The Deeper I Fall (Loving For Real 1) - Mela Wagner - E-Book

The Deeper I Fall (Loving For Real 1) E-Book

Mela Wagner

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

NIEDRIGER EINFÜHRUNGSPREIS NUR FÜR KURZE ZEIT! **Grumpy meets Sunshine auf einer abgelegenen Insel** Eigentlich ist Jona nur hergekommen, um sein Bad Boy Image aufzupolieren. Die kleine Insel Cherrylane in den Great Lakes scheint der richtige Ort für ihn auf der Flucht vor seinem eigenen Skandal. Auf der Fähre trifft der gefallene Influencer zufällig auf Willow, eine leidenschaftliche Naturschützerin, die hier zu Hause ist. Jonas arrogante Art treibt Willow zunächst schier in den Wahnsinn und sie kann nicht verstehen, warum gerade ihm Hunderttausende auf Social Media folgen. Als Jona Kopf und Kragen riskiert, um Willow in einer gefährlichen Situation beizustehen, wird das, was zunächst Ablehnung war, zu einem nicht zu leugnenden Knistern. Doch hat diese Liebe auch Bestand, wenn Jona wieder in sein altes Leben zurückkehren muss? Lass dich von der mitreißenden Opposites-Attract-Romance zu einer atemberaubenden Naturkulisse entführen, in der zwischen Nature Girl und City Boy die Funken fliegen. »The Deeper I Fall« ist der erste Band der »Loving for Real«-Dilogie und ein Stand-Alone. //Dies ist der erste Band der knisternden Romance-Serie »Loving for Real«. Alle Bände der Dilogie: -- The Deeper I Fall -- The Harder I Fight (Mai 2024) Dies ist eine Neuauflage der beliebten »Celebrity Love«-Reihe.//

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impress

Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.

Tauch ab und lass die Realität weit hinter dir.

Jetzt anmelden!

Jetzt Fan werden!

Mela Wagner

The Deeper I Fall (Loving for Real 1)

**Grumpy meets Sunshine auf einer abgelegenen Insel**

Eigentlich ist Jona nur hergekommen, um sein Bad Boy Image aufzupolieren. Die kleine Insel Cherrylane in den Great Lakes scheint der richtige Ort für ihn auf der Flucht vor seinem eigenen Skandal. Auf der Fähre trifft der gefallene Influencer zufällig auf Willow, eine leidenschaftliche Naturschützerin, die hier zu Hause ist. Jonas arrogante Art treibt Willow zunächst schier in den Wahnsinn und sie kann nicht verstehen, warum gerade ihm Hunderttausende auf Social Media folgen. Als Jona Kopf und Kragen riskiert, um Willow in einer gefährlichen Situation beizustehen, wird das, was zunächst Ablehnung war, zu einem nicht zu leugnenden Knistern. Doch hat diese Liebe auch Bestand, wenn Jona wieder in sein altes Leben zurückkehren muss?

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Vita

Danksagung

© privat

Mela Wagner, geboren 1985, lebt mit ihrer Familie in einem Vorort von Wien. Schon seit ihrer Kindheit ist die Autorin verzaubert von der Welt der Wörter. Eigene Geschichten auf Papier zu bringen, empfindet sie als etwas Magisches. Ihre Figuren zum Leben zu erwecken, mit ihnen zu lachen, zu lieben und zu weinen, erfüllt ihr Herz jedes Mal auf eine ganz besondere Weise. Mela Wagner liebt Bücher, die vom echten Leben erzählen, die zum Nachdenken anregen und den Leser auf eine Reise mitnehmen, die mit einem heftigen Herzklopfen endet.

VORBEMERKUNG

Liebe Leserin, lieber Leser,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die Spoiler enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleibe damit nicht allein. Wende dich an deine Familie und an Freunde oder suche dir professionelle Hilfe.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Mela und das Impress-Team

1 – WILLOW

Ginis rot geschminkte Lippen leuchteten wie die Kirschen an Tante Charlottes Baum. Für einen Moment erinnerte ich mich zurück an die Tage meiner Kindheit. In den Verzweigungen der alten Äste sitzend hatte sich bloß ein Bruchteil der vielen Inseln im Naturschutzgebiet des Saint Lawrence Rivers erahnen lassen. Wie Rücken einstiger Walgiganten hatten sie sich aus dem Wasser des trichterförmigen Flusses, inmitten der kanadischen und amerikanischen Grenze, erhoben. Es war mein kleines Paradies gewesen, an dem Belugawale so nah ans Ufer kamen, dass man ihre hochgezogenen Mundwinkel mit einem Lächeln verwechseln konnte.

»Schläfst du? Aufwachen! Erde an Willow?«

»Hm?« Tief seufzend schob ich die Erinnerung beiseite. Mein Kopf dröhnte. So sehr ich mich auch bemühte, es passte kein einziger Paragraf mehr in meinen Kopf.

Die Sonnenstrahlen brachen sich im mosaikartigen Fensterglas des Bibliotheksgebäudes der Syracuse University und ließen die Farben tanzen wie Blätter im Herbstwind.

»Was genau tust du da?« David runzelte die Stirn. Er hatte mich dabei ertappt, wie ich mit den Fingerspitzen das Licht berühren wollte.

Blitzschnell zog ich die Hand zurück und zuckte mit der Schulter.

»Unsere Willow praktiziert Tiefenentspannung! Würde dir auch nicht schaden, David!«, erwiderte meine Freundin Gini kichernd.

»Ich bin müde, das ist alles«, raunte ich, doch das war längst nicht die ganze Wahrheit. Je stärker der Druck wurde, desto mehr sehnte ich mich nach der Natur. Inmitten des Laubes zu stehen, mich darin zu drehen, die frische Luft einzuatmen und die Leichtigkeit der tanzenden Blätter zu spüren. Meine Sinne spielten verrückt. Warum dachte ich gerade jetzt an den Ort, den ich vor zwölf Jahren mitten in der Nacht hatte verlassen müssen.

Klick, klack.

»Habt ihr das gehört?« Ich fuhr blitzartig in die Höhe. Da war es wieder! Dieses Geräusch, das mir schon seit einer Stunde den letzten Nerv raubte. Ich presste die Augen zusammen, um den Raum zu scannen.

Meine besten Freunde warfen sich seltsame Blicke zu. Gini grinste, während David schnaufte und den Kopf zu schütteln begann. »Du machst mir Angst. Hattest du zu viel Koffein?«, kommentierte er meinen Zustand und steckte seine Nase zurück in die Bücher. Als Sohn des Rektors der Universität für Rechtswissenschaft erlaubte er sich keinerlei Ablenkungen.

»Du beginnst Stimmen zu hören. Das ist bedenklich!« Gini donnerte mit ihrem Knie an meines.

»Autsch!« Der leichte Schmerz katapultierte mich zurück in die Bibliothek und mitten hinein in den schlauchenden Lernmarathon.

Gini nutze die Gelegenheit, um ihr Handy aus dem Rucksack zu fischen. »Wie wäre es mit einer Pause? Mein Feed explodiert vor neuen Videos«, ächzte sie.

»Dein Feed muss warten. Handys sind hier nicht erlaubt«, brummte David, der dabei nicht mal aufsah.

Gini ließ sich davon nicht beirren. »Schon gut, Anstands-Wauwau! Dann solltest du mal mit deinem Dad reden! Diese Regeln sind echt mies! Das hier ist der Weg der jungen Generation, up to date zu sein.« Sie wackelte mit ihrem Smartphone vor seinem Gesicht herum.

Dutzende Bilder rasten über ihren Bildschirm. Unmöglich, eines davon genauer zu betrachten. Beim Zuschauen allein wurde mir schlecht.

David tippte mit dem Stift auf das Buch und beobachtete Gini. »Erklär mir, wie du auch nur eine Information auf diesem Weg aufnehmen willst. Du verblödest, sonst passiert nichts! Außerdem bist du keine vierzehn mehr. In zwei Wochen treten wir unsere Abschlussprüfung an. Ich kann kaum erwarten, Praxiserfahrung bei den Pro-Bono-Fällen sammeln zu dürfen.«

Sie schnaubte und schüttelte den Kopf. »Du hörst dich wie mein Onkel an. Social Media hat viele Vorteile.«

Er runzelte die Stirn und sah fragend zu mir. »Die da wären? Sich in dieser Scheinwelt ständig mit anderen zu vergleichen und einem Ideal nachzueifern.«

Gini scrollte weiter. »Dich zu vernetzen, Gleichgesinnte kennenzulernen. Social Media ist unverzichtbar für die Identitätsbildung … und zur Informationsbeschaffung sowieso! Außerdem sind wir zweiundzwanzig. Du klingst wie ein alter Opi. Wenn es nach dir geht, ist der Spaß am Leben nach dem Abschluss sowieso vorbei.«

Mein Magen meldete sich. In der Packung Jelly Beans, Marke Hot Cinnamon, befanden sich die Reste meiner Heißhungerattacken der letzten Stunde. »Was haltet ihr von einem realen Besuch bei Pizza Hut?«, schlug ich vor.

David seufzte und legte seine Hornbrille neben den Bücherstapel. Kurz schob er den Ärmel seines Cashmere-Pullovers zurück und blickte auf die nostalgische Armbanduhr, die ihm sein Vater zum Geburtstag geschenkt hatte. Das Erbstück hatte schon Generationen vor ihm Glück für die Abschlussprüfungen gebracht. Bei dem Gedanken daran verkrampfte sich mein Magen, und der Schmerz in den Schläfen nahm zu. In zwei Wochen sollte es endlich so weit sein. Die letzte Prüfung entschied darüber, ob wir unser Jura-Wissen endlich anwenden und Praxiserfahrung in einer Kanzlei erwerben durften.

Gini nippte an ihrem Ginseng-Ingwer-Shot und reichte ihn mir. »Das hilft zur Not!«

Er roch nach Brokkoli. Angeekelt verzog ich das Gesicht, kostete jedoch von dem Wundertrunk, den sie jeden Tag in unserer Küche zusammenmixte. »Was hast du in den Becher gerührt?« Angewidert schob ich ihr die Mischung zurück.

»Ingwer, Zitrone, Grüntee und noch ein paar andere Sachen.« Sie grinste schief und drehte den Becher hin und her – wie einst die böse Schwiegermutter aus Schneewittchen ihren Apfel.

Aus Davids Richtung vernahm ich Würgegeräusche. Gini schnaufte empört. »Das ist euer Dank! Ihr bekommt nichts mehr von meinem Powerdrink!«

Klick, klack.

Da war es schon wieder! »Hört ihr das denn nicht?«, fragte ich die beiden. »Dieses Geräusch!«

»Meinst du meinen Magen, der sich bei dieser Geruchsbelästigung umgedreht hat?« David wirkte wahrhaftig etwas grün um die Nase. »Wir sollten für heute Schluss machen. Willow versucht Lichtstrahlen zu fangen und hört Stimmen! Das ist bedenklich!« David grinste amüsiert.

»Von mir aus können wir den Rest auf morgen verschieben?«, erklärte Gini. Sie war längst in die Welt der sozialen Medien abgetaucht und nicht mehr bei der Sache. »Wir sind die einzigen Verrückten hier, die von Sonnenaufgang bis spät nach Sonnenuntergang ohne Pause lernen.« Sie sah auf, hob ihren Glitzerstift und fuchtelte wie mit einem Zauberstab vor Davids Kopf herum.

David rutschte auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was willst du damit bezwecken?«, fragte er amüsiert.

Gini seufzte und richtete ihren frisch geschnittenen blondierten Bob für ein Selfie. »Wenn du es genau wissen willst: Ich würde dich gern in Alex Hill oder Jona Lewis verwandeln.«

»Jona Lewis?«, wiederholte ich und grinste, denn über Ginis hellen Teint zog sich plötzlich ein rosiger Schimmer. Wer war der Kerl, der ihr dieses Glitzern in die Augen zauberte?

»Die heißesten Typen, die das Internet hervorgebracht hat.« Sie legte ihre Hand auf Höhe ihres Herzens. »Wärst du etwas mehr wie Jona oder Alex, würde ich die ganze Nacht weiterlernen.« Kess zwinkerte sie David zu. Ihre perfekt weißen Zähne blitzten hinter den roten Lippen hervor.

Davids hohe Wangenknochen spannten sich an und seine Mimik verzog sich, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Hashtag:Immer noch am Lernen«, kommentierte Gini ihr eigenes Selfie und tippte auf das Display. »Meine Tante verfolgt alles, was ich poste, und berichtet postwendend meinem Onkel, wie fleißig ich bin«, fügte sie erklärend hinzu. Nach dem tragischen Tod ihrer Eltern und ihres kleinen Bruders lebte sie bei ihren Verwandten. Eine aus Syracuse stammende Anwaltsfamilie, die großen Wert auf Ginis Ausbildung legte.

Seufzend fiel mein Kopf auf die Lehrbücher, die ich kurzerhand als ein hartes Kissen umfunktioniert hatte. Um meinen Unmut deutlich zu machen, klopfte ich einige Male mit der Stirn auf den Bücherstapel und ächzte theatralisch. Ich sehnte den Prüfungstag herbei.

Als ich aufsah, deutete Gini mit dem Zeigefinger einen Kreis vor meinen Augen. »Lass das mit dem Buch. Wenn du so weitermachst, leuchtet deine Stirn bald ähnlich rot wie deine Locken!«

Solche Kommentare verfolgten mich, seitdem ich denken konnte. Mittlerweile überhörte ich sie geflissentlich. Durch die geringere Pigmentierung war meine Haut hell und empfindlich bei Druck und Kälte. Die deutsch-norwegischen Wurzeln meiner Mom zeigten sich in Form von Sommersprossen wie tausend versprenkelte Sterne unterhalb meiner grünen Augen. In der Grundschule hatten mir meine Klassenkameraden nette Namen wie Hexe, Wikinger-Braten oder Feuerfuchs gegeben. Zu dem offensichtlichen Fleck auf meiner Stirn gesellte sich nun ein Brennen. Einzig dieses Geräusch, das ich noch immer nicht orten konnte, lenkte mich von den Schmerzen ab.

Klick, klack.

Waren es die angespannten Nerven, die mir einen Streich spielten? Hörte ich wirklich Stimmen? Oder litt ich doch unter einem Tinnitus?

Davids Augen verengten sich und ich bemerkte seine abschätzenden Blicke, als ich mich suchend umsah. Dabei fiel aus seiner streng gegelten Frisur eine schwarze Strähne. Mit demselben Tick wie Robert Pattinson aus Twilight strich er diese sofort zurück. Wenn ich beide Augen zusammenkniff, hätte er sogar mit Pattinson verwandt sein können: vergleichbar blasse Haut, die im puren Kontrast zu seinen dunklen Haaren stand. Ein spitzes Kinn und ausgeprägte Wangenknochen. Selbst seine Nase sah wie bei dem Vampir etwas eingedrückt aus. Okay, sobald ich meinen Blick wieder schärfte, hatte David nur mit viel Fantasie Ähnlichkeit mit dem Teenie-Idol. Gini entging nicht, dass ich meinen Ex-Freund angaffte und er es offensichtlich genoss. Sie musste wohl denken, dass ich ihn immer noch anhimmelte. So schnell, wie sich seine Wangen meiner rötlich verfärbten Stirn anpassten, dürfte er ebenso davon überzeugt sein. Er wirkte etwas nervös und dehnte den Nacken in eine Richtung, bis es knackte.

»Wie viel Dioptrien hast du eigentlich, David?«, wollte ich wissen.

Synchron wanderten vier Augenbrauen in die Höhe. Dieses grottenschlechte Ablenkungsmanöver nahm mir niemand ab. Dabei hegte ich keinerlei Gefühle mehr für David. Das Starren war meiner Müdigkeit geschuldet.

Sofort griff er nach den Gläsern, kontrollierte, ob sie verdreckt waren, und setzte sie wieder auf.

»3,8!«, antwortete er einsilbig.

Gini erkannte die unangenehme Lage, in die ich mich gebrachte hatte, und plapperte munter drauflos: »Professor Duggin meinte, wir müssen uns ranhalten, wenn wir die Prüfung beim ersten Mal schaffen wollen.«

Wir standen alle ziemlich unter Druck. David als Sohn des Rektors, Gini, deren Onkel und Pflegevater nie davon überzeugt gewesen war, dass Jura das Richtige für seine verrückte Pflegetochter sein könnte, und ich, die stets darum bemüht war, Dads Erwartungen zu genügen.

»Wir sollten uns zusammenreißen! Ich habe keine Lust, ein zweites Mal bei Professor Duggin anzutreten. Der Typ ist ein Sadist.«

»Sprich nicht so über ihn. Er ist ein Freund unserer Väter … und deines Onkels ebenfalls, Gini«, meinte David mahnend.

Jedes Wochenende trafen sich unsere alten Herren im Golf Club, um über die neuesten politischen Veränderungen zu diskutieren und ihre Fäden im Hintergrund zu ziehen. Mein Dad arbeitet als Banker und verwaltete das Vermögen seiner reichen Freunde.

»Shhhh!!«, drang es von der Bibliothekarin zu uns.

Sofort war es mucksmäuschenstill. Bis auf das nervige Klick, klack. Die Aufpasserin deutete auf das riesige Bitte Ruhe-Schild an der holzvertäfelten Wand. Auf ihrer Stirn bildete sich eine ausgeprägte Falte. Am sorgfältig gezogenen Mittelscheitel sammelte sich eine Schuppenschicht. Je tiefer sie ihren Kopf senkte, desto gefährlicher bewegte sich ihre Lesebrille der knolligen Nasenspitze zu. Kurz bevor sie hinunterplumpste, drückte sie diese zurecht und widmete sich wieder ihrer Zeitung. Zu dem Klick, klack, das offensichtlich nur in meinem eigenen Kopf zu hören war, gesellte sich ein Pochen in meinen Schläfen. Ich zog das Gummiband aus dem Haar, das seit Stunden meine Mähne im Zaum hielt. Dutzende Locken fielen mir über die Schulter. Erleichtert atmete ich auf und genoss für einen Moment das prickelnde Gefühl meiner Kopfhaut. Was gäbe ich für mein kuscheliges Bett. Seit ein paar Jahren teilte ich mir eine Vierzimmerwohnung mit Gini und zwei weiteren Kommilitoninnen. Mein Sieben-Quadratmeter-Reich, das ich mit Duftkerzen, Kissen und Fotografien dekoriert hatte, war mein persönlicher Wohlfühlort. Wenn ich den Geruch der alten Bücher ausblendete, war es mir möglich, mich an den Duft der neu gekauften Kerze zu erinnern: Kardamom und Zimt. Das Aroma dieses Gewürzes hatte eine angenehm entspannende Wirkung. Jetzt, zum Herbstbeginn roch die gesamte Wohnung danach. Mein Zimmer war das kleinste in der Vierer-WG, doch der Blick in einen Park im östlichen Stadtkern von Syracuse entschädigte mich dafür. Sonntags trafen sich dort Hundesitter, die mitunter sieben Tiere an der Leine spazieren führten. Es kam öfters vor, dass ich meine Bücher vergaß und lieber den Vierbeinern zusah, wie sie im Blätterlaub tobten. Manchmal verewigte ich sie in meiner Zeichenmappe.

Klick, klack.

Da war es wieder! Dieses Geräusch konnte doch nicht nur in meinem Kopf sein. Fünf weitere Studienkollegen saßen in der Bibliothek und ackerten sich durch die gigantischen Lernaufträge der Professoren. Die meisten Studenten bevorzugten die hippen Kaffees – inklusive WLAN-Empfang und dröhnender Musik –, die wie Pilze aus dem Boden rund um das historische Universitätsgebäude schossen. Für mich gab es keinen besseren Ort, als zwischen den alten Büchern, dem diffusen Lampenlicht und den antik anmutenden Sesseln zu sitzen, um mir den Lernstoff reinzupauken. Hier war Gini die Einzige, die trotz Handyverbots unerlaubt im Internet surfte.

»Pack das Ding weg, bevor uns die Aufpasserin rauswirft«, flüsterte ich.

Aufgeregt zappelte sie in ihrem Stuhl herum. »Mein Tag ist gerettet. Die neue Folge von Nashcon wurde soeben gestreamt!«, quietschte sie kurz auf und griff sich theatralisch an die geröteten Wangen. Ihre hellblauen Augen funkelten mich an.

Als ich zu David sah, quittierte er es mit einem Augenrollen. »Bevor ich mir diesen Reality-Mist reinziehe, lerne ich lieber freiwillig ein paar Kapitel zusätzlich.«

Gini zeigte ihm die Zunge. »No front, aber du bist auch nicht ihre Zielgruppe! Nashcon ist zwischen den verstaubten Paragrafen mein persönlicher Adrenalinkick.«

Hätte sie ihr Onkel nicht ständig unterschätzt und mit ihrem verstorbenen Vater – der ebenfalls als erfolgreicher Rechtsanwalt gearbeitet hatte – getriezt, wären ihre Ambitionen, das Studium abzuschließen, nicht so stark gewesen. Gini wollte ihrem Onkel und sich selbst beweisen, dass sie das Zeug dazu hatte, Juristin zu werden, obwohl in ihr noch viele andere unentdeckte Talente schlummerten. Sie war hübsch, intelligent, konnte fantastisch singen, war ausgesprochen redegewandt und passte mit ihrem Aussehen perfekt in diese Welt, in die sie sich zu jeder Gelegenheit flüchtete, um jene auszublenden, die sie an ihren eigenen schrecklichen Verlust erinnerte.

»Wen interessiert es, wenn ein paar verrückte Jungs stundenlang am Computer zocken oder Blödsinn treiben und sich dabei ständig filmen?«, ätzte David weiter.

»Erstens sind es nicht nur Jungs, zweitens haben sie es geschafft, mit der Marke ein Imperium aufzubauen, und drittens sind sie lit.«

David schnaufte. »Würden sie nicht in dieser Protzvilla wohnen, überteuerte Autos fahren und mit Werbeartikeln überschüttet werden, wären sie mit ihren Leben hilflos überfordert.«

»Mag sein, trotzdem sind sie dope und meine Droge zwischen all dem langweiligen Juristengequatsche. Auch mein Onkel kennt kein anderes Gesprächsthema. Nashcon ist mein persönliches Disneyland.«

»Ich bin mir sicher, dass diese Leute alle mit dreißig im Entzug oder beim Psychiater landen. Da konzentriere ich mich lieber auf das ›Juristengequatsche‹.« David klopfte auf das Buch, in dem die Gesetze abgedruckt waren, die wir in zwei Wochen alle anwenden können mussten.

»Genau diese Einstellung, mein Lieber, ist der Grund, warum du einen Passus nach dem anderen pauken musst, während Alex, Jona und Skylar schon in so jungen Jahren mit ihren Zahlen durch die Decke marschieren«, erklärte Gini verschnupft.

David wischte sich sein Haar zurück, obwohl noch alles am richtigen Platz saß. Man spürte, wie ihn das Gespräch nervös machte. »Wir sind es, die sie später einmal nach ihren Eskapaden vor Gericht verteidigen müssen.«

»Hört auf! Wir sollten lieber weiterler…«, versuchte ich sie zu beruhigen, bis es plötzlich wieder da war.

Klick, klack.

Wo zum Henker …?!

Gini sah sich um. »Was suchst du die ganze Zeit?«

»Dieses Klicken«, zischte ich und wuschelte durch mein Haar.

David und Gini lauschten und erwiderten zeitgleich: »Tut mir leid, ich höre nichts …«

Ein kräftiger Windstoß donnerte die Eingangstüren unsanft gegen die Wand. Zwei Studentinnen betraten die Bibliothek. Der Luftzug kühlte meine Wangen. Seit Stunden atmete ich zum ersten Mal frischen Sauerstoff. Dieser wurde allerdings durch die Parfümwolke, die den Mädels folgte, überdeckt. Blätter flatterten bis ins Innerste des Gebäudes. Direkt vor meinen Füßen blieb ein dunkelrot schimmerndes Ahornblatt liegen. Behutsam hob ich es auf und strich über die sternförmigen Spitzen. Zum zweiten Mal überkam mich Wehmut, da ich an den Ort, an dem ich aufgewachsen war, dachte. Als Kind hatte ich im Herbst mit meiner Mom farbenprächtige Sträuße gesammelt und das gesamte Haus damit dekoriert. Ob sie dieses Jahr wieder an der morschen Leiter, die auf der Veranda stand, ihre Gewürze trocknete?

Teure Designertaschen donnerten auf die antik wirkenden Schreibtische und beendeten meine Gedanken, die zu der kleinen Insel Cherrylane gewandert waren. Keine zwei Tische weiter positionierten die beiden Ladys Laptop und Bücher. Das Lernmaterial war teilweise noch eingeschweißt, doch die Werke machten sich gut neben den teuren Taschen, von denen jetzt einige Bilder geschossen wurden.

»Hashtag: WYA, College. Was meinst du: Soll ich die Sonnenbrille dazulegen?«, fragte die eine mit engelsgleicher Stimme.

»Wäre es eine Louis Vuitton, würde ich zustimmen«, meinte ihre Freundin kichernd.

Sie steckten ihre Köpfe zusammen und begannen lautstark über den Filter, mit dem sie das Bild verschönern wollten, zu philosophieren.

»Hast du gesehen, wie Skylar Jona vor laufender Kamera eine Szene gemacht hat? Ich meine, wenn es stimmt, was sie ihm vorwirft, hat er nichts anderes verdient, aber ich bin trotzdem sein Fangirl. Er ist so verdammt heiß!« Die Blonde warf ihr schulterlanges Haar zurück und fixierte es mit einem Spray, das direkt in unsere Richtung zog.

David hustete und Ginis Mund öffnete sich bei dieser Neuigkeit entsetzt. »Spoiler-Alarm«, krächzte sie schockiert.

»Fremdgehen ist tabu! Aber noch wissen wir nicht, ob Skylars Vorwürfe überhaupt berechtigt sind!«

Das brünette Mädchen erinnerte mich mit dem kessen Kurzhaarschnitt an Emma Watson nach ihrer Verwandlung vom Teeniestar zur Erwachsenen.

»Niemals würde er Skylar betrügen. Sie bildet sich das nur ein. Die zwei sind supereng. Ich zähle die Stunden, bis die neue Folge gestreamt wird, dann erfahren wir die Wahrheit«, meldete sich die Blonde zu Wort, die mit ihrem Styling fertig war und wieder über das Display wischte.

»Wen interessiert die Wahrheit? Sie sind ein Traumpaar und Nashcon würde niemals zulassen, dass sich Jo-Sky trennen!«

»Die Produktion kann die beiden doch nicht zwingen, ein Paar zu bleiben«, schnaubte der hübsche Emma-Watson-Verschnitt.

»Die Verträge könnten es«, erklärte die angehende Juristin. Wie bei einer Nachrichtensendung starrten wir die zwei Klatschreporterinnen an.

»Shhh …«, ertönte es von der Bibliothekarin.

Die blonde Kommilitonin zuckte mit der Schulter und deutete mit dem Zeigefinger auf uns. Automatisch wanderte der finstere Blick der Aufpasserin in unsere Richtung. Während David und ich sofort die Hände entschuldigend hoben, surfte Gini bereits auf ihrer eigenen Social-Media-Welle.

»Wie konnte ich das verpassen? Jona ist nach der letzten Episode abgetaucht. Er ist weg! Verschwunden! Er hat die Villa verlassen. Jona ist nicht mehr da. OMG!«

David keuchte gespielt. »Schrecklich!«

Schon langsam konnte ich ihn verstehen, denn die Hysterie um diese Serie nervte. Zum Glück war mein eigenes Handy zu alt und ich kam nicht mal in die Versuchung, die Folgen zu streamen. Einmal hineingesogen, war es offensichtlich schwer, dem Ganzen zu entfliehen.

»Möchtest du dich zu den Damen am Nachbartisch setzen, dann hättest du geeignetere Gesprächspartner?«, meckerte David launisch.

»Schon gut, lasst uns weiterlernen.« Mit einem tiefen Seufzer schob Gini das Smartphone beiseite, obwohl ich sah, wie sie auf dem Stuhl hin und her wackelte. Gini war der Meinung, dass ich durch meine Mutter, die bekennende Naturschützerin, Antikörper für Social Media geimpft bekommen hätte, so resistent, wie ich gegen diese Art der Informationsquelle war.

»Lernt man durch diese Jo-Sky-Sache Duggins Stoff leichter?«, wollte David wissen, nachdem ihm Ginis sehnsuchtsvolle Blicke zum Handy nicht entgangen waren.

»Du lernst sowieso nur die Paragrafen, wenn Willow sie mit ihrer Stimme auf ihr Diktiergerät spricht und du sie vor dem Schlafengehen in Dauerschleife anhören kannst«, ätzte Gini beleidigt und verschränkte die Arme vor der Brust.

In der Sekunde schoss Röte in Davids Wangen. Die Farbe seines Kopfes glich einer reifen Tomate.

Gini zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Das waren seine Worte, nicht meine!«, erklärt sie, als sie Davids bösen Blick dafür erntete. »Durch Willows Methode merke ich mir selbst die schwierigsten Stellen«, raunte sie mit verstellter Stimme und streifte ihr blondes Haar in Davids Manier zurück.

David imitierte Ginis Haltung und verschränkte ebenso die Arme vor der Brust. Dort, wo von Natur aus ein Bizeps zum Vorschein kommen sollte, erkannte man bei ihm eine dezente Wölbung. Mit seinen ein Meter zweiundsiebzig waren wir fast gleich groß. Als wir den Versuch eines Paars gewagt hatten, hatte David erklärt, dass er lieber sein Gehirn trainiere, als unnötig Zeit im Gym zu verbringen.

Seine braunen Augen musterten mich intensiv. Theoretisch passten wir perfekt zusammen. Ähnliche Zielsetzungen, Zukunftsvorstellungen und Ambitionen – wenn man unseren Vätern glaubte. Praktisch jedoch fehlte die körperliche Anziehung. So sehr ich es auch versucht hatte, aber bei seinen Berührungen war kein Funke übergesprungen.

»Dir erzähle ich nichts mehr!« Davids verschnupfte Reaktion feuerte Gini nur weiter an.

»Gib endlich zu, dass du immer noch nachts von Willow träumst.«

»Hört auf! Ich denke, David und ich haben die Sache ein für alle Mal geklärt.« Er wusste, dass für mich keine Reunion infrage kam.

Mit einer geübten Bewegung drehte ich meine Haare zu einem Dutt zusammen. Gini rollte eine meiner Merida-Locken, wie sie die Korkenzieher liebevoll nannte, auf ihren Finger auf. »Wenn ich ein Mann wäre, hättest du mich auch schon um den Finger gewickelt«, säuselte sie.

Ich verdrehte die Augen und klopfte auf ihre Hand.

In dem Moment begann mein antiquiertes Handy unter dem Berg an Büchern lautstark zu vibrieren. Nervös suchte ich nach dem Unruhestifter und hob einen Wälzer nach dem anderen hoch. Die Abmahnung der Bibliothekarin würde sogleich folgen.

In der Sekunde drückte ich den Anruf weg und entschuldigte mich bei der Aufpasserin, die aufgestanden war, um mich mit ihrem stechenden Blick zu durchbohren. Das Display hatte den Namen meiner Mom gezeigt. Seltsam! Warum rief sie mitten in der Woche an? »Das ist komisch!«, murmelte ich gedankenverloren.

Gini beugte sich ein Stück über den Tisch. »Ich finde es ebenso außergewöhnlich, dass du Anrufe auf dem Old-School-Ding erhältst. Den Knüppel kannst du einem Hund als Stock zuwerfen.«

»Das war meine Mom!« Immer wieder klappte ich das Handy auf und zu und blickte auf das winzige Display und die Tasten.

»Und ich dachte, ihr verständigt euch über Rauchzeichen«, ulkte Gini weiter.

»Meine Mom meldet sich gewöhnlich nur am Wochenende und das auch nur, wenn sie nicht damit beschäftigt ist, die Welt zu retten.« Der Unterton, mit dem ich meine Gedanken laut ausgesprochen hatte, war für die beiden nicht zu überhören. Seitdem ich bei meinem Dad wohnte, sah ich Mom nur noch alle heiligen Zeiten. »Wir haben erst vorgestern telefoniert. Sie weiß, dass die Prüfungen anstehen und ich keine Zeit für Small Talk habe.«

»Vielleicht ist es dringend?«, warf Gini ein.

Das Letzte, was ich brauchte, waren weitere Einladungen auf die Insel, für die ich absolut keine Zeit hatte. »Wenn es wichtig ist, wird sie …« Erneut vibriert das Handy. »Okay, vielleicht sollte ich …?« Entschlossen nuschelte ich ein schnelles »Entschuldigung« und stand auf.

Als ich an der Bibliothekarin vorbeilief, hörte ich plötzlich das Klick-klack-Geräusch so laut, sodass ich es endlich orten konnte. Ein kleiner Schmetterling hatte sich zwischen Doppelfenstern verfangen und kämpfte um seine Freiheit, während seine Flügel bei dem Versuch, das Gefängnis zu verlassen, dieses zarte Klick, klack erzeugten. In der hinteren Tasche meiner Jeans vibrierte es. Moms Worte hallten plötzlich mit dem Klacken der Schmetterlingsflügel durch meinen Kopf: »Je kleiner ein Lebewesen ist, desto größer ist sein Recht auf menschlichen Schutz.« Ohne lange zu überlegen, eilte ich ihm zu Hilfe und öffnete das Fenster einen Spalt.

»Das. Ist. Verboten!«, kreischte die Bibliothekarin auch sofort.

Im Augenwinkel erkannte ich, wie sie energisch von ihrem Sessel hochfuhr und dabei beinahe das Gleichgewicht verlor. Für einen Moment setzte sich der Schmetterling auf meinen Finger, flatterte aufgeregt mit den Flügeln und ließ sich vom Wind in die Freiheit tragen. Ich schloss die Augen und spürte, wie die kühle Luft meine Atemwege hinunterwanderte.

»Schließen Sie sofort das Fenster, oder soll ich Ihnen den Zutritt zu den Räumlichkeiten verbieten?«, wies sie mich schroff an.

»Hier handelte es sich um einen Notfall. Ein Schmetterling war zwischen den Scheiben gefangen!«, versuchte ich mich zu rechtfertigen, doch davon wollte sie nichts hören.

»Wissen Sie, wie wertvoll die Sammlung an alten Büchern in dieser Bibliothek ist? Der Tod eines Schmetterlings ist verkraftbar, aber wenn den historischen Relikten etwas passiert …« Sie zog die knielange Wolljacke enger. Seit Semesterbeginn hatte sie für jedermann erkennbar daran gestrickt.

»Er hat um sein Leben gekämpft. Für Sie war es ein Regelverstoß … für ihn ein kleiner Spalt, der ihm die Freiheit geschenkt hat«, verteidigte ich mich.

Sie presste die Kiefer fest zusammen. Die Brille saß viel zu locker und rutschte schon wieder gefährlich in Richtung Nasenspitze. Auf ihren Wangen zeichneten sich runde Rouge-Kreise ab. Die letzten Reste des Mittagessens klebten auf ihrer Bluse. »Hier wird kein Fenster geöffnet, verstanden?«

»Abgesehen davon, dass es sich um ein Tier handelte, steht nichts darüber in der Hausordnung, dass es verboten ist, das Fenster zu öffnen. Wenn man sich ansieht, wie viele Blätter der Wind und die Studenten in die Bibliothek tragen, ist eine kurzzeitige Öffnung verkraftbar, meinen Sie nicht?«

Sie schnappte nach Luft. Mit diesem Widerspruch hatte sie nicht gerechnet. »Regeln sind Regeln …«

Das wiederholte Vibrieren in der hinteren Tasche meiner Hose lenkte den Fokus von der Ordnungshüterin zu der Anruferin. Ihr entging nicht, wie ich es hervorholte.

»Telefonieren ist auch strengstens verboten!«

Stets war ich bedacht darauf, mich an alle Regeln zu halten und bloß nicht aufzufallen. Jeglicher Verstoß wurde sofort dem Rektor mitgeteilt, der wiederum umgehend meinen Vater informierte. Doch die Bibliothekarin rüttelte so fest an meinen Grundprinzipien, dass ich nicht anders konnte, als demonstrativ den Anruf meiner Mom entgegenzunehmen.

2 – WILLOW

Die Aufpasserin setzte zu einer weiteren Standpauke an, als ich die schweren Schwingtüren aufdrückte und auf die Damentoilette eilte.

Die Verbindung rauschte. »Es gab einen Hurrikan …« Pause. In der Leitung knackte es. »Willow … Verbindungspro…«

»Mom?«

»… Nachrichten gehört?«

»Mom, ich kann dich kaum verstehen. Was ist passiert?« Um sie besser hören zu können, drückte ich mein linkes Ohr mit dem Zeigefinger zu.

»Die Belugas!«

Seit meiner Kindheit hatte ich einen speziellen Bezug zu den Weißwalen, doch ich hätte mir nie eingestanden, wie sehr ich sie in den letzten Jahren vermisst hatte. Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Mom, was ist mit den Belugas?«

Moment! Ist das wieder mal nur eine ihrer Finten, mit der sie mich manipulieren will? Dad warnte mich pausenlos vor ihren subtilen Beeinflussungen.

»Die … Belugas … Sie brauchen unsere Hilfe. Du musst kommen.« Die Verbindung verbesserte sich.

»Mom«, seufzte ich. »Im Sommer besuche ich dich. Das habe ich versprochen. Aber jetzt stecke ich mitten in den Vorbereitungen für die letzte Prüfung. Ich kann auf keinen Fall jetzt zu dir kommen.« Seit Jahren ließ sie sich immer neue und skurrilere Ideen einfallen, um mich zu sich zu locken.

Ich hörte, wie sie tief durchatmete.

»Bloß ein paar Tage, Willow. Sie stranden immer wieder am Ufer oder verheddern sich im Müll, der durch den Sturm im Wasser treibt.«

»Mom …«, seufzte ich, denn ich nahm ihr kein Wort ab. Draußen wehten die Äste des Ahornbaumes etwas intensiver hin und her, doch von einem Hurrikan waren wir weit entfernt. Ich schloss die Augen, positionierte Daumen und Zeigefinger an meiner Nasenwurzel und versuchte es erneut. »Mom, ich kann nicht zu dir kommen. Bitte akzeptiere das.«

Dad würde toben, wenn ich kurz vor der Prüfung auf die Insel zurückkehren würde. Er hatte mich damals nicht grundlos von diesem Ort weggeholt.

Jemand klopfte sacht an die Tür zur Damentoilette und ich hörte Ginis Stimme: »Alles in Ordnung?«

»Ja, ja«, sagte ich kurz angebunden.

»Willow, das hier ist ernst. Es wird Zeit, dass du erwachsen wirst und dir nicht den ganzen Mist einreden lässt, den dir dein Vater über mich erzählt. Ich würde nicht um deine Hilfe bitten, wenn es nicht dringend wäre!« Mit diesen Worten legte Mom einfach auf.

Verwundert starrte ich auf das dunkle Display. Das sah ihr nicht ähnlich. Was lasse ich mir einreden? Die Tatsache, dass sie mich als Kind vernachlässigt hat, um als Aktivistin den Bau einer neuen Handelsschneise am Saint Lawrence River zu verhindern? In mir braute sich ein eigener Wirbelsturm zusammen.

Gini drückte die Tür auf und nahm das Handy aus meiner zitternden Hand. »Was ist passiert?«

Tausende Gedanken rasten durch meinen Kopf. »Kannst du bitte online prüfen, ob es einen Hurrikan am Saint Lawrence River gab?« Zum ersten Mal verfluchte ich dieses alte Ding in meinen Händen, mit dem ich nicht mal ins Internet konnte.

Ginis Stirn legte sich in Falten. »Seit gestern weht ein ordentlicher Wind, aber das war kein Hurrikan! Wer behauptet das?«, wollte sie wissen.

»Bitte, Gini! Überprüfe das für mich.«

»Okay.« Sie fischte ihr Handy aus der hinteren Hosentasche, tippte ein paar Mal auf den Bildschirm und begann zu lesen: »In den Abendstunden fegte ein Hurrikan mit Windstärke bis zu 190 km/h über die Küste des Bundesstaats New York.« Ginis blaue Augen weiteten sich, als sie aufsah, dann fuhr sie fort: »Der Sturm, in dieser Intensität eine absolute Ausnahme in dieser Region, raste über die berühmten Tausend Inseln des Saint Lawrence River. Die Menschen auf den kleinen Eilanden waren am stärksten betroffen. Es kam zu Erdrutschen, Überschwemmungen. Ganze Dörfer wurden zerstört …« Gini stoppte abrupt.

»Was?«, fragte ich atmenlos.

»Hier … sind Bilder«, erwiderte sie und hob zögerlich das Handy.

»Bilder? Zeig her!« Mir stockte der Atem: Weiße Wale lagen am Ufer. Umgekippte Schiffe, zerstörte Häuser waren zu sehen. Die Verwüstung war entsetzlich. »Die Belugas!«, flüsterte ich und stolperte ein paar Schritte zurück, bis ich die kalten Fliesen im Rücken spürte. Meine Brust brannte wie Feuer. Was war ich für eine Tochter? Ich hatte Mom unterstellt, sie würde mich schon wieder auf die Insel locken wollen? Entsetzt kniff ich die Augen zusammen, um die schrecklichen Bilder aus meinem Kopf zu bekommen. Ich konnte mir vorstellen, wie verwüstet meine Heimat, Cherrylane Island, aussah. Langsam rutschte ich über die glatte Oberfläche der Fliesen zu Boden. »Meine Mom klang so anders. So kenne ich sie nicht.«

Ich starrte geradeaus, als mich Ginis wärmende Umarmung einhüllte. Sie roch nach Veilchen und den Cinnamon Jelly Beans, die ich mit ihr geteilt hatte. Sie war meine beste Freundin und wusste doch kaum etwas über meine Vergangenheit.

»Ich muss zu Mom«, keuchte ich und wischte eine Träne von der Wange. »Sie braucht mich.«

»Ist doch klar, dass du ihr hilfst.« Gini, die seit ihrem achten Lebensjahr Vollwaise war, verstand mehr von Familie und Hilfsbereitschaft als ich.

»Es tut mir leid, aber ich … ich kann nicht mit euch weiterlernen.« Energisch drückte ich mich an der Wand hoch. Ihr hübsches Gesicht verschwamm hinter meiner Flut an Tränen.

»Willow, mach dir deshalb keinen Kopf.« Sie wischte mit ihrem Daumen über meine feuchten Wangen und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln.

»Ich habe solche Angst!«

Ihre warme Hand legte sich auf meine Schulter. »Süße, wir fahren jetzt zu deiner Mom und helfen ihr. Etwas Ablenkung tut uns allen gut. Die Prüfung ist erst in zwei Wochen.«

Ich schluchzte, denn mir kam wieder die Diskussion mit meinem Vater in den Sinn, als ich ihm erzählt hatte, dass ich im Sommer ein paar Wochen zu Mom auf die Insel fahren wollte. Er war Meister darin, die Wut und den Kummer in meinem Herzen neu zu entfachen. »Wenn mein Vater erfährt, dass ich bei ihr bin …«

»Mach dir deswegen keine Sorgen. Warum sollte er davon erfahren?«

»Weil David es seinem Dad berichten wird, wenn ich nicht bei der Lerngruppe auftauche, und der wird meinen Vater anrufen …«

Gini überlegte. »Dann nehmen wir David einfach mit und erzählen ihm, das wir etwas Ablenkung brauchen und die Lerneinheiten verlegen wollen.«

»Das soll er uns abkaufen?«, zweifelte ich.

»Hauptsache, du bist mit von der Partie.« Sie wackelte mit den Brauen.

***

»Kein Wunder, dass du seltsam bist! Du kommst vom anderen Ende der Welt.« Gini hievte ihre mit Büchern vollgepackte Tasche aus dem Kofferraum und schulterte sie.

Ein heftiger Wind aus Nordosten blies uns ins Gesicht. Nachdem wir über zwei Stunden im Bus gesessen hatten, hatte uns das Taxi jetzt so nah wie möglich zum Hafenbereich chauffiert.

Der Sturm wirbelte durch mein Haar. Mit der Hand versuchte ich die Locken zu bändigen. Obwohl der Wetterbericht eine Verbesserung vorausgesagt hatte, tobten hier noch immer die Ausläufer des Hurrikans.

»Wessen geniale Idee war es, die Lerneinheiten auf eine abgelegene Insel zu verlegen?«, brüllte David gegen die nächste Böe an.

»Mach dir nicht ins Hemd, in ein paar Stunden scheint wieder die Sonne«, schrie Gini zurück.

»Das hier gleicht einem Tornado.«

Er hatte recht. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es auf der Insel aussehen musste, wenn der Sturm am Festland bereits für diese Verwüstung gesorgt hatte. Abgebrochene Bäume hatten den Verkehr blockiert. Papier war gegen die Scheibe geflattert. Überall hatte sich der Müll umgekippter Abfalleimer angesammelt. Einige Boote lagen gestrandet am Ufer. Immer wieder durchbrachen Sirenen die frühen Morgenstunden.

»Wir sind seit vier Uhr morgens unterwegs. Schon langsam bekomme ich den Eindruck, dass ihr mich verschleppt.« Davids Sorge war nicht unbegründet. Gini hatte dichtgehalten und nicht verraten, wohin wir fuhren. Er hätte sonst postwendend seinen Vater angerufen.

»Tut mir leid. Die Anreise ist umständlich. Aber die Fähre legt nur einmal am Tag vom Festland ab. Wir müssen uns beeilen«, drängelte ich, denn aus der Ferne konnte ich bereits das Signalhorn wahrnehmen. Sollte Kapitän James noch immer am Steuer des nostalgischen Kutters sitzen, würde sie keine Minute zu spät ablegen.

»Das sagst du schon zum gefühlt hundertsten Mal.« Gini zog zitternd ihre regenfeste Jacke zu.

»Cherrylane Island ist ein kleines Paradies, auf das sich nicht viele Touristen verirren. Wenn wir erst mal dort sind, wirst du wissen, was den Ort so einzigartig macht … und dass sich die umständliche Anreise gelohnt hat.«

»Cherrylane? Der Name kommt mir bekannt vor.«

Um David abzulenken, deutete ich auf das Schiff, das keine hundert Meter vor uns im Hafen lag.

»Dort steht die Fähre. Los!«

Gini hängte sich bei mir ein und drückte ihren frierenden Körper an mich. »Mir kommen seltsame Gedanken, wenn ich mir bewusst mache, dass wir auf eine Insel fahren, die man nur einmal täglich mit der Fähre erreichen kann. Was machen wir bei einem Notfall?«, wisperte sie, sodass nur ich sie hören konnte.

»Welchen Notfall meinst du?«

»Dir könnten zum Beispiel die Jelly Beans ausgehen.« Sie fasste sich an die Brust und zog theatralisch die Luft ein.

»Zum Glück habe ich in weiser Voraussicht genug eingepackt. Außerdem gibt es auf der Insel ein Geschäft und ich bin mir fast sicher, dass sie meine süßen Suchtmittel dort lagern.« Tante Charlotte war der Grund, warum ich das Zeug liebte. Sie hatte mir jedes Mal eine Handvoll besorgt, die ich bis zu ihrer Pension bereits aufgefuttert hatte.

»Machst du Witze? Es gibt dort einen Supermarkt? Mit Einkaufswagen?« Gini nickte zufrieden. »Total hipster!«

Ich liebte meine beste Freundin. Selbst in dieser angespannten Lage brachte sie mich mit ihrer fröhlichen Art zum Schmunzeln.

David rollte mit einem Lederkoffer hinterher. »Wie heißt das Hotel, in das wir einchecken? Gini meinte, es gäbe einen großartigen Wellnessbereich.«

Strafend sah ich zu ihr hinüber. Gini zuckte entschuldigend mit den Schultern und begann vergnügt zu kichern.

Wärme umfing mich, als ich ihn sah: Kapitän James arbeitete noch immer im Fährverkehr. Damals hatte sein Bauch nur halb so groß ausgesehen und das Weiß an den Schläfen war nur an den Schläfen zu sehen gewesen.

Überrascht klatschte er in die Hände. »Wenn das mal nicht die kleine Weber-Tochter ist!« Sein Bauch wippte, während er lachte. In seinem Mundwinkel hing wie immer ein Zigarillo.

Sofort zog er mich in eine herzliche Umarmung. Der Duft von Tabak und seine kratzende Jacke aus Schurwolle erinnerte mich an vergangene Tage.

»Willy!«, brummte der Seebär und strich über mein Haar, als wäre ich noch immer ein kleines Kind.

Jeder auf der Insel nannte mich bei dem Namen, den einst der berühmte Wal in dem Hollywoodfilm Free Willy trug. Ein vertrautes Bouquet aus Vanille und frischer Seeluft strömte in meine Nase. James lenkte dieses Boot schon seit Jahrzehnten sicher über den Saint Lawrence River.

»Du schipperst noch immer die alte Fähre?«

»Natürlich! Der Hafen auf Cherrylane ist mein Zuhause. Kein Boot kommt an oder verlässt ihn ohne mein Wissen.« Neugierig sah der Fährmann zu meinen Freunden. »Na, welche Stadtmenschen bringst du da mit?«

»Das sind Gini und David. Wir studieren zusammen an der Universität in Syracuse.«

David sah misstrauisch zu mir.

»Hmm«, brummte der alte Herr und beäugte sie mit hochgezogener Braue. »Jede helfende Hand ist wichtig. Der Sturm hat einiges zerstört«, murmelte er und reichte uns die Hand, um auf das Schiff zu gelangen. Von den vielen Arbeiten waren seine Hände rau. »Deine Mutter wird froh sein, dass du es geschafft hast.«

Betreten sah ich beiseite und nickte bloß. Davids Miene verfinsterte sich. Er zählte eins und eins zusammen. Die Sache mit meinen Eltern war nie ein Thema zwischen uns gewesen, da wir uns schon als Kinder kennengelernt hatten. Trotzdem war klar, dass David durch seinen Vater von dem Rechtsstreit zwischen meinen Eltern etwas mitbekommen haben musste.

Er schummelte sich an Gini vorbei und schnappte meinen Ellenbogen. »Das ist eine äußerst dumme Idee, Willow! Lass uns umdrehen! Wenn dein Vater davon …«

»Das wird er nicht!«, unterbrach ich ihn schroff und riss mich los. Davids Kieferknochen traten hervor. Sofort ruderte ich zurück und legte versöhnlich meine Hand auf seinen Unterarm. »David, ich muss das tun. Bitte verrate mich nicht!«

»Warum vertraust du deiner Mom plötzlich?«, wisperte er mit aufrichtiger Sorge in der Stimme, sodass ich zu zweifeln begann.

»Weil ich die Bilder der gestrandeten Tiere gesehen habe. Es ist wahr, was sie erzählt.«

Er seufzte und legte den Kopf leicht schief, um mir klarzumachen, dass meine Herzensentscheidung falsch war. »Willow …«

»Cherrylane hat dich vermisst!« James unterbrach unseren Disput. »Setzt euch zu mir in die Fahrerkabine, der Wind ist stark.«

David packte mich erneut am Ellenbogen, bevor ich Gini und James ins Innere folgen konnte. »Lass uns umkehren, bitte!«

Schnell blickte ich über die Schulter, um zu prüfen, ob die anderen uns nicht hörten. »David, du verstehst das nicht.«

»Nach allem, was mein Vater für dich erreicht hat, gehst du zu ihr zurück?«

»Sie braucht meine Hilfe.«

Er verzog den Mund und lachte sarkastisch. »Das wäre doch nicht das erste Mal, oder?«

Ich löste seine Verbindung. »Du kannst hierbleiben, keiner zwingt dich.« Es würde nicht lange dauern, bis er meinen Vater verständigte, doch das war mir in dem Moment egal. Je näher ich Cherrylane Island kam, desto mehr zog es mich an den Ort, an dem ich aufgewachsen war.

»Auf keinen Fall lasse ich dich allein zu ihr. Dein Vater würde mir das nie verzeihen.« Seine Haare flatterten im Wind. Unsicher blickte er zurück, in der Hoffnung, einen anderen Ausweg zu finden.

»Du bist nicht mein Babysitter, David.«

Seine Zornesfalten glätteten sich und er streckte seinen Rücken durch. »Ich begleite dich, um sicher sein zu können, dass es dir gut geht.«

»Das musst du nicht.«

»Willow!« Er fuhr sich durch sein Haar. Zum ersten Mal saß seine Frisur nicht mehr akkurat. David war innerlich zerrissen und rang mit seiner Entscheidung. »Also gut!« Er quälte sich ein Lächeln ab.

Wird er mich verraten? »Kein Wort zu meinem Vater!«

Er nickte, murmelte »Okay«, doch ich war nicht überzeugt. »Versprich es!«

»Willow«, keuchte er meinen Namen, als würde er ihm Schmerzen zufügen. David verhielt sich stets korrekt und wich niemals von seinem Plan ab. Das Versprechen verlangte ihm alles ab.

»David!«

Er hob die Hände. »Okay, ich verspreche es.«

Ein großer Stein fiel mir vom Herzen. Ihm etwas vorzumachen war von Anfang an keine gute Idee gewesen.

»Aber du versprichst mir, dass du dich nicht manipulieren lässt«, fügte David noch an.

James beobachtete unsere Unterhaltung, was mich irritierte. Er war einer von Moms ältesten Freunden und sicher daran interessiert, dass wir uns wieder verstanden.

»Natürlich«, erwiderte ich schulterzuckend und folgte den anderen in die Fahrerkabine. Gini entging nicht, wie angespannt ich lächelte. Ich beobachtete David, der seinen Koffer ein Stück weiter von uns platzierte und den Plan der Tausend Inseln studierte. Suchte er bereits einen Fluchtweg? Mein Gefühl sagte mir, dass er sich selbst nicht sicher war, ob er das Versprechen, das er mir gegeben hatte, einhalten würde.

»Wie viele Leute leben auf der Insel?«, fragte Gini, während sie ihre Büchertasche und ihren Koffer verstaute.

»Um die hundert.«

»Kennst du alle Bewohner?«

James sortierte die Lebensmittelkisten, die bloß über den Wasserweg auf die Insel gelangten.

»Viele zieht es nur im Sommer für ein paar Monate auf die Insel. Vor allem Wissenschaftler oder Naturfotografen. Die Community ist so winzig, man kennt sich untereinander.«

Die Kraft der Wellen ließ die Fähre von links nach rechts wanken. Ich verkeilte mein Gepäck und lugte aus dem Fenster. Hoffentlich würde der Sturm bald nachlassen, sodass wir uns bei der Überfahrt nicht reihenweise übergeben mussten. »Meinst du, wir werden Belugas sehen?« Gini zog sich eine graue Mütze über. Ein paar ihrer blonden Strähnen ragten daraus hervor. Sie schaffte es, selbst nach dieser Tour wunderschön auszusehen.

»Ich denke, wir werden sie nicht nur sehen, wir werden ihnen wieder ins Wasser helfen. Wenn wir auf der Insel ankommen, teilen sie uns in Rettungsteams ein.« Ich zog ebenfalls eine Mütze über und half James beim Einschlichten der restlichen Kartons. Die frische Luft am Saint Lawrence River klärte meine Sinne und die Arbeit kam gelegen, um die Zweifel über meine Reise hierher endgültig wegzupacken.

»Wie lange dauert die Fahrt?« David sah noch immer nicht überzeugt aus, die Überfahrt zu wagen, doch es war seine Art, die Dinge anzugehen. Indem er alles analysierte.

James betätigte das Schallsignal der Fähre.

David schreckte hoch und umklammerte einen der Haltegriffe. »So ein Lärm! Gibt es dafür keine Vorwarnung!«

Gini und ich kicherten.

»Ich bin nicht seetauglich. Mir wird jetzt schon schlecht!«, rief er hilflos.

»Landeier!«, brummte der alte Seebär und blies Rauch in Davids Gesicht. Sofort begann dieser zu husten.

»Wenn ich mich richtig erinnere, beträgt die Überfahrt dreißig Minuten!«, meinte ich.

James nickte und lächelte.

»Wir könnten uns ein paar Paragrafen anhören. Ich habe sie in der Nacht auf Band gesprochen«, versuchte ich die Stimmung zu retten.

Verdutzt sah mich meine beste Freundin an. »Du hast sie alle in der Nacht aufgenommen?« Gini öffnete ihren Mund und schüttelte den Kopf. »Willow, du bist verrückt!«, schimpfte sie.

Ich zuckte mit den Schultern. »Hatte wohl ein schlechtes Gewissen, weil ihr mit mir hergekommen seid. So können wir leichter lernen«, entschuldigte ich mich.

»David freut es, oder?«, feixte Gini und kniff in meinen Arm. Sie imitierte meine Stimme: »Paragraf 150 aus dem Strafgesetzbuch …«

Der erotische Unterton ließ James erstaunt zu ihr blicken.

»So spreche ich nicht!«, stellte ich sofort richtig und lief knallrot an.

»Oh, du hast keine Ahnung, wie verführerisch deine Stimme auf diesem Tonband klingt. Habe ich recht?« Gini wandte sich dabei an David und klimperte mit ihren Wimpern.

David schüttelte den Kopf und presste die Augen fest zusammen, um seine Reaktion zu verbergen. »Dir verrate ich nie wieder ein Geheimnis!«

»Mein Diktiergerät hat uns schon durch so manche Prüfungen geholfen. Also hör auf dich darüber lustig zu machen«, verteidigte ich mich.

»Ich liiiiiebe dein Diktiergerät!«, bestätigte Gini und zog das Wort in die Länge.

»Außerdem überdauert der Akku dieses Gerätes die eurer Smartphones um Tage. Sollte der Strom ausfallen …«

»Da hast du recht!«, japste sie und presste sich die Hand auf den Mund. »Das habe ich überhaupt nicht bedacht. Was mache ich, wenn mein Akku leer ist?«

Ich klopfte ihr auf die Schulter. »Auf der Insel befand sich früher für diese Fälle ein Notstromaggregat.«

»Diesen Strom benötigt man für Notfälle, Gini!«, erklärte David.

»Was verflucht ist ein leerer Akku denn sonst? Mein Handy blinkt schon nach ein paar Stunden rot auf.«

»Vielleicht hängt es damit zusammen, dass du ständig auf Twitch, TikTok oder sonstigen Plattformen hängst«, kritisierte David und streckte ihr die Zunge raus.

Die beiden waren schlimmer als Geschwister.

Gini setzte erneut an: »Außer euch beiden atmet heutzutage jeder Social-Media-Luft! Das ist die Informationsquelle von Gen Z.«

»Gen Z?«, brummte unser Seebär dazwischen und runzelte die Stirn.

»Das sind wir! Die Generation Z!«, erklärte Gini stolz und zeigte mit den Daumen auf ihre Brust. »Wobei man Willow und David nicht dazu zählen kann.« Sie deutet mit einem Kopfnicken zu uns. »Keine Ahnung, in welcher Epoche Willow mit ihrem Diktiergerät und Tastenhandy feststeckt.«

Unbeeindruckt zurrte James die letzten Kartons fest. »Das ist bloß eine Vorsichtsmaßnahme, sollte die Fähre die nächsten Tage nicht ablegen können.«