The Defector – Die Jagd beginnt - Chris Hadfield - E-Book

The Defector – Die Jagd beginnt E-Book

Chris Hadfield

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Beschreibung

Ein einziger Überläufer bestimmt das Schicksal einer Nation Einer der besten Kampfpiloten der US Air Force und US Navy schreibt einen Thriller über den Kalten Krieg – authentischer wird es nicht mehr! Chris Hadfield verknüpft spannendes Insiderwissen über Technik mit politischen Intrigen, die auf wahren Begebenheiten beruhen. Israel, 1973. Während der Jom-Kippur-Krieg aufflammt, rast ein hochmoderner Kampfjet mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über das trockene Buschland. Darin: ein sowjetischer Pilot, der in die USA überlaufen will. Seine Informationen sind von unschätzbarem Wert, denn er kennt die Geheimnisse der legendären »Foxbat« MiG-25, des schnellsten und höchstfliegenden Kampfflugzeugs der Welt, und somit auch den Schlüssel zur Lufthoheit im Kalten Krieg. Der NASA-Flugleiter und ehemalige Testpilot der US-Marine Kaz Zemeckis erhält den Auftrag, den Überläufer auf das geheimste Testgelände der USA zu bringen. Doch die Aktion birgt ein hohes Risiko und Kaz kann nur hoffen, dass das gefährliche Spiel nach seinen Vorstellungen verläuft. Perfekt für Fans von Tom Clancy, David Baldacci und Robert Ludlum. »Spannend bis zum Abwinken ... Hadfield ist eindeutig dazu bestimmt, Tom Clancy als Meister des Technothrillers zu beerben.« Irish Independent

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Seitenzahl: 525

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Über das Buch

Kaum liegt die nervenaufreibende Apollo-18-Mission hinter ihm, erhält Kaz Zemeckis seinen nächsten Auftrag: Während seines lang ersehnten Urlaubs in Tel Aviv, soll er den dort gestrandeten sowjetischen Überläufer Grief in die USA bringen, samt dessen Kampfflugzeug »Foxbat« MiG-25. Die legendäre Maschine bricht alle Rekorde und das technische Wissen darüber würde den USA einen entscheidenden Vorteil im Kalten Krieg verschaffen. Überglücklich, ein neues Leben beginnen zu können, richtet sich Grief im militärischen Sperrgebiet Groom Lake ein und gibt bereitwillig sämtliche sensiblen Informationen preis. Doch Kaz beschleicht ein gefährlicher Verdacht: Hat der Überläufer noch andere Pläne? Pläne, die für die USA verheerende Ausmaße haben könnten …

Chris Hadfield

The Defector

Die Jagd beginnt

Thriller

Aus dem Englischen von Charlotte Lungstrass-Kapfer

Für Henry und Poppy, meine unverbrüchlichen Schreibgefährten.

Ein Mann, der sich selbst belügt und seinen eigenen Lügen Glauben schenkt, wird irgendwann die Wahrheit nicht mehr erkennen.

FJODOR DOSTOJEWSKI, Die Brüder Karamasow

 

Das Wesen des Krieges beruht auf Täuschung.

SUNZI, Die Kunst des Krieges

Viele der auftretenden Personen sind real. Viele der beschriebenen Ereignisse sind tatsächlich geschehen.

Prolog

Nordvietnam, Juni 1965

»Kontakt auf zehn, links unten, Kaz!« Die Stimme vom hinteren Sitz der F-4B Phantom klang drängend. »Sieht so aus, als würde er sich nach Westen bewegen, also von uns weg.«

»Welche Entfernung, Toad?«

Kaz Zemeckis, der Pilot der Maschine, drehte den Kopf, um durch das dicke Glas an dem rundlichen schwarzen Bug der Phantom vorbeizusehen. Er führte den Stoßtrupp vom Flugzeugträger USS Independence an, der zurzeit hundert Meilen vor der Küste von Vietnam im Golf von Tonkin vor Anker lag, um den Feind mit der nötigen Luftraumüberwachung in Schach zu halten.

Pedro Tostado, Rufzeichen Toad, war hinten ganz auf seinen Monitor konzentriert. »Kriege kein konstantes Signal, da unten ist zu viel los.« Als Kaz’ Waffensystemoffizier war Toad auch für das Radar zuständig.

Kaz schaute nach links. Sein Wingman hielt die zweite hellgraue F-4B mit dem Jolly Roger am Heck in loser Formation knapp unterhalb von Kaz’ Flügelspitze. Der Pilot blickte zu ihm hoch und wartete auf Anweisungen.

Mit erhobener Stimme meldete Toad: »Er kommt jetzt direkt auf uns zu, Kaz, habe ihn erfasst! Unidentifiziertes Flugzeug, Entfernung achtzehn Meilen!«

»Verstanden.«

Kaz wandte sich seinem Wingman zu und strich mit seinem linken Handschuh über seinen Unterarm, während er den Bug seiner Maschine gleichzeitig kurz auf und ab gleiten ließ. Ein eindeutiges Signal. Sofort glitt die andere Phantom seitlich weg und zeigte kurz ihre weiße Unterseite, bevor der Pilot sie auf eine Höhe brachte und seine taktische Position einnahm – noch immer neben Kaz, aber mit einer Meile Abstand: nah genug, um in Sichtweite zu bleiben, aber mit ausreichend Raum, um unabhängig agieren zu können, falls es zu einem Luftkampf kam.

Kaz drückte den Funkknopf und gab auf ihrer gesicherten Frequenz durch: »Victory Flight, Tanks abwerfen.« Mit einem unidentifizierten Flugzeug vor sich waren das zusätzliche Gewicht und der Luftwiderstand der externen Tanks für die Jets nur hinderlich, wenn es zu einer Auseinandersetzung kam. Und auf dem Flugzeugträger lagerten jede Menge Ersatztanks. Kaz betätigte einen Schalter in der Mitte der Cockpitanzeigen und drückte dann den roten Knopf an seinem Steuerknüppel, um den Tank abzuwerfen. Toad und er spürten den Ruck, als die Maschine plötzlich an Gewicht verlor.

Knisternd meldete sich ihr Wingman in ihren Helmlautsprechern zu Wort: »Zwei hat Sichtkontakt auf elf unten, sieht aus wie zwei Maschinen, kommen zu uns hoch!«

Kaz richtete den Bug seiner Phantom in die Richtung aus, in der er den Feind vermutete; eine Meile links von ihm tat sein Wingman dasselbe. Die beiden F-4B flogen mit Mach 0,9, also neunzig Prozent Schallgeschwindigkeit, was bedeutete, dass sie in sechs Sekunden eine Meile zurücklegten. Ihre Raketen waren abschussbereit, doch das Luftkampfreglement der US Navy schrieb vor, dass sie ihr Ziel visuell identifizieren mussten, bevor sie sie abfeuern durften. Außerdem wussten sie, dass die Maschinen sowjetischer Bauart nicht mit Raketen ausgerüstet waren, sondern lediglich mit 20- und 30-Millimeter-Maschinengewehren; die Bedrohung war also minimal.

Trotzdem suchten beide Piloten angespannt den feucht-trüben Himmel vor sich ab und hielten Ausschau nach dem verräterischen Glanz der silbernen MiGs über der grün-braunen Vegetation von Nordvietnam.

Toad meldete sich: »Der auf meinem Radar scheint in den Sinkflug zu gehen, Kaz! Offenbar wollen sie sich wieder in den Büschen verkriechen!«

Warum sollten sie das tun?

Und plötzlich begriff Kaz. Er fuhr herum und starrte blinzelnd in das helle Licht, suchte im Blau neben und hinter ihnen nach einer Bewegung. Gerade als er mit der Linken seine Augen abschirmen wollte, bemerkte er das metallische Funkeln.

»Feind auf sieben Uhr oben!«, schrie er in sein Mikro. »Zwei, ausscheren, ich breche links aus!«

Flammen schossen aus dem Triebwerksauspuff der Phantom, als der Wingman den Nachbrenner aktivierte und seinen Steuerknüppel nach vorne schob, um die Maschine quasi schwerelos zu machen: der Luftwiderstand wurde minimiert, die Beschleunigung maximiert. So konnte er sich einem möglichen Beschuss durch den Feind entziehen und sich in Stellung bringen, um seine Raketen abzufeuern.

Kaz hingegen vergrub seinen Steuerknüppel quasi in seinem Schoß und reizte seinen Nachbrenner vollkommen aus. Seine Arme und sein Rücken protestierten, als er den riesigen Jet herumriss, um sich der Bedrohung zu stellen. Toad und er ächzten hörbar, während sie die Muskulatur in Beinen und Unterleib anspannten, um trotz der erdrückenden 8 g möglichst viel Blut in ihre Köpfe zu pressen.

Am Rande seines sich eintrübenden Gesichtsfeldes bemerkte Kaz kleine Feuerpunkte, die auf sein Cockpit zuflogen. »Leuchtspurmunition!«, brüllte er und rollte die Maschine herum, um den Geschossen der nordvietnamesischen Jets zu entgehen. Die Phantom stieg auf, sodass die feindlichen Maschinen unter ihr hindurchglitten.

»MiG 17!«, riefen Kaz und Toad gleichzeitig, nachdem sie die gepfeilten Flügel, die abgerundeten Flügelspitzen, die dreifachen Grenzschichtzäune und das hohe T-Leitwerk des sowjetischen Kampfjets identifiziert hatten. Im Geiste gingen sie hastig die Farben und Markierungen durch; Kaz kam als Erster zu einem Ergebnis: »Keine Chinesen, keine Nordvietnamesen«, stellte er fest und versuchte, noch einen Blick auf die hinter ihnen absinkenden Maschinen zu erhaschen. »Ich sehe zwei, im Sinkflug!« Er rollte die Maschine herum und versuchte sie so auszurichten, dass er seine Raketen einsetzen konnte.

Sie waren ein klassisches Luftkampfmanöver geflogen, choreographiert durch die Bodenkontrolle der vietnamesischen Volksarmee: Erst abwarten, bis die amerikanischen Jets landeinwärts fliegen, dann zwei Maschinen in möglichst geringer Höhe losschicken, um sie abzulenken, während zwei weitere Jäger mit der Sonne im Rücken von oben herabsteigen und im Vorbeiflug mit ihren Bordwaffen angreifen. Zum Schluss lassen sich alle vier so weit absinken, dass die Amerikaner ihre Raketen nicht mehr zum Einsatz bringen können.

Kaz starrte den immer kleiner werdenden silbernen Silhouetten nach und brachte die Phantom in Stellung, damit Toad sie auf dem Radar erfassen konnte. Sobald er das Okay von ihm bekam, schickte Kaz den beiden MiGs eine seiner AIM-7D Sparrow-Radarraketen hinterher.

Mehr konnte er nicht tun. Stumm verfluchte Kaz die Arroganz der Politiker, die entschieden hatten, dass die F-4 kein Bordgewehr bräuchte. Verteidigungsminister McNamara hatte gesagt, Kampfjets mit Maschinengewehren auszurüsten sei so, als wolle man »einen modernen Krieg mit Pfeil und Bogen ausfechten«. Arschloch, dachte Kaz nun nicht zum ersten Mal, während er auf den Blitz der explodierenden Rakete wartete.

Nichts. Entweder waren die MiGs schon zu tief, oder die Sparrow hatte nicht gezündet.

Doch während er weiter nach unten starrte, sah Kaz den funkelnden Umriss einer MiG vor dem grünen Untergrund – und er kam eindeutig auf sie zu. »Die eine MiG kommt zu uns zurück, Toad!«

»Habe sie erfasst. Schieß!«, schrie Toad. Wieder drückte Kaz den Knopf, und eine zweite Sparrow schoss davon, gekoppelt an das Radarsignal der Phantom, sodass ihr kleines Elektronengehirn in Windeseile die eigene Flugbahn berechnen konnte. Die MiG befand sich direkt vor ihnen, und Kaz beschwor die Rakete, diesmal ihren Dienst zu tun. Grelles Weiß zeigte an, dass sie explodiert war, doch der sich nähernde sowjetische Jet blieb davon unberührt. »Spätzünder!«, meldete Toad, während bereits die ersten Leuchtspurgeschosse links an Kaz’ Cockpit vorbeizogen. In einem hastigen Ausweichmanöver ließ er die Maschine um neunzig Grad herumrollen und biss abwartend die Zähne zusammen, spürte aber keinen Einschlag. Nachdem er die Phantom wieder ausgerichtet hatte, sah er, wie die MiG seitlich wegglitt und erneut abzusinken schien.

Doch sie ließ sich nicht fallen. Anstatt die verbliebene Geschwindigkeit zu nutzen, um den Bug abzusenken und sich anschließend in Sicherheit zu bringen, stellte der Pilot mit seiner MiG etwas an, das Kaz noch nie zuvor gesehen hatte: Zunächst ließ er die Maschine abrupt aufsteigen, um dann erst hart in die eine Richtung zu gieren und danach ebenso hart gegenzulenken, sodass sich der Jet quasi umdrehte und wieder genau auf Kaz zuflog – ein wildes, scheinbar kaum zu kontrollierendes Manöver. Und schon glitten wieder leuchtende Geschossspuren zwischen ihnen durch die Leere.

»Scheiße!«

Kaz reagierte, indem er etwas tat, was Kampfpiloten eigentlich niemals tun: Er presste seinen Steuerknüppel ruckartig nach vorne. Die Phantom war nicht nur bis zu 8 g positiv belastbar, sondern auch bis 3 g negativ, was die Piloten aber nicht gerne nutzten, da die Maschine dann mit der Rumpfunterseite voran abfiel, sodass sie nicht sehen konnten, wohin sie flogen. Kaz’ Manöver ließ sämtliche losen Karten, Checklisten und den gesammelten Dreck vom Boden an die Cockpitdecke fliegen, während die Schienbeine der beiden Männer schmerzhaft von unten gegen die Instrumententafeln schlugen. Ihnen stieg das Blut in den Kopf, und die Welt schien einen Moment aus dem Gleichgewicht zu geraten. Drei endlos lange Sekunden hielt Kaz den Steuerknüppel in dieser Position und ignorierte die Tatsache, dass Benzin- und Ölzufuhr der Maschine dadurch empfindlich gestört wurden. Dann ließ er die Phantom um neunzig Grad wegkippen und riss den Steuerknüppel zurück.

Los doch, schießt ruhig!

Toad und er blickten nach hinten und suchten den Himmel ab. Erleichtert stellten sie fest, dass die MiG sich tief unter ihnen schnell entfernte.

Ihr Wingman meldete sich über Funk: »Zwei kommt rein. Konnte keine gute Schussposition finden.« Bei der hohen Flugzeugbeteiligung und dem enormen Tempo der Auseinandersetzung wunderte das Kaz nicht.

»Verstanden, Victory Two«, antwortete er. »Sie ziehen sich zurück, irgendwo unter euch. Stabiler Kurs One-Zero-Zero bei vierundzwanzig Knoten, Höhe fünftausend Fuß. Ihr könnt euch uns wieder anschließen.« Der Wingman bestätigte durch einen Doppelklick im Mikrofon. Kaz und Toad sahen sich noch immer wachsam um, da sie sichergehen wollten, dass die MiG sie nicht doch wieder verfolgte. Aber eigentlich rechneten sie nicht damit: Durch ihren Nachbrenner fraß die MiG-17F extrem viel Sprit und war deswegen für ihre geringe Reichweite bekannt.

Während die beiden Phantoms im Tiefflug über den Golf von Tonkin glitten und sich möglichst treibstoffsparend der relativen Sicherheit ihrer Fangkabel auf dem Deck der USS Independence näherten, dachte Kaz über das Manöver nach, das er gerade beobachtet hatte.

Wo hat dieser Pilot das nur gelernt?

Seitenwechsel

1

Syrien, 5. Oktober 1973

Für einen Mann mit seinen Fähigkeiten war es eine einfache Mission.

Sorge dafür, dass du für die richtige Maschine eingeteilt wirst, folge der ausgearbeiteten Route, spare ausreichend Treibstoff, vermeide es, unter Beschuss zu geraten, und finde einen Landeplatz.

Raz plyunut, hatte er sich gedacht. Das reinste Kinderspiel.

Er hasste Syrien. Im Vergleich zu Moskau war es ein Höllenloch. Alles war braun und dreckig, sogar die felsigen, in Dunst gehüllten Hügel rings um den T-4-Luftwaffenstützpunkt von Tiyas. Selbst wenn es einmal regnete, wie es am Abend zuvor der Fall gewesen war, fiel dabei nur schmutziger Nebel auf Sand. Die Feuchtigkeit kam wie warmer, klebriger Schweiß vom Himmel herab und hinterließ dicke Schlieren auf allem, was draußen parkte.

Was allerdings nicht für seinen Jet galt, der stand gut geschützt unter einer hohen Kuppel, die sogar Raketeneinschlägen standhielt und mit einer dicken Sandschicht bedeckt war, um sie vor den neugierigen Blicken der Satelliten zu verbergen. Der Hangar hatte keine Türen, damit man möglichst schnell die Triebwerke zünden, hinausrollen und aufsteigen und nach der Landung ebenso eilig wieder nach drinnen verschwinden konnte.

Die Sohlen seiner Pilotenstiefel ließen ein merkwürdiges Echo von den gewölbten Wänden widerhallen, als er auf den riesigen silber-schwarzen Jet zuging. Eine schmale gelbe Leiter führte zum Cockpit hinauf. Er hängte seinen Helm an den seitlich angebrachten Haken und trat ein paar Schritte zurück, um sich das Flugzeug anzusehen. Dann ging er einmal langsam um die Maschine herum, um vor dem Start ein letztes Mal alle Systeme zu überprüfen.

Zwei Dinge fielen ihm an der MiG-25 jedes Mal ins Auge: Zunächst einmal die fast schon absurd hohen und schmalen Reifen. Sie sahen aus, als hätte man sie von einem zu groß geratenen Geländemotorrad abgeschraubt und dann versehentlich an ein Flugzeug montiert. Die leuchtend grünen Felgen verstärkten dieses Missverhältnis nur. Im Vorbeigehen versetzte er den schwarzen Gummireifen wie immer einen leichten Tritt.

Das brachte Glück.

Die zweite Auffälligkeit war die übermäßige Größe der Lufteinlässe. Die riesigen schwarzen Rechtecke – größer als bei jedem anderen Jet, den er je geflogen war – ragten wie gigantische Schulterpolster knapp hinter dem Cockpit aus den Seiten der Maschine hervor. Diese klaffenden Mäuler konnten die Luft schnell genug verschlingen, um die beiden unersättlichen Tumansky R-15B–300-Triebwerke im Inneren zu füttern. Nachdem er nun schon seit einigen Jahren die MiG-25 flog, kannte er ihr ohrenbetäubendes Pfeifen ebenso gut wie seine eigene Stimme.

Als Testpilot hatte er die Maschine gnadenlos ausgereizt, um ihre Grenzen in Bezug auf Geschwindigkeit und Höhe auszuloten, und war dabei rekordverdächtige siebenunddreißig Kilometer weit in den Himmel über Moskau aufgestiegen, bis sich über ihm nur noch Schwärze und unter ihm die durch die Erdkrümmung verzerrte Sowjetunion ausbreiteten. Die Kameraden in seiner Einheit hatten ihm daraufhin den Spitznamen »Griffon« – Geier – gegeben, da der Sperbergeier den Höhenflugrekord unter den Vögeln hielt. Der Name war bald auf eine einzige harte russische Silbe verkürzt worden. »Grief.«

Grief

Die Kälte der Wüstennacht war langsam durch die verstärkten Wände des Hangars gekrochen und in das Metall des Flugzeugs eingedrungen, wurde aber schon wieder durch die Tageshitze verdrängt, die durch die Toröffnungen hereinwehte. Er spürte sie nur an seinen Händen und im Gesicht. Der Rest seines Körpers war von dem geschnürten Druckanzug bedeckt, der ihn vor der dünnen Luft in den extremen Höhen schützen sollte, die von der MiG erreicht werden konnten. Es war dieselbe Art von Anzug, die auch Kosmonauten trugen. Er mochte den sanften Druck auf seiner Haut.

Nachdem er seine Vorflugkontrolle beendet hatte, nahm Grief den Helm vom Haken, setzte ihn auf, ohne ihn zu schließen, und stieg die schmale Leiter hinauf.

Die Amerikaner hatten dem Jet den Namen Foxbat gegeben. Im militärischen Bezeichnungssystem des Westens wurden Kampfflugzeuge immer mit F-Namen versehen, weshalb die Vorgängermodelle der MiG ziemlich plump als Fagot, Fresco, Fishbed und Flogger bezeichnet worden waren. Grief hatte die Namen in amerikanischen Berichten gesehen und war enttäuscht gewesen von so wenig aviatischer Sprachkunst. Umso erfreuter war er, dass sie diesmal besser gewählt hatten. Schließlich waren Flughunde sehr geschickte Flieger und gehörten zu den größten Fledermausarten der Welt, die über eine ausgezeichnete Sehkraft verfügten und unbemerkt weite Strecken fliegen konnten.

Und auch die MiG-25 Foxbat war die Beste in dem, was sie tat. Die Ingenieure von Mikojan-Gurewitsch waren schon 1959 damit beauftragt worden, etwas zu entwickeln, womit man die amerikanischen Überschallbomber und Spionageflugzeuge vom Himmel holen konnte, die im Kalten Krieg als Neuheit zum Einsatz kamen. Das gesamte Design war auf diesen tödlichen Zweck ausgerichtet worden: von der großen Radarschüssel im Bug und den übergroßen Flügeln, die in dünner Höhenluft für optimalen Auftrieb sorgten, über die an der Unterseite der Flügel angebrachten Luft-Luft-Raketen bis hin zu den großen Treibstofftanks, die eine enorme Reichweite ermöglichten. Michail Gurewitsch höchstpersönlich hatte gegen Ende seiner Karriere die Leitung des Projekts übernommen und war sehr stolz gewesen auf das Endprodukt. Die Foxbat war ein strahlender Triumph, der bis in die Stratosphäre aufsteigen und Mach 2,8 erreichen konnte, also beinahe dreifache Schallgeschwindigkeit. Im Notfall sogar noch mehr.

Als er die Leiter halb erklommen hatte und auf Höhe der großen auf den Rumpf schablonierten 18 angekommen war, hielt Grief kurz inne und wandte sich nach links. Während er sich mit der Rechten an der Leiter festhielt, streckte er die Linke so weit aus, dass er die silberne Außenhaut der Maschine berühren konnte. Er genoss die Kälte der Edelstahlverkleidung an seiner Haut, wusste er doch, dass das Metall auch der enormen Hitze des anstehenden Hochgeschwindigkeitsfluges gewachsen sein würde. Die scharfen Vorderkanten der Flügel würden sich am stärksten erhitzen und die Luft dadurch mit aller Kraft von sich schieben; sie waren aus Titan gefertigt.

Im Cockpit waren alle Metallelemente grün gestrichen, in dem verlässlichen Rostschutzgrün, das die Montageeinheiten der Flugzeugfabrik 21 in Gorky auch für die Radfelgen verwendet hatten. Die Instrumente und Kontrollanzeigen waren schwarz, die Knöpfe der Waffensysteme gelb, blau und rot. Nachdem Grief sich hatte in den Sitz fallen lassen, überprüfte er die Einstellungen. Als Testpilot hatte er am Cockpitaufbau mitgearbeitet und empfand die vertraute Funktionalität des Ganzen inzwischen als beinahe tröstlich.

Problemlos fanden seine Hände die vier schweren Gurte, mit denen er sich in dem KM-1-Schleudersitz festschnallen konnte. Er zog sie zu sich heran, ließ sie einrasten und zog sie fest. Anschließend schloss er Kühl- und Sauerstoffschlauch und das Funkgerät seines Helms an und sicherte den Verschluss. Wie immer hatte er dabei das Gefühl, sich sozusagen mit einem viel kraftvolleren Wirtskörper zu verbinden: wie der legendäre Greif, der über den Körper eines Löwen und Kopf, Schwingen und Krallen eines Adlers verfügte. Der ultimative neue Sowjetmann.

Um ihn herum erwachte die Foxbat bereits zum Leben. Bis die Navigationstechnik eingerichtet war, dauerte es immer eine Weile, weshalb die Bodencrew schon vor einer Stunde ein dickes Stromkabel angehängt hatte, damit die Kreiselgeräte und Vakuumschläuche sich aufwärmen konnten. Griefs Blick huschte über die Instrumententafel des Cockpits; alle Lämpchen zeigten leuchtend Funktionsbereitschaft an.

Die sowjetische Luftwaffe hatte entschieden, dass im Kampfeinsatz keine Checklisten erlaubt waren, da es ja möglich war, dass ein Flugzeug abgeschossen wurde und der Pilot aussteigen musste. Deshalb holte er nun das eine Blatt aus seiner Beintasche, auf dem er in verschlüsselter Form Funkzeiten, Frequenzen und Navigationskoordinaten festgehalten hatte, außerdem eine detaillierte Karte der Region zwischen Kairo und der türkischen Grenze. In der Mitte des Ganzen: Israel. Der Fluganzug, den er über seinem Druckanzug trug, verfügte über eine Metallklammer am rechten Oberschenkel, wo er die beiden Blätter nun sicher einhakte.

Dann verglich er die Anzeige seiner Armbanduhr mit der auf der Instrumententafel, die sich knapp über seinem linken Knie befand – noch zwanzig Minuten bis zum Start. Also blieben ihm bis zum Triebwerksstart und dem Verlassen des Hangars noch fünf Minuten. Er hob die rechte Hand, damit die Bodencrew seine ausgestreckten Finger sehen konnte, und nickte einmal. Die Männer nickten verstehend zurück. Fingen sie vor dem festgesetzten Zeitpunkt an, würden sie nur Treibstoff verschwenden.

Grief war heute früh aufgewacht und um fünf aufgestanden, um seinen üblichen Morgenlauf um den Flugplatz zu absolvieren; sein Blut floss schneller, und sein Geist wurde leer, während er das Tempo immer weiter anzog. Anschließend frühstückte er in der behelfsmäßigen leotchick stolowaja des syrischen Stützpunktes, also der Pilotenkantine. Lammeintopf mit Reis und Fladenbrot, dazu süßer Tee, mit dem er die gelben Vitamintabletten runterspülte, die er von dem sowjetischen Militärarzt bekommen hatte, der ihn auch dem üblichen Gesundheitscheck unterzog. Alles wie immer.

Vier Minuten bis zum Start. Schon seit Monaten bereitete er sich auf diesen Tag vor. Als er dann auf dem Dienstplan gesehen hatte, dass er die Nummer 18 mit ihren einzigartigen Fähigkeiten fliegen sollte, hatte sich nach und nach eine glühende Vorfreude in ihm ausgebreitet. Nun spürte er, wie sein Herz schneller schlug; zum Glück stand er nicht mehr unter ärztlicher Beobachtung.

Drei Minuten. Seine Anwesenheit hier in Syrien ging auf ein direktes Ersuchen des hiesigen Präsidenten Hafiz al-Assad beim sowjetischen Generalsekretär Leonid Breschnew zurück. Die Spannungen zwischen seinem Land und Israel hatten einen neuen Höhepunkt erreicht, weshalb Assad heimlich um Flugzeuge und Piloten gebeten hatte, die fotografisch dokumentieren sollten, was die Israelis so trieben. Sadat hatte im Jahr zuvor aus taktisch-nationalistischen Überlegungen heraus alle sowjetischen Piloten und Ingenieure aus seinem Land verbannt, doch Assad kümmerte es nicht, ob er die Amerikaner gegen sich aufbrachte. Es braute sich ein Krieg zusammen, und er wollte wissen, was ihm die MiG-25 liefern konnte.

Zwei Minuten. Mit einem Finger schob Grief das obere Blatt an seinem Bein so auseinander, dass er sich die Karte noch einmal ansehen konnte. Er ließ die Fingerspitze über die Route gleiten, die in das Navigationssystem der Foxbat eingespeichert war: südlich von Homs über den See von Qatina, dann an der Nordgrenze des Libanon entlang und an der Küste scharf links, um Israel der Länge nach abzulichten. Über dem Mittelmeer wenden, um eine zweite Ansicht der Küstenlinie einzufangen, anschließend zurück nach Tiyas T-4. Er beugte sich vor, um sich den Verlauf der libanesischen Grenze genau einzuprägen.

Sechzig Sekunden. Zeit, sich der Maschine zu widmen. Im Kopf ging er das Startprozedere und die Liste möglicher Fehlerquellen wie Triebwerksbrand oder Abweichungen im Öldruck und seine nötigen Reaktionen darauf durch. Er kannte dieses Flugzeug in- und auswendig.

Der Sekundenzeiger seiner Uhr schob sich über die zwölf. Grief hob die rechte Hand, reckte einen Finger in die Höhe und ließ ihn kreisen: das Signal, die Triebwerke zu zünden.

Es wurde Zeit, die Maschine in die Luft zu bringen.

2

An der Küste Israels

Die einsetzende Flugkörperwarnung war eine angenehme Überraschung.

Eigentlich hätte Grief bei einer Flughöhe von 73000 Fuß – was ungefähr zweiundzwanzig Kilometern entsprach – und mit beinahe dreifacher Schallgeschwindigkeit über der Mittelmeerküste außerhalb der Reichweite jeder Waffe sein sollen, die Israel auf ihn hätte abfeuern können. Doch die große Radarschüssel im Bug seiner Maschine hatte tief unter ihm zwei feindliche Flugzeuge lokalisiert, die schneller flogen als üblich, und er hatte mit einem gewissen Interesse verfolgt, wie die Punkte auf dem Bildschirm plötzlich die Richtung wechselten und stetig steigend auf ihn zuhielten. Der Warnton in seinem Helm wurde immer höher und schriller.

Er beugte sich nach links und starrte in die Tiefe, suchte das blaue Wasser und das braune Land nach verräterischen hellen Rauchspuren ab.

Ja, da war etwas. Unverwechselbar. Eine fahle Linie zeichnete sich über dem Erdboden ab, hinterlassen vom heißen Triebwerk einer AIM-7 Sparrow, die gerade dabei war, die richtige Flugbahn zu berechnen, um möglichst viel Schaden anzurichten. Um nah genug heranzukommen, damit die Zünder an den Seiten der Rakete seine Maschine registrieren und den neunzig Pfund schweren Sprengkopf in einer zerstörerischen Welle aus Metallsplittern explodieren lassen konnten. Eine schlichte und tödliche Konstruktion, die ihm nun hartnäckig entgegenflog.

Grief legte drei Schalter um und machte sich bereit. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und seine Finger schlossen sich fester um den Gasgriff.

Konzentriert starrte er durch die dicke Plexiglasscheibe des Cockpits. Genau in dem Moment, als die Rakete ihm am nächsten war und er das Licht auf der Sparrow schimmern sah, die nun ebenfalls mit Überschallgeschwindigkeit heranraste, handelte er.

Seltsamerweise lag dabei ein Lächeln auf seinem Gesicht.

3

Tel Aviv, Israel

Es war das perfekte Strandwetter.

Vom Mittelmeer wehte ein sanfter Wind herein, und die Wellen brachen sanft am Strandufer. Der Himmel war strahlend blau, und das große Thermometer an der Mole zeigte bereits 28 °Celsius an. Kaz rechnete nach: zweiundachtzig Grad Fahrenheit. Angenehm. Außerdem war am Strand auch weniger los als sonst, was er sehr begrüßte. Es war der Tag vor Jom Kippur, dem letzten der Hohen Feiertage des Judentums, weshalb viele Menschen zu Hause geblieben waren, um den Festtag zu begehen.

»Möchtest du noch etwas trinken, Laura?«

Die Frau in dem gestreiften Liegestuhl wandte sich ihm zu. Ihr Gesicht war hinter der großen runden Sonnenbrille und dem ausladenden Strohhut kaum zu erkennen. Erfreut streckte sie ihm ihr leeres Glas entgegen.

»Klar doch! Noch eine Limonade wäre prima.«

Kaz tappte über den sich stetig erwärmenden Sand zur Strandbar des Hilton hinüber und holte die Getränke. Dabei blieb er kurz stehen und beobachtete, wie ein Drachen mit langem Schwanz über den Himmel tanzte. Unten am Strand rannte ein Kind mit seinem Vater hektisch hin und her, um ihn in der sanften Brise in der Luft zu halten.

Als er zu Laura zurückkehrte, stellte er fest, dass sie ebenfalls den Drachen musterte. Lächelnd nahm sie ihr Glas von ihm entgegen. »Ich bin wirklich froh, dass wir hierhergekommen sind, Kaz.«

Er erwiderte ihr Lächeln, denn er empfand genauso. Kaz hatte Familie in Israel, entfernte Verwandte, die während des Krieges aus Litauen geflohen waren – doch weder dieses Land noch diese Menschen hatte er jemals kennengelernt. Also hatten Laura und er sich ein Auto gemietet und waren über die engen Straßen gekurvt, um Cousins und Cousinen zweiten Grades und alte Tanten zu besuchen, die ihn Kazimieras nannten und lächelnd zuhörten, wie er mit seinen spärlichen Hebräischkenntnissen kämpfte, während sie sich mit ihm alte Fotoalben ansahen. Überall war ihnen starker Kaffee serviert worden, und sie hatten mit Pflaumengeist die neu entstandenen Familienbande begossen.

Dieser Urlaub war eine Belohnung für sie beide. Kaz und Laura arbeiteten im texanischen Houston und waren dort in die Apollo-18-Mission involviert gewesen, den letzten, schicksalhaften Flug zum Mond, den die NASA ausgerichtet hatte. Dabei waren sowohl amerikanische Astronauten als auch sowjetische Kosmonauten umgekommen – unter Umständen, die zum Schutz der nationalen Sicherheit geheim gehalten werden mussten. Und als die schier endlosen Nachbesprechungen und wissenschaftlichen Auswertungen endlich ein Ende fanden, hatten sie beide dringend eine Auszeit gebraucht.

Doch sie waren vor allem nach Israel geflogen, um Zeit miteinander zu verbringen. Inzwischen gingen sie seit fast acht Monaten miteinander aus, und als sie in New York die große, nagelneue El Al-Maschine bestiegen hatten, die sie nach Tel Aviv bringen sollte, hatte es sich angefühlt, als wäre das der nächste wichtige Schritt in ihrer Beziehung.

Kaz nippte an seinem Drink und beobachtete Laura, die noch immer den Flug des Drachens verfolgte. Ihr hochgewachsener, schlanker Körper war nur mit einem knappen weißen Bikini bedeckt, und unter ihrem Sonnenhut quoll ihr dichtes schwarzes Haar hervor. Noch nie hatten sie so viele Tage am Stück miteinander verbracht, und Kaz hatte jeden einzelnen davon genossen.

»Was ist das, Kaz?«, fragte sie plötzlich.

Sie zeigte auf eine Stelle knapp oberhalb des Drachens. Blinzelnd versuchte Kaz, trotz der grellen Sonne etwas zu erkennen, und sein gesundes Auge begann wegen der Helligkeit zu tränen. Während seiner Zeit als Testpilot der Navy hatte er sein linkes Auge durch einen Vogelschlagunfall verloren. Nun erkannte er einen hohen, schnurgeraden Kondensstreifen, der sich schnell die Küste entlangbewegte, allerdings nicht das Flugzeug, das ihn erzeugte.

Als Laura bemerkte, in welche Richtung er blickte, korrigierte sie ihn: »Nein, da drüben. Du musst etwas tiefer schauen.«

Dort zog sich kaum sichtbar eine zweite Linie durch das Blau, die sich in einem Bogen dem höher gelegenen Kondensstreifen näherte. Kaz suchte den Himmel ab, konnte aber nirgendwo einen Jet entdecken, der die Rakete abgeschossen hätte. Vermutlich eine F-4.

»Das scheint etwas Ernstes zu sein, Laura«, erklärte er ihr, während er weiter die beiden Streifen im Auge behielt. »Wahrscheinlich hat da eine israelische Phantom eine AIM-7 auf ein sowjetisches Spionageflugzeug abgeschossen. Eine MiG-25, würde ich schätzen.«

Auch wenn sie die nie erreichen wird, fügte er in Gedanken hinzu. Er hatte schon AIM-7-Raketen eingesetzt und wusste daher, wo die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit lagen. In Vietnam hatte sich dieser Raketentyp als große Enttäuschung entpuppt. Da will die israelische Luftwaffe den Russen wohl einen Schuss vor den Bug verpassen.

Nun kam hinter dem Kondensstreifen die Rakete in Sicht, die – automatisch gelenkt von kleinen, aerodynamischen Steuerschwänzen – aufstieg und ihren radargestützten Kurs auf das Ziel immer weiter korrigierte. Kaz zählte im Kopf die Sekunden, versuchte Höhe und Entfernung einzuschätzen. Wenn es zu keiner Explosion kam, bis er die zwanzig erreichte, hatte die Rakete ihr Ziel wohl verfehlt.

»Was siehst du da, Kaz?«

Er hob wortlos die Hand und bat sie so, zu warten, bis er fertig gezählt hatte.

Als er bei siebzehn war, stieß er einen unterdrückten Fluch aus. Der Kondensstreifen der MiG-25 war merklich dicker geworden, dann brach er ab.

Stirnrunzelnd drehte sich Kaz zu Laura um. »Wir müssen los«, verkündete er.

4

Östliches Mittelmeer

Katharina die Große war die Erste gewesen, die vor der Küste Israels russische Schiffe stationiert hatte. Von ihrer subarktischen Hauptstadt Sankt Petersburg aus hatte sie 1769 angeordnet, dass die russische Flotte durch die Meerenge von Gibraltar ins Mittelmeer vordringen sollte, um dort bei einer entscheidenden Landschlacht im Osten taktische Unterstützung zu leisten und letztlich den Sieg zu bringen.

Und an diesem Freitag im Oktober, zwei Jahrhunderte später, wurde Griefs Richtung Tel Aviv fliegende MiG-25 von einer Hochleistungsantenne auf einem sowjetischen Schiff mit dem Namen Krasny Krim erfasst, die das bekannte Radarsignal nun eifrig verfolgte.

Der großen MR-310 Angara-A-Radarantenne war es möglich, ein in 72000 Fuß Höhe fliegendes Flugzeug trotz der sichtbaren Erdkrümmung am Horizont im Blick zu behalten. Und so hörte sich der Kapitän der Roten Krim, der bisher sorgsam darauf geachtet hatte, sich nur in internationalen Gewässern zu bewegen, nun den Bericht seines Leitenden Technischen Offiziers an.

»Das Flugzeug bewegt sich in konstanter Nord-Süd-Richtung, Kapitän, in einer Höhe von zweiundzwanzig Kilometern und mit einer Geschwindigkeit von 825 Metern pro Sekunde.« Er warf noch einmal einen Blick auf seine Umrechnungstabellen. »Also Mach 2,8.«

Der Kapitän nickte. Eines von unseren, keine Frage. Abwägend trommelte er mit den Fingerspitzen auf der Kunstlederarmlehne seines Kommandostuhls herum. Auch die Seestreitkräfte waren den heiklen Katz-und-Maus-Spielen des Kalten Krieges unterworfen, und dafür brauchte man Geduld. Das sowjetische Mittelmeergeschwader umfasste 52 Schiffe und U-Boote, die aufgrund der arabisch-israelischen Spannungen bereits in Alarmbereitschaft versetzt worden waren. Ihnen gegenüber standen die 48 Schiffe der Sechsten Flotte der US Navy, darunter zwei Flugzeugträger. Eine Einsatzmöglichkeit, die der Sowjetunion fehlte.

»Wird es aktuell bedroht?«

»Da, Kapitän. Die Israelis haben wie üblich mehrere Kampfflugzeuge in der Luft.« Aufmerksam musterte der Offizier seine Anzeigen und suchte unter den aufleuchtenden Punkten nach Hinweisen. Ein Strom neuer Daten ging ein, als eine neue Dopplerwelle erschien. »Einer der israelischen Jets hat eine Rakete abgefeuert«, verkündete er gelassen. Bislang hatte noch keine Luft-Luft-Rakete je eine MiG-25 erreicht.

Der Kapitän blickte durch das große Seitenfenster Richtung Osten, konnte aber nichts erkennen außer Meer und Himmel. Nicht weiter überraschend, immerhin sind wir hundertfünfzig Kilometer entfernt. Er wartete ab.

»Hier gibt es eine Auffälligkeit, Kapitän.« Plötzlich klang die Stimme des Technikers beunruhigt.

Mehrere Sekunden vergingen. »Was ist es denn?«, hakte der Kapitän schließlich angespannt nach.

»Ich empfange nun zwei Signale, mit abrupter Verzögerung.« Stirnrunzelnd starrte der Offizier auf den Bildschirm, als wollte er ihm so bessere Daten abpressen. Andere Daten. »Und sie verlieren an Höhe, Kapitän.«

Er drehte sich zu seinem Vorgesetzten um.

»Ich glaube, die Israelis haben unser Flugzeug abgeschossen!«

5

Washington DC

Zehn Uhr morgens in Tel Aviv bedeutete vier Uhr morgens in Washington, weshalb Kaz nur mit der Nachtschicht verbunden wurde, als er eilig ein Ferngespräch zu Sam Phillips’ Büro anmeldete. Die männliche Stimme mit dem nuschelnden Michigan-Akzent klang monoton und gelangweilt.

»Andrews Air Force Base, United States Air Force Systems Command, bitte nennen Sie Ihren Namen und Dienstgrad.« Standardprotokoll der USAF: zunächst die Fakten.

»Hier spricht Commander Kazimieras Zemeckis, US Navy. Ich habe schon mit General Phillips zusammengearbeitet und muss ihm so schnell wie möglich etwas mitteilen.«

Pause. General Sam Phillips war der Big Boss. Eine solche Anfrage per Telefon zu stellen, war eher unüblich.

»Verstanden, Commander Zemeckis. Hier spricht Master Sergeant Henderson. Haben Sie Zugang zu einer sicheren Leitung?«

»Ich befinde mich in einem Hotelzimmer in Tel Aviv, Master Sergeant.« Kaz las Telefon- und Zimmernummer von der Wählscheibe des Apparats ab. »Bitte richten Sie dem General aus, dass es dringend ist. Ich wurde hier gerade Zeuge eines Luftkampfes.« Schon während Laura und er hastig ins Hotel zurückgekehrt waren, hatte sich Kaz die nächsten Schritte überlegt. »Ich werde die amerikanische Botschaft hier in Tel Aviv kontaktieren, es dürfte nicht länger als fünfzehn Minuten dauern, bis ich dort bin.« Bei einem ihrer Ausflüge hatte er das Botschaftsgebäude bemerkt und wusste daher, dass es nicht weit entfernt war.

»Das klingt gut, Commander. Bitte rufen Sie wieder an, wenn Sie dort sind. Bis dahin müsste ich über weitergehende Informationen verfügen.«

 

*

 

Laura fuhr ihn zur Botschaft. Als Kaz nicht sofort ausstieg, sondern sich erst noch zu ihr hinüberbeugte und sie küsste, wurde ihr klar, dass sie offenbar sehr besorgt aussah. »Ich rufe dich an, sobald ich hier fertig bin«, versprach er.

Sie blickte ihm hinterher, als er zu dem Uniformierten an der Tür hinüberging und ihm seinen Pass und seinen Navy-Dienstausweis entgegenstreckte. Der Marine prüfte beides gründlich, salutierte dann und drückte auf einen Knopf. Die Tür der Botschaft öffnete sich, und Kaz ging hinein.

Während sie losfuhr und sich umdrehte, um mit einem U-Turn wieder Richtung Hilton zu fahren, fluchte Laura laut. »Verdammt!« Es wurde ständig über Konflikte in Israel berichtet, was sie zunächst vor dieser Reise hatte zurückschrecken lassen. Und ganz bestimmt hatte sie nicht gewollt, dass ihr erster gemeinsamer Urlaub sich so entwickelte.

Seufzend beschleunigte sie auf der schmalen Straße. Aber was soll man schon anderes erwarten von einem Mann, der sich immer sofort auf die nächste Krise stürzt?

 

*

 

Kaz musste mehr als eine drängende Erklärung vorbringen, um sich die botschaftsinterne Befehlskette hinaufzuarbeiten, sodass er besorgt auf seine Uhr sah, als ein Mitarbeiter ihn schließlich in einen gesicherten Raum führte, ihm einen übergroßen Telefonhörer in die Hand drückte und eine Nummer wählte. Es war bereits 10:45 Uhr. Nach einer Reihe von Klicklauten und Störgeräuschen hörte er schließlich wieder die Stimme von Master Sergeant Henderson – durch die Verschlüsselung leicht verzerrt, dafür wesentlich weniger gelangweilt als beim ersten Mal.

»General Phillips erwartet Ihren Anruf bereits, Commander. Ich stelle Sie jetzt durch.« Wieder drangen leise Geräusche an Kaz’ Ohr, gefolgt von einem Freizeichen. Dann zeigte ein scharfes Klicken an, dass der General abnahm.

»Guten Morgen, Kaz. Wie ich höre, sind Sie in Israel.« Obwohl die ausdrucksstarke, ruhige Stimme irgendwie künstlich klang, war sie noch immer unverkennbar.

»Jawohl, Sir. Bitte entschuldigen Sie die frühe Störung. Ich mache hier gerade Urlaub, habe aber vor knapp einer Stunde am Strand von Tel Aviv etwas beobachtet, das für Sie und Washington von Interesse sein dürfte.« Dann beschrieb er genau, was er gesehen und wie er das Geschehen eingeschätzt hatte.

Phillips war früher der Leiter der National Security Agency gewesen. Nachdem ein Vogelschlag Kaz ein Auge gekostet und seiner Karriere als Testpilot ein Ende bereitet hatte, war er von Phillips abgeworben worden und hatte für ihn im Bereich Elektrooptik und Höhenaufklärung gearbeitet. Auf seinem erst kürzlich angetretenen Posten als Leiter des USAF Systems Command war Phillips nun für die Erforschung und Entwicklung sämtlicher neuen Waffensysteme der US Air Force und ihrer Abteilung für die Überwachung ausländischer Technologien verantwortlich. Die MiG-25 Foxbat galt hier noch immer als eine der größten Bedrohungen von sowjetischer Seite.

Nun stieß der General einen leisen Pfiff aus. »Definitiv ein hinreichender Grund, um mich wecken zu lassen, Kaz.« Er hielt kurz inne und dachte nach. Phillips war im Zweiten Weltkrieg selbst Kampfpilot gewesen. »Haben Sie anschließend Rauchentwicklung oder Zeichen gesehen, die auf einen Absturz hindeuten?«

»Nein, Sir, allerdings könnte sie einfach weit draußen im Wasser gelandet sein, oder ein ganzes Stück weiter landeinwärts. Die Foxbat erreicht Höhen über siebzigtausend, das ist ein ganz schön langer Weg nach unten.« Er unterbrach sich kurz, fügte dann aber noch hinzu: »Und ich habe auch keinen Fallschirm gesehen.«

»Ich werde meine Kontakte bei der israelischen Luftwaffe aktivieren und Washington die Neuigkeiten zum Frühstück servieren. Falls Israel eine Möglichkeit gefunden hat, die MiG-25 vom Himmel zu holen, müssen wir das wissen. Und falls sich unter den Wrackteilen irgendetwas Interessantes findet, will ich es sehen.« Phillips verlangte weiter: »Geben Sie mir die Kontaktdaten Ihres Hotels.« Nachdem er sie aufgeschrieben hatte, fragte er zögernd: »Möglicherweise müssen Sie sich die Sache vor Ort für mich ansehen, Kaz. Hätten Sie Zeit dafür?« Obwohl es als Frage formuliert war, kam das einem Befehl gleich.

»Jawohl, Sir. Mit den Verwandtenbesuchen hier bin ich durch, und wir hatten sowieso nur noch ein paar Tage Strandurlaub geplant. Bei Bedarf kann ich meinen Aufenthalt auch verlängern.«

»Gut. Vermutlich wird mir das State Department die Angelegenheit zwar ziemlich schnell aus den Händen reißen, aber ich melde mich wieder.«

6

Kommandozentrale der israelischen Luftwaffe

Die Luftwaffe hatte ganz nach Vorschrift auf den Eindringling am Himmel reagiert.

Sobald die MiG-25 in den israelischen Luftraum eingedrungen war, hatte die für die nördlichen Regionen zuständige Luftabwehrtechnikerin sie auf ihrem grün-schwarzen Radarbildschirm erfasst, ihre absehbare Richtung und Fluggeschwindigkeit berechnet und sie mit einer feindlichen Kennnummer versehen, um anschließend sofort die IAF-Operationsbasis bei Tel Aviv zu informieren. Darauf bekamen zwei F-4 Phantom, die gerade nördlich der Stadt in großer Höhe auf Patrouillenflug waren, von ihrem taktischen Lotsen sofort eine entsprechende Einweisung. Sie wendeten und stiegen auf, um das Radarsignal zu erfassen, und brachten sich mithilfe ihrer Nachbrenner in einen günstigen Winkel zum Raketenabschuss. Der Feuerbefehl folgte umgehend, sodass der führende F-4-Pilot im perfekten Moment den Auslöser an seinem Steuerknüppel drücken und »Fox One, Fox One, Fox One« melden konnte, während er zusah, wie die radargesteuerte Sparrow unter seinem Flügel hervorglitt und in einer steilen Kurve in den Himmel über ihm aufstieg.

Im abgedunkelten Kontrollraum verfolgte der taktische Lotse der F-4 auf seinem Radar die Flugbahn der Hochgeschwindigkeitsrakete. Seit das erste Mal eine MiG-25 über Israel hinweggeflogen war, hatte das gesamte Luftwaffenentwicklungsteam an einer Möglichkeit gearbeitet, sie vom Himmel zu holen, bisher aber ohne Erfolg. Nun beobachtete er, wie sich die beiden Punkte auf seinem Bildschirm immer weiter annäherten, und zählte lautlos, während er Geschwindigkeit und Flughöhe abschätzte. Auch jetzt rechnete er mit einem Fehlschlag, da es einfach nicht im Bereich des Möglichen lag, mit dieser Rakete einen Treffer zu erzielen.

Diesmal aber kam es anders.

Wo er eben noch zwei Punkte gesehen hatte, waren plötzlich drei. Die Geschwindigkeitsmesswerte des russischen Jets fielen rapide ab, und der Lotse beobachtete verblüfft, wie die zwei Signale in die Tiefe stürzten. Mit dem Fuß betätigte er den Sendeknopf, während er den Bildschirm gleichzeitig so drehte, dass er seine maximale Schärfe erreichte.

»Kurnas, ich sehe einen möglichen Treffer. Was sehen Sie?«

In beiden Jets hatten sowohl die Piloten vorne als auch die Waffenoffiziere hinten angestrengt nach oben gestarrt.

»Wir haben keine Explosion gesehen, aber der Kondensstreifen der MiG ist abgerissen«, meldete der führende Pilot und holte sich schnell die Rückversicherung seines Hintermannes. »Auf dem Bildschirm sieht es so aus, als würde sie abstürzen, wir versuchen Sichtkontakt für visuelle Bestätigung herzustellen.« Während er die Verfolgung aufnahm, warf er einen Blick auf die Treibstoffanzeige. »Der Sprit wird knapp, beende Nachbrenner.« Er zog die Gashebel zurück, da die Treibstoffmenge einen kritischen Punkt erreicht hatte, der es ihnen nicht länger erlaubte, Manövergeschwindigkeit zu fliegen. »Aber für einen kurzen Blick sollte es noch reichen.«

»Verstanden, Kurnas, melden Sie, was Sie sehen.« Einer Eingebung folgend, fügte der Lotse hinzu: »Sagen Sie Bescheid, falls Sie einen Fallschirm sehen.«

Die beiden Phantoms flogen Richtung Westen aufs Meer hinaus und näherten sich der Signalquelle. Die Besatzung hielt angestrengt Ausschau.

»Wir haben sie! Elf dreißig links, unter uns, fällt stark ab.« Der Führungspilot korrigierte seinen Kurs und ließ den Bug absinken, um noch näher heranzukommen. »Sie scheint größtenteils intakt zu sein, aber buglastig.« Hastig sah er sich nach der zweiten Signalquelle um, konnte aber nichts finden. Er warnte seinen Wingman: »Komme von rechts rein, dann hochziehen und runterstoßen, Abfangkurs.« Er ließ seine Phantom aufsteigen, drehte sie und schätzte die Relativbewegung ab, um anschließend abrupt herabzustoßen. »Nähere mich.«

Der Lotse beobachtete, wie die zwei Punkte auf seinem Bildschirm verschmolzen; die zweite Phantom blieb auf Abstand und in Schussposition. Krampfhaft unterdrückte er den Drang, nachzufragen, was die Männer dort sahen; er musste sie ihre Arbeit machen lassen und malte sich stattdessen aus, was geschah.

Endlich erstattete der Pilot Bericht.

»Okay, die MiG scheint intakt zu sein, Cockpit unbeschädigt, ich kann den Piloten sehen. Er rührt sich nicht, und wir sinken weiter.« Mit einem Blick auf seine Instrumente schätzte er Geschwindigkeit und Höhe ab. »Ich muss bald hochziehen.«

»Verstanden. Bleiben Sie so lange auf Position, wie der Treibstoff es zulässt.« Falls die MiG ins Meer stürzte, mussten sie so schnell wie möglich Boote hinschicken, um möglicherweise nützliche Wrackteile zu bergen.

»Moment, die MiG hat sich gefangen!«, meldete der Pilot überrascht. Durch die g-Kräfte in der F-4 leicht gepresst fügte er hinzu: »Ich hänge mich an sie dran. Der Pilot hat die Maschine neu ausgerichtet, er fliegt jetzt Richtung Küste!«

Tausend Gedanken schossen dem Lotsen durch den Kopf. Was hat diese MiG vor? Sein Vorgesetzter hatte das Ganze vom Kontrollzentrum aus verfolgt und schaltete sich nun ein: »Kurnas, ist die MiG bewaffnet?«

So weit hatte der Pilot auch schon gedacht. »Unter den Flügeln und am Rumpf ist nichts zu sehen – sie ist sauber.« Er beschleunigte ein wenig, um sich dichter heranzuschieben. Ist der Pilot auf Kamikazemission und hat es auf ein Ziel am Boden abgesehen?

Mit drängender Stimme befahl der Vorgesetzte: »Machen Sie Ihre AIM-9 scharf und warten Sie auf den Befehl zum Abschuss.«

Auf dem Rücksitz der Phantom hatte der Waffenoffizier bereits die Triebwerke der MiG als Wärmequelle eingegeben und meldete nun ruhig: »Roger, Ziel ist eingegeben, sind schussbereit.«

Auf den Bildschirmen in der Kommandozentrale wurde der neue Kurs der MiG immer klarer erkennbar. Der leitende Offizier sprach es schließlich aus: »Das sieht so aus, als wollte er zum Flughafen in Lod! Vielleicht ein Tieffliegerangriff, oder er will sie dort zum Absturz bringen. Sobald Sie feindliche Aktivitäten bemerken, schießen Sie.«

Wieder prüfte der Pilot seine schwindenden Treibstoffreserven. »Abschussbefehl erteilt, verstanden.«

Überraschend groß tauchte die MiG plötzlich in seinem Cockpitfenster auf, sodass er den Gashebel ruckartig zurückschieben und mit dem Daumen die Luftbremsen aktivieren musste, um einen Zusammenprall zu vermeiden. Dann öffneten sich die Fahrwerksklappen des sowjetischen Jets, und die Räder wurden ausgefahren.

»Er hat das Fahrwerk ausgefahren! Die MiG setzt zur Landung an, auf Landebahn Null-Acht in Lod!«

7

Israelischer Luftraum, westlich von Tel Aviv

Schockwellen sind launisch.

Solange die MiG-25 Foxbat von ihren riesigen Nachbrennern getrieben durch die dünne Höhenluft geschossen war, hatte sie beinahe dreifache Schallgeschwindigkeit erreicht und eine Meile in zwei Sekunden zurückgelegt. Ein Beobachter in einem hoch fliegenden Ballon hätte den Jet nicht gehört. Erst nachdem er vorbeigeflogen gewesen wäre, hätte der Lärm von Wind und Triebwerken eingesetzt, den er wie eine ohrenbetäubende Woge hinter sich herzog.

Und angeführt wurde diese Woge von dem unsichtbaren Hammerschlag der Schockwelle. Was dem Ballonfahrer als Überschallknall in den Ohren gedröhnt hätte, war die Druckveränderung, bei der sich die angestaute Energie auf einen Schlag entlud.

Aber die mächtigen Triebwerke der MiG brauchten eine Mischung aus Luft und Treibstoff, um auf Temperatur zu kommen, und diese Luft musste bei Schallgeschwindigkeit abgebremst werden, bevor sie die Motoren erreichte, da sie sonst das Feuer im Inneren erstickte. Die sowjetischen Ingenieure der Tumansky-Entwicklungsabteilung OKB-300 in Moskau hatten sorgsam an den riesigen eckigen Lufteinlässen gefeilt und sie im Windkanal der Fabrik getestet. Dabei fanden sie heraus, dass die Schockwelle, wenn man die scharfe Metallkante genau richtig ausrichtete, kontrolliert und vor dem Triebwerk gehalten werden konnte, sozusagen als Schutzschicht gegen den heulenden Wind. Im Inneren der Lufteinlässe brachten sie eine Metallrampe an, die sich automatisch möglichen weiteren Schockwellen anpasste und die Luft weiter entschleunigte und dadurch verdickte. Wenn sie dann die rotierenden Blätter des ersten Triebwerkskompressors erreichte, bewegte sich die Luft wesentlich langsamer als der Schall und war bereit für einen sauberen Verbrennungsprozess.

Zumindest bis Grief mit der linken Hand den Gashebel betätigte.

Genau davor hatten ihn seine Ausbilder während seiner Qualifikation zum Überschallfliegen gewarnt. Abrupte Veränderungen der Hebelposition bei Mach-Geschwindigkeiten verlangten den träge arbeitenden mechanischen Lufteinlässen möglicherweise mehr ab, als sie leisten konnten. Dadurch konnte es zu einer Verlagerung der sorgsam kontrollierten Schockwellen kommen, sodass die komprimierte Luft im Inneren der Triebwerke falsch zündete und nach vorne ausgestoßen wurde, wodurch der Kompressor ins Stocken geraten und die Rotorblätter so starken Schwingungen unterworfen werden konnten, dass sie in einem wirbelnden Sturm der Selbstzerstörung auseinanderbrachen.

Seit Iwan Fjodorow 1948 das erste Mal die Schallmauer durchbrochen hatte, wurde diese Lektion allen sowjetischen Kampfpiloten immer wieder eingetrichtert: Wenn du mit Überschallgeschwindigkeit fliegst, musst du sorgfältig mit deinen Hebeln umgehen, sonst passieren schlimme Dinge.

Und trotzdem riss Grief, als die israelische Rakete seiner Einschätzung nach nah genug herangekommen war, beide Gashebel der Maschine bis zum Anschlag zurück.

Sofort wurde er nach vorne geschleudert, und trotz der dämpfenden Schichten von Helm und Kopfhörer hörte er ein wiederholtes tiefes Wummern, mit dem die Kompressoren ihren Protest kundtaten. Der Schleudersitz unter ihm vibrierte, als sich die ganze Maschine gegen diese Misshandlung aufbäumte. Ohne weiter darauf zu achten, drückte er seinen Rücken wieder gegen die Lehne, um sich Halt zu verschaffen, dann streckte er die rechte Hand aus, schob eine rote Schutzkappe zurück und drückte den darunter verborgenen Knopf.

Für ausgedehnte Spionageflüge entlang der ägyptischen Grenze konnte die Foxbat in ihren internen Tanks nicht genügend Treibstoff mitführen. Deshalb war an der Rumpfunterseite ein großer, an beiden Seiten spitz zulaufender Zylinder angebracht worden, aus dem zusätzlicher Treibstoff eingespeist werden konnte. Als Grief nun den Knopf drückte, löste er damit für den Notfall vorgesehene kleine Sprengladungen aus, die den externen Tank von der Maschine abstießen. Aus den so hastig durchtrennten Schläuchen quoll eine feine weiße Qualmspur, als der Tank kopfüber in die Tiefe stürzte.

Hoffentlich reicht das aus, um ihr Radar zu täuschen. Und jetzt flieg die Kiste, dachte Grief.

Er prüfte Geschwindigkeit und Höhenmesser. Die Maschine hatte sich in der oberen Atmosphäre bereits auf ein Tempo verlangsamt, bei dem sie sich kaum noch fliegen ließ, weshalb er nun langsam den Steuerknüppel nach vorne schob und den Bug absenkte, während er gleichzeitig beschleunigte. Durch seine Testflüge hatte er genug Erfahrung gesammelt, um mit einiger Sicherheit davon ausgehen zu können, dass die Triebwerke die abrupte Bremsung aushalten und die beiden großen Seitenflossen dafür sorgen würden, dass er sich gerade in der Luft hielt; doch den schweren Jet nun wieder unter Kontrolle zu bringen, erforderte einige Raffinesse. Und so hielt er den Bug der Maschine gesenkt, bis er sicher war, wieder stabil in der Luft zu liegen.

Mit einem Blick nach links musterte Grief die israelische Küstenlinie. Von hier aus konnte er außer dem blau schimmernden Mittelmeer gerade noch einen schmalen sandfarbenen Strand und das bräunlich-grau gesprenkelte Tel Aviv ausmachen.

Er brauchte einen Landeplatz. Und zwar schnell.

Während früherer Überflüge hatte er sich Israel von oben angesehen und dabei ein Dreieck aus großen Landebahnen an einem zentralen Flughafen in der Nähe von Tel Aviv entdeckt. Er schien sowohl militärisch als auch zivil genutzt zu werden; auf dem Vorfeld waren mehrere Jets geparkt, und es gab einige große Hangars.

Bei einem von denen werden die Türen schon offen sein.

Er verlor immer mehr an Höhe. Inzwischen hatte ihn das israelische Luftabwehrsystem erfasst, und das Radarwarnsignal kreischte in seinem Kopfhörer. Er ließ die große Maschine weiter sinken, drehte sie aber noch nicht Richtung Küste, da er so harmloser zu wirken hoffte. Als er beinahe vertikal die Fünftausendmetermarke passierte, hielt er den richtigen Zeitpunkt für gekommen. Er schob den Knüppel nach links und zog, um die Maschine auf die längste der anvisierten Landebahnen auszurichten, die in Ost-West-Richtung verlief.

Dabei ging er im Kopf die größten Risikofaktoren durch: Würden die Israelis ihn mit Boden-Luft-Raketen beschießen? Würde es ihm gelingen, dem restlichen Flughafenverkehr aus dem Weg zu gehen? Wehte der Wind direkt über dem Boden zu stark oder aus der falschen Richtung, kam er vielleicht zu schnell rein. Würde die Länge der Landebahn dann ausreichen? Alle drei Szenarien hatte er im Vorfeld durchgespielt und alles versucht, um das Risiko so weit wie möglich zu minimieren. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Grübeleien. Jetzt muss ich auf das reagieren, was tatsächlich geschieht. Und mich als herausragender Flieger beweisen.

Schon bei mehreren Flugtests hatte er Maschinen mit beschädigten Triebwerken geflogen, die im Landeanflug nicht mehr zuließen als einen kontrollierten Gleitflug mit anschließendem Bodenkontakt, ohne Aussicht auf einen zweiten Versuch. Heute bestand seine beste Option seiner Meinung nach darin, Höhe und Geschwindigkeit visuell abzuschätzen und daraus abzuleiten, an welcher Stelle er aufsetzen würde. Da er den Triebwerken bereits eine Menge zugemutet hatte, wollte er sich nicht darauf verlassen müssen, dass sie den Anflug stützten oder verlängerten. Nur, wenn es unbedingt sein musste.

Grief nickte entschlossen. Das Tempo, in dem die Häuser von Tel Aviv unter ihm größer wurden, fühlte sich vertraut an, was ein schneller Blick auf Höhen- und Geschwindigkeitsmesser bestätigte. Pakah vsyo horashow.

So weit, so gut.

 

*

 

»El Al Zero Two, wir schicken Sie auf Ten Back, kein weiterer Verkehr, Wind two-four-zero bei one-six, Höhe one-zero-one-three-point-two. Landeerlaubnis erteilt für Bahn two-six«, gab der Lotse des Flughafens in Lod gelassen durch. Das schöne Wetter und die vertraute Szenerie vor den Fenstern seines Lotsenturms wirkten entspannend auf ihn.

»Tel Aviv Tower, El Al hat verstanden, Freigabe für Landebahn two-six.« Da der Wind mit einer Geschwindigkeit von sechzehn Knoten vom Mittelmeer hereinwehte, spürte der Kapitän der Boeing 747, wie seine große Maschine leicht ruckelte. Lächelnd nahm er es zur Kenntnis. Nach dem eintönigen Vierzehnstundenflug von New York hierher ließen die leichten Stöße die Maschine unter seinen Händen nun wieder zum Leben erwachen. Er prüfte die Anzeigen des Landesystems, die ihm seinen Sinkweg zur Landebahn verrieten, und blickte dann wieder nach vorne, um das zweihundert Tonnen schwere Flugzeug mit seinen vierhundert Passagieren möglichst sanft auf der zwölftausend Fuß langen Landebahn aufzusetzen. Das Fahrwerk hatte er bereits ausgefahren, und der zusätzliche Luftwiderstand ließ die Maschine rumpeln.

Plötzlich meldete sich der Tower wieder: »El Al Zero Two, durchstarten! Ich wiederhole: durchstarten!«

Stirnrunzelnd sah der Kapitän zu seinem Co-Piloten hinüber, doch er schob die vier Gashebel nach vorne und wartete ab, bis Höhe und Geschwindigkeit ausreichten, um das Fahrwerk wieder einzuziehen. Der Co-Pilot setzte die Landeklappen zurück und funkte dann den Tower an: »El Al Zero Two ist durchgestartet.«

»Tower bestätigt, El Al Zero Two, Linkskurve auf two-three-zero, aufsteigen bis fünftausend.« Leicht verspätet erklärte der Lotse den Grund für den Abbruch: »Uns wurde ankommender Gegenverkehr gemeldet, anscheinend soll auf zero-eight eine Notlandung vorgenommen werden. Tut uns leid, dass es erst in letzter Minute reinkam, aber die funken auf einer anderen Frequenz.«

Die vier Personen im Cockpit der 747 spähten angestrengt nach rechts, während der Kapitän die Maschine nun nach links zog; alle suchten nach dem Störenfried. Der Co-Pilot entdeckte ihn als Erster und meldete: »Haben den Gegenverkehr gesichtet, Tower, El Al Zero Two außer Reichweite.« Mit der rechten Hand zeigte er auf den kleinen silbernen Umriss. »Sieht aus wie ein Kampfjet, und er kommt verdammt schnell rein.«

Alle fuhren herum, als die Maschine sich näherte; der Kapitän wich aus, indem er die Boeing seitlich wegneigte, bevor er sie wieder stabilisierte. »Was war das?«, fragte er schließlich. Die Piloten hatten alle in der israelischen Luftwaffe gedient und versuchten nun, diesen so unerwartet auftauchenden Jet zu identifizieren.

Der Co-Pilot hatte den besten Blickwinkel.

»Der Jet hat zwei Seitenflossen! Ich glaube, das ist eine MiG-25!«

 

*

 

Grief sah, wie der Jumbojet die Richtung änderte und nach oben auswich. Bis jetzt war er möglichst schnell geblieben, um der denkbar nervösen Luftabwehr nur kurz ein Ziel zu bieten. Nun aber fuhr er das Fahrwerk und die Landeklappen aus. Der Gashebel befand sich im Leerlauf, und er schob nun den Bug Richtung Boden, um vor der Landebahn noch einmal Tempo rauszunehmen. Die andere Maschine hätte in der entgegengesetzten Richtung landen sollen, daher wusste er, dass er Rückenwind haben würde, was die Geschwindigkeit bei der Landung weiter erhöhte. Hier waren die Räder der Schwachpunkt; er konnte nicht riskieren, dass die Gummireifen während der Landung zerfetzt wurden. Er glitt tief über einige Straßen und Felder hinweg, dann blitzte unter ihm der Stacheldrahtzaun auf, der das Flughafengelände umgab. Kurz sah er die riesige 08 auf der Landebahn vorbeigleiten, während er versuchte, die Maschine abzufangen; noch immer war sie viel zu schnell. Mühsam hielt er den Jet knapp über dem Boden, zwang ihn, langsamer zu werden. Seine linke Hand wanderte zu dem Griff, der den Bremsschirm auslöste.

Die Kontrollschilder neben der Landebahn zeigten an, dass ihm noch fünftausend Fuß blieben, die er auch voll und ganz ausnutzen würde.

Jetzt, entschied er. Indem er den Druck auf den Hebel verringerte, ließ er die Maschine den letzten Meter bis zur Landebahn absinken. Gleichzeitig aktivierte er die Luftbremse und den Bremsschirm. Der Massenträgheit unterworfen, schlingerte die Maschine hin und her, der Bug wurde erst nach links, dann nach rechts gedrückt, während sich der kreuzförmige Bremsschirm entfaltete und mit einem Knall spannte. Grief packte den Bremshebel fester, versuchte, nicht ins Rutschen zu geraten. Sobald er spürte, dass er die Kontrolle zurückgewann, zog er an. Viel zu schnell kam das Ende der langen Landebahn auf ihn zu, aber er hatte sich nicht verschätzt: Als die Bahn in einer weiten Rechtskurve auslief, hatte er bis auf hohe Rollgeschwindigkeit heruntergebremst. Vorsichtig betätigte er das rechte Ruderpedal, und der Jet reagierte, wenn auch träge. Kurz schaukelte er wie eine Schubkarre, geriet aber nicht außer Kontrolle.

Zufrieden atmete Grief auf. Und jetzt parken, und zwar schnell.

Zu seiner Rechten sah er mehrere Maschinen auf einer breiten Betonfläche, dahinter ragten einige Hangars auf. Die Tore des ersten waren geöffnet, und Grief konnte sehen, dass dort gerade ein Flugzeug gewartet wurde. Er richtete die MiG genau auf das offene Tor aus und drückte gegen den Gashebel – diesen einen Gefallen musste er dem Triebwerk noch abverlangen. Das Pfeifen der Motoren wurde lauter, und er spürte den leichten Druck, als die Maschine auf maximale Rollgeschwindigkeit beschleunigte.

Mit einem Ruck verfing sich der Wind im Bremsschirm und zerrte ihn zur Seite. Durch einen filigranen Tanz auf den Pedalen versuchte Grief, die Maschine mithilfe der Seitenruder, der Bugradsteuerung und der Bremse auf Kurs zu halten. Solange es ging, behielt er seine Geschwindigkeit bei und glitt diagonal über den betonierten Platz, dann schob er den Gashebel in den Leerlauf und betätigte die Handbremse. Als der Jet ins Halbdunkel des Hangars eintauchte, lenkte er ihn auf einen freien Platz neben der bereits dort geparkten Maschine. Dann schob er die Schutzklappen hoch, schaltete die Drosselung ab, und der Jet stand.

Für den Moment war er in Sicherheit, verborgen vor neugierigen Blicken hier auf der Erde – und vor im All vorbeiziehenden Satelliten.

Nun wurde es Zeit, die Hände zu heben, aus der sich langsam abkühlenden Maschine zu steigen und die Israelis davon zu überzeugen, dass sie einen möglichst überzeugenden Flugzeugabsturz fingieren sollten.

8

Hauptquartier der israelischen Streitkräfte, Tel Aviv

Golda Meir war besorgt.

Auch so war es schon einer der nervenaufreibendsten Tage ihrer langen politischen Karriere gewesen, an dem sie sich eine Zigarette nach der anderen angesteckt hatte. So ernst war die Lage während ihrer vier Jahre als Israels Premierministerin noch nie gewesen. Und offenbar sollte es sich schon bald dramatisch verschlimmern.

Noch einmal zog sie so lange und fest an ihrer Chesterfield ohne Filter, dass ihre weichen, mit feinen Fältchen überzogenen Wangen regelrecht einfielen. Neben einem rapiden Anstieg feindlicher Streitkräfte an Israels Grenzen hatte der Mossad außerdem berichtet, dass die Sowjets Transportmaschinen nach Syrien entsandt hatten, um ihr Botschaftspersonal samt Familien aus Damaskus zu evakuieren. Das letzte Mal war das kurz vor dem Sechstagekrieg geschehen, der nun sieben Jahre zurücklag.

Wenn sie sich das Ausmaß der Bedrohung vor Augen führte, der ihr Land nun ausgesetzt war, wurde ihr übel. Ich brauche Klarheit!, dachte sie, während sie auf einem Stuhl in der »Grube« Platz nahm, der tief unter der Erde gelegenen Einsatzzentrale der Regierung.

Fragend blickte Meir die versammelten Männer an.

»Mosche – was würdest du empfehlen?«

Mosche Dajan war ihr Verteidigungsminister: ein schlanker, langsam kahl werdender Kriegsveteran, der 1941 ein Auge verloren hatte, nachdem eine Kugel in Vichy sein Fernglas durchstoßen hatte und in seine linke Augenhöhle eingedrungen war. Mittlerweile verbarg er die hässliche Wunde unter einer schwarzen Augenklappe.

»Es ist alles in Ordnung, Golda«, versicherte er mit einem entspannten Lächeln, das rund um sein gesundes Auge kleine Fältchen in die Haut grub. »Die Araber spielen sich bloß auf und tun so, als wären sie noch echte Soldaten.« Syrien und Ägypten hatten auf den Golanhöhen im Nordosten und am Suezkanal im Südwesten verstärkt Truppen zusammengezogen. »Das sind ihre üblichen Militärübungen, die sie immer im Herbst abhalten, weil es dann bei ihnen nicht so heiß ist. Sie werden ein wenig mit den Schwertern rasseln, sich gegenseitig versichern, wie tapfer sie sind, und dann wieder nach Hause gehen.« Mit einem abfälligen Schnauben verzog er die Lippen, sodass seine schiefen Zähne aufblitzten. »So wie immer.«

Und warum spüre ich dann diese leise Panik in mir? Bedächtig schüttelte Meir den Kopf. Es war der Vorabend von Jom Kippur, dem heiligsten aller Tage, und ihr Land kam zur Ruhe. Bald wären alle zu Hause oder in der Synagoge. Das militärische Personal an den Grenzen war auf ein Minimum reduziert, und wenn sie jetzt die Reserve anforderte, würde sie einen hohen politischen Preis dafür zahlen. Vor allem, da am Monatsende Wahlen anstanden.

Ihr Generalstabschef Dado Elazar beobachtete sie aufmerksam. Wie die übrigen Männer hier im Raum gehörte er dem Militär an, hatte jedoch gelernt, auch auf ihre anders gepolte, sozusagen zivile Intuition zu vertrauen. Außerdem war sie der Boss. Er beschloss, ihr eine Alternative vorzuschlagen.

»Kriegsgetrommel hin oder her, Golda, unser Geheimdienst wird uns mindestens vierundzwanzig Stunden vor einem möglichen Angriff eine Warnung schicken. Aber wir könnten ja vorsichtshalber einen Teil der Reservisten mobilisieren. Und zwar jetzt sofort, bevor sich alle für Jom Kippur eingerichtet haben.«

Sie wich seinem Blick aus, da ihr klar war, was das bedeuten würde: Junge Männer und Frauen würden abrupt von ihren Familien und allen Festtagsplänen fortgerissen werden, in einem großen Durcheinander, dem eine ungewisse Bedrohung gegenüberstand. Im Mai hatten sie das schon einmal getan, als Reaktion auf Ägyptens Frühjahrsmanöver, und hatten auf der politischen Bühne ernsthaften Schaden davongetragen, da man das als unnötige Panikmache betrachtet hatte.

Ganz langsam stieß sie den Rauch aus, der ihr prompt in die Augen stieg, sodass sie blinzeln musste. Ein Tag Vorlaufzeit garantiert. Okay. Aber die Regierungsmitglieder werden dann alle zu Hause sitzen und nicht verfügbar sein.

Schließlich fällte sie ihren Entschluss und wandte sich, ohne auf Dajan einzugehen, an Elazar: »Vorerst unternehmen wir nichts, aber ich brauche eine Sondererlaubnis, um im Zweifelsfall ohne den üblichen Prozess die Reservisten mobilisieren zu können.« Sie deutete mit dem Kinn auf den Mann mit der Augenklappe. »Volle Befehlsgewalt nur für Mosche und mich.«

Elazar sah sich am Tisch um, stieß bei der versammelten Führungsspitze aber auf keinen sichtbaren Widerstand. »Ich werde einen Beschluss aufsetzen und unterzeichnen lassen.«

Golda dachte noch einen Schritt weiter. »Und ich möchte, dass die Amerikaner für uns die Sowjets in Schach halten. Schlimm genug, dass Breschnew unseren Feinden so viele Waffen liefert, da will ich auf keinen Fall auch noch russische Soldaten oder Berater an unseren Grenzen vorfinden. Lasst Kissinger die Bitte so schnell wie möglich zukommen, am besten durch den amerikanischen Botschafter. Wie hieß der neue noch gleich? Keating?«

Nickend streckte Elazar die Hand nach dem Telefonhörer aus, doch bevor er danach greifen konnte, begann der Apparat zu klingeln. Er hob ab, und Golda beobachtete, wie ihr Stabschef zunächst überrascht die Brauen hob, um sie dann skeptisch zusammenzuziehen. Seine Sitznachbarn lauschten konzentriert, während er hastig eine Reihe von Fragen stellte, aber Golda selbst saß zu weit weg, um alles zu verstehen.

»Was ist los, Dado?«, fragte sie deshalb ungeduldig, sobald er aufgelegt hatte.

Er sah sie an und antwortete voller Ungläubigkeit, aber laut genug, dass alle ihn hören konnten: »Am Flughafen von Lod ist ein syrischer Aufklärungsjet notgelandet, eine MiG-25.«

Stille senkte sich über den Raum, während alle versuchten, die Tragweite dieser Information zu erfassen. Die altgediente Politikerin Golda gewann das Rennen.

»Streicht den letzten Punkt! Dado, bestell mir diesen Keating ein, und zwar so schnell wie möglich!« Sie nahm einen letzten, tiefen Zug von ihrer Zigarette und hielt den Atem an, während sie den Stummel in ihrem übervollen Aschenbecher ausdrückte. Als sie fortfuhr, quoll der Rauch aus Mund und Nase hervor.

»Und schafft mir diesen Piloten her!«

9

Israel Aircraft Industries Hangar 4, Flughafen Lod

»Was zum …?«