The Haven (Band 3) - Tödlicher Feind - Simon Lelic - E-Book

The Haven (Band 3) - Tödlicher Feind E-Book

Simon Lelic

2,0

Beschreibung

Inmitten von London liegt er verborgen, versteckt vor den Erwachsenen: The Haven. Ein geheimer Zufluchtsort für Flüchtlingskinder, Straßenkids und Waisen – wie Ollie. Maddy Sikes ist zurück. Und sie hat nur ein Ziel: die Zerstörung des Haven. Falsche Terrorismusvorwürfe gegen Ollie und seine Freunde verbreiten sich wie ein Lauffeuer, überall im Land verschwinden Kinder. Als auch Lily von einer Mission nicht zurückkehrt, machen sich Ollie und das Ermittlungsteam sofort auf die Suche. Doch je näher sie ihr kommen, desto tiefer tappen sie geradewegs in eine lebensbedrohliche Falle … Skrupellose Gegner, überraschende Wendungen und eine Stadt im Lockdown: Ollie und seine Freunde müssen es in Band 3 von Simon Lelics rasanter Actionreihe The Haven für Jungs und Mädchen ab 12 mit niemand Geringerem als der britischen Regierung aufnehmen. Ein spannender Pageturner mit extraviel Nervenkitzel! Für Fans von Top Secret und Agent 21. Tödlicher Feind ist der dritte Band und der Abschluss der Actionreihe!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 388

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
2,0 (1 Bewertung)
0
0
0
1
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


FÜR BANJO.

(UND DIEANDERE

INHALT

Prolog

Zwei Wochen früher

1  Sitzkrieg

2  Staatsfeind

3  Rats-Dilemma

4  Alte Wunden

5  Böses Genie

6  Foulness Island

7  Sackgasse

8  Kollateralschaden

9  Schlimmster Albtraum

10  Morgengrauen

11  Rattenfänger

12  Das große Fressen

13  Geisterstadt

14  Geheimoperationen

15  Die Grube

16  Gefängnisausbruch

17  Schulausflug

18  Hochverrat

19  Enttäuschte Hoffnung

20  Sir Sebastian

PROLOG

Es blieb nicht viel Zeit.

Von dem zwanzigminütigen Zeitfenster, das Lily herausgeholt hatte, waren nur noch etwa sechs Minuten übrig. Wenn es ihr nicht gelang, das elektronische Schloss an ihrer Gefängnistür zu hacken, würde sie an diesem gottverlassenen Ort festsitzen – und das vielleicht für immer.

Allein der Versuch, auf die Kontrolleinheit der Tür zuzugreifen, hatte sie wertvolle Zeit gekostet, und sie war sich nicht sicher, welcher Stromkreis das Schloss entriegeln und welcher die Tür dauerhaft verschließen würde. Außerdem bestand die Gefahr, dass sie sich beim Berühren des freiliegenden Schaltkreises einen tödlichen Stromschlag verpasste, bevor sie es herausfinden konnte.

Als ihr auffiel, dass sie schwitzte – sowohl vor Nervosität als auch von der drückenden Hitze in ihrer Zelle –, wandte sie sich wieder der Bedientafel zu.

Oberer oder unterer Schaltkreis? Welcher würde die Tür öffnen und welcher würde sie verriegeln? Die Chancen standen fifty-fifty. Lily hielt ein kurzes Stück Draht, das sie aus der Gefängniswerkstatt hatte mitgehen lassen, in der Hand und führte es nervös zur Leiterplatte. Oben oder unten? Kopf oder Zahl? In Gedanken warf sie eine Münze und sah sie landen …

Zahl.

Sie bewegte den Draht in Richtung des unteren Schaltkreises, um einen Kurzschluss zu verursachen – doch im allerletzten Moment änderte sie ihre Meinung und entschied sich aus einem plötzlichen Bauchgefühl heraus für den oberen Schaltkreis. Da sie mit einem Stromschlag rechnete, zuckte sie zurück, sie spürte aber nur ein leichtes Kribbeln, das sich von den Fingerspitzen in die Handflächen ausbreitete. Es zischte, als die Leiterplatte durchbrannte, und dann folgte ein entschlossenes Klicken.

Die Tür blieb zu.

Lily fluchte. Statt sich zu befreien, hatte sie sich selbst eingeschlossen. Damit war ihr Ausbruchsversuch gescheitert. So viel zu ihrem Plan. Sie hatte es nicht einmal bis zum Gang vor ihrer Zelle geschafft – und das hätte eigentlich der leichte Teil sein sollen!

Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als auf die Rückkehr der im Korridor postierten Wärter zu warten, woraufhin es zu einer vollständigen Durchsuchung aller Zellen kommen würde. Sobald sie die beschädigte Bedientafel in Lilys Zelle entdeckten, war nicht abzusehen, was sie mit ihr anstellen würden. Sie schlagen, foltern, umbringen? Alles war möglich, denn das war kein gewöhnliches Gefängnis und die üblichen Spielregeln galten nicht. Lily war seit knapp zwei Wochen hier – zwölf Tage, laut der Einkerbungen, die sie in ihre Zellenwand geritzt hatte – und sie hatte bereits am eigenen Leib erlebt, wie brutal das Gefängnispersonal sein konnte.

Sie fluchte noch einmal und schlug mit der Hand gegen die Tür. Wütend auf sich selbst schloss sie die Augen, und als sie sie wieder öffnete, bemerkte sie, dass die Tür leicht offen stand. Sie schob ihre Überraschung beiseite, hakte die Finger um die Tür und versuchte, sie aufzuziehen. Die Tür bewegte sich nur wenige Millimeter, aber zumindest war das Schloss entriegelt worden. Sie hatte sich also doch für den richtigen Schaltkreis entschieden! Das Klicken, das sie gehört hatte, war offenbar das Lösen des Riegels gewesen. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass sie die Tür würde manuell öffnen müssen.

Mit aller Kraft zerrte Lily weiter, bis der Spalt so groß war, dass sie sich hindurchzwängen konnte. Sie streckte zuerst den Kopf nach draußen, voll und ganz darauf gefasst, Gefängnisdirektorin Bricknell zu sehen. Entweder sie oder einen der Gefängniswärter, die nicht nur mit Schlagstöcken, sondern auch mit elektrischen Viehtreibern bewaffnet waren.

Doch die Luft war rein.

Lily schlüpfte auf den Gang und stoppte nur kurz, um abzuschätzen, wie viel Zeit ihr bis zur Rückkehr der Wärter blieb. Bestimmt nicht mehr als ein paar Sekunden. Lily konnte den Tumult im Freizeitbereich zwei Ecken weiter hören. Das Feuer, das sie als Ablenkungsmanöver gelegt hatte, war vermutlich bereits gelöscht worden, aber mit ein bisschen Glück würde der Rauch noch etwas länger in der Luft hängen.

Noch während Lily lauschte, wurden die Stimmen der Wärter lauter, und das konnte nur eins bedeuten: Sie waren auf dem Rückweg.

Es war Zeit zu gehen.

Sie stürmte nach rechts, weg von dem Geräusch der sich nähernden Wärter. Das Gefängnis war ein Labyrinth aus Metallstegen und Treppenaufgängen, es glich dem Inneren einer futuristischen Industrieanlage. Da alle Ecken gleich aussahen, musste Lily sich sehr konzentrieren, um sich an die Folge von Abzweigungen zu erinnern, die sie sich gemerkt hatte.

Sie bog nach links, nach rechts, dann wieder nach links ab, vorbei an der nicht enden wollenden Reihe von Zelltüren. Das Gefängnis war riesig. Und es war völlig inoffiziell, dessen war sich Lily sicher. Ihre Inhaftierung hier konnte auf keinen Fall legal sein, genauso wenig wie die Behandlung der Häftlinge. Es war eine Art Geheimgefängnis, geleitet von … einer Spionagebehörde? Einem finsteren Privatunternehmen? Von der Regierung selbst?

Lily wusste es nicht. Da man sie vor ihrem Transport betäubt hatte, wusste sie noch nicht einmal, wo sich das Gefängnis befand. Ihrer Einschätzung nach war es ein unterirdisches Gefängnis, denn sie hatte seit ihrer Ankunft hier noch kein Tageslicht gesehen. Und wenn man etwas verstecken wollte, tat man es am besten unter der Erde. Als Ratsmitglied des Haven hatte Lily viel Zeit in der geheimen Stadt unter Londons Straßen verbracht, bevor man sie ihrer Freiheit beraubt hatte.

Sie ging um eine weitere Ecke – wenn sie richtig gezählt hatte, war das die letzte Abzweigung vor der wirklichen Herausforderung –, und eilte zur Klappe ganz am anderen Ende des Metallstegs. Dasselbe unablässig knirschende Geräusch, das sie seit ihrem ersten Tag im Gefängnis nahezu ohne Unterbrechung gehört hatte, umgab sie. Offenbar wurde es von den Metallverstrebungen übertragen, als wäre das Gefängnis ein riesiges Biest, das ununterbrochen vor Schmerz stöhnte. Auch wenn es nicht wirklich das Schlimmste am Gefängnisleben war, kam es psychischer Folter gleich, weil es einem das Schlafen und Denken erschwerte.

Als Lily die Klappe erreichte, wich das Knirschen einem schrillen elektronischen Kreischen. Der Alarm. Man hatte ihre Flucht entdeckt.

Jetzt würde die Jagd so richtig beginnen.

Lily hatte die Schrauben der Klappe bei den Vorbereitungen ihrer Flucht bereits gelockert, weshalb sie nur Sekunden brauchte, um die Metallabdeckung zu entfernen. Doch als sie einen ersten Blick hindurchwarf, stellte sie fest, dass der Lüftungsschacht noch enger war, als sie befürchtet hatte. Würde sie überhaupt hineinpassen?

Das erinnerte sie an die engen Tunnel, durch die sie hatte kriechen müssen, um den Verliesen unterhalb von Forest Mount zu entkommen – dem Herrenhaus, das in ein Internat umgewandelt worden war und mittlerweile den Haven beherbergte. Zumindest war dieser Schacht hier aus Metall, es bestand also keine Einsturzgefahr. Andererseits hatte sie beim letzten Mal nur ebenerdig kriechen müssen. Hier musste sie nach oben klettern.

Sie zwängte sich durch die Klappe. In dem metallenen Ventilationsschacht war es noch heißer als in ihrer Zelle und der gellende Alarm hallte gnadenlos vom Aluminium wider. Sie hatte nicht genug Platz, um nach unten zu greifen und die Abdeckung wieder zu befestigen. Die Wärter würden also problemlos herausfinden, wohin sie verschwunden war.

Aber für einen Rückzieher war es jetzt zu spät. Mit den Schultern gegen eine Seite des Schachts und mit Händen und Füßen gegen die andere gedrückt, schob sich Lily, so schnell sie konnte, vorsichtig nach oben. Sie kam qualvoll langsam voran. Als sie in die Dunkelheit über ihr blickte, konnte sie nicht einmal abschätzen, wie weit sie klettern musste. Das Gefängnis schien nur über zwei Ebenen zu gehen und Lily konnte sich nicht vorstellen, dass sich der tiefste Teil der Anlage mehr als fünfzig oder sechzig Meter unter der Erde befand.

So oder so, fünfzig Meter oder mehr waren eine verdammt lange Strecke, wenn man im Innern eines Metallschachts steckte, und keine kurze Distanz, sollte Lily abstürzen. Ihre Hände waren schweißnass und die Sohlen ihrer Gefängnisschuhe rutschten ständig ab. Nur ein kurzer Konzentrationsverlust und sie würde wie auf einer Wasserrutsche den ganzen Schacht wieder nach unten sausen – aber ohne Wasser, das ihren Sturz abfedern würde.

Als Lily nach unten sah, wurde sie von einem Lichtstrahl geblendet.

»Hier! Sie ist hier drin!«

Ein Wärter hatte offensichtlich die entfernte Abdeckung entdeckt und leuchtete mit seiner Taschenlampe den Ventilationsschacht hinauf.

»Na, dann zieh sie raus!«, war eine Stimme vom anderen Ende des Korridors zu hören, die, wenn Lily sich nicht irrte, Gefängnisdirektorin Bricknell gehörte. Die Frau hatte eine schrille, fiese Stimme, ebenso grell wie der kreischende Alarm.

»Geht nicht, sie …« Der Wärter versuchte, nach Lilys Fußgelenken zu greifen. »Sie ist zu weit oben. Und ich passe nicht hinein!«

»Aus dem Weg!«, blaffte die Direktorin.

Der Taschenlampenstrahl verschwand und in der abrupt zurückkehrenden Dunkelheit konnte Lily genauso wenig sehen wie im grellen Licht. Doch sie hörte nicht auf zu klettern. Ihrer Einschätzung nach hatte sie sich zwanzig Meter hinaufgeschoben, die Wärter konnten sie also nicht von unten zu fassen bekommen. Sie musste aber das obere Ende des Schachts erreichen, bevor Bricknell dafür sorgen konnte, dass an ihrem Ziel ein anderes Team von Wachen auf sie wartete. Angestrengt spähte sie nach oben und erhaschte einen Blick auf die Oberkante des Schachts. Allerhöchstens zehn Meter musste sie noch schaffen.

Plötzlich tauchte der flackernde Schein der Taschenlampe wieder auf und Lily erblickte kurz die Gefängnisdirektorin, die zu ihr aufsah.

»Den Viehtreiber«, knurrte die Direktorin jemanden hinter sich an. »Geben Sie ihn mir!«

Lily stutzte verwirrt. Einen dieser Elektroschocker hatte sie schon mehr als einmal zu spüren bekommen und ihr war nicht danach, die Erfahrung zu wiederholen. Aber was brachte ein gerade mal ein Meter langer Viehtreiber, wenn sie schon so weit oben war …

Die Erkenntnis traf Lily wie ein Hieb in den Magen. Der Schacht. Der Lüftungsschacht war aus Aluminium. Bricknell wollte das ganze Ding unter Strom setzen. Ein kurzer Stromschlag des Viehtreibers unten an der Tunnelwand und das Metall würde die elektrische Ladung geradewegs in Lilys Körper weiterleiten. Das allein würde sie nicht umbringen, der darauffolgende Sturz in die Tiefe jedoch mit Sicherheit.

Sie verdoppelte ihr Tempo und schlug jegliche Vorsicht in den Wind. Bis zur oberen Schachtkante waren es noch vier, fünf Meter, einfach zu weit. Lily würde sich auf keinen Fall rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Sie versuchte, noch einen Zahn zuzulegen, aber ihre Füße verloren den Halt und sie rutschte mindestens einen halben Meter nach unten, bevor sie sich wieder fangen konnte. Mit rasendem Herzen verfluchte sie ihre Ungeschicklichkeit und strengte sich verzweifelt an, die verlorene Höhe wiedergutzumachen.

Ein Knistern war zu hören und Lily sah die Gefängnisdirektorin ein zweites Mal zu ihr aufblicken, ihr Gesicht diesmal von den Funken eines Elektroschockers erhellt. Sie berührte die Metallwand mit der Stabspitze und drückte den Abzug.

Verzweifelt blickte Lily nach oben. Direkt über ihr war ein Metallgitter, das das Ende des Schachts anzeigte. Auch wenn sie nicht wusste, ob es direkt mit dem Schacht verbunden war, hatte sie keine andere Wahl.

Lily drückte sich mit den Füßen an der Tunnelwand ab und katapultierte sich aufwärts. So wie der Strom in ihren Fingerspitzen kribbelte, wusste sie, dass sie gerade rechtzeitig losgelassen hatte.

Sie hakte die Finger um das Metallgitter und einen Moment lang war Lily überzeugt, dass sie dennoch von dem Stromschlag getroffen werden würde. Aber Gitter und Schacht waren offenbar voneinander isoliert, denn Lily spürte lediglich das Drahtgeflecht, das ihr schmerzhaft in die Finger schnitt.

Frustriertes Brüllen und lautes Scheppern drangen zu ihr nach oben, als die Gefängnisdirektorin den Viehtreiber von sich schleuderte.

Lily klammerte sich weiter fest, dankbar für das Fitnessprogramm, das ihre Freundin Song für alle Mitglieder des Haven-Rats entworfen hatte: einen täglichen Trainingsplan mit Liegestützen, Sit-ups und Klimmzügen – so viele wie möglich, bis man umfiel. Zuerst hatte Lily, wenn überhaupt, nicht mehr als einen Klimmzug geschafft, doch in den vergangenen zwei Monaten hatte sie ihre persönliche Bestleistung auf fünfzehn verbessert. Und das war auch ganz toll, nur hatte sie noch nie einen Klimmzug lediglich mit den Fingerspitzen machen müssen – wenn der geringste Ausrutscher zu ihrem sicheren Tod führen würde.

Während sie sich daran erinnerte, wuchtete sie sich so weit nach oben, dass sie die Fersen zur Öffnung des Lüftungsschachts schwingen konnte, der unterhalb des Gitters einen Knick machte und dann parallel zum Boden weiterverlief. Der Schacht war an dieser Stelle breiter, und als sie mit den Beinen sicher im Innern war, hatte sie Platz genug, um sich zu drehen, bis sie nach vorne schaute.

Nachdem sie ein paar Meter weitergekrochen war, traf sie auf ein zweites Gitter. Sie drehte sich wieder in die andere Richtung und trat mit den Füßen dagegen. Kurz darauf fiel es klirrend zu Boden. Lily rutschte ungeschickt hinterher, landete unglücklich und prellte sich dabei den Rücken. Doch das war ihr egal. Den Raum, in den sie gepurzelt war, hatte sie noch nie gesehen, aber durch die Fenster an der gegenüberliegenden Wand schien unverkennbar Tageslicht herein.

Sie hatte es geschafft!

Mit einem Blick nach links und rechts vergewisserte sie sich, dass ihr niemand auflauerte, dann rappelte sie sich auf und eilte nach vorne. Die Tür neben dem Fenster war zwar abgesperrt, doch der frische Luftzug durch die Ritze am Boden verriet ihr, dass sie direkt nach draußen führte. Und dahinter? Vielleicht würde sie sich mitten in einer Stadt wiederfinden oder irgendwo in einer entfernt gelegenen Moorlandschaft. Ihr bisheriges Ziel war es gewesen, den Tiefen des Gefängnisses zu entkommen. Danach wollte sie tun, was die Leute vom Haven am besten konnten: improvisieren.

Lily trat einen Schritt zurück und suchte einen festen Stand. Auch wenn sie keine so gute Karatekämpferin wie Song war – Lily hatte noch niemanden getroffen, der es mit ihrer Freundin aufnehmen konnte –, hatte sie mehr als nur ein paar Tritte auf Lager. Am kraftvollsten war der Ushiro Geri, ein gedrehter Rückwärtstritt, und nachdem sie ihren vorderen Fuß auf das Schlüsselloch ausgerichtet hatte, wirbelte Lily die Hüfte herum und knallte die Ferse gegen die Tür. Es knackte und Lily sah, dass sich das Holz um das Schloss herum aufgespalten hatte. Jetzt musste sie nur noch mit der Schulter gegen dieselbe Stelle drücken und schon wäre sie frei.

Die Tür bot sogar noch weniger Widerstand als erwartet. Wie ein Dominostein fiel sie um, woraufhin Lily mit einer herrlich frischen Brise belohnt wurde, die so kräftig war, dass sie fast von den Füßen gefegt wurde. Einen Augenblick lang schloss sie die Augen, berauschte sich daran und konnte nicht aufhören zu lächeln. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung. Direkt vor ihr war eine Mauer und sie wandte sich um, bereit, irgendwelche Wärter auf die gleiche Art und Weise abzufertigen wie die Tür. Aber da war niemand, nur eine weitere Mauer … und das war das erste Anzeichen, dass etwas nicht stimmen konnte. Warum versuchte niemand, sie aufzuhalten? Und dieser Geruch. Was war das für ein Geruch? So vertraut und doch so unerwartet. Es war, als … als …

Lily wurde langsamer und hörte auf zu lächeln. Vorsichtig ging sie um eine weitere Ecke und blieb bei dem Ausblick vor ihr abrupt stehen.

»Nein«, murmelte sie. »Nein, nein, nein!«

Sie ließ die Hände resigniert sinken. Und dann kamen die Tränen. Sie konnte sie nicht zurückhalten. Sie konnte nichts weiter tun, als dazustehen und zu weinen, während von der Seite ein Schatten auf sie fiel und ein unverkennbares Gelächter zu ihr drang.

ZWEI WOCHEN FRÜHER

1SITZKRIEG

Ollie Turner fegte einen Fuß durch das Laub. Ein rotgoldener Teppich zog sich über den Boden und die durch die Zweige schimmernde Sonne wärmte die kühle Luft des Spätherbstes.

Ollie hatte sich zum ersten Mal in den Wald unterhalb von Forest Mount gewagt, ohne sich gleich zu wünschen, irgendwo anders zu sein. Als er das letzte Mal hier war, hatte er den Mord eines Mannes beobachtet, bevor Ollie selbst von einem wilden Biest über den Rand der Klippe gejagt worden war.

Wie anders es sich heute im Sonnenlicht anfühlte. Nahezu idyllisch: eine friedliche Zuflucht vor der Stadt, die sich am Fuß des Hügels ganz um sie herum ausbreitete. Es war, als wäre Forest Mount eine Insel und London die wogende See.

»Das ist perfekt«, sagte eine Stimme neben ihm. »Einfach perfekt. Oh, Ollie, danke. Vielen, vielen Dank.«

Seine Begleiterin hatte den Arm unter seinen gehakt. Auch wenn Tante Fay nicht sehen konnte, was Ollie sah – die Herbstfarben und das fleckige Sonnenlicht –, wusste er, dass sie trotz ihrer Blindheit alles ebenso intensiv erlebte: den Gesang der Vögel in den Bäumen, das Rascheln der Blätter unter ihren Füßen, den Geruch des Unterholzes und der Luft. Der Wald war nicht der Garten, den Ollie unbedingt für Tante Fay hatte finden wollen, nachdem ihr Refugium auf dem Dach des ursprünglichen Haven zerstört worden war, aber ihrer Reaktion nach zu urteilen, hätte sie sich nicht mehr freuen können. Nicht dass Ollie sich das als Verdienst anrechnen konnte.

»Du hast diesen Ort für uns gefunden, Tante Fay, schon vergessen? Ich führe dich nur herum.«

Er schwenkte nach links, um einem tiefhängenden Ast auszuweichen, und zog Tante Fay sanft mit sich.

»Pff«, erwiderte Tante Fay tadelnd. »Ich habe lediglich einen Freund um Hilfe gebeten. Dir ist zu verdanken, dass Forest Mount unser Zuhause geworden ist. Und man hat dir schon einmal nahegelegt, deine Leistungen nicht zu unterschätzen, Ollie Turner. Erlaube dir, stolz auf dich zu sein.«

Das stimmte, die britische Premierministerin höchstpersönlich hatte ihm das gesagt. Ollie lächelte über Tante Fays sanfte Zurechtweisung und wagte es nicht, weiter zu protestieren. Stattdessen dachte er daran zurück, wie er und seine Freunde das Leben der Regierungschefin gerettet hatten, in dem Gebäude zweihundert Meter hinter ihm und Tante Fay.

»Werden im Wald Pflanzen wachsen können?«, fragte Ollie. »So wie im alten Haven? Es tut mir leid, dass es zu gefährlich wäre, Gemüse und andere Sachen in einem Garten unter freiem Himmel anzubauen.«

Tante Fay tat seine Sorge mit einer Handbewegung ab. »Wir werden auf jeden Fall etwas pflanzen können«, sagte sie. »Das Blätterdach ist die perfekte Tarnung und wird uns vor neugierigen Blicken schützen.« Sie schwieg kurz und schüttelte den Kopf in stillem Erstaunen. »Wusstest du, Ollie, dass es heutzutage Roboter gibt, die am Himmel fliegen? Jacqueline hat mir alles über sie erzählt. Anscheinend sind sie mit Kameras ausgestattet, die jede unserer Bewegungen verfolgen können!«

Ollie kannte Jacqueline als Jack, das technische Genie des Haven. Wie Ollie war Jack im Haven-Rat – eine erweiterte Version des alten Ermittlungsteams. Sie sorgten dafür, dass im Haven alles wie am Schnürchen lief, und trafen alle schwierigen Entscheidungen. Und mit fliegenden Robotern, so vermutete Ollie, meinte Tante Fay Drohnen. Tante Fay war mittlerweile eine alte Dame und hatte jahrzehntelang ein einfaches Leben innerhalb der Mauern des Haven geführt, weshalb sie nicht ganz auf dem neuesten Stand moderner technologischer Entwicklungen war. Und Ollie hatte herausgefunden, dass sie es auch gar nicht sein wollte.

»Na ja«, sagte Ollie und lächelte wieder, »hoffentlich belästigen sie uns hier nicht. Wenn dein Freund in der Regierung sein Versprechen gehalten hat, werden alle davon ausgehen, dass Forest Mount für unbewohnbar erklärt worden ist.«

»Monty ist ein guter Mann«, erwiderte Tante Fay. »Wir können uns darauf verlassen, dass er sich an sein Wort hält.«

Bisher hatte alles genau so geklappt, wie Montgomery Ross – der Privatsekretär der Premierministerin und selbst ein ehemaliges Mitglied des Haven – versprochen hatte, musste Ollie zugeben. Nach der Freisetzung eines giftigen Nervengases hatte man Forest Mount entseucht, das Gebäude mit Brettern vernagelt und das einzige Zugangstor verriegelt – sodass die Kinder und Jugendlichen des Haven völlig unbemerkt durch die Tunnel unterhalb des Hügels hatten einziehen können. Zweieinhalb Monate waren seitdem ohne die geringste Spur von Ärger oder gar Interesse von außen vergangen. Sie waren weder von Drohnen noch sonst irgendjemandem oder irgendetwas beobachtet worden.

Das Geheimnis des Haven war anscheinend sicher.

Dennoch waren die Mitglieder des Rats weiterhin auf der Hut. Es mangelte ihnen nicht an Feinden, angefangen von Londons Straßengangs bis hin zur Polizei und der britischen Regierung. Sogar die Premierministerin hätte vermutlich höchstpersönlich die Schließung des Haven angeordnet, wenn sie von seiner Existenz gewusst hätte.

Und aus Ollies Sicht war es noch beunruhigender, dass die Stellung der Premierministerin als Staatschefin jeden Tag unsicherer wurde. Seit »Mad« Maddy Sikes mit einem Notizbuch voller Geheimnisse einiger der mächtigsten Persönlichkeiten des Landes hatte entkommen können, herrschte innerhalb der Regierung Krieg. Mithilfe des Innenministers, Sir Sebastian Crowe – Vater von Colton Crowe, dem Jungen, der beim Attentatsversuch auf die Premierministerin ums Leben gekommen war –, untergrub Sikes die Autorität der Staatschefin bei jeder Gelegenheit. Sikes’ Ziel war offensichtlich: Sie wollte Crowe zum Premierminister machen, um hinter den Kulissen selbst die Strippen zu ziehen.

»Ollie? Was ist los? Du wirkst nervös.«

Sie waren stehen geblieben. Ollie war es nicht einmal aufgefallen.

Nichts, wollte er gerade antworten, weil er Tante Fay die Freude an ihrem Waldspaziergang nicht verderben wollte. Aber er wusste, dass sie sich nicht würde täuschen lassen. Auch wenn sie blind war, sah sie alles.

»Ich muss immer wieder an Sikes und an dieses Notizbuch denken«, gab Ollie zu. »Es kommt mir wie … wie eine tickende Bombe vor. Ich meine, ich mache mir Sorgen, was mit dem Haven passiert, wenn die Premierministerin und Montgomery Ross ihre Jobs verlieren. Aber vor allem frage ich mich, was es für das ganze Land bedeutet, wenn es Sikes gelingt, die Macht an sich zu reißen. Sie ist ein Monster, Tante Fay. Für sie ist nur wichtig, die Kontrolle zu haben, ganz gleich, wer ihr dabei im Weg steht.«

Tante Fay kräuselte die Lippen. Sie nickte leicht.

»Und diese Ruhe …«, fuhr Ollie fort, während er die friedvolle Landschaft um sich herum betrachtete. »Ich weiß, ich sollte dankbar sein, und das bin ich auch, wirklich … aber ich habe dieses starke Gefühl, dass bald etwas passieren wird. Etwas … Schlimmes.« Er sah auf. Auch wenn der Himmel über ihnen jetzt klar war, hatte er keinen Zweifel, dass bald Gewitterwolken am Horizont auftauchen würden.

Tante Fay seufzte und verschränkte Ollies Hand in ihrer.

»Ich teile deine Sorge, Ollie. Das versteht sich von selbst.« Sie wandte den Blick zum Himmel, als würde sie genau wie Ollie damit rechnen, dass sich bald ein Schatten vor das Sonnenlicht schob. »Weißt du, woran mich diese Zeit erinnert? An den Sitzkrieg. Am Anfang des Zweiten Weltkriegs.«

Ollie runzelte die Stirn. Er dachte, er wüsste ziemlich viel über den Zweiten Weltkrieg – nicht zuletzt, dass der Haven während der Bombardierung Londons von Tante Fay und einer Gruppe ihrer Freunde gegründet worden war. Doch er hatte nie von einem Krieg gehört, der ihm unmittelbar vorausgegangen war.

»Was ist der … Sitzkrieg?«, fragte er Tante Fay.

»Auf die Kriegserklärung 1939 folgte eine Zeit, in der mehrere Monate lang nichts passierte«, erwiderte Tante Fay.

»Du meinst, es wurde nicht gekämpft? Es gab überhaupt keine Gefechte?«

»Genau.«

»Wie lange hat das gedauert?«

»Mehrere Monate. Es war eine sehr merkwürdige Zeit, das kann ich dir sagen. Wir lebten in Angst, hofften jedoch … dass das Schlimmste vermieden werden könnte.«

»Das ist aber nicht passiert«, sagte Ollie. »Oder?«

Tante Fay senkte den Blick. Ein Schatten war über ihr Gesicht gefallen. »Nein«, antwortete sie. »Als die Kämpfe schließlich ausbrachen, begann für uns alle die womöglich dunkelste Periode in der Geschichte der Menschheit.« Sie drückte Ollies Finger. »Doch was ich damit sagen will, Ollie, ist, dass einem immer Herausforderungen bevorstehen. Das Wichtige ist, bereit zu sein. Und ebenso wichtig ist es, die glücklichen Zeiten zu genießen, solange sie andauern.«

Ollie nickte, denn er wusste, dass Tante Fay recht hatte. Und er wusste, dass der Haven besser vorbereitet war als in den Monaten zuvor, auf jeden Fall, seit er sich ihm am Anfang des Sommers angeschlossen hatte. Zum einen hatten sie jetzt ein vernünftiges Zuhause. Trotz seiner zwielichtigen Vergangenheit und leicht finsteren Erscheinung stellte Forest Mount eine beachtliche Verbesserung zu der stillgelegten Londoner U-Bahn-Station dar, in der der Haven seit dem Brand der alten Bibliothek Zuflucht gefunden hatte.

Forest Mount gehörte darüber hinaus zu den Gebäuden Londons, die am leichtesten verteidigt werden konnten. Zum Teil lag das an seiner Lage hoch oben auf einem Hügel, mit einer Klippe auf der Rückseite und dichtem Wald davor. Doch größtenteils mussten sich Ollie und die anderen bei Jack dafür bedanken. Seit ihrem Einzug hatte sie unermüdlich die Überwachungssysteme der Zugangstunnel auf den neuesten Stand gebracht und Forest Mounts Verteidigungsanlagen modifiziert. Wenn jemand – irgendjemand – versuchte, Ollie und seine Freunde hier zu stören, wäre der Haven mehr als gerüstet.

»Oh«, sagte Tante Fay, die plötzlich wieder fröhlich wirkte. »Das hätte ich fast vergessen …« Sie griff in die Tasche ihres Wollmantels. »Hier«, sagte sie. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Ollie.«

Ollie blinzelte überrascht. Tante Fay hielt ihm ein kleines Paket hin, ordentlich in Packpapier gewickelt und mit einer lila Schleife versehen. Tatsächlich hatte er völlig vergessen, dass heute sein vierzehnter Geburtstag war. Da er und Tante Fay zu ihrem Waldspaziergang aufgebrochen waren, als die meisten anderen im Haven noch frühstückten, hatte er noch keinen seiner engsten Freunde gesehen. Ehrlich gesagt, war es für ihn die erste friedliche Stunde seit Wochen, weshalb er viele Termine völlig aus den Augen verloren hatte.

»Du hast mir mein Geschenk gegeben«, erklärte Tante Fay und zeigte auf den Wald um sie herum. »Jetzt bin ich an der Reihe, dir etwas zu schenken.«

Ollie lächelte gerührt. »Was ist es?«, fragte er, während er das Paket dankbar annahm.

»Warum öffnest du es nicht und schaust selbst?«

Ollie faltete vorsichtig das Papier auseinander. Es war offenbar etwas aus Holz. Er entfernte den Rest der Verpackung und drehte Tante Fays Geschenk um – es verschlug ihm den Atem. »Woher … woher hast du das?«

»Eins der jüngeren Kinder hat den Rahmen geschnitzt. Aus einem geretteten Stück Holz der Eichentreppe des alten Haven. Wunderschön, oder? So fühlt es sich jedenfalls an. Es erinnert mich daran, wie ich mit der Hand über das riesige geschwungene Geländer gestrichen habe.«

Ollie fuhr mit den Fingerspitzen um den Bilderrahmen herum und über das Profil des Holzes und für einen kurzen Augenblick versetzte es auch ihn in die alte Bibliothek zurück – er konnte die Bücher nahezu riechen. Er musterte den Rahmen und bemerkte, dass in einer Ecke ein kleines, von einem Dreieck umrahmtes »H« eingraviert war: das Symbol des Haven und sein geheimes Wahrzeichen.

»Für das Foto«, fuhr Tante Fay fort, »müssen wir uns bei Jacqueline bedanken. Ich habe sie gefragt, ob wir ein Andenken an die Menschen finden könnten, die du verloren hast, und sie hat sich sofort ans Werk gemacht. Sie hat etwas von … Social Mediums erzählt, glaube ich?«

»Social Media«, korrigierte Ollie sie und lächelte wieder, den Blick fest auf das Foto seiner Eltern gerichtet. Und es zeigte nicht nur sie. Nancy, Ollies Pflegemutter, war auch auf dem Foto, genau wie Ollie.

Da er auf den Schultern seines Vaters saß, konnte er nicht älter als vier oder fünf Jahre alt sein. Und wenn Ollies Gedächtnis ihm keinen Streich spielte, glaubte er fest, sich an diesen Tag zu erinnern – sogar an diesen bestimmten Moment. Seine Eltern und ihre beste Freundin Nancy standen am Ufer der Themse und direkt hinter ihnen glitzerte das Wasser in der Sommersonne. Sie hatten gerade eine Bootsfahrt gemacht und waren unterwegs, um ein Eis zu essen.

»Danke, Tante Fay«, sagte Ollie und meinte es aus tiefstem Herzen. Er wusste, dass er die Gesichter seiner Eltern oder das von Nancy nie vergessen würde – sie waren alle von Maddy Sikes ermordet worden –, aber seine Erinnerungen waren alles, was er noch von ihnen hatte. Seit der Nacht, als er aus seinem Bett gerissen und in die geheime Mission des Haven – Kindern und Jugendlichen in Schwierigkeiten zu helfen, egal, wer sie waren – eingeweiht worden war, hatte er akzeptieren müssen, dass alles, was er jemals besessen hatte, für immer verloren war. Das gerahmte Bild, das Tante Fay ihm geschenkt hatte, war die einzige physische Erinnerung an sein altes Leben, die Ollie nun besaß. »Ganz im Ernst«, wiederholte er, »danke.«

Tante Fays Lächeln war so hell wie der Sonnenschein, in dem sie stand.

Sie spazierten weiter und genossen die Stille des frühen Morgens. Aus der Ferne drangen ganz leise die Geräusche der erwachenden Londoner Straßen herüber, aber in diesem kurzen Augenblick schien die wirkliche Welt Lichtjahre entfernt zu sein – wie auch Ollies Sorgen.

Irgendwann kehrten sie zur Schule zurück. Forest Mount war ursprünglich ein Herrenhaus gewesen, bevor es zu einem Privatinternat wurde – einem der exklusivsten im ganzen Land. Ollie und die anderen hatten Forest Mount als Schule kennengelernt und nannten das Hauptgebäude weiterhin so. Es schien passend: Schließlich war auch der Haven teilweise eine Schule, und obwohl Ollie Geburtstag hatte, musste er in den Unterricht gehen sowie selbst eine Stunde halten.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Ollie!«

Als er und Tante Fay durch die Korridore gingen, wurden sie von den Kindern und Jugendlichen, an denen sie vorbeikamen, freundlich gegrüßt. Alle hatten ein Lächeln im Gesicht und die meisten wussten offenbar, dass Ollie Geburtstag hatte. Bei so viel Aufmerksamkeit wurde er ganz rot und dankte den Gratulanten schüchtern.

»So eine wunderbare Atmosphäre«, sagte Tante Fay, die sich über die herzliche Stimmung freute. Auch wenn heute der glückliche Anlass möglicherweise dazu beitrug, war es eigentlich seit ihrem Einzug in Forest Mount so gewesen. Die Kinder und Jugendlichen freuten sich einfach sehr darüber, hier zu sein. Anders als Ollie und ein paar seiner Freunde hatten sie das Internat nie als einen Ort erlebt, an dem Furcht und Einschüchterung herrschten, wo die meisten Schüler mit gesenkten Köpfen und Blicken herumgelaufen waren, weil sie auf keinen Fall die Aufmerksamkeit der Aufsichtsschüler auf sich ziehen wollten. Wie gerade im Wald und nicht zum ersten Mal war Ollie der Unterschied aufgefallen.

»Und da wir eben schon beim Thema wachsen waren«, sagte Tante Fay mit Verweis auf ihr vorheriges Gespräch, »ich habe gehört, dass kürzlich gewisse Zuneigungen aufgeblüht sind.« Im Gehen wandte sie sich mit einem schelmischen Grinsen Ollie zu.

»Was meinst du?«, fragte Ollie und wurde noch röter.

»Liebe meine ich, Ollie Turner«, gab Tante Fay ungeniert zurück und Ollie wurde es ganz unbehaglich zumute. »Ein paar Kinder haben in meiner Anwesenheit getratscht. Sie scheinen zu vergessen, dass ich zwar blind bin, mit meinen Ohren aber alles in Ordnung ist. Und ich habe gehört, dass überall Beziehungen gesprossen sind. Ich glaube, Imani hat jetzt eine feste Freundin wie auch Soloman. Und sogar die junge Lily scheint einen Verehrer gefunden zu haben.«

Tante Fay hatte recht. Imani ging mit einem Mädchen, das einmal ihre Todfeindin gewesen war, als sie beide noch zu gegnerischen Gangs gehört hatten. Sol, Ollies bester Freund, war mit Keya zusammen, die auch zu Ollies engstem Freundeskreis gehörte. Was Lily betraf, so hatte er gehört, dass sie Casper Sloane datete, einen sechzehnjährigen Jungen, der die Kantine und Vorratskammer des Haven leitete und erst kürzlich in den Rat berufen worden war. Nicht dass es Ollie irgendetwas anging. Warum sollte es ihn kümmern, mit wem Lily eine Beziehung hatte?

»Kommst du mit zur Sitzung des Rates?«, fragte Ollie Tante Fay, um das Thema zu wechseln. »Ich weiß, dass sich alle darüber freuen würden.«

»Vielleicht komme ich kurz vorbei und sage Hallo«, meinte Tante Fay. Wenn ihr aufgefallen war, dass Ollie vom Thema abgelenkt hatte, sagte sie nichts dazu. »Aber ich gehe wieder, bevor ihr mit der Besprechung der Tagesgeschäfte beginnt.«

Tante Fays Antwort überraschte Ollie nicht. Als einzige Erwachsene im Haven mischte sie sich nicht in seine Führung ein, denn sie war der Meinung, dass die Kinder und Jugendlichen die Bedürfnisse ihrer Altersgenossen am besten kannten und man ihnen vertrauen sollte, dass sie ihre eigenen Entscheidungen treffen konnten. Trotzdem freute sich Ollie, dass Tante Fay bei der Sitzung vorbeischauen würde. Da sie auf keinen Fall zum Ärgernis werden wollte, bekam man sie im Haven nur schwer zu fassen, und niemand konnte sie so oft sehen, wie er oder sie es gerne hätte – Ollie eingeschlossen.

Ollie führte sie vom Hauptkorridor in einen gepflasterten, halbmondförmigen Durchgang, der sie zum Ostflügel brachte. Forest Mount war ein labyrinthartiges Gebäude, aber Ollie kannte es mittlerweile wie seine Westentasche.

Der Kontrollraum, in dem die Ratssitzung stattfand, befand sich im Büro des ehemaligen Schuldirektors: ein riesiges, extravagant ausgestattetes Zimmer mit einem großen Erkerfenster, von dem aus man den Innenhof der Schule überblickte, und mit einem Kamin, der so hoch war, dass man darin stehen konnte. Die verstaubte Herrenklub-Atmosphäre, die noch zu Professor Strains Zeiten in dem Raum geherrscht hatte, war jedoch völlig verflogen. Statt ledergebundener Bücher über die Geschichte Russlands sowie Fotos und goldgerahmter Diplomurkunden füllten ihn jetzt Computer, ausgedruckte Karten – von denen manche willkürlich an die Wand gepinnt worden waren – und handgeschriebene Arbeitspläne. Ollies Ansicht nach war das eine gewaltige Verbesserung. Strains ehemaliges Büro war das neue Schaltzentrum des Haven, ebenso zusammengeschustert und funktionell, wie es der Kontrollraum in der alten Bibliothek gewesen war.

Als Ollie und Tante Fay den Raum betraten, bemerkte Ollie überrascht die leeren Stühle um den Tisch in der Mitte. Da er sich ein, zwei Minuten verspätet hatte, war er davon ausgegangen, dass die Sitzung bereits begonnen hatte.

Als er sich nach rechts drehte, sah er jedoch, dass alle da waren: Jack, Lily und Flea sowie Sol, Keya und Imani, sowie Erik, Song, Casper Sloane und Errol, Jacks Bruder, der in den Rat gewählt worden war, um die jüngeren Mitglieder des Haven zu vertreten. Aber statt die verschiedenen Tagesordnungspunkte der Sitzung zu besprechen, starrten sie alle stumm auf den Fernseher, den Jack an der Wand über dem Kamin installiert hatte.

»Leute? Was ist los?«

Die Mitglieder des Rates drehten sich alle gleichzeitig um, den Blick fest auf Ollie gerichtet. Niemand sagte »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag« oder sonst irgendetwas. Ollies Freunde waren leichenblass und jedem Einzelnen schien es die Sprache verschlagen zu haben.

Kurz darauf begriff Ollie, warum. Er sah auch zum Fernseher – auf die Bilder, die im Nachrichtensender der BBC vorbeihuschten, und die Schlagzeilen, die unten am Bildschirm entlangscrollten.

»Ollie?«, fragte Tante Fay. »Was ist los, Ollie? Was ist passiert?« Ihr war anzusehen, dass sie den plötzlichen Stimmungswechsel und die Angst spürte, die den Raum erfüllte.

Ollie nahm ihre Hand. »Er ist vorbei, Tante Fay. Der Sitzkrieg.« Er wandte sich wieder dem Fernseher zu und drückte ganz fest ihre Hand. »Der wirkliche Kampf beginnt bald.«

2STAATSFEIND

Die Diskussion um den Ratstisch herum war so hitzig, wie Ollie es noch nie erlebt hatte. Seine Freunde klangen wütend, aber Ollie wusste, dass sie vor allem Angst hatten. Und er machte ihnen deshalb keinen Vorwurf. Noch vor wenigen Augenblicken hatten sie sich in ihrem neuen Zuhause relativ sicher gefühlt, und jetzt war es auf einmal so, als befänden sie sich im Belagerungszustand.

Im Fernseher über dem Kamin berichtete die Nachrichtensendung von Sebastian Crowes Rede im Parlament, während unten am Bildschirm die wichtigsten Maßnahmen eingeblendet wurden, die der Innenminister verkündet hatte.

»Scharfes Vorgehen angekündigt«, lautete die Schlagzeile. »Einsatz bewaffneter Polizisten auf den Straßen, um ›unerwünschte Personen‹ und ›terroristische Elemente‹ aufzuspüren.« Bei dem zornigen Stimmengewirr seiner Freunde fiel es Ollie schwer, etwas zu verstehen, aber er konnte Crowes Worten in den Clips, die die BBC in Schleife zeigte, gerade noch so folgen.

»… terroristische Organisationen wie diejenige, die für die Gehirnwäsche und Radikalisierung meines einzigen Sohnes verantwortlich ist, bedrohen das Land«, erklärte Crowe. An dieser Stelle unterbrach er sich kurz und die Kamera zoomte heran, als der Innenminister vortäuschte, eine Träne wegzuwischen. Das alles war natürlich reines Theater. Ollie wusste ziemlich genau, wie sehr Sebastian Crowe seinen Sohn Colton verachtet und vernachlässigt hatte. Und das war auch der Grund, warum Ollie schließlich Mitleid mit dem Jungen gehabt hatte, trotz allem, was er getan hatte.

»Die ganze Welt hat mit eigenen Augen die schrecklichen Konsequenzen der bisherigen Politik des Nichthandelns in diesem Land beobachten können«, fuhr Crowe fort. »Die exzessive Toleranz der Regierung.«

Im Haven war Toleranz ein Leitprinzip, aber Crowe gelang es irgendwie, es wie etwas Bösartiges klingen zu lassen – etwas, für das man sich schämen sollte.

»Bei dem feigen Anschlag im September konnte das Leben der Premierministerin lediglich durch großes Glück gerettet werden, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir zugelassen haben, wie Terroristen unsere Gesellschaft unterwandern«, sagte Crowe. »Sie haben uns bereits gezwungen, die Parlamentswahlen zu verschieben, eine unmittelbare Bedrohung des demokratischen Prozesses. Auch haben sie schon so stark Fuß gefasst, dass sie die Schwächsten in der Gesellschaft ausbeuten, ihren Geist vergiften und dann im Verborgenen darauf warten können, dass ihr Gift Wirkung zeigt. Genau das haben sie mit meinem armen, unschuldigen Sohn getan.«

Er hielt erneut inne, weinte eine weitere falsche Träne.

»Aber damit ist jetzt Schluss«, verlautbarte Crowe und sein Gesichtsausdruck wechselte von sorgenvoll zu wütend – diesmal, so erkannte Ollie, waren seine Emotionen nicht gespielt. Vermutlich war er wütend auf Colton, weil er ihn in diese schwierige Lage gebracht hatte – unter anderen Umständen hätten die Handlungen seines Sohnes zweifellos seine Karriere beendet –, aber der Innenminister nutzte diese Wut und die Situation zu seinem Vorteil und verdrehte die Wahrheit so, dass er und sein Sohn wie Opfer dastanden.

»Von heute an«, fuhr Crowe fort und kam zum Kern seines neuen politischen Programms, »und zum Schutz der freiheitsliebenden Bürgerinnen und Bürger dieses Landes werden alle Organisationen von zehn oder mehr Menschen, die nicht registriert sind und deren Aktivitäten nicht von dem neu eingerichteten Regierungsausschuss genehmigt wurden, als illegal eingestuft. Sollten solche Organisationen sich entscheiden, ihre Operationen weiterzuführen und sich nicht an das Gesetz zu halten, werden sie in einem nächsten Schritt zu Staatsfeinden erklärt und müssen die entsprechenden Konsequenzen dafür tragen.«

Ollie ahnte, was als Nächstes kommen würde.

»Das gilt für alle Gruppen oder Vereinigungen unabhängig vom Alter ihrer Mitglieder – und vor allem für die zwielichtige Fraktion von Fanatikern, bekannt als der Haven.«

Crowe machte eine theatralische Pause, und Ollie bemerkte, dass der Raum still geworden war, während seine Freunde ebenfalls die Rede des Innenministers verfolgten.

Crowe sagte: »Der Haven ist eine radikale Geheimorganisation, deren Existenz den Behörden erst kürzlich bekannt wurde. Als Gegenleistung für Essen und Unterkunft und das Versprechen eines besseren Lebens bringt diese Organisation junge und schwache Menschen unter falschen Vorwänden dazu, blinden Gehorsam zu schwören. Aber das ist alles Schwindel. Sie werden vielmehr gewaltsam dazu gezwungen, sich dem Haven anzuschließen, und der übelsten Propaganda ausgesetzt. Diese verabscheuungswürdige Organisation benutzt Kinder, um ihre schmutzige Arbeit zu verrichten. Ich habe unwiderlegbare Beweise«, fuhr der Innenminister fort, »dass der Haven den Angriff auf unsere Demokratie orchestriert. Der Haven war für die Gehirnwäsche meines Sohnes verantwortlich und ebenso für den Anschlag auf unsere Premierministerin.«

Entrüstetes Raunen ging um den Tisch, aber Crowes hasserfüllte Tirade ging weiter.

»In meiner Rolle als Innenminister mache ich es daher zu meiner persönlichen Mission sicherzustellen«, sagte er und drehte sich zur Kamera, sodass Ollie das Gefühl hatte, er würde ihn direkt ansprechen, »dass diese Haven-Terroristen zur Strecke gebracht und zur Rechenschaft gezogen werden, ganz gleich, wie alt sie sein mögen. Darüber hinaus wird jeder, der dem Haven hilft oder ihn unterstützt, als der Verschwörung und des Landesverrats schuldig erachtet werden. Dieses Land wird angegriffen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen«, donnerte Crowe an die anderen Parlamentsmitglieder gewandt, »und wir müssen endlich zurückschlagen!«

In diesem Moment war der Bericht zu Ende und der Nachrichtensprecher im Studio übernahm. Sebastian Crowes rachsüchtiges Gesicht – die dunklen Augenbrauen vor Zorn hochgezogen, das schwarze Haar wütend zerzaust – war in der oberen Ecke des Bildschirms eingefroren und gerahmt. Er sah wie eine markantere, fiesere Version von Colton Crowe aus.

Unter dem Bild befasste sich der Nachrichtensprecher eingehend mit den Einzelheiten des neuen strikten Programms des Innenministers: dem sogenannten »Notfallaktionsplan«. Von nun an war die Polizei im ganzen Vereinigten Königreich ermächtigt, Schusswaffen zu tragen, und unterlag weniger Einschränkungen bei ihrem Einsatz. Polizeibefugnisse für Kontrollen würden ausgeweitet werden und das bedeutete, dass die Polizei jeden auf der Straße ohne Begründung überprüfen konnte. Einwanderungsgesetze würden verschärft werden, mit einer sofortigen Aussetzung von Asylanträgen, und alle Personen ohne Aufenthaltserlaubnis oder feste Adresse konnten verhaftet werden. Außerdem würden in allen britischen Städten Ausgangssperren für Minderjährige verhängt werden als Antwort darauf, was die Regierung die »Radikalisierung« der desillusionierten Jugend des Landes nannte. Nach neun Uhr abends durften keine Kinder und Jugendlichen mehr auf die Straße und Gruppen von vier und mehr jungen Leuten war es untersagt, sich zu versammeln, sogar tagsüber, wenn keine erwachsene Aufsichtsperson anwesend war.

»Wir werden wie in einem Polizeistaat leben«, hörte Ollie eine Stimme neben sich. Er drehte sich um. Sein bester Freund Sol betrachtete den Bildschirm genauso angespannt wie er, während der Rest des Rats die hitzige Diskussion wieder aufnahm.

Im Fernsehen zeigte die BBC jetzt Aufnahmen von Abgeordneten, die im britischen Unterhaus die Rede des Innenministers bejubelten. Auf den Bänken der Opposition war die Unterstützung offenbar gedämpfter. Ein paar Parlamentsmitglieder saßen mit versteinerter Miene und vor der Brust verschränkten Armen da. Mehrere sahen sogar genauso bestürzt aus, wie Ollie sich fühlte, und ebenso machtlos, dem ein Ende zu setzen. Die Premierministerin selbst glänzte durch Abwesenheit und ließ so keinen Zweifel daran, was sie von diesem neuen politischen Programm hielt. Andererseits bestand ebenso kein Zweifel mehr daran, dass ihr mittlerweile die Macht fehlte, es aufzuhalten. Offensichtlich war sie in ihrer Position tatsächlich so geschwächt, wie Ollie befürchtet hatte.

Er wandte sich vom Fernseher ab und verfolgte stattdessen die Diskussion seiner Freunde. Sie redeten alle wild durcheinander und führten mehrere Unterhaltungen gleichzeitig, sodass Ollie nur Gesprächsfetzen auffangen konnte.

»… jetzt mal im Ernst, uns für den Attentatsversuch auf die Premierministerin verantwortlich machen?«, fragte Erik, während Song die Hände in die Luft warf. »Wir haben die Premierministerin gerettet! Wenn irgendjemand als Terrorist abgestempelt werden sollte, dann …«

»… so ein Spinner – genauso gestört wie sein Sohn«, unterbrach ihn jemand anderes. Lily vielleicht?

»Ihn müsste man einsperren, nicht …«

»… möchte mal sehen, wie der mich zur Strecke bringt«, war Fleas Stimme zu hören. »Dazu wären mehr als nur ein paar bewaffnete Cops nötig …«

Ollie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Sikes steckt dahinter«, murmelte er. »Das haben wir alles Sikes zu verdanken.«

»Was hast du gesagt, Ollie?«

Jack saß in ihrem Rollstuhl zu Ollies Linken, und als Ollie beim Klang ihrer Stimme die Augen aufschlug, stellte er fest, dass sie ihn besorgt ansah. Sol betrachtete das Ganze von Ollies rechter Seite. Ollie wollte gerade wiederholen, was er gesagt hatte, aber da im Raum ein so ohrenbetäubender Lärm herrschte, öffnete er nur den Mund und schloss ihn kopfschüttelnd wieder.

Sol schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ruhe!«, brüllte er. »Ruhe!«

Es wurde schlagartig still und alle im Raum drehten sich zu Sol – auch Ollie. Sol lächelte ihn an und zuckte mit den Schultern. »Beim Parlamentspräsidenten im Unterhaus hat’s ja auch geklappt«, sagte er und zeigte mit dem Kopf auf den Fernseher. »Da dachte ich, ich probier’s einfach mal.« Sanft stupste er Ollie mit dem Ellbogen am Arm an. »Du hast das Wort, Alter. Was wolltest du sagen?«

Ollie blickte sich um, alle sahen ihn jetzt an: Jack, Sol, Lily, Flea, Song, Erik, Keya, Imani, Casper und Errol. Die Ratsmitglieder saßen um Professor Strains alten Schreibtisch herum, der so groß war, dass für alle problemlos Platz war. Um den Tisch standen ein Dutzend unterschiedlicher Stühle und am Kopfende Strains riesiger alter Lederschreibtischsessel. Gewöhnlich versuchte Ollie, diesen Platz bei Sitzungen des Rates zu vermeiden, doch heute saß er zufällig dort und blickte in die Runde.

Er räusperte sich. »Ich habe gesagt … ich habe gesagt, dass Sikes dahintersteckt«, erklärte er seinen Freunden. »Sebastian Crowe ist lediglich ihre Marionette wie auch die Hälfte aller Abgeordneten, die ihm zugejubelt haben. Sikes hat den Behörden vom Haven erzählt – jedenfalls ihre Version dessen, was der Haven ist – und sie hat Crowe angewiesen, uns zur Strecke zu bringen. Sie steckt hinter dem Ganzen und sie wird nicht ruhen, bis der Haven zerstört ist.«

Am Tisch herrschte Schweigen, während die anderen verarbeiteten, was er gesagt hatte. Sie wussten, dass Ollie recht hatte und dass Sikes eine viel gefährlichere Gegnerin war, als Sebastian Crowe es je sein würde. Der Haven hatte Sikes in der Vergangenheit bereits zweimal geschlagen und trotzdem schien sie zu gewinnen.

Ollie spürte Verzweiflung in ihm hochkommen, die sich auch in der Reaktion seiner Freunde zeigte, doch dann berührte ihn jemand am Arm, und als er sich umdrehte, sah er Tante Fay neben sich stehen. Ihm wurde auf einmal ganz warm ums Herz und ein neues Gefühl von Selbstvertrauen und Entschlossenheit breitete sich in ihm aus.

»Aber in Wirklichkeit«, wandte er sich an seine Freunde und seine brüchige Stimme wurde immer fester, während er weitersprach, »hat sich nichts geändert. Wir wussten, dass das auf uns zukommen würde – das oder etwas Ähnliches. Wir wussten, dass Sikes die Regierungsmitglieder mit den Geheimnissen aus dem Notizbuch erpressen würde, damit sie tun, was sie verlangt. Und vergesst nicht, sie hat auch mindestens eine große Fernsehanstalt auf ihrer Seite sowie den Chef von Scotland Yard. Es wäre also auf jeden Fall irgendwann zu einer solchen Situation gekommen.«

Ollie sah seine Freunde an.

»So ist es für den Haven schon immer gewesen«, fuhr er fort. »Wir mussten uns schon immer verstecken. Wir mussten schon immer für uns selbst sorgen. Wir sind auf uns selbst angewiesen, aber genau das können wir am besten. Wir stehen für Freiheit und Toleranz und dafür, Menschen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können. Deshalb wurde der Haven gegründet. Nichts, was Sebastian Crowe sagt oder Maddy Sikes tut, kann daran etwas ändern.«

Ollie fühlte sich ermutigt, als er alle Mitglieder des Rates nicken und ihre entschlossenen Mienen sah, die genau widerspiegelten, was er selbst auf einmal empfand.

»Und nach dem, was wir gerade gesehen haben, fühlt es sich vielleicht nicht so an, aber wir haben uns schon seit einer Ewigkeit nicht mehr in einer so starken Position wie momentan befunden«, sprach Ollie weiter. »Wir haben jetzt ein Zuhause. Ein richtiges Zuhause. Sikes weiß nicht, wo wir sind. Dank Tante Fay weiß das niemand.«

Zweifel regten sich kurz in ihm, als er daran dachte, wie unsicher die Stellung der Premierministerin war – und so auch indirekt die Stellung ihres Beschützers Montgomery Ross –, doch er bemühte sich, es den anderen nicht zu zeigen. »Und noch wichtiger ist, dass wir eine Gemeinschaft sind. Crowe und seine Lakaien sind bloß eine Fraktion. Kann sein, dass sie momentan die vorherrschende Kraft in der Regierung bilden, aber das wird nicht ewig andauern. Jedenfalls nicht so lange, wie es den Haven schon gibt. Richtig?«

»Richtig«, wiederholte Jack neben Ollie.

»Genau so ist es«, bekräftigte Sol wichtigtuerisch und grinste, weil er wieder die Abgeordneten des britischen Unterhauses nachgeahmt hatte.