofagasta.“

Mir ist, als verstecke meine Gastgeberin in diesen beiden Worten einen verhaltenen Seufzer, oder täusche ich mich?

„Die schönsten Jahre meiner Jugend habe ich in Antofagasta verbracht. Es waren die letzten großen Jahre des Salpeters. Die Einladungen, die Bälle und sozialen Veranstaltungen lösten einander ab, an jedem Wochenende war etwas los. Die Väter meiner Freundinnen arbeiteten bei der Eisenbahn, in den Salpeterwerken, das Geld rollte. Es waren schöne Zeiten, aber rasch sind sie verflogen, so wie in dem Film „Gone with the wind – Vom Winde verweht“.

Aus der Küche dringen Geräusche, irgendetwas zischt, meine Gastgeberin wird nervös, springt auf:

„Ach, das Essen, beinahe hätte ich es vergessen. Auf keinen Fall möchte ich, dass Sie mir später nachsagen, ich hätte Ihnen eine angebrannte Linsensuppe angeboten, denn Linsen gibt es heute.“

Wie ein Wirbelwind verschwindet sie in der Küche. Ich kehre zurück zu den Fotos, manche sind in Alben, andere in Heften eingeklebt. Ein neues Album, die Seiten ein wenig verklebt, öffnet sich, eine andere Umgebung stellt sich vor, nicht mehr die trockene Wirklichkeit trister Straßen der Salpeterstadt Antofagasta, sondern jetzt säumen Bäume die Bürgersteige, die Röcke sind kürzer geworden und auch die Hüte sind verschwunden. Die Dame der ersten Fotos ist die alte, hat wenig ihres jugendlichen Charmes verloren, jedoch an ihrer Seite sehe ich eine andere, junge Dame, ihr zum Verwechseln ähnlich. Sonnenschirme sind jetzt nicht mehr gefragt, dafür trägt die Junge an ihrer Seite Bücher unter dem Arm. Ich werde noch Fragen stellen müssen, meine Neugier ist geweckt aber wäre das nicht eine unmöglich wiedergutzumachende Aufdringlichkeit?

Ich lege erst einmal die Fotografien beiseite, versuche, nicht noch mehr Unordnung in die schon vorhandene hineinzubringen. Manche auf Glanzpapier rutschen mir immer wieder aus der Hand, fallen zu Boden. Unter dem Berg an bedrucktem, beschriebenem Papier und noch mehr Fotos entdecke ich überraschend einen dicken Band, fest in Leinen und Leder gebunden, tonnenschwer,goldgeprägter Titel. Nur mit Müh und Not gelingt es mir, das schwere Werk umzudrehen, die bereits leicht verblassten Buchstaben zu entziffern:

RELIQUIAE HAENKEANAE: SEU DESCRIPTIONES ET ICONES PLANTARUM, QUAS IN AMERICA MERIDIONALI BOREALI, IN INSULIS PHILIPPINIS ET MARIANIS COLLEGIT. PRAG 1830

Das erschlägt mich. Zwar verstehe ich kein Latein, aber die Verwandtschaft zur spanischen Sprache lässt eine Deutung leicht werden. Meine Gedanken beginnen zu kreisen, mehr, zu wirbeln. Haenke, das war doch ein bedeutender deutsch-österreichischer Wissenschaftler, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Südzipfel Südamerikas erforschte, sogar den Chimborazo vor Humboldt bestiegen haben soll. Das zumindest lernte man in der Schule, aber dieses Buch? Sieht wie ein Nachdruck aus, könnte aber auch ein Original sein. Was macht dieses Buch hier in diesem alten Haus eines verschwundenen britischen Salpeterbarons, versteckt unter verblassten Fotos und vergilbten Papieren?

„Na, haben Sie schon das Buch meines Urgroßvaters entdeckt? Nun liegt es schon viele Jahre dort, aber kein Besucher hat bisher Interesse an ihm gefunden, geschweige denn ein wenig darin geblättert. Ich hüte es mit meinen anderen Schätzen hier in diesem Hause, in dem ich wohne und gewohnt habe, gemeinsam mit Mister Federic Clark, dem Eigentümer derLiverpool Nitrate, aber auch Teilhaber derJazpampa Nitrate Companyund anderer Unternehmen. Als in Europa der Krieg begann, reiste er zurück in seine Heimat, um sie zu verteidigen, aber dann haben wir nichts mehr von ihm gehört. Eine Adresse in England hatten wir, aber Briefe dahin kommen zurück mit einem Vermerk ‚ADDRESSEE UNKNOWN‘. Ich war für Mister Clark weiter nichts als eine alte Bekannte aus längst vergangenen Zeiten, nicht mehr, für eine nähere Beziehung oder so etwas waren wir beide wohl schon ein wenig zu alt, als wir beschlossen, zusammenzuziehen. Außerdem war Mister Clark nicht der Typ für eine Ehe oder engere Verbindung, wortkarg, dachte nur ans Geschäft, glaubte selbst kaum, dass eine Frau an ihm Gefallen finden könnte.

Übrigens, dieses war unser Salon, hier fand immer am letzten Donnerstag des Monats unserJour fixestatt, ein alter Brauch aus Salpeterzeiten, als kaum jemand Telefon hatte und in einem Haus, das viel auf sich und eingebrachte Werte hielt, in dem streng auf den Erhalt gesellschaftlicher Gebräuche geachtet wurde. Das begann schon mit der Kleidung zu besonderen Anlässen, da waren Anzug, weißes Hemd und Krawatte vorgeschrieben. Gerade die Europäer waren es, die es in diese Einöde verschlagen hatte, denn hier in der Wüste wollten sie nicht ganz verwildern.“

Ohne Zweifel ganz klar, hier bin ich in ein Haus aus alten Zeiten oder gar in ein Museum geraten. Was für Geheimnisse mögen noch hinter diesen dicken Mauern aus Holz lagern – Holz das, wie leicht zu erraten ist, aus havarierten Segelschiffen an Land gespült wurde?

Meine Gastgeberin ist unterdessen in der Küche verschwunden, taucht nach einer Minute mit einem Tablett dampfender Suppenteller auf.

„Jetzt wird erst einmal gegessen, dann ruhen Sie sich eine Weile aus und gegen vier rufen wir den Onkel, er soll Sie fahren, wohin Sie müssen. Dazu übrigens noch eine Erklärung: Der Fahrer, der Sie hergebracht hat, ist nicht verwandt mit mir, jedoch einem alten Brauch folgend nenne ich ihn Onkel und das hat seine Gründe. Ich bin eine Freundin seiner Frau und seiner Schwägerin und obwohl er gewiss um etliches jünger ist als ich, habe ich mich an die Ausdrücke der Kinder gewöhnt und dahertio, der Onkel. Seinen Vater nannten wir alle schon Onkel und das hat sich jetzt auf den Sohn übertragen. Ich muss ein bisschen auf ihn aufpassen, ich bin Freundin seiner Frau und die beschwert sich, dass der liebe Onkel zu viel Geld in ein Wirtshaus trägt, wo er mit seinen Kumpanen bis spät in die Nacht säuft und dieses Land und die Welt verbessert.“

So etwas hatte ich erwartet. Über die großzügige Auslegung der Begriffe Onkel und Tante in diesem Land und überhaupt in Südamerika bin ich im Bilde, bin ja auch schon Onkel der Kinder eines Bürokollegen in derGeneralia.

Wie erwartet läuft der Nachmittag in der Vertretung derGeneraliaVersicherung ab. Zuerst die üblichen Beschwerden über das Haupthaus, die ohne Ausnahme gleichlautend mit Sätzen beginnen wie „Ich habe ja rechtzeitig gewarnt …“, „Ich habe immer schon gesagt …“, „Das musste eines Tages so kommen, aber man hat ja nicht auf mich gehört …“, „Man hat uns ja schon ganz abgeschrieben hier am Ende der Welt …“ und schließlich damit enden, dass die Summe der Gesamtschäden noch gar nicht vorliege, man eben gerade auf mich warte, das Krankenhaus auch noch nicht mit einer Endabrechnung übergekommen sei und die staatliche Schadensermittlung sowieso immer auf sich warten ließe. Zum Thema und Verbleib der seit Jahren vereinnahmten Provisionen natürlich kein Wort.

Unser Vertreter vor Ort verspricht, einen Termin mit allen Beteiligten abzumachen, und damit wäre mein heutiges Pensum erledigt. Ich rufe denOnkel,damit er mich nach Hause fährt, wir machen noch kurz einen Abstecher zur Unfallstelle. Zu sehen ist hier nichts mehr, nur die am Abhang herumliegenden Splitter der Holzabsperrung sind noch Zeugen des Unfalls. Wie die mit schweren Schienenstücken beladenen Bahnwaggons über das meterlange Loch im Gleis gesprungen sind, wird vielen ein Rätsel bleiben.

Jedenfalls gegen sieben Uhr abends bin ich wieder in meiner alten Burg, wo Doña María José bereits mit einem schmackhaften Pisco Sauer, dem chilenischen Nationalgetränk, auf mich wartet.

„Jetzt ist es wohl an der Zeit, zurückzukehren zu unserer alten Sitte des Jour fixe. Gewöhnlich benutzen wir diesen Raum nicht, die Abschiedsparty für Mister Clark war das letzte große Fest, das dieser Raum erlebt hat. Wir haben hinter der Küche das Alltags-Esszimmer, aber das war heute Morgen noch nicht aufgeräumt und deshalb habe ich Sie hierhergeführt. Inzwischen musste ich feststellen, Sie zeigen großes Interesse an all den Dingen, die hier herumliegen und seit vielen Jahren nicht mehr bewegt worden sind. Schauen Sie sich nur alles gut an! Schade, dass es die alten Freunde nicht mehr gibt. Ich habe sie alle gekannt, hörte stets gespannt zu, was sie zu erzählen hatten, denn es betraf ja auch mich, von früher, vom Salpeter, vom Krieg zwischen Chile und der Allianz Peru-Bolivien. Ich kam ja vor vielen Jahren aus Bolivien.“