The Refugees – Die Flüchtlinge - Arthur Conan Doyle - E-Book

The Refugees – Die Flüchtlinge E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Mit zahlreichen Illustrationen Amory de Catinat ist Hugenotte und Wachmann Ludwigs XIV., er ist zufrieden mit seinem Leben, bis ihn die Ereignisse um die Aufhebung des Edikts von Nantes erreichen, das ihm und seiner Familie bisher Schutz vor religiöser Verfolgung bot. Eine Verschwörung um die Geliebten des Königs, gesponnen von einer eifersüchtigen Mätresse, bringt Catinat und seine Verlobte ihn größte Gefahr. Sie müssen fliehen. Als Fluchtziel bietet sich der neue Kontinent an: Amerika, das Gelobte Land. Eine spannende, unbekannte Abenteuergeschichte von A. C. Doyle. Null Papier Verlag

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Arthur Conan Doyle

The Refugees – Die Flüchtlinge

Eine Geschichte von zwei Kontinenten

Arthur Conan Doyle

The Refugees – Die Flüchtlinge

Eine Geschichte von zwei Kontinenten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Illustrationen: Thure de Thulstrup EV: Velhagen & Klasing, Bielefeld und Leipzig, 1893/94 1. Auflage, ISBN 978-3-962816-02-5

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Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Teil – In der al­ten Welt

I. Der Mann aus Ame­ri­ka.

II. Ein Mon­arch im Nég­ligé.

III. Die Ver­tei­di­gung der Tür.

IV. Der Va­ter sei­nes Vol­kes.

V. Be­li­als­kin­der.

VI. Eine Dra­go­na­de.

VII. Die neue und die alte Welt

VIII. Die auf­ge­hen­de Son­ne.

IX. Le roi s’a­mu­se.

X. Eine Son­nen­fins­ter­nis in Ver­sail­les.

XI. Die Son­ne er­scheint wie­der

XII. Der Kö­nig emp­fängt

XIII. Der Kö­nig hat einen Ge­dan­ken.

XIV. Die letz­te Kar­te.

XV. Die mit­ter­nächt­li­che Mis­si­on.

XVI. »Wenn der Teu­fel kut­schiert.«

XVII. Der Ker­ker von Tor­til­lac

XVIII. Die Nacht der Über­ra­schun­gen

XIX. In des Kö­nigs Ka­bi­nett

XX. Die Na­mens­schwes­tern.

XXI. Der Mann in der Ka­le­sche.

XXII. Das Scha­fott in Por­til­lac.

XXIII. Der Sturz der Ca­ti­nats.

Zwei­ter Teil – In der neu­en Welt

I. Die Ab­fahrt des »Gold­nen Rei­ses«

II. Das Boot der To­ten.

III. Der letz­te Ha­fen

IV. Ein schwin­den­des Ei­land.

V. Im Ha­fen von Que­bec.

VI. Die Stim­me an der Stück­pfor­te

VII. Die Bin­nen­ge­wäs­ser

VIII. Der Mann ohne Haar.

IX. Der Herr von Sain­te Ma­rie

X. Der Elenn­hirsch auf dem Kriegs­pfa­de.

XI. Die Blut­hun­de.

XII. Der Tod klopft an.

XIII. Die Er­stür­mung der Pa­lissa­den.

XIV. Die An­kunft des Mön­ches.

XV. Der Spei­se­saal von Sain­te Ma­rie.

XVI. Die bei­den Schwim­mer.

XVII. Ve­r­eint.

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Erster Teil

In der alten Welt

I. Der Mann aus Amerika.

Es war ein ho­hes go­ti­sches Fens­ter, wie man es ge­gen Ende des sieb­zehn­ten Jahr­hun­derts in Pa­ris all­ge­mein fand. Über dem brei­ten Qu­er­bal­ken, der es durch­schnitt, war ein zier­li­ches Wap­pen­schild – drei rote Dis­teln auf Sil­ber­grund – in die rau­ten­för­mi­ge Schei­be ein­ge­las­sen. Dar­un­ter rag­te eine star­ke Ei­sen­stan­ge her­vor, von der das ver­gol­de­te Mi­nia­tur­bild ei­nes Woll­bal­lens her­ab­hing, das sich bei je­dem Wind­stoß knar­rend hin und her be­weg­te. Ge­gen­über la­gen hohe, schma­le, statt­li­che Häu­ser, de­ren Fassa­den mit kunst­rei­chen Holz­ver­zie­run­gen ge­schmückt und von spit­zem Gie­bel­werk und Eck­türm­chen über­ragt wur­den. Da­zwi­schen lag das holp­ri­ge Pflas­ter der Stra­ße St. Mar­tin, von dem das Geräusch zahl­lo­ser Fuß­trit­te her­auf­schall­te.

In­ner­halb der Fens­ter­ver­tie­fung be­fand sich eine brei­te, mit brau­nem ge­press­tem Le­der aus­ge­schla­ge­ne Bank, auf der die Haus­ge­nos­sen es sich be­quem ma­chen und hin­ter den Vor­hän­gen al­les be­ob­ach­ten konn­ten, was in der ge­schäf­ti­gen Welt zu ih­ren Fü­ßen vor­ging. Heu­te sa­ßen zwei Per­so­nen in die­sem lau­schi­gen Win­kel: ein Herr und eine Dame, aber sie hat­ten den Vor­gän­gen drau­ßen den Rücken und dem be­hag­lich ein­ge­rich­te­ten, großen Ge­ma­che das Ant­litz zu­ge­wandt. Von Zeit zu Zeit sa­hen sie ein­an­der an, und ihre Au­gen zeig­ten klär­lich, dass sie kei­nes an­de­ren An­blicks be­durf­ten, um glück­lich zu sein.

Das durf­te auch nicht wun­der neh­men, denn sie wa­ren ein schö­nes Paar. Sie war sehr jung, höchs­tens zwan­zig Jahr alt. Das schim­mern­de Weiß ih­res schö­nen Ge­sichts mach­te den Ein­druck ei­ner Rein­heit und Un­schuld, die man auch nicht durch einen Hauch auf­dring­li­cher Far­be hät­te be­ein­träch­tigt se­hen mö­gen. Ihre Züge wa­ren fein­ge­schnit­ten und lieb­lich; ihr blauschwar­zes Haar und ihre lan­gen dunklen Wim­pern bil­de­ten einen an­zie­hen­den Kon­trast mit den träu­me­ri­schen grau­en Au­gen und der el­fen­bein­ar­ti­gen Haut. Die Ruhe und Zu­rück­hal­tung, die über ih­rem gan­zen We­sen lag, präg­te sich auch in ih­rer Tracht aus, ei­nem ein­fa­chen schwar­zen Taf­fet­klei­de, des­sen ein­zi­ger Schmuck in ei­ner Bro­sche aus Jet und ei­nem eben­sol­chen Arm­ban­de be­stand. Das war Adèle Ca­ti­nat, die ein­zi­ge Toch­ter des großen hu­ge­not­ti­schen Tuch­händ­lers.

Ge­gen den dunklen, schlich­ten An­zug des jun­gen Mäd­chens stach die Pracht ih­res Ge­fähr­ten selt­sam ab. Er moch­te etwa zehn Jah­re äl­ter sein, als sie. Sein Ge­sicht ver­riet den Sol­da­ten: sei­ne aus­drucks­vol­le Züge, ein sorg­fäl­tig ge­stutz­ter schwar­zer Schnurr­bart, und ein nuss­brau­nes Auge, das mit glei­chem Er­fol­ge Män­nern ge­gen­über be­feh­lend blit­zen, Frau­en ge­gen­über fle­hend schmel­zen konn­te. Sein him­melblau­er Rock war mit Sil­ber­b­or­te ver­brämt und hat­te brei­te sil­ber­ne Ach­sel­schnü­re. Eine Wes­te von weißem Wol­l­at­las kam dar­un­ter zum Vor­schein, und eben­sol­che Knie­ho­sen ver­schwan­den in den ho­hen blan­ken Rei­ters­tie­feln mit gol­de­nen Spo­ren. Ein Stoß­de­gen mit sil­ber­nem Ge­fäß und ein Fe­der­hut, die auf dem Ses­sel ne­ben ihm la­gen, vollen­de­ten eine Uni­form, wel­che den Trä­ger eh­ren­voll aus­zeich­ne­te; denn je­der Fran­zo­se wür­de sie für die ei­nes Of­fi­zie­res in Lud­wig des Vier­zehn­ten be­rühm­ter »Blau­er Gar­de« er­kannt ha­ben. Mit sei­nem lo­cki­gen schwar­zen Haar auf dem hoch­ge­tra­ge­nen Haupt mach­te er den Ein­druck ei­nes stram­men, ke­cken Sol­da­ten. Als sol­cher hat­te er sich auch be­reits auf man­chem Schlacht­fel­de be­währt, so­dass der Name A­mo­ry von Ca­ti­nat un­ter den tau­send Tap­fern des nie­de­ren Adels, die sich zu dem Dienst des Kö­nigs dräng­ten, hell her­vor­leuch­te­te.

Die bei­den wa­ren Vet­ter und Base. Der ähn­li­che Schnitt ih­rer off­nen Ge­sichts­zü­ge ließ die­se Ver­wandt­schaft er­ra­ten. Ca­ti­nat war ei­ner ade­li­gen Hu­ge­not­ten­fa­mi­lie ent­spros­sen. Da er sei­ne El­tern früh ver­lo­ren hat­te, war er ins Heer ein­ge­tre­ten, und hat­te sich ohne ir­gend wel­che Pro­tek­ti­on, al­len Wi­der­wär­tig­kei­ten zum Trotz, zu sei­ner ho­hen Stel­lung em­por­ge­schwun­gen. Ein jün­ge­rer Bru­der sei­nes Va­ters hat­te da­ge­gen das »von« fal­len las­sen, da er ein­sah, dass ihm durch die Ver­fol­gung, der schon da­mals sei­ne Glau­bens­ge­nos­sen aus­ge­setzt wa­ren, je­der Weg zum Em­por­stei­gen ver­schlos­sen sein wür­de. Nach sol­chem Ver­zicht hat­te er sich in Pa­ris auf den Han­del ge­legt, und sein Ge­schäft war so gut ge­gan­gen, dass er jetzt ei­ner der reichs­ten und an­ge­se­hens­ten Bür­ger der Stadt war. Es war sein Haus, in wel­chem der Gar­de­of­fi­zier sich be­fand, und es war sei­ne ein­zi­ge Toch­ter, de­ren wei­ße Hand er in der sei­ni­gen hielt.

»Sag mir, Adèle«, sag­te er, »warum du so be­küm­mert aus­siehst.«

»Ich bin aber nicht be­küm­mert, Amo­ry.«

»Lass se­hen! Hier ist ein ganz klei­nes Fält­chen zwi­schen den ge­wölb­ten Au­gen­brau­en, O, ich kann dein Ge­sicht le­sen, wie der Schä­fer den Him­mel.«

»Es ist nichts, Amo­ry, nur –«

»Nur was?«

»Du ver­lässt mich heu­te Abend.«

»Aber mor­gen kom­me ich wie­der.«

»Musst du denn wirk­lich heu­te Abend fort?«

»Es wür­de mich mein Pa­tent kos­ten, woll­te ich weg­blei­ben. Ich habe ja mor­gen früh die Wa­che vor des Kö­nigs Schlaf­zim­mer! Nach der Früh­mes­se wird mich der Ma­jor von Brissac ab­lö­sen, und dann bin ich wie­der frei.«

»Ach, Amo­ry, wenn du von dem Kö­nig und dem Hof und den vor­neh­men Da­men sprichst, kann ich mich gar nicht ge­nug wun­dern.«

»Und warum wun­dern?«

»Wenn ich den­ke, dass du, der du in­mit­ten sol­cher Pracht lebst, dich zu dem ein­fa­chen Hau­se ei­nes Krä­mers her­ab­las­sen kannst.«

»Was ent­hält die­ses Haus aber auch?«

»Das ist nun ge­ra­de das al­ler­wun­der­bars­te! Dass du, der du un­ter sol­chen Men­schen lebst, die so schön, so geist­reich sind, mich dei­ner Lie­be wert hal­ten kannst, mich, ein so stil­les Mäu­schen, die in der Ein­sam­keit uns­res großen Hau­ses so schüch­tern und scheu ge­wor­den ist. Es ist zu wun­der­bar!«

»Der Ge­schmack ist ver­schie­den«, ent­geg­ne­te ihr Vet­ter, in­dem er die klei­ne zier­li­che Hand strei­chel­te. »Es ist mit Frau­en wie mit Blu­men. Man­che mö­gen ja die große, strah­len­de Son­nen­blu­me vor­zie­hen, oder die Rose, die so glü­hend und herr­lich ist, dass sie ins Auge fal­len muss. Mir aber ge­fällt das klei­ne Veil­chen, das sich im Moo­se ver­birgt und doch so hold­se­lig an­zu­schau­en ist und so süß duf­tet. Nun – noch im­mer das Fält­chen auf dei­ner Stirn, Lieb­chen?«

»Ich woll­te, der Va­ter wäre erst zu­rück.«

»Wa­rum denn? Ist dir so ein­sam zu Mute?«

Über ihr blas­ses Ge­sicht flog ein hel­les Lä­cheln. »Ein­sam wer­de ich erst heu­te Abend sein! Aber ich bin doch im­mer un­ru­hig, wenn er fort ist. Man hört so viel von der Ver­fol­gung uns­rer ar­men Brü­der.«

»Pah! Der On­kel hat nichts zu fürch­ten!«

»Er ist zum Vor­ste­her der Krä­mer­gil­de ge­gan­gen we­gen der An­kün­di­gung ei­ner Dra­go­ne­rein­quar­tie­rung.«

»Da­von hast du mir ja noch gar nichts ge­sagt!«

»Hier ist sie.« Sie stand auf und nahm einen blau­en Pa­pier­strei­fen, von wel­chem ein ro­tes Sie­gel her­ab­hing, vom Ti­sche und reich­te ihn ih­rem Vet­ter. Amo­rys schwar­ze Brau­en zo­gen sich zu­sam­men, als er das Blatt über­flog, auf wel­chem ge­schrie­ben stand:

»Es wird Euch, Théo­phi­le Ca­ti­nat, Tuch­händ­ler in der Rue St. Mar­tin, hier­mit kund ge­tan, dass Ihr Euch be­reit hal­ten sol­let, zwan­zig Mann der blau­en Dra­go­ner von Langue­doc un­ter Ka­pi­tän Dal­bert auf­zu­neh­men, ih­nen Ob­dach und Un­ter­halt zu ge­ben bis auf wei­te­re Nach­richt.

(Un­ter­zeich­net) De Beau­vré Kö­nig­li­cher Be­voll­mäch­tig­ter.«

Ca­ti­nat wuss­te wohl, dass die­se Form der Maß­re­ge­lung sei­ner Glau­bens­ge­nos­sen in ganz Frank­reich üb­lich ge­wor­den war, aber er hat­te sich ge­schmei­chelt, dass die hohe Stel­lung, wel­che er bei Hofe ein­nahm, sei­nen Ver­wand­ten vor ei­ner sol­chen Ver­ge­wal­ti­gung schüt­zen wür­de. Mit ei­nem Zor­nes­ruf warf er das Pa­pier auf die Erde.

»Wann kom­men sie?«

»Va­ter sag­te, heu­te Abend.«

»Sie sol­len nicht lan­ge hier blei­ben. Mor­gen wer­de ich einen Be­fehl zum Ab­zug für sie er­wirkt ha­ben. Aber die Son­ne ist hin­ter die Mar­tins­kir­che ge­sun­ken, und ich soll­te schon un­ter­wegs sein.«

»Nein, nein! Du darfst noch nicht ge­hen!«

»Ich hät­te dich al­ler­dings gern erst in dem Schutz dei­nes Va­ters ge­se­hen, denn es ängs­tigt mich, dich al­lein zu las­sen, wo die Dra­go­ner je­den Au­gen­blick kom­men kön­nen. Und doch gilt kei­ne Ent­schul­di­gung, wenn ich nicht recht­zei­tig in Ver­sail­les bin. Aber sieh, da hält ein Rei­ter vor der Tür. Er trägt kei­ne Uni­form. Vi­el­leicht ist’s ein Bote dei­nes Va­ters.«

Das jun­ge Mäd­chen eil­te has­tig ans Fens­ter und blick­te hin­aus, wäh­rend ihre Hand auf der sil­ber­strot­zen­den Schul­ter des Vet­ters ruh­te.

»O!« rief sie, »das hat­te ich ganz ver­ges­sen. Es ist der Mann aus Ame­ri­ka. Va­ter sag­te, er wür­de heu­te kom­men.«

»Der Mann aus Ame­ri­ka!« wie­der­hol­te der Of­fi­zier über­rascht, und bei­de streck­ten die Köp­fe aus dem Fens­ter.

Der Rei­ter, ein stäm­mi­ger, breit­schult­ri­ger jun­ger Mann mit sorg­fäl­tig ra­sier­tem Ge­sicht und kurz ge­scho­re­nem Haar wand­te ih­nen die küh­nen Züge sei­nes sonn­ver­brann­ten Ge­sich­tes zu, wäh­rend sein Auge über die Front des Hau­ses lief. Er trug einen wei­chen, breit­kräm­pi­gen grau­en Filz­hut, des­sen Form Pa­ri­ser Au­gen ganz fremd war, aber sei­ne dunkle Klei­dung und die ho­hen Rei­ters­tie­fel hät­te je­der Bür­ger tra­gen kön­nen. Den­noch war sei­ne gan­ze Er­schei­nung so un­ge­wöhn­lich, dass sich be­reits ein Hau­fen Neu­gie­ri­ger um ihn ver­sam­melt hat­te, der ihn und sein Pferd mit off­nem Mun­de an­gaff­te. Eine ab­ge­nutz­te Flin­te mit un­ge­wöhn­lich lan­gem Lau­fe war mit dem Kol­ben an sei­nem Steig­bü­gel be­fes­tigt, wäh­rend die Mün­dung hin­ter ihm in die Luft rag­te. Von je­dem Sat­tel­knopf hing ein großer, schwar­zer Beu­tel her­ab, und eine bunt­far­bi­ge zu­sam­men­ge­roll­te Woll­de­cke war am Sat­tel­bo­gen be­fes­tigt. Sein Pferd, ein stark­glied­ri­ger Ap­fel­schim­mel, oben schweiß­glän­zend und un­ten mit ei­ner Schmutz­krus­te be­deckt, stand mit ein­ge­knick­ten Vor­der­bei­nen da, als sei es über­mü­det. Der Rei­ter, der in­zwi­schen das Haus ge­nug­sam be­trach­tet zu ha­ben schi­en, sprang leicht aus dem Sat­tel, mach­te Flin­te, De­cke und Beu­tel los, dräng­te sich kalt­blü­tig durch die gaf­fen­de Men­ge und klopf­te laut an die Tür.

»Wer ist er denn?« frag­te Ca­ti­nat. »Ein Ka­na­di­er? Ich selbst bin bei­na­he ein sol­cher. Ich habe eben­so­viel Freun­de jen­seits, wie dies­seits des Was­sers. Vi­el­leicht ken­ne ich ihn. Es gibt drü­ben nicht vie­le Bleich­ge­sich­ter, und vor drei Jah­ren gab es vom Sa­guenay bis zum Ni­pis­sing kaum eins, das ich nicht ge­se­hen hat­te.«

»Nein, er ist aus den eng­li­schen Pro­vin­zen, Amo­ry. Aber er re­det doch uns­re Spra­che. Sei­ne Mut­ter stamm­te aus un­serm Blut.«

»Und er heißt?«

»Amos – Amos – ach, die­se Na­men! Ja, Green, so war es – A­mos Green. Sein Va­ter steht mit dem mei­nen seit lan­ge in Ge­schäfts­ver­bin­dung und sen­det jetzt sei­nen Sohn, der im­mer im Wal­de ge­lebt hat, hier­her, um Men­schen und Städ­te ken­nen zu ler­nen. Aber mein Gott, was ist da pas­siert?«

Im Haus­flur hat­te sich plötz­lich ein mehr­stim­mi­ges Ge­heul und Ge­kreisch er­ho­ben, da­zwi­schen hör­te man eine Män­ner­stim­me und hin und her stür­zen­de Trit­te. Im Au­gen­blick war Ca­ti­nat hin­aus­ge­eilt. Ent­setzt und zu­gleich be­lus­tigt über das Schau­spiel, das sich sei­nen Bli­cken dar­bot, blieb er auf hal­ber Trep­pe ste­hen.

Zwei Mäg­de hat­ten sich zu bei­den Flursei­ten an die Wand ge­drückt und kreisch­ten in den höchs­ten Tö­nen mit der vol­len Kraft ih­rer Lun­gen. In der Mit­te dreh­te sich Pier­re, der alte Die­ner, des­sen Wür­de noch nie et­was hat­te er­schüt­tern kön­nen, wie ein Brumm­krei­sel in die Run­de, fuhr mit den Ar­men in der Luft um­her und brüll­te, dass man ihn im Lou­vre hät­te hö­ren kön­nen. An dem grau­wol­le­nen Strumpf, wel­cher sei­ne dür­re Wade be­deck­te, saß eine schwarz­haa­rig run­de Ku­gel, aus de­ren Ge­sicht ein ro­tes Äug­lein em­por­b­lin­zel­te, und zwei klei­ne wei­ße Zäh­ne blitz­ten da her­aus, wo sie sich ein­ge­bis­sen hat­ten. Auf das Ge­schrei kam so­eben der jun­ge Frem­de, wel­cher noch ein­mal zu sei­nem Pfer­de hin­aus­ge­gan­gen war, zu­rück­ge­stürzt, riss das Ge­schöpf los, schlug ihm zwei­mal über die Schnau­ze und warf es kopf­über in den Le­der­beu­tel, aus dem es her­aus­ge­kro­chen war.

»Es ist nichts«, sag­te er in vor­treff­li­chem Fran­zö­sisch; »es ist nur ein Bär.«

»O mein Gott!« rief Pier­re und wisch­te sich den Angst­schweiß von der Stirn. »O, das hat mich um fünf Jah­re äl­ter ge­macht! Ich stand in der Tür und mach­te dem Herrn, der hin­aus­ging, mei­ne Ver­beu­gung, und gleich dar­auf pack­te es mich von hin­ten!«

»Ich bin schuld dar­an; ich hat­te den Beu­tel nicht fest zu­ge­schnürt. Das Vieh war ge­ra­de an dem Tage zur Welt ge­kom­men, als wir New York ver­lie­ßen – nächs­ten Diens­tag wer­den es sechs Wo­chen. Spre­che ich mit Herrn Ca­ti­nat, dem Freun­de mei­nes Va­ters?«

»Nein, mein Herr«, sag­te der Gar­de­of­fi­zier von der Trep­pe aus. »Mein On­kel ist aus­ge­gan­gen, aber ich bin der Haupt­mann von Ca­ti­nat, Ih­nen zu die­nen, und dies ist Fräu­lein Ca­ti­nat, Ihre Wir­tin.«

Nun kam der Frem­de die Trep­pe her­auf und be­grüß­te die bei­den Ver­wand­ten mit der Mie­ne ei­nes Man­nes, der, wenn auch scheu wie ein wil­des Reh, doch ent­schlos­sen ist, eine Sa­che mit ei­ser­nem Wil­len durch­zu­füh­ren. Er ging mit ih­nen bis an das Wohn­zim­mer, war aber im nächs­ten Au­gen­blick wie­der ver­schwun­den und die Trep­pe hin­un­ter­ge­lau­fen. Ehe sie sich’s ver­sa­hen, war er je­doch zu­rück. In der Hand trug er ein ent­zückend wei­ches, glän­zen­des Fell, »Der Bär ist für Ihren Va­ter, mein Fräu­lein«, sag­te er. »Dies klei­ne Fell habe ich aus Ame­ri­ka für Sie mit­ge­bracht. Es ist nur eine Klei­nig­keit, aber man kann ein paar Mok­kas­ins oder eine Ta­sche dar­aus ma­chen.«

Adèle schrie auf vor Ent­zücken, als ihre Hän­de in das wei­che Vließ ver­san­ken. Wohl moch­te sie es be­wun­dern, denn kein Kö­nig der Welt konn­te schö­ne­res Pelz­werk ha­ben.

»Ach, das ist ja et­was Wun­der­schö­nes, mein Herr«, rief sie; »sa­gen Sie doch, von wel­chem Tie­re kommt es; und wo ha­ben Sie es her?«

»Es ist ein schwar­zer Fuchs. Ich schoss ihn selbst vo­ri­gen Herbst nahe bei den Iro­ke­sen­dör­fern am Onei­da­see.«

Adèle drück­te das Fell an ihre Wan­ge: ihr wei­ßes Ant­litz schim­mer­te mar­mor­gleich ge­gen sei­ne tie­fe Schwär­ze. »Es tut mir leid, dass mein Va­ter nicht hier ist, um Sie will­kom­men zu hei­ßen, mein Herr«, sag­te sie; »aber ich tue es sehr herz­lich an sei­ner Stel­le. Ihr Zim­mer ist oben. Pier­re wird es Ih­nen zei­gen, wenn Sie wün­schen.«

»Mein Zim­mer? Wozu?«

»Wozu? Nun zum Schla­fen.«

»Muss ich denn in ei­nem Zim­mer schla­fen?«

Ca­ti­nat lach­te über das be­stürz­te Ge­sicht des Ame­ri­ka­ners. »Wenn Sie es nicht wün­schen, brau­chen Sie nicht dar­in zu schla­fen«, sag­te er.

Des Frem­den Ant­litz er­hell­te sich, dann schritt er zu dem Hin­ter­fens­ter, wel­ches auf den Ho­fraum ging. »Ach!« rief er, »da un­ten ist ja eine Bu­che, mein Fräu­lein, un­ter die möch­te ich mich le­gen – mei­ne De­cke ist mir warm ge­nug – das habe ich lie­ber als das schöns­te Zim­mer. Im Win­ter kann man das ja nicht ent­beh­ren, aber im Som­mer er­sti­cke ich, wenn ich so ein­ge­schlos­sen lie­gen muss!«

»Sie kom­men wohl nicht aus ei­ner Stadt?« frag­te Ca­ti­nat.

»Mein Va­ter wohnt in New York. Er ist ein sehr kräf­ti­ger Mann, – er kann das aus­hal­ten, aber ich – ich habe so­gar an ein paar Ta­gen in Al­ba­ny oder Shenec­ta­dy ganz ge­nug. Mein gan­zes Le­ben habe ich in den Wäl­dern zu­ge­bracht.«

»Tun Sie ganz nach Be­lie­ben«, er­wi­der­te Adèle. »Mein Va­ter wird ge­wiss nichts da­ge­gen ha­ben, dass Sie schla­fen, wo es Ih­nen ge­fällt, und dass Sie sich ganz nach Ihren Wün­schen ein­rich­ten.«

»Ich dan­ke Ih­nen, mein Fräu­lein. Dann wer­de ich mei­ne Sa­chen dort aus­pa­cken und mein Pferd be­sor­gen.«

»Aber wozu das? Das kann doch Pier­re tun.«

»Ich bin ge­wohnt, es selbst zu ma­chen.«

»Dann kom­me ich mit Ih­nen«, sag­te der Of­fi­zier, »ich möch­te Ih­nen et­was sa­gen. Bis mor­gen, Adèle, lebe wohl!«

»Bis mor­gen, Amo­ry!«

Die bei­den jun­gen Män­ner gin­gen zu­sam­men hin­un­ter in den Hof.

»Sie ha­ben eine wei­te Rei­se ge­macht«, sag­te der Of­fi­zier un­ten zu dem Ame­ri­ka­ner.

»Ja, ich kom­me von Rou­en.«

»Sind Sie sehr müde?«

»Nein, ich bin sel­ten müde.«

»Dann blei­ben Sie bei Fräu­lein Adèle, bis ihr Va­ter zu­rück­kommt.«

»Wa­rum wün­schen Sie das?«

»Weil ich fort muss und sie viel­leicht ei­nes Be­schüt­zers be­darf.«

Der Frem­de sag­te nichts, aber er nick­te zu­stim­mend. Dann warf er sei­nen dunklen Rock ab und mach­te sich mit al­ler Kraft dar­an, sein von der Rei­se be­schmutz­tes Pferd ab­zu­rei­ben.

II. Ein Monarch im Négligé.

Es war am fol­gen­den Mor­gen. Die große Uhr von Ver­sail­les hat­te so­eben acht ge­schla­gen. Die Zeit war nahe, wo der Mon­arch auf­ste­hen muss­te. Durch die lan­gen Kor­ri­do­re und die mit Wand­ge­mäl­den ge­schmück­ten Ga­le­ri­en des un­ge­heu­ren Palas­tes ging ein lei­ses Sum­men und Schwir­ren, ein ge­dämpf­tes Geräusch von al­ler­lei Vor­be­rei­tun­gen; denn des Kö­nigs Auf­ste­hen war eine große Staats­ak­ti­on, bei der vie­le Men­schen eine Rol­le zu spie­len hat­ten. Ein Die­ner eil­te mit ei­nem damp­fen­den sil­ber­nen Be­cken vor­bei, das er Herrn von St. Quen­tin, dem Hof­bar­bier, brach­te. An­de­re lie­fen mit Ge­wän­dern über dem Arm ge­schäf­tig den Gang hin­ab, der zu dem Vor­zim­mer führ­te. Die Leib­gar­dis­ten in ih­ren pracht­vol­len blau- und sil­ber­nen Rö­cken rich­te­ten sich stramm em­por und fass­ten ihre Hel­le­bar­den fes­ter, wäh­rend der jun­ge Of­fi­zier, wel­cher sehn­süch­tig aus dem Fens­ter nach ei­ni­gen Höf­lin­gen ge­blickt hat­te, die auf den Ter­ras­sen lach­ten und plau­der­ten, sich kurz auf der Ha­cke um­dreh­te und nach der wei­ßen, gol­dum­rän­der­ten Tür des kö­nig­li­chen Schlaf­zim­mers hin­über­schritt.

Kaum hat­te er sich dort auf­ge­stellt, als der Tür­knopf lei­se von in­nen auf­ge­drückt wur­de. Die Tür dreh­te sich laut­los in den An­geln, ein Mann glitt schwei­gend hin­durch und schloss sie wie­der hin­ter sich.

»Pst!« sag­te er und drück­te die Fin­ger auf die schma­len, scharf­ge­schnit­te­nen Lip­pen, wäh­rend aus sei­nem glat­tra­sier­ten Ge­sicht und den em­por­ge­zo­ge­nen Brau­en eine Bit­te und zu­gleich eine War­nung sprach: »Der Kö­nig schläft noch.«

Flüs­ternd gin­gen die Wor­te un­ter der Grup­pe, die sich vor der Tür ver­sam­melt hat­te, von Mund zu Mund. Der Spre­cher, Herr Bon­tems, obers­ter Kam­mer­die­ner, gab dem wacht­ha­ben­den Of­fi­zier ein Zei­chen und ging ihm vor­an nach dem Fens­te­rer­ker, aus dem der­sel­be un­längst ge­kom­men war.

»Gu­ten Mor­gen, Haupt­mann von Ca­ti­nat«, sag­te er mit ei­ner Mi­schung von Ver­trau­lich­keit und Ach­tung in sei­ner Hal­tung.

»Gu­ten Mor­gen, Bon­tems! Wie hat der Kö­nig ge­schla­fen?«

»Vor­züg­lich.«

»Aber es ist sei­ne Zeit?«

»Noch nicht.«

»Sie wol­len ihn noch nicht we­cken?«

»In sie­ben und ei­ner hal­b­en Mi­nu­te.« Der Kam­mer­die­ner zog eine klei­ne, run­de Uhr her­vor, nach wel­cher der Mann sich rich­te­te, der selbst zwan­zig Mil­lio­nen Men­schen zur Richt­schnur diente.

»Wer hat den Be­fehl auf der Haupt­wa­che?«

»Ma­jor von Brissac.«

»Und Sie wer­den hier blei­ben?«

»Vier Stun­den lang habe ich heu­te beim Kö­nig Dienst.«

»Sehr wohl. Er hat mir ges­tern Abend nach dem pe­tit cou­cher, als er al­lein war, ei­ni­ge In­struk­tio­nen für den wacht­ha­ben­den Of­fi­zier ge­ge­ben. Er trug mir auf, Ih­nen zu sa­gen, dass Herr von Vi­von­ne nicht zum grand le­ver zu­ge­las­sen wer­den soll­te. Sie sol­len ihm dies mit­tei­len.«

»Ich wer­de es tun.«

»Fer­ner, – soll­te ein Brief­chen von ihr kom­men, – Sie ver­ste­hen mich, von der neu­en –«

»Ma­de­me de Main­te­non?«

»Ja­wohl. Aber es ist dis­kre­ter, kei­ne Na­men zu nen­nen. Soll­te sie ein Bil­let schi­cken, so sol­len Sie es an­neh­men und still­schwei­gend ab­lie­fern, wenn der Kö­nig Ih­nen dazu Ge­le­gen­heit gibt.«

»Es soll ge­sche­hen.«

»Soll­te aber die an­de­re kom­men, was nicht un­wahr­schein­lich ist – die an­de­re, Sie ver­ste­hen mich – die frü­he­re –«

»Ma­de­me de Mon­te­span.«

»O über Ihre ke­cke Sol­da­ten­zun­ge, Herr Haupt­mann! Soll­te sie kom­men, sage ich, so wer­den Sie ihr mit al­ler Höf­lich­keit ent­ge­gen­tre­ten, Sie ver­ste­hen mich, aber ihr um kei­nen Preis ge­stat­ten, das kö­nig­li­che Zim­mer zu be­tre­ten.«

»Sehr wohl, Bon­tems.«

»Und jetzt ha­ben wir nur noch drei Mi­nu­ten.«

Bon­tems strich durch die rasch an­wach­sen­de Grup­pe der in der Ga­le­rie War­ten­den mit stolz-de­mü­ti­ger Mie­ne, wie sie ei­nem Man­ne zu­kam, der, wenn auch nur ein Kam­mer­die­ner, doch als des Kö­nigs Kam­mer­die­ner der Kö­nig der Kam­mer­die­ner war. Dicht vor der Tür stand eine Rei­he Be­dien­ter, die in ge­pu­der­ten Perücken, ro­ten Plüsch­rücken und sil­ber­nen Ach­sel­schnü­ren prang­ten.

»Ist der Ofen­hei­zer hier?« frag­te Bon­tems.

»Ja, Herr«, er­wi­der­te ein Wür­den­trä­ger, wel­cher einen Hau­fen Kien­spä­ne auf ei­nem email­lier­ten Brett vor sich her trug.

»Der Öff­ner der Vor­hän­ge?«

»Hier, Herr.«

»Der Ent­fer­ner des Nacht­lichts?«

»Hier, Herr!«

»Passt auf, wenn ich euch rufe.«

Wie­der öff­ne­te er sacht die Tür und schlüpf­te in das ver­dun­kel­te Ge­mach.

Es war ein großes, vier­e­cki­ges Zim­mer mit zwei ho­hen Fens­tern, wel­che kost­ba­re Sam­met­vor­hän­ge dicht ver­hüll­ten. Durch ei­ni­ge Rit­zen schoss die Mor­gen­son­ne klei­ne Strah­len, die brei­ter wur­den, als sie über das Zim­mer hin­stri­chen und in lich­ten Fle­cken auf der hell­gelb­li­chen Wand la­ger­ten. Ein großer Arm­stuhl stand ne­ben dem aus­ge­brann­ten Feu­er im Schat­ten ei­nes ge­wal­ti­gen mar­mor­nen Ka­mins, des­sen Man­tel, in tau­send ge­wun­de­nen und ver­schlun­ge­nen Ara­bes­ken und Wap­pen­bil­dern auf­wärts ge­führt, zu­letzt in die reich ge­mal­te De­cke über­ging. In ei­nem Win­kel stand das schma­le, mit ei­nem Tep­pich be­deck­te Bett, auf dem der treue Bon­tems die Nacht zu­ge­bracht hat­te.

In der Mit­te des Ge­ma­ches stand ein großes Him­mel­bett mit Go­belin­vor­hän­gen, wel­che vom Kop­fen­de zu­rück­ge­zo­gen wa­ren. Rings­her­um lief ein vier­e­cki­ges Ge­län­der von po­lier­ten Stan­gen in sol­cher Ent­fer­nung, dass in­ner­halb die­ser Ein­frie­di­gung oder ruel­le ein fünf Fuß brei­ter frei­er Raum üb­rig blieb. Da­rin stand ein klei­ner runder, weiß­ge­deck­ter Tisch, dar­auf ein email­lier­ter Be­cher mit et­was Fron­ti­gnac und ein sil­ber­ner Tel­ler mit drei Schnitt­chen Hüh­ner­brust. Es konn­te ja vor­kom­men, dass der Kö­nig wäh­rend der Nacht ein Be­dürf­nis nach Spei­se und Trank hat­te.

Als Bon­tems ge­räusch­los das Zim­mer durch­maß, in des­sen moos­wei­chen Tep­pich sei­ne Füße ein­san­ken, konn­te er in der drücken­den, schlaf­duns­t­er­füll­ten Luft die lei­sen Atem­zü­ge des Schlum­mern­den ver­neh­men. Lang­sam trat er durch die Öff­nung des Ge­län­ders an das Bett her­an und war­te­te mit der Uhr in der Hand auf den ge­nau­en Au­gen­blick, in wel­chem die ei­ser­ne Ho­fe­ti­ket­te ver­lang­te, dass der Mon­arch ge­weckt wür­de. Vor ihm, un­ter der kost­ba­ren grü­nen De­cke von ori­en­ta­li­scher Sei­de, halb­ver­gra­ben in den wei­chen Va­len­ci­en­ner Spit­zen des Kis­sens, schau­te ein schwar­zer, bürs­ten­ähn­lich ge­scho­re­ner Kopf her­vor, und dar­un­ter hob sich eine ge­bo­ge­ne Nase über trot­zi­gen Lip­pen von dem wei­ßen Hin­ter­grün­de ab. Der Kam­mer­die­ner ließ die Uhr zu­schnap­pen und beug­te sich über den Schlä­fer.

»Ich habe die Ehre, Ew. Ma­je­stät mit­zu­tei­len, dass es halb neun Uhr ist.«

»Ah!« Der Kö­nig öff­ne­te lang­sam die großen dun­kel­brau­nen Au­gen, schlug ein Kreuz und küss­te eine klei­ne schwärz­li­che Re­li­qui­en­kap­sel, die er un­ter sei­nem Nacht­hem­de her­vor­zog. Dann rich­te­te er sich im Bett auf und blin­zel­te mit der Mie­ne ei­nes Man­nes, der sei­ne Ge­dan­ken sam­melt.

»Hast du dem wacht­ha­ben­den Of­fi­zier der Gar­de mei­ne Be­feh­le über­mit­telt, Bon­tems?«

»Ja, Sire.«

»Wer hat den Dienst?«

»Ma­jor von Brissac bei der Haupt­wa­che, Haupt­mann von Ca­ti­nat in der Ga­le­rie.«

»Ca­ti­nat! Ach ja, der jun­ge Mann, der bei Fon­tai­nebleau mein Pferd an­hielt. Ich er­in­ne­re mich sei­ner. Du kannst das Zei­chen ge­ben, Bon­tems.«

Der obers­te Kam­mer­die­ner schritt rasch nach der Tür und öff­ne­te sie weit. So­fort stürz­ten der Ofen­hei­zer und vier an­de­re ro­trö­cki­ge, be­pu­der­te Be­dien­te her­ein – dienst­eif­rig, laut­los und je­der nur auf sei­ne ei­ge­ne Pf­licht be­dacht. Der eine er­griff Bon­tems leich­te La­ger­statt und trug sie ins Vor­zim­mer; ein an­de­rer nahm den Tisch mit dem Nach­tim­biss und dem sil­ber­nen Leuch­ter fort, wäh­rend ein drit­ter die schwe­ren sam­m­et­nen Vor­hän­ge zu­rück­schlug und eine Licht­flut in das Ge­mach ein­ließ. Der Ofen­hei­zer leg­te zwei run­de Holz­blö­cke kreuzweis über die be­reits auf­fla­ckern­den Kien­spä­ne – denn die Mor­gen­luft war kühl – und zog dar­auf mit sei­nen Ka­me­ra­den ab.

Kaum hat­ten sie das Ge­mach ver­las­sen, als eine vor­neh­me­re Ge­sell­schaft das Schlaf­zim­mer be­trat. Voran gin­gen zwei Her­ren; der ers­te ein jun­ger Mann we­nig über zwan­zig Jah­re alt, von fei­er­lich pomp­haf­ter Hal­tung, mit­tel­groß, zur Wohl­be­leibt­heit ge­neigt, mit ei­nem wohl­ge­form­ten Bein und ei­nem Ge­sicht, das ei­ner hüb­schen Mas­ke glich, und das au­ßer dem ge­le­gent­li­chen Auf­blit­zen ei­ner mut­wil­li­gen Lau­ne völ­lig aus­drucks­los war. Er trug ein rei­ches ama­rant­far­be­nes Sam­met­kleid, und ein brei­tes, blau­es Sei­den­band über der Brust, un­ter wel­chem der fun­keln­de Rand des St.Lud­wigs­or­dens her­vor­sah. Sein Beglei­ter war ein Vier­zi­ger, von dunk­ler Haut­far­be, der wür­de­voll und fei­er­lich ein­her­schritt. Sein ein­fa­ches, aber kost­ba­res Ge­wand von schwar­zer Sei­de hat­te gol­de­ne Schlit­zen am Hal­se und an den Är­meln. Als das Paar dem Kö­nig ge­gen­über stand, deu­te­te eine ge­wis­se Ähn­lich­keit der drei Ge­sich­ter hin­läng­lich die Bluts­ver­wandt­schaft an und ließ er­ra­ten, dass der eine »Mon­sieur« war, der jün­ge­re Bru­der des Kö­nigs, der an­de­re da­ge­gen der Dau­phin Lud­wig, sein ein­zi­ges le­gi­ti­mes Kind und der Erbe ei­nes Thro­nes, den, nach dem wun­der­ba­ren Rate der Vor­se­hung, we­der er noch sei­ne Söh­ne je be­stei­gen soll­ten.

So stark aber auch die Ähn­lich­keit zwi­schen den drei Ge­sich­tern war, von de­nen je­des die kühn ge­bo­ge­ne Nase und das große brau­ne Auge der Bour­bo­nen, wie die di­cke Un­ter­lip­pe der Habs­bur­ger, ihr ge­mein­sa­mes Erb­teil von Anna von Ös­ter­reich, auf­wies, präg­te sich doch in ih­ren Zü­gen eine sehr be­deu­ten­de Ver­schie­den­heit des Tem­pe­ra­men­tes und Cha­rak­ters aus. Der Kö­nig stand jetzt in sei­nem sechs­und­vier­zigs­ten Jah­re, und das kurz­ge­schnit­te­ne schwar­ze Haar wur­de be­reits auf dem Schei­tel et­was dünn und spiel­te über den Schlä­fen ins Graue. Er be­wahr­te in­des­sen noch im­mer viel von der Schön­heit, die ihn in sei­ner Ju­gend aus­zeich­ne­te, nur dass sich ihr eine mit den Jah­ren zu­neh­men­de Wür­de und Stren­ge bei­misch­te. Sei­ne dunklen Au­gen wa­ren höchst aus­drucks­voll, und sei­ne scharf­ge­schnit­te­nen Züge wa­ren das Ent­zücken der Bild­hau­er und der Ma­ler. Ein fes­ter und doch be­weg­li­cher Mund, dich­te, schön ge­schwun­ge­ne Brau­en ga­ben sei­nem Ge­sicht das An­se­hen von Au­to­ri­tät und Macht, wäh­rend der un­ter­wür­fi­ge Aus­druck, wel­cher sei­nem Bru­der ei­gen war, einen Mann kenn­zeich­ne­te, des­sen gan­zes Le­ben eine lan­ge Übung in der Nach­gie­big­keit und Selbst­ver­nich­tung ge­we­sen war. Der Dau­phin da­ge­gen hat­te zwar ein re­gel­mä­ßi­ge­res Ge­sicht als sein Va­ter, aber er hat­te we­der in der Er­re­gung je­nes leb­haf­te Mie­nen­spiel, noch in der Ruhe jene kö­nig­li­che Hei­ter­keit, wel­che einen scharf­sin­ni­gen Beo­b­ach­ter zu der Be­mer­kung ver­an­lass­te, dass Lud­wig, wenn er auch nicht der größ­te Kö­nig war, der je ge­lebt, er sich doch vor­züg­lich dazu eig­ne­te, die Rol­le ei­nes sol­chen zu spie­len.

Hin­ter dem Soh­ne und dem Bru­der des Kö­nigs trat eine klei­ne Grup­pe von No­ta­beln1 und Hof­be­am­ten ein, wel­che die Pf­licht zu die­ser täg­li­chen Ze­re­mo­nie her­bei­ge­ru­fen hat­te. Da war der Groß­ge­wand­meis­ter und ers­te Kam­mer­herr, der Her­zog von Mai­ne, ein blas­ser, in schwar­zen Sam­met ge­klei­de­ter Jüng­ling, der das lin­ke Bein schwer nach­schlepp­te, und sein jün­ge­rer Bru­der, der klei­ne Graf von Tou­lou­se, bei­des il­le­gi­ti­me Söh­ne des Kö­nigs und der Ma­de­me de Mon­te­span. Hin­ter ih­nen kam der ers­te Gar­de­ro­ben­die­ner, ge­folgt von Fa­gon, dem ers­ten Leib­arzt, Te­lier, dem ers­ten Chir­ur­gen und drei­en in Schar­lach und Gold ge­klei­de­ten Pa­gen, wel­che die kö­nig­li­chen Klei­der tru­gen. Dies wa­ren die Teil­neh­mer an dem Fa­mi­li­enemp­fan­ge: die höchs­te Ehre, nach wel­cher der fran­zö­si­sche Adel stre­ben konn­te.

Bon­tems hat­te ei­ni­ge Trop­fen Wein­geist über des Kö­nigs Hän­de ge­gos­sen und sie wie­der in ei­ner sil­ber­nen Schüs­sel auf­ge­fan­gen; der ers­te Kam­mer­herr hat­te die Scha­le mit Weih­was­ser ge­reicht, mit wel­chem der Kö­nig sich be­kreuz­te und dazu das kur­ze Ge­bet an den hei­li­gen Geist mur­mel­te. Da­rauf nick­te er sei­nem Bru­der zu und rief ein kur­z­es Wort der Be­grü­ßung nach dem Dau­phin und dem Her­zog von Mai­ne hin­über. Dann schwang er sei­ne Bei­ne über den Bett­rand und saß nun da in sei­nem lan­gen sei­de­nen Nacht­ge­wand, un­ter dem die klei­nen wei­ßen Füße her­vor­bau­mel­ten – so saß er da, der Herr Frank­reichs und doch der Skla­ve je­des Wind­hau­ches, der vor Käl­te zu­sam­men­schau­der­te, wenn plötz­lich ein Zu­glüft­chen ihn be­rühr­te. Herr von St. Quen­tin, der hoch­ad­li­ge Bar­bier, warf einen pur­pur­ro­ten Pu­der­man­tel um die kö­nig­li­chen Schul­tern, und setz­te ihm eine lan­ge reich­ge­lock­te Perücke aufs Haupt, wäh­rend Bon­tems ihm die ro­ten St­rümp­fe an­zog und die ge­stick­ten Sam­met­pan­tof­feln vor ihm zu­recht stell­te. Der Mon­arch steck­te die Füße hin­ein, wi­ckel­te sich in sei­nen Pu­der­man­tel und schritt nach dem Ka­min hin­über, wo er sich in sei­nem Lehn­stuhl zu­recht setz­te und sei­ne ma­ge­ren, zar­ten Hän­de über die flam­men­den Holz­schei­te hielt, wäh­rend die üb­ri­gen im Halb­krei­se um­her­stan­den und auf das grand le­ver war­te­ten, wel­ches nun fol­gen soll­te.

»Was ist das, mei­ne Her­ren?« frag­te der Kö­nig plötz­lich und blick­te un­wil­lig um­her. »Es riecht hier nach Par­füm! Es hat doch wohl kei­ner von Ih­nen ge­wagt, ein Par­füm in das Au­di­enz­zim­mer zu brin­gen, da Sie ja wis­sen, wie wi­der­wär­tig mir so et­was ist.«

Die Ver­sam­mel­ten blick­ten ein­an­der an und er­schöpf­ten sich in Un­schulds­be­teu­run­gen. Der ge­treue Bon­tems war in­zwi­schen laut­los hin­ter ih­nen vor­bei­ge­schli­chen und hat­te den Mis­se­tä­ter ent­deckt.

»Mein Herr von Tou­lou­se, der Ge­ruch kommt von Ih­nen«, sag­te er.

Der Graf von Tou­lou­se, ein klei­ner rot­bä­cki­ger Jun­ge, wur­de dun­kel­rot bei der Ent­de­ckung.

»Ich bit­te um Ver­zei­hung, Sire, es ist mög­lich, dass Fräu­lein von Gram­mont mei­nen Rock mit ih­rem Riech­fläsch­chen be­spritzt hat, als wir ges­tern in Mar­ly zu­sam­men spiel­ten. Ich hat­te es nicht be­merkt, aber wenn es Ew. Ma­je­stät zu­wi­der ist –«

»Weg da­mit! weg da­mit!« rief der Kö­nig. »Puh! es er­stickt, es er­würgt mich! Öff­ne den un­te­ren Fens­ter­flü­gel, Bon­tems. Nein; lass gut sein, er ist schon fort! – Herr von St. Quen­tin, ist heu­te nicht un­ser Ra­sier­mor­gen?«

»Ja­wohl, Sire; al­les ist be­reit.«

»Wa­rum wird denn nicht an­ge­fan­gen? Es ist drei Mi­nu­ten nach der ge­wohn­ten Zeit! Ans Werk, mein Herr; und du, Bon­tems, gib das Zei­chen zum grand le­ver.« Au­gen­schein­lich war der Kö­nig heu­te Mor­gen nicht bei be­son­ders gu­ter Lau­ne. Er schoss ra­sche, fra­gen­de Bli­cke nach sei­nem Bru­der und sei­nen Söh­nen, aber St. Quen­tin wal­te­te jetzt sei­nes Am­tes und er­stick­te so aufs nach­drück­lichs­te jede et­wai­ge An­kla­ge oder höh­ni­sche Be­mer­kung, die auf sei­nen Lip­pen schwe­ben moch­te. Mit dem durch lan­ge Ge­wohn­heit er­zeug­ten Gleich­mut seif­te der Hof­be­am­te das kö­nig­li­che Kinn ein, ließ das Ra­sier­mes­ser rasch dar­über hin­glei­ten und wusch dann die Ober­flä­che mit ei­nem in Wein­geist ge­tauch­ten Schwamm ab. Ein an­de­rer Edel­mann half dar­auf dem Kö­nig sei­ne schwarz­sam­m­et­nen Knie­ho­sen an­zie­hen, ein drit­ter ord­ne­te und be­fes­tig­te sie, wäh­rend ein vier­ter den Pu­der­man­tel und das Nacht­ge­wand von den Schul­tern zog und das kö­nig­li­che Hemd dar­reich­te, das am Feu­er ge­wärmt wor­den war. Schu­he mit dia­man­te­nen Schnal­len, Ga­ma­schen und eine Schar­lach-Un­ter­wes­te wur­den ihm hin­ter­ein­an­der von vor­neh­men Ka­va­lie­ren an­ge­legt, von de­nen ein je­der ei­fer­süch­tig auf sein be­son­de­res Vor­recht ach­te­te. Über die Wes­te kam das blaue Band mit dem Kreuz des Or­dens vom hei­li­gen Geis­te in Bril­lan­ten, und das rote Band mit dem vom hei­li­gen Lud­wig.

Es war ein wun­der­li­ches Schau­spiel. Da saß der klei­ne Mann, Frank­reichs Herr­scher, gleich­gül­tig und un­tä­tig, die großen Au­gen auf die glü­hen­den Holz­schei­te ge­rich­tet, und ließ sich be­han­deln, wie eine Pup­pe. Und die ihm ge­schäf­tig ein Stück ums an­de­re an­leg­ten, wa­ren Män­ner, die alle ir­gend einen his­to­risch be­rühm­ten Na­men tru­gen, sich auch selbst wohl schon ein­mal im Krie­ge her­vor­ge­tan hat­ten!

Das schwar­ze Un­ter­ge­wand war an­ge­zo­gen, die rei­che Spit­zen­kra­vat­te zu­recht­ge­zupft, der lose Über­rock zu­ge­knöpft, zwei kost­ba­re Spit­zen­ta­schen­tü­cher wur­den auf ei­nem email­lier­ten Tel­ler her­bei­ge­tra­gen und je­des von ei­nem be­son­de­ren Hof­be­dien­ten in je eine Sei­ten­ta­sche ge­steckt. Der sil­ber­be­schla­ge­ne Spa­zier­stock von Eben­holz wur­de be­reit ge­legt, und der Mon­arch war für die Mü­hen des Ta­ges ge­rüs­tet.

Wäh­rend der hal­b­en Stun­de oder dar­über, die al­les dies ge­dau­ert ha­ben moch­te, war die Zim­mer­tür in un­un­ter­bro­che­ner Be­we­gung ge­we­sen. Name auf Name war dem dienst­tu­en­den Kam­mer­die­ner von dem wacht­ha­ben­den Haupt­mann zu­ge­flüs­tert und von dem dienst­tu­en­den Kam­mer­die­ner an den ers­ten Kam­mer­herrn wei­ter ge­ge­ben wor­den, und die also Ge­mel­de­ten hat­ten Ein­lass ge­fun­den. Je­der Ein­tre­ten­de ver­beug­te sich drei­mal tief zur Be­grü­ßung der Ma­je­stät, und schloss sich dann sei­ner eig­nen Kli­que oder Ko­te­rie an, um lei­se über die Neu­ig­kei­ten, das Wet­ter und die Plä­ne für den Tag zu plau­dern. Die Zahl der Zu­ge­las­se­nen wuchs von Mi­nu­te zu Mi­nu­te. Als end­lich das ers­te fru­ga­le Früh­stück des Kö­nigs: Wein mit Was­ser ge­mischt und Weiß­brot her­ein­ge­bracht wur­de, war das große Ge­mach ganz ge­füllt mit Her­ren, von de­nen vie­le dazu bei­ge­tra­gen ha­ben, die Epo­che Lud­wigs XIV. zur glän­zends­ten in der fran­zö­si­schen Ge­schich­te zu ma­chen.

Dicht ne­ben dem Kö­nig stand der bar­sche, aber ener­gi­sche Lou­vois, der seit Col­berts Tode all­mäch­ti­ge Kriegs­mi­nis­ter, und be­sprach eine mi­li­tä­ri­sche Fra­ge mit zwei Of­fi­zie­ren. Der eine von ih­nen war ein ho­her, statt­li­cher Sol­dat, der an­de­re von merk­wür­dig klei­ner Fi­gur, un­ter­setzt und miss­ge­stal­tet, der aber trotz­dem die Ab­zei­chen ei­nes Mar­schalls von Frank­reich trug und einen Na­men führ­te, der an der nie­der­län­di­schen Gren­ze für ein bö­ses Omen galt, denn man sah in François, Hen­ri de Mont­mo­ren­cy, Her­zog von Lu­xem­bour­g all­ge­mein schon Con­dés Nach­fol­ger, wie sein Ge­fähr­te Vau­ban der Tu­ren­nes war. Ne­ben ih­nen teil­te ein klei­ner weiß­haa­ri­ger Geist­li­cher mit mil­dem Ant­litz, der Pa­ter La Chai­se, Vos­su­et, dem be­red­ten Bi­schof von Meaux und dem großen, schmäch­ti­gen Abbé de Fénélon flüs­ternd sei­ne An­sich­ten über den Jan­se­nis­mus mit. Letz­te­rer hör­te mit be­wölk­ter Stirn die schar­fen Ur­tei­le an, denn er stand im Ver­dacht, von die­ser Ket­ze­rei nicht ganz un­be­fleckt ge­blie­ben zu sein.

Da war auch Le Brun, der Ma­ler im Krei­se sei­ner Kol­le­gen, dar­un­ter Ver­rio und La­guer­re, der Schöp­fer der Gar­ten­kunst Le Nôtre, die Bild­hau­er Gi­rar­don, Pu­get, Des­jard­ins und Coy­se­voy, de­ren Wer­ke den neu­en Palast des Kö­nigs ver­schö­nern hal­fen, alle in leb­haf­tem Ge­spräch über Kunst. Dicht ne­ben der Tür, ein fröh­li­ches Lä­cheln auf dem schö­nen Ge­sicht, plau­der­te Ra­ci­ne mit dem Dich­ter Boi­leau und dem Archi­tek­ten Man­sard. Alle drei lach­ten und scherz­ten mit ei­nem Frei­mut, wel­cher bei die­sen be­güns­tig­ten Die­nern des Kö­nigs na­tür­lich war – wa­ren sie doch die ein­zi­gen sei­ner Un­ter­ta­nen, wel­che un­an­ge­mel­det und ohne wei­te­re Förm­lich­keit in sei­nen Ge­mä­chern aus und ein ge­hen durf­ten.

»Was fehlt ihm heu­te Mor­gen?« frag­te Boi­leau flüs­ternd und deu­te­te mit dem Kopf nach der kö­nig­li­chen Grup­pe hin. »Ich fürch­te, der Schlaf hat sei­ne Stim­mung nicht ver­bes­sert.«

»Es wird im­mer schwe­rer, ihn zu amü­sie­ren«, sag­te Ra­ci­ne kopf­schüt­telnd. »Ich soll um drei Uhr in Ma­de­me de Main­te­n­ons Zim­mer sein – viel­leicht dass ein paar Sei­ten mei­ner ›Phädra‹ die ge­wünsch­te Wir­kung ha­ben.«

»Mein Freund«, sag­te der Archi­tekt, »mei­nen Sie nicht, dass die geist­rei­che Frau selbst eine bes­se­re Trös­te­rin sein dürf­te, als Ihre Phädra?«

»Sie ist al­ler­dings eine sel­te­ne Frau. Sie hat Ver­stand, sie hat Herz, sie hat Takt, kurz – sie ist be­wun­de­rungs­wür­dig.«

»Und doch be­sitzt sie eine Gabe zu viel.«

»Und die wäre?«

»Das Al­ter!«

»Pah! wer fragt nach ih­ren Jah­ren, wenn sie nur wie drei­ßig aus­sieht? Was für ein Auge! Welch ein Arm! Und au­ßer­dem, mei­ne Freun­de – ein Jüng­ling ist er auch nicht mehr!«

»Das ist et­was ganz an­de­res. Wenn ein Mann al­tert, so hat das nichts zu sa­gen; al­tert eine Frau, so ist das für sie eine Kala­mi­tät!«

»Sehr wahr! Al­lein ein jun­ger Mann folgt sei­nem Auge, ein al­tern­der sei­nem Ohr. Über vier­zig fes­selt uns die ge­wand­te Zun­ge; un­ter vier­zig das hüb­sche Ge­sicht.«

»O Sie Schalk! Sie hal­ten es für aus­ge­macht, dass fünf­und­vier­zig Jah­re mit Takt ge­gen neun­und­drei­ßig mit Schön­heit das Feld be­haup­ten wer­den! Nun, wenn Ihre Dame ge­won­nen hat, wird sie hof­fent­lich nicht ver­ges­sen, wer ihr zu­erst den Hof ge­macht hat!«

»Den­noch glau­be ich, dass Sie un­recht ha­ben, Ra­ci­ne!«

»Nun wir wer­den ja se­hen.«

»Und wenn Sie Un­recht ha­ben …«

»Nun, was dann?«

»Dann könn­te die Sa­che für Sie ernst­haft wer­den.«

»In­wie­fern?«

»Die Mar­qui­se von Mon­te­span be­sitzt ein gu­tes Ge­dächt­nis.«

»Vi­el­leicht ist ihr Ein­fluss bald nur noch – eine Erin­ne­rung!«

»Ver­las­sen Sie sich nicht zu fest dar­auf, mein Freund. Als die Fon­tan­ges aus der Pro­vence kam mit ih­ren blau­en Au­gen und ih­rem kup­fer­far­bi­gen Haar, war es in je­der­manns Mun­de: – die Tage der Mon­te­span sind ge­zählt! Jetzt liegt die Fon­tan­ges sechs Fuß un­ter der Kryp­ta ei­ner Kir­che, und die Mar­qui­se war vo­ri­ge Wo­che zwei Stun­den beim Kö­nig, Sie hat ein­mal ge­won­nen und kann wie­der ge­win­nen.«

»Dies ist aber auch eine ganz and­re Ne­ben­buh­le­rin. Die ist kein blo­ßes Gäns­chen vom Lan­de, son­dern die klügs­te Frau in Frank­reich.«

»Pah, Ra­ci­ne! Sie ken­nen doch un­sern Herrn ge­nau, we­nigs­tens soll­ten Sie ihn ken­nen, denn seit den Ta­gen der Fron­de sind Sie ihm stets zur Sei­te ge­we­sen. Glau­ben Sie wirk­lich, dass er der Mann dazu ist, sich auf die Län­ge durch Pre­dig­ten un­ter­hal­ten zu las­sen, oder sein Le­ben­lang zu den Fü­ßen ei­ner ält­li­chen Dame zu sit­zen, sie bei ih­rer Ta­pis­se­rie­ar­beit zu be­ob­ach­ten und ih­ren Pu­del zu lieb­ko­sen, wenn die schöns­ten Ge­sich­ter und die glän­zends­ten Au­gen Frank­reichs in sei­nen Sa­lons so zahl­reich zu fin­den sind, wie Tul­pen auf ei­nem hol­län­di­schen Blu­men­beet? Nein, nein; die Mon­te­span wird auch hier das Feld be­hal­ten, und wenn nicht sie, dann eine jün­ge­re Schön­heit.«

»Mein teu­rer Boi­leau, ich sage noch ein­mal, ihre Son­ne ist im Un­ter­ge­hen. Ha­ben Sie nicht das neues­te ge­hört?«

»Nicht ein Wort.«

»Der Zu­tritt ist ih­rem Bru­der, dem Herrn von Vi­von­ne, ver­bo­ten.«

»Un­mög­lich.«

»Tat­sa­che.«

»Und wann?«

»Heu­te Mor­gen.«

»Von wem ha­ben Sie das ge­hört?«

»Von Ca­ti­nat, dem wacht­ha­ben­den Of­fi­zier. Er hat­te Be­fehl, ihn zu­rück­zu­wei­sen.«

»Ha! Dann al­ler­dings führt der Kö­nig Übles im Schil­de. Da­rum also ist sei­ne Stirn so be­wölkt! Mei­ner Treu, wenn die Mar­qui­se den Mut hat, der ihr all­ge­mein zu­ge­schrie­ben wird, könn­te er doch fin­den, dass es leich­ter war, sie zu ge­win­nen, als sie fal­len zu las­sen.«

»Ja­wohl; die Mor­te­marts sind nicht Leu­te, die man so oben­hin be­han­delt.«

»Der Him­mel gebe, dass er un­ver­letzt aus die­ser Klem­me kommt! Aber wer ist der Herr, der eben ein­tritt? Sein Ge­sicht sieht et­was grim­mi­ger aus, als man’s bei Hofe ge­wohnt ist. Ha! der Kö­nig er­blickt ihn auch, und Lou­vois winkt ihn her­an. Mei­ner Treu, der ge­hört auch zu den Leu­ten, de­nen in ei­nem Zelt woh­ler ist, als un­ter ei­nem ge­mal­ten Pla­fond.«

Der Frem­de, wel­cher Ra­ci­nes Auf­merk­sam­keit er­regt hat­te, war ein ho­her, schmäch­ti­ger Mann mit kühn ge­bo­ge­ner Ad­ler­na­se, stren­gen, durch­boh­ren­den grau­en Au­gen, die un­ter bu­schi­gen Brau­en her­vorflamm­ten, und ei­nem Ant­litz, das von Al­ter, Sor­ge und Un­bill der Wit­te­rung so durch­furcht und ge­zeich­net war, dass es sich un­ter den glat­ten Höf­lings­ge­sich­tern rings­um aus­nahm, wie ein al­ter Ha­bicht in ei­nem Kä­fig voll bunt­ge­fie­der­ter Vö­gel. Er trug einen dun­kel­far­bi­gen An­zug, wie er bei Hofe Mode ge­wor­den war, seit­dem der Kö­nig mit der Fon­tan­ges die Prunk­lie­be be­sei­tigt hat­te, aber das Schwert, wel­ches von sei­nem Wehr­ge­henk her­ab­hing, war kein Galan­te­rie­de­gen, son­dern eine tüch­ti­ge Klin­ge mit Mes­sing­griff in ei­ner fle­cki­gen Le­der­schei­de, wel­che au­gen­schein­lich manch erns­ten Dienst ge­leis­tet hat­te. Den schwarz­be­fie­der­ten Filz­hut in der Hand, hat­te er an der Tür ge­stan­den und mit halb be­lus­tig­tem, halb ver­ächt­li­chem Aus­druck auf die Grup­pen der eif­rig Plau­dern­den um­her ge­blickt; auf das Zei­chen des Kriegs­mi­nis­ters aber be­gann er mit den El­len­bo­gen sich sei­nen Weg zu bah­nen, in­dem er alle, die ihm in den Weg ka­men, sehr un­ce­re­mo­ni­ös bei­sei­te stieß.

Lud­wig be­saß die kö­nig­li­che Gabe des Wie­de­rer­ken­nens in ho­hem Gra­de. »Ich habe ihn vie­le Jah­re nicht ge­se­hen, aber ich er­in­ne­re mich sei­nes Ge­sichts noch sehr gut«, sag­te er zu dem Mi­nis­ter. »Es ist der Graf Fron­tenac, nicht wahr?«

»Ja, Sire«, er­wi­der­te Lou­vois; »es ist wirk­lich Louis de Bua­de, Graf von Fron­tenac, der bis­he­ri­ge Gou­ver­neur von Ca­na­da.«

»Wir freu­en uns, Sie ein­mal wie­der bei un­serm Le­ver zu se­hen«, sag­te der Mon­arch, als der alte Edel­mann das Haupt neig­te und die ihm ent­ge­gen­ge­streck­te wei­ße Hand küss­te. »Wir hof­fen, dass die ca­na­di­sche Käl­te die Wär­me Ih­rer Loya­li­tät nicht ab­ge­kühlt hat.«

»Der Tod al­lein, Sire, wäre dazu kalt ge­nug.«

»Dann le­ben wir der Zu­ver­sicht, Sie uns noch lan­ge Jah­re er­hal­ten zu se­hen. Wir ha­ben längst ge­wünscht, Ih­nen für alle Mühe und Sorg­falt zu dan­ken, wel­che Sie uns­rer Pro­vinz ge­wid­met ha­ben, und wenn wir Sie zu­rück­be­rie­fen, so ge­sch­ah das haupt­säch­lich, weil wir gern von Ihren eig­nen Lip­pen ge­hört hät­ten, wie die Sa­chen dort ste­hen. Und zu­erst, da das Reich Got­tes dem Rei­che Frank­reich vor­geht, wie ge­deiht die Be­keh­rung der Hei­den?«

»Wir kön­nen nicht kla­gen, Sire. Die gu­ten Vä­ter der Ge­sell­schaft Jesu und die Re­kol­lek­ten2 ha­ben ihr Bes­tes ge­tan, ob­gleich sie al­ler­dings oft die Nei­gung ha­ben, die An­ge­le­gen­hei­ten des Jen­seits ru­hen zu las­sen, um sich in die des Dies­seits ein­zu­mi­schen.«

»Was sa­gen Sie dazu, Va­ter?« frag­te Lud­wig und blick­te mit schel­mi­schem Au­gen­zwin­kern zu sei­nem je­sui­ti­schen Beicht­va­ter hin­über.

»Ich sage, Sire, dass, wenn die An­ge­le­gen­hei­ten des Dies­seits im Zu­sam­men­hange ste­hen mit de­nen des Jen­seits, so ist es al­ler­dings die Pf­licht ei­nes gu­ten Pries­ters, wie die je­des an­de­ren gu­ten Ka­tho­li­ken, sie rich­tig zu lei­ten.«

»Zu­ge­ge­ben, Sire«, sag­te Fron­tenac, und eine zor­ni­ge Blut­wel­le stieg in sei­ne ge­bräun­ten Wan­gen, »aber so lan­ge Ew. Ma­je­stät mir die Ehre er­wie­sen, die­se An­ge­le­gen­hei­ten mei­ner Lei­tung an­zu­ver­tau­en, durf­te ich kei­ne Ein­mi­schung in der Aus­übung mei­ner Pf­lich­ten dul­den, moch­te der Un­be­ru­fe­ne nun Hof­kleid oder Kut­te tra­gen!«

»Ge­nug, Graf, ge­nug!« un­ter­brach ihn Lud­wig in schnei­den­dem Tone. »Ich hat­te Sie nach den Mis­sio­nen ge­fragt.«

»Die Mis­sio­nen ge­dei­hen, Sire. Wir ha­ben Iro­ke­sen am Sault und in den Ber­gen, Hu­ro­nen in Lo­ret­te, Al­gon­kins am gan­zen Flus­sufer ent­lang von Ta­du­sac im Os­ten bis nach Sault la Ma­rie und so­gar in den großen Ebe­nen der Da­ko­tas, wel­che alle das Kreuz an­be­ten. Mar­quet­te ist den Fluss des Wes­tens hin­ab­ge­zo­gen und pre­digt den Il­li­ne­sen, und die Je­sui­ten ha­ben das Evan­ge­li­um so­gar bis zu den Krie­gern des Lan­gen Hau­ses in ihre Wig­wams zu Onon­da­ga ge­tra­gen.«

»Ich darf wohl hin­zu­fü­gen, Ew. Ma­je­stät«, sag­te Pa­ter La Chai­se, »dass sie, als sie dort das Wort der Wahr­heit aus­sä­e­ten, nur zu oft ihr Le­ben da­bei lie­ßen.«

»Ja, Sire, das muss wahr sein«, rief Fron­tenec mit Wär­me. »Ew. Ma­je­stät zählt vie­le tapfre Män­ner in Ihren Hee­ren, aber kei­ne, die tap­fe­rer sind, als die­se Mis­sio­na­re. Sie sind von den Iro­ke­sen­dör­fern am Ri­che­lieuf­luss zu­rück­ge­kom­men mit aus­ge­ris­se­nen Nä­geln, ab­ge­hack­ten Fin­gern, aus­ge­brann­ten Au­gen und Nar­ben von Kien­split­tern auf ih­rem Lei­be so dicht wie die gold­nen Li­li­en auf je­nem Vor­hange. Und den­noch, wenn die gu­ten Ur­su­li­ne­rin­nen sie ein paar Wo­chen ge­pflegt, be­nutz­ten sie das üb­rig ge­blie­be­ne Auge nur, um das In­dia­ner­land wie­der auf­zu­su­chen, wo sich so­gar die Hun­de vor ih­ren ver­stüm­mel­ten Ge­sich­tern und ver­renk­ten Glie­dern ent­setz­ten.«

»Und Sie ha­ben das zu­ge­las­sen?« fuhr Lud­wig auf. »Sie ha­ben die­se schänd­li­chen Mord­ge­sel­len le­ben las­sen?«

»Ich habe um Trup­pen ge­be­ten, Sire.«

»Und ich habe wel­che ge­sandt.«

»Ein Re­gi­ment.«

»Das Re­gi­ment Ca­ri­gnan-Sa­liè­re. Ich habe kein bes­se­res in mei­nen Diens­ten.«

»Wir brau­chen aber mehr, Sire.«

»Da sind doch die Ca­na­di­er selbst. Ha­ben Sie kei­ne Mi­liz? Kön­nen Sie denn nicht eine ge­nü­gen­de An­zahl aus­he­ben, um die­se schur­ki­schen Mör­der der Pries­ter Got­tes zu be­stra­fen? Ich hat­te Sie im­mer für einen Sol­da­ten ge­hal­ten.«

Fron­tenacs Au­gen flamm­ten auf, und einen Au­gen­blick lang war es, als zit­te­re eine has­ti­ge Ant­wort auf sei­nen Lip­pen, aber der feu­ri­ge alte Mann hielt sich ge­walt­sam zu­rück. »Ew. Ma­je­stät kön­nen am bes­ten er­fah­ren, ob ich ein Sol­dat bin oder nicht«, sag­te er, »wenn Sie die­je­ni­gen fra­gen, wel­che mich bei Se­nef, Mühl­hau­sen, Sulz­bach und zwan­zig an­de­ren Or­ten ge­se­hen ha­ben, wo ich die Ehre hat­te, Ew. Ma­je­stät Sa­che zu ver­fech­ten.«

»Ihre Diens­te sind nicht ver­ges­sen wor­den.«

»Gera­de weil ich ein Sol­dat bin und et­was vom Krie­ge ge­se­hen habe, weiß ich, wie schwer es ist, in ein Land, das viel grö­ßer ist, als die Nie­der­lan­de, vor­zu­drin­gen, in ein Land, das dicht be­wal­det und vol­ler Sümp­fe ist, wo hin­ter je­dem Baum ein Wil­der lau­ert, wel­cher, wenn er auch nicht ge­lernt hat, Tritt zu hal­ten und in der Schlacht­li­nie zu ste­hen, doch das flüch­ti­ge Renn­tier auf zwei­hun­dert Schritt si­cher trifft und drei Mei­len zu­rück­le­gen kann, wo wir eine ge­hen. Und hat man end­lich ihre Dör­fer er­reicht und ihre lee­ren Wig­wams und we­ni­gen Mais­fel­der ver­brannt, was ist da­mit ge­won­nen? Man kann wei­ter nichts tun, als wie­der heim­zie­hen, wäh­rend eine Wol­ke un­sicht­ba­rer Män­ner einen um­schwärmt und für je­den Nach­züg­ler ein Skal­p­ge­heul er­tönt. Sie sind selbst Sol­dat, Sire. Ich fra­ge Sie, ob solch ein Krieg leicht ist für eine Hand­voll Sol­da­ten mit ein paar Lehns­leu­ten, die di­rekt vom Pflug kom­men, und ei­ner Trup­pe Wald­läu­fer, de­ren Ge­dan­ken die gan­ze Zeit über bei ih­ren Fal­len und Bi­ber­häu­ten sind.«

»Nein, nein; es tut mir leid, wenn ich zu has­tig ge­spro­chen habe«, sag­te Lud­wig. »Wir wol­len die Sa­che in un­serm Staats­rat über­le­gen.«

»Mein Herz wird warm, wenn ich Ew. Ma­je­stät so spre­chen höre«, rief der Gou­ver­neur. »Es wird Freu­de sein den gan­zen Lo­renz­strom ent­lang in wei­ßen und in ro­ten Her­zen, wenn be­kannt wird, dass ihr großer Va­ter über dem Was­ser ih­nen sein Ant­litz zu­ge­wen­det hat!«

»Und doch dür­fen Sie nicht zu viel er­war­ten, Graf, denn Ca­na­da hat uns schon viel Geld ge­kos­tet, und wir ha­ben vie­le Ver­pflich­tun­gen in Eu­ro­pa.«

»Ach, Sire, könn­ten Sie doch je­nes große Land se­hen! Wenn Ew. Ma­je­stät hier in der al­ten Welt einen Feld­zug ge­won­nen ha­ben, was ha­ben Sie da­von? Et­was Ruhm, ein paar Mei­len Land, Lu­xem­burg, Straß­burg, eine Stadt mehr im Kö­nig­reich; da drü­ben aber liegt mit ei­nem Zehn­tel der Kos­ten und ei­nem Hun­derts­tel der Machtent­fal­tung eine Welt für Sie be­reit. Ca­na­da ist so groß, Sire, so reich, so schön! Wo fin­den Sie wie­der sol­che Ber­ge, sol­che Wäl­der, sol­che Strö­me! Und al­les ist un­ser, wenn wir’s nur neh­men wol­len! Wer steht uns im Wege? Ein paar Stäm­me zer­streu­ter In­dia­ner und ein dün­ner Strich eng­li­scher Acker­bau­er und Fi­scher. Wen­den Sie Ihre Ge­dan­ken dort­hin, Sire, und in we­ni­gen Jah­ren wer­den Sie auf der Ci­ta­del­le Que­bec ste­hen und sa­gen kön­nen: es gibt ein großes Reich von den Schnee­fel­dern des Nor­dens bis zu dem war­men Golf des Sü­dens, von den Wo­gen des Ozeans bis zu den großen Ebe­nen jen­seits Mar­quet­tes Strom, und der Name die­ses Rei­ches ist Frank­reich, und sein Kö­nig ist Lud­wig und sei­ne Fah­ne ist das Li­li­en­ban­ner!«

Lud­wigs Wan­ge er­glüh­te bei die­sem ehr­gei­zi­gen Bil­de, und er beug­te sich leuch­ten­den Blickes in sei­nem Stuh­le vor; als aber der Gou­ver­neur ge­schlos­sen hat­te, sank er wie­der zu­rück.

»Auf mein Wort, Graf«, sag­te er, »Sie ha­ben sich et­was von der in­dia­ni­schen Gabe der Be­red­sam­keit an­ge­eig­net, von der wir so viel ge­hört ha­ben. Aber um auf die eng­li­schen An­sied­ler zu kom­men. Nicht wahr, es sind Hu­ge­not­ten?«

»Größ­ten­teils. Be­son­ders im Nor­den.«

»Da wäre es ja ein der hei­li­gen Kir­che ge­leis­te­ter Dienst, wenn man sie weg­jag­te. Ich höre, sie ha­ben dort eine Stadt. New – New – Wie heißt sie doch?«

»New York, Sire. Sie ha­ben sie den Hol­län­dern weg­ge­nom­men.«

»Ja­wohl, New York. Und habe ich nicht von noch ei­ner ge­hört? Bos– Bos –«

»Bo­ston, Sire.«

»Rich­tig. Die­se Hä­fen könn­ten uns von Nut­zen sein. Sa­gen Sie, Graf«, er dämpf­te sei­ne Stim­me, so­dass sei­ne Wor­te nur Fron­tenac, Bou­vois und der un­mit­tel­ba­ren kö­nig­li­chen Um­ge­bung ver­nehm­lich blie­ben, »wie viel Trup­pen wür­den Sie brau­chen, um die­se Leu­te zu ver­trei­ben. Ein – zwei Re­gi­men­ter, und viel­leicht eine oder zwei Fre­gat­ten?«

Aber der Ex­gou­ver­neur schüt­tel­te den grau­en Kopf. »Sire, Sie ken­nen sie nicht«, sag­te er. »Es sind dies ei­sen­har­te Ker­le. Wir in Ca­na­da ha­ben es trotz Ih­rer gnä­di­gen Hil­fe schwer ge­fun­den, uns zu be­haup­ten. Die­se Män­ner aber ha­ben kei­ne Hil­fe, son­dern nur Hin­der­nis­se ge­habt bei Käl­te und Krank­hei­ten, Un­frucht­bar­keit des Bo­dens und In­dia­ner­krie­gen, und doch sind sie ge­die­hen und ha­ben sich ver­mehrt, so­dass die Wäl­der vor ih­nen da­hin­schwin­den, wie Schnee vor der Son­ne und ihre Kir­chen­glo­cken heu­te da er­klin­gen, wo ges­tern noch die Wöl­fe heul­ten. Es sind fried­lie­ben­de Leu­te und lang­sam zum Krie­ge; wenn sie aber ein­mal die Hand dazu er­ho­ben ha­ben, so las­sen sie noch we­ni­ger gern da­von ab. Um Neu-Eng­land in Ew. Ma­je­stät Hän­de zu lie­fern, wür­de ich fünf­zehn­tau­send Ih­rer bes­ten Trup­pen und zwan­zig Li­ni­en­schif­fe er­bit­ten.«

Lud­wig sprang un­ge­dul­dig von sei­nem Stuhl auf und fass­te sei­nen Stock. »Wir woll­ten«, sag­te er, »Sie ahm­ten die­sen Leu­ten, die Ih­nen so furcht­bar vor­kom­men, dar­in nach, dass Sie sich selbst hil­fen! Die Sa­che mag bis zum Staats­rat ru­hen. Ehr­wür­di­ger Va­ter, die Stun­de des Got­tes­diens­tes hat ge­schla­gen und al­les an­de­re mag war­ten, bis wir dem Him­mel uns­re Pf­licht be­zahlt ha­ben.« Der Kö­nig ent­nahm den Hän­den ei­nes Die­ners ein Mess­buch und schritt, so schnell sei­ne sehr ho­hen Ha­cken es ihm er­laub­ten, nach der Tür. Der Hof bil­de­te Spa­lier und schloss sich hin­ter ihm zu­sam­men, um dann der Rang­ord­nung ge­mäß ihm zu fol­gen.

An­ge­hö­ri­gen der so­zia­len Ober­schicht  <<<

Name der Kon­gre­ga­tio­nen strengs­ter Ob­ser­vanz, be­son­ders im Fran­zis­ka­ner­or­den.  <<<

III. Die Verteidigung der Tür.

Wäh­rend Lud­wig sei­nem Hofe das höchs­te ir­di­sche Ver­gnü­gen – wie er es ein­mal selbst be­zeich­ne­te – näm­lich den An­blick des kö­nig­li­chen Ant­lit­zes ge­währ­te, hat­te der jun­ge Of­fi­zier drau­ßen reich­li­che Be­schäf­ti­gung: er muss­te die Na­men und Ti­tel der zahl­rei­chen Per­so­nen, wel­che den Zu­tritt er­ba­ten, wei­ter mel­den. Ge­wöhn­lich tausch­te er da­bei ein Lä­cheln oder ein kur­z­es Wort des Gru­ßes mit ih­nen aus, denn sein of­fe­nes, hüb­sches Ge­sicht war bei Hofe al­len wohl­be­kannt. Mit sei­nen fröh­li­chen Au­gen und sei­nem fri­schen We­sen mach­te er den Ein­druck ei­nes Man­nes, der sich mit For­tu­na gut steht. Sie hat­te ihm in der Tat ihre Gunst zu­ge­wandt. Noch vor drei Jah­ren war er Un­ter­lieu­ten­ant ge­we­sen, der sich mit Al­gon­kins und Iro­ke­sen in den Wild­nis­sen von Ca­na­da her­um­schlug. Eine Ver­set­zung hat­te ihn zwar nach Frank­reich zu­rück und ins Re­gi­ment Pi­car­die ge­führt, aber nur ein glück­li­cher Zu­fall hat­te voll­bracht, was zehn Feld­zü­ge kaum ver­mocht hät­ten! An ei­nem Win­ter­ta­ge war er näm­lich des Kö­nigs Pferd in den Zü­gel ge­fal­len, als das sich hoch­auf­bäu­men­de Tier be­reits hart am Ran­de ei­ner tie­fen Kies­gru­be war, und hat­te sich da­durch Lud­wigs Gunst er­wor­ben. Heu­te in der Ver­trau­ens­stel­lung als Haupt­mann der kö­nig­li­chen Leib­wa­che, jung, tap­fer und be­liebt, war sein Los in der Tat be­nei­dens­wert.

Und doch – wie es der selt­sa­me Wi­der­spruchs­geist der mensch­li­chen Na­tur mit sich bringt – war er be­reits über­sät­tigt von der bei al­ler Pracht so ein­tö­ni­gen Rou­ti­ne des kö­nig­li­chen Haus­hal­tes und warf sehn­süch­ti­ge Bli­cke zu­rück nach den raue­ren, aber freie­ren Ta­gen sei­ner ers­ten Dienst­zeit. Selbst hier an der kö­nig­li­chen Tür schweif­ten sei­ne Ge­dan­ken hin­aus aus der fres­ko­ge­schmück­ten Ga­le­rie mit ih­ren Höf­lin­gen zu den wil­den Schluch­ten und schäu­men­den Strö­men des Wes­tens. Da fie­len sei­ne Bli­cke plötz­lich auf ein Ge­sicht, wel­ches er in eben je­nen Ge­gen­den zum letz­ten­mal ge­se­hen.

»Ah, Herr von Fron­tenac!« rief er. »Sie kön­nen mich nicht ver­ges­sen ha­ben!«

»Was! Ca­ti­nat! Wahr­haf­tig, das ist eine Freu­de, ein Ge­sicht von jen­seits des Was­sers zu se­hen! Aber es ist ein wei­ter Schritt vom Un­ter­lieu­ten­ant im Re­gi­ment Ca­ri­gnan bis zum Haupt­mann in der Leib­wa­che. Sie sind schnell avan­ciert.«

»Ja, und doch bin ich dar­um wohl nicht glück­li­cher. Es gibt Zei­ten, wo ich al­les dran­ge­ben wür­de, um in ei­nem Bir­ken­ka­noe die rei­ßen­den Strom­schnel­len des La­chi­ne hin­ab­zu­sau­sen, oder wenn die Blät­ter fal­len, sie noch ein­mal rot und gelb auf den Berg­hän­gen schim­mern zu se­hen!«

»Ach ja!« seufz­te Fron­tenac. »Sie wis­sen, mein Stern sank, als der Ihre auf­ging. Ich bin ab­be­ru­fen wor­den, und La Bar­re nimmt mei­ne Stel­le ein. Ge­gen die­sen Mann wird sich aber dort ein Sturm er­he­ben, dem er nicht stand hal­ten kann. Wenn die Iro­ke­sen ih­ren Skalp­tanz tan­zen und Don­gan in New York sie aus dem Hin­ter­hal­te hetzt, wird man mich brau­chen, und man soll mich be­reit fin­den, wenn man nach mir schickt! Jetzt will ich den Kö­nig spre­chen, und will ver­su­chen, ob ich ihn nicht dazu brin­gen kann, dort so­wohl wie hier, den großen Mon­ar­chen zu spie­len. Hät­te ich nur sei­ne Macht in mei­nen Hän­den, so wür­de ich die Welt­ge­schich­te um­ge­stal­ten!«

»Still! Kei­nen Hoch­ver­rat vor dem Haupt­mann der Leib­wa­che«, lach­te Ca­ti­nat, als der trut­zi­ge alte Sol­dat an ihm vor­bei zur Au­di­enz schritt.

Wäh­rend die­ser kur­z­en Un­ter­hal­tung war ein kost­bar in schwarz und sil­ber ge­klei­de­ter Ka­va­lier her­bei­ge­kom­men, und ging, so­bald sich die Tür öff­ne­te, mit der Si­cher­heit ei­nes Man­nes dar­auf zu, des­sen Recht au­ßer je­dem Zwei­fel steht. Ca­ti­nat in­des­sen trat ihm in den Weg und ver­sperr­te ihm die Tür.

»Es tut mir sehr leid, Herr von Vi­von­ne«, sag­te er, »der Zu­tritt ist Ih­nen nicht ge­stat­tet.«

»Nicht ge­stat­tet! Mir! Sie sind toll!« Mit fah­lem Ge­sicht und stie­ren Au­gen trat er zu­rück, eine zit­tern­de Hand wie zum Pro­test halb er­he­bend.

»Ich ver­si­che­re Sie, es ist sein Be­fehl.«

»Aber es ist un­glaub­lich, es ist ein Irr­tum!«

»Sehr mög­lich.«

»Sie wer­den mich also pas­sie­ren las­sen?«

»Mei­ne Be­feh­le las­sen mir kei­ne Wahl.«

»Wenn ich nur ein Wort mit dem Kö­nig spre­chen konn­te!«

»Un­glück­li­cher­wei­se ist das un­mög­lich, Herr von Vi­von­ne.«

»Nur ein Wort.«

»Es hängt wirk­lich nicht von mei­nem Wil­len ab, mein Herr.«

Der er­zürn­te Edel­mann stampf­te mit dem Fuße und starr­te nach der Tür, als be­ab­sich­ti­ge er, den Ein­lass zu er­zwin­gen. Dann dreh­te er sich auf dem Ab­satz um und eil­te den Kor­ri­dor ent­lang, wie je­mand, der sei­nen Ent­schluss ge­fasst hat.

»Da ha­ben wir’s!« brumm­te Ca­ti­nat in sei­nen Bart, »der wird uns eine schö­ne Sup­pe ein­bro­cken! Gleich wer­de ich sei­ne Schwes­ter auf den Hals be­kom­men, und dann steht mir eine net­te klei­ne Wahl be­vor. Ent­we­der über­tre­te ich mei­ne Ord­re, oder ich ma­che sie mir auf Le­bens­zeit zur Fein­din. Lie­ber will ich Fort Ri­che­lieu ge­gen die Iro­ke­sen hal­ten, als des Kö­nigs Tür ge­gen eine zor­ni­ge Frau. Mei­ner Treu, da ist schon eine Dame, ich sag­te es ja. Ach, Gott sei Dank, gut Freund und kein Feind. Gu­ten Mor­gen, Fräu­lein Na­non.«

»Gu­ten Mor­gen, Herr von Ca­ti­nat.«

Die Dame war eine schlan­ke, an­mu­ti­ge Brü­net­te. Ihr ein­fa­cher An­zug brach­te ihre fri­schen Far­ben und ihre glän­zen­den, schwar­zen Au­gen nur noch mehr zur Gel­tung.

»Ich bin auf Wa­che, wie Sie se­hen, mei­ne Gnä­digs­te. Ich kann mich nicht mit Ih­nen un­ter­hal­ten.«

»So­viel ich mich er­in­ne­re, habe ich den Herrn Haupt­mann gar nicht ge­be­ten, sich mit mir zu un­ter­hal­ten.«

»Sie dür­fen nicht so nied­lich schmol­len, denn dann muss ich mich mit Ih­nen un­ter­hal­ten!« flüs­ter­te der Haupt­mann. »Was ha­ben Sie denn da in der Hand?«

»Ein Bil­let von Ma­da­me de Main­te­non an den Kö­nig. Sie wer­den es ihm ein­hän­di­gen, nicht wahr?«

»Ganz ge­wiss, Fräu­lein Na­non. Und wie geht es Ih­rer gnä­di­gen Ge­bie­te­rin?«

»O, ihr Beicht­va­ter war den gan­zen Mor­gen bei ihr, und sei­ne Un­ter­hal­tung ist sehr, sehr fromm; aber auch ein biss­chen sehr trüb­se­lig. Wir sind nie sehr mun­ter, wenn Herr Go­det uns be­sucht hat. Aber ich ver­ges­se, dass der Herr Haupt­mann Hu­ge­not ist und nichts von Beicht­vä­tern ver­steht.«

»Ich küm­me­re mich nicht um sol­che Un­ter­schie­de. Ich über­las­se sie der Sor­bonne und Genf, die mö­gen es mit­ein­an­der aus­fech­ten. Aber wis­sen Sie, ein Mann muss zu sei­ner Fa­mi­lie ste­hen.«

»Ach, wenn der Herr Haupt­mann ein we­nig mit Ma­da­me de Main­te­non re­den könn­te! Sie wür­de ihn be­keh­ren!«

»Ich möch­te lie­ber mit Fräu­lein Na­non re­den, aber wenn –«

»O!« – Ein Aus­ruf, ein Flat­tern dunk­ler Rö­cke, und die Zofe war in ei­nem Sei­ten­gan­ge ver­schwun­den.

Die brei­te hel­le Ga­le­rie ent­lang schweb­te eine sehr schö­ne, statt­li­che Dame da­her: schlank, an­mu­tig und au­ßer­or­dent­lich hoch­mü­tig. Sie war präch­tig ge­klei­det. Ein Leib­chen aus Gold­stoff saß über ei­nem graus­ei­de­nen, mit Gold- und Sil­ber­tres­sen be­setz­ten Rock. Eine kost­ba­re Na­del hielt das fei­ne Spit­zen­tuch zu­sam­men, das ih­ren schö­nen Hals mehr zeig­te als ver­hüll­te, und durch ihr vol­les, üp­pi­ges Haar wand sich eine Schnur ech­ter Per­len, von de­nen eine jede das Jah­res­ein­kom­men ei­nes Bür­gers re­prä­sen­tier­te. Die Dame war frei­lich über die ers­te Ju­gend hin­aus, aber die herr­li­chen Li­ni­en ih­rer kö­nig­li­chen Ge­stalt, die Rein­heit ih­rer Ge­sichts­far­be, der Glanz ih­rer lang­be­wim­per­ten blau­en Au­gen und der re­gel­mä­ßi­ge Schnitt ih­rer Züge ga­ben ihr im­mer noch das Recht auf den An­spruch, für die schöns­te so­wohl als die scharf­zün­gigs­te Frau am fran­zö­si­schen Hofe zu gel­ten. So edel und an­muts­voll wa­ren Gang und An­stand, so leicht trug sie den zier­li­chen Kopf auf dem stol­zen wei­ßen Na­cken, dass der jun­ge Of­fi­zier, von Be­wun­de­rung über­wäl­tigt, al­ler Furcht ver­gaß und es schwer fand, die vor­ge­schrie­be­ne dienst­li­che Mie­ne zu be­wah­ren, als er die Hand zum Gru­ße er­hob.

»Ah, da ist ja der Haupt­mann von Ca­ti­nat«, sag­te Ma­da­me de Mon­te­span mit ei­nem Lä­cheln, das ihn mehr in Ver­le­gen­heit setz­te, als es ihr Stirn­run­zeln ver­mocht hät­te.

»Ihr un­ter­tä­nigs­ter Die­ner, Mar­qui­se.«

»Es ist mir lieb, einen Freund hier zu fin­den, denn heu­te Mor­gen ist hier ein lä­cher­li­ches Ver­se­hen vor­ge­kom­men.«

»Es tut mir leid, das zu hö­ren.«

»Es han­del­te sich um mei­nen Bru­der, Herrn von Vi­von­ne. Die Sa­che ist ei­gent­lich zu lä­cher­lich, um ein Auf­he­bens da­von zu ma­chen – aber man hat ihm tat­säch­lich den Zu­tritt zum Le­ver ver­wei­gert.«

»Ich hat­te das Miss­ge­schick, ihm den­sel­ben ver­weh­ren zu müs­sen, gnä­di­ge Frau.«

»Sie, Haupt­mann von Ca­ti­nat? Und mit wel­chem Recht?« Sie hat­te ihre herr­li­che Ge­stalt hoch auf­ge­rich­tet, und aus ih­ren großen blau­en Au­gen sprüh­ten Em­pö­rung und Er­stau­nen.

»Des Kö­nigs Be­fehl, gnä­di­ge Frau.«

»Des Kö­nigs? Ist es denk­bar, dass der Kö­nig mei­ner Fa­mi­lie einen öf­fent­li­chen Schimpf an­tun wird? Von wem hat­ten Sie denn die­sen ab­ge­schmack­ten Be­fehl?«

»Di­rekt vom Kö­nig durch Bon­tems.«

»Un­sinn! Mei­nen Sie, der Kö­nig wür­de es wa­gen, einen Mor­te­mart durch den Mund ei­nes La­kai­en aus­zu­schlie­ßen? Sie ha­ben ge­träumt, Herr Haupt­mann.«

»Ich wünsch­te nichts mehr, als dass dem so wäre, gnä­digs­te Frau.«

»Sol­che Träu­me brin­gen dem Träu­mer aber kein Glück. Ge­hen Sie, mel­den Sie dem Kö­nig, ich sei hier und habe ein Wort mit ihm zu re­den.«

»Un­mög­lich, gnä­di­ge Frau!«

»Wa­rum denn?«

»Mir ist ver­bo­ten, ir­gend eine Be­stel­lung zu über­brin­gen.«

»Kei­ne Be­stel­lung zu über­brin­gen?«

»Kei­ne von Ih­nen, gnä­di­ge Frau.«

»Wahr­haf­tig, Herr Haupt­mann, das wird ja im­mer schö­ner. Die­se Be­lei­di­gung fehl­te ge­ra­de noch, um das Maß voll zu ma­chen. Von der ers­ten bes­ten Aben­teu­re­rin, von ir­gend ei­ner ab­ge­leb­ten Gou­ver­nan­te dür­fen Sie dem Kö­nig Be­stel­lun­gen ma­chen –« sie lach­te gel­lend auf bei die­ser Be­schrei­bung ih­rer Ne­ben­buh­le­rin – »nur nicht von Françoi­se de Mor­te­mart, Mar­qui­se von Mon­te­span!«

»So lau­ten mei­ne Be­feh­le, Frau Mar­qui­se, ich bin tief be­küm­mert, sie aus­füh­ren zu müs­sen.«

»Spa­ren Sie ihre Be­teue­run­gen, Haupt­mann! Vi­el­leicht er­fah­ren Sie noch ein­mal, dass Sie al­len Grund ha­ben, tief be­küm­mert zu sein. Zum letz­ten­ma­le – wei­gern Sie sich, dem Kö­nig mei­ne Be­stel­lung zu über­brin­gen?«

»Ich muss, gnä­digs­te Frau.«

»Dann wer­de ich es selbst tun.«

Sie sprang auf die Tür zu, aber er kam ihr mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men zu­vor.

»Um Got­tes wil­len, be­sin­nen Sie sich, gnä­di­ge Frau!« bat er. »Noch an­de­re Au­gen be­ob­ach­ten Sie.«

»Pah! Ca­nail­le!« Sie blick­te nach dem Trupp Schwei­zer, die der Ser­geant ei­ni­ge Schrit­te zu­rück­be­or­dert hat­te, und die nun mit auf­ge­sperr­ten Au­gen und Ohren die Sze­ne an­s­tier­ten. »Ich sage Ih­nen, dass ich den Kö­nig se­hen will.«

»Kei­ne Dame hat je­mals dem Mor­gen­le­ver bei­ge­wohnt.«

»Dann wer­de ich die ers­te sein.«

»Sie stür­zen mich ins Ver­der­ben, wenn Sie hin­ein­ge­hen!«

»Nichts­de­sto­we­ni­ger wer­de ich es tun.«

Die Sa­che sah be­denk­lich aus. Ca­ti­nat war nicht leicht zu ver­blüf­fen, aber dies­mal ging ihm der Witz aus. Ma­da­me de Mon­te­spans Ent­schlos­sen­heit, wie es in ih­rer Ge­gen­wart, oder Frech­heit, wie es hin­ter ih­rem Rücken hieß, war sprich­wört­lich. Ver­such­te sie wirk­lich den Ein­tritt zu er­zwin­gen, durf­te er dann Ge­walt brau­chen ge­gen eine Frau, die ges­tern noch die Ge­schi­cke des gan­zen Ho­fes in der hoh­len Hand hielt, und die durch ihre Schön­heit, ih­ren Witz und ihre Ener­gie mor­gen ihre Stel­lung zu­rück­ero­bert ha­ben konn­te? Wenn er sie durch­ließ, so war es ein für al­le­mal aus mit sei­ner Gunst beim Kö­nig, denn Lud­wig dul­de­te nicht die kleins­te Ab­wei­chung von sei­nen Be­feh­len. Wenn er sie da­ge­gen zu­rück­s­tieß, so wür­de sie ihm das nie­mals ver­zie­hen ha­ben, und er wäre ih­rer töd­li­chen Ra­che ver­fal­len, so­bald sie wie­der zur Macht ge­lang­te. Es war ein un­an­ge­neh­mes Di­lem­ma. Da fuhr ihm ein glück­li­cher Ge­dan­ke durch den Sinn, ge­ra­de als sie mit ge­ball­ten Fäus­ten und flam­men­den Au­gen ver­su­chen woll­te, an ihm vor­bei zu kom­men.

»Wenn die Frau Mar­qui­se sich nur her­bei­las­sen möch­ten zu war­ten«, sag­te er be­schwich­ti­gend, »der Kö­nig wird gleich nach der Ka­pel­le ge­hen.«

»Dazu ist es noch zu früh.«

»Ich den­ke, die Stun­de hat eben ge­schla­gen.«

»Und ich soll war­ten, wie ein La­kai?«

»Es ist ja nur ein Au­gen­blick, gnä­di­ge Frau.«

»Nein, ich wer­de nicht war­ten.« Da­mit tat sie einen Schritt auf die Tür zu.

Doch das fei­ne Ohr des Gar­de­of­fi­ziers hat­te plötz­lich Fuß­trit­te drin­nen ver­nom­men. Nun war er Herr der Si­tua­ti­on. »Ich will die Be­stel­lung der Frau Mar­qui­se über­neh­men«, sag­te er.

»Aha, Sie sind zur Be­sin­nung ge­kom­men! Ge­hen Sie und sa­gen Sie dem Kö­nig, dass ich ihn zu spre­chen wün­sche.«

Er muss­te noch ein we­nig Zeit ge­win­nen. »Soll ich es durch den dienst­tu­en­den Kam­mer­herrn aus­rich­ten?«

»Nein, Sie selbst sol­len es tun.«

»Öf­fent­lich?«

»Nein, nein, nur ihm al­lein!«

»Soll ich einen Grund für Ihr Ge­such an­ge­ben?«

»Sie ma­chen mich wahn­sin­nig! Be­stel­len Sie, was ich Ih­nen ge­sagt habe, und zwar auf der Stel­le.«

Doch schon war der Kno­ten ge­löst. Im sel­ben Au­gen­blick wur­den die Flü­gel­tü­ren ge­öff­net, und Lud­wig er­schi­en in ih­rem Rah­men. In sei­nen ho­hen Stö­ckel­schu­hen stol­zier­te er vor­an; sein Stock klopf­te auf, sei­ne brei­ten Rock­schö­ße klapp­ten zu­rück, und sei­ne Höf­lin­ge ström­ten hin­ter ihm her. Im Heraustre­ten hielt er einen Au­gen­blick inne und wen­de­te sich zu dem wacht­ha­ben­den Haupt­mann.

»Sie ha­ben ein Bil­let für mich?«

»Ja, Sire.«

Der Mon­arch ließ es in die Ta­sche sei­ner schar­lach­ro­ten Un­ter­wes­te glei­ten und schritt wei­ter. Da er­blick­te er Ma­da­me de Mon­te­span, die sehr steif und hoch auf­ge­rich­tet mit­ten im Gan­ge stand. Dunkle Zor­nes­rö­te stieg ihm in die Stirn; ohne ein Wort ging er an ihr vor­über, doch sie wand­te sich und hielt die Ga­le­rie hin­un­ter mit ihm Schritt.

»Ich hat­te die­se Ehre nicht er­war­tet, gnä­di­ge Frau«, sag­te er.

»Noch ich die­se Be­schimp­fung, Sire.«

»Eine Be­schimp­fung? Sie ver­ges­sen sich, mei­ne Gnä­di­ge.«

»Nein, Sie ha­ben mich ver­ges­sen, Sire.«

»Sie drän­gen sich mir auf.«

»Ich woll­te mein Schick­sal von Ihren eig­nen Lip­pen hö­ren«, flüs­ter­te sie, »ich kann es er­tra­gen, selbst ge­schla­gen zu wer­den, Sire, so­gar von dem, der mein Herz be­sitzt. Aber es ist doch hart, wenn man hö­ren muss, der eig­ne Bru­der wird durch den Mund von Be­dien­ten und hu­ge­not­ti­schen Söld­nern ver­letzt und ohne jede Schuld sei­ner­seits, nur weil sei­ne Schwes­ter zu zärt­lich ge­liebt hat.«

»Hier ist nicht der Ort, um von sol­chen Din­gen zu re­den.«

»Wo kann ich Sie se­hen, Sire?«

»Auf Ihrem Zim­mer.«

»Um wie viel Uhr?«

»Um vier.«