The School for Good and Evil 1: Es kann nur eine geben (Die Bestseller-Buchreihe zum Netflix-Film) - Soman Chainani - E-Book
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The School for Good and Evil 1: Es kann nur eine geben (Die Bestseller-Buchreihe zum Netflix-Film) E-Book

Soman Chainani

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Beschreibung

Auf der Schule der Guten und der Schule der Bösen werden Jugendliche für ihre spätere Karriere in einem Märchen ausgebildet: als Helden und Prinzessinnen oder aber als Schurken und Hexen. Sophie träumt seit Jahren davon, Prinzessin zu werden. Ihre Freundin Agatha dagegen scheint mit ihrem etwas düsteren Wesen für die entgegengesetzte Laufbahn vorbestimmt. Doch das Schicksal entscheidet anders und stellt die Freundschaft der Mädchen auf eine harte Probe ... Weitere Abenteuer der Reihe "The School for Good and Evil": Band 1: Es kann nur eine geben Band 2: Eine Welt ohne Prinzen Band 3: Und wenn sie nicht gestorben sind Band 4: Ein Königreich auf einen Streich

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHDeutsche Erstausgabe© 2015 Ravensburger Verlag GmbHTitel der Originalausgabe: The School for Good and EvilText copyright © 2013 Soman ChainaniCover and map illustration copyright © 2013 Iacopo BrunoÜbersetzung: Ilse RothfussLektorat: Ulrike SchuldesUmschlag: Iacopo BrunoAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47663-3www.ravensburger.de

In einem tiefen, dunklen TannLiegt eine Schule wundersam,Die Schule für Gut und Böse.Es gibt kein Entrinnen, Der Wald ist ein Graus,Nur durch ein Märchen Find’st du hinaus.

Sophie hatte sich ihr Leben lang auf den Tag ihrer Entführung gefreut. Die anderen Kinder von Gavaldon lagen jetzt schlotternd in ihren Betten, denn sie wussten, dass sie ihr Zuhause nie wiedersehen würden, wenn der Schulmeister sie holte. Sie träumten von einem rotäugigen Monster, das sie aus ihren Betten riss und ihre Schreie erstickte.

Sophie dagegen träumte von einem Prinzen. Und von einem Ball, der ihr zu Ehren auf einem Schloss gegeben wurde. Der ganze Saal wimmelte von Verehrern, und keine Rivalin war weit und breit zu sehen. Nur hübsche Jungs mit glänzendem Haar, glatter sonnengebräunter Haut, charmant und ritterlich, wie es sich für einen Prinzen gehört. Einer stach besonders hervor. Er hatte leuchtend blaue Augen und schneeweißes Haar. Das war er, ihr Märchenprinz, mit dem sie für immer glücklich sein würde. Strahlend ging Sophie auf ihn zu, doch dann ertönten laute Hammerschläge und der Prinz zerbarst in tausend Stücke …

Sophie schlug die Augen auf. Die Sonne schien, Prinzen waren keine zu sehen. Nur der Hammer war kein Traum.

»Aber Vater, ich brauche meinen Schönheitsschlaf«, jammerte sie. »Ich will nicht mit verquollenen Augen rumlaufen.«

»Alle sagen, du wirst dieses Jahr mitgenommen«, brummte ihr Vater. Er nagelte eine dicke Querstange vor ihr Fenster, das ganz mit Brettern, Vorhängeschlössern und Stacheldraht verbarrikadiert war. »Ich soll dir die Haare scheren und dein Gesicht mit Schlamm einschmieren. Ha! Wer glaubt schon an diesen Märchenblödsinn. Aber heute Nacht kommt hier keiner rein, so viel steht fest.« Die letzten Worte unterstrich er mit einem donnernden Hammerschlag.

Sophie hielt sich die Ohren zu und funkelte grimmig ihr schönes Fenster an, das jetzt völlig verschandelt war. »Schlösser. Wie einfallsreich.«

»Warum sollte er ausgerechnet dich mitnehmen?«, knurrte ihr Vater. »Wenn der Schulmeister gute Mädchen braucht, holt er sich Gunildas Tochter.«

»Was? Belle?«, rief Sophie empört.

»Ja, Belle ist eine gute Tochter. Sie kocht für ihren Vater und bringt ihm das Essen in die Fabrik. Und die Reste gibt sie der armen Alten auf dem Dorfplatz.«

Sophie verdrehte die Augen. Kochen! Nie im Leben würde sie ihren Vater mit Speckknödeln und Gulasch füttern. Der fettige Qualm würde ihr nur die Poren verstopfen, und hungern musste er deshalb noch lange nicht. Er konnte ja die Gerichte essen, die sie für sich selber kochte. Rote-Beete-Brei, Brokkoli, fettfrei gedünsteter Spinat. Ihr Vater konnte froh sein, dass er nicht so dick geworden war wie Belles Vater.

»Wie du schon sagst, alles Blödsinn«, säuselte Sophie mit zuckersüßem Lächeln, fegte an ihm vorbei und knallte die Badezimmertür hinter sich zu.

Seufzend betrachtete sie sich im Spiegel. Der fehlende Schlaf hatte seine Spuren hinterlassen. Ihr hüftlanges Haar, das sonst immer wie gesponnenes Gold glänzte, war ein wenig matt. Ihren jadegrünen Augen fehlte der Glanz und ihre vollen roten Lippen wirkten etwas trocken. Selbst ihre Haut schimmerte nicht so pfirsichzart wie sonst. Schön war sie natürlich trotzdem. Eine Prinzessin. Auch wenn ihr Vater keinen Blick dafür hatte. So wie ihre Mutter, die leider zu früh gestorben war. »Sophie, du bist viel zu schön für diese Welt«, waren ihre letzten Worte gewesen. Jetzt war ihre Mutter in einer besseren Welt, und Sophie würde diesem langweiligen Gavaldon auch bald den Rücken kehren.

Heute Nacht, wenn sie geholt wurde, begann ihr wahres Leben. Aber in diesem Zustand konnte sie ihrem Entführer unmöglich unter die Augen treten.

Als Erstes rieb sie sich das Gesicht mit Fischeiern ein. Die rochen nach Schweißfüßen, halfen aber todsicher gegen Pickel. Danach massierte sie ihre Haut mit Kürbismus, spülte sie mit Ziegenmilch ab und trug eine Gesichtsmaske auf (aus Melonen und Schildkröteneigelb). Während die Maske einwirkte, blätterte Sophie in einem Märchenbuch und trank Gurkensaft, der ihre Haut taufrisch hielt. Lächelnd schlug sie ihr Lieblingsmärchen auf. Das Märchen von der bösen Hexe, die in einem mit Nägeln gespickten Fass einen Hang hinuntergerollt wurde, bis nichts mehr von ihr übrig war als ihr Armreif, der aus den Knochen kleiner Jungen bestand … Sophie starrte auf das Armband und dachte dabei an ihre Gurken. Gab es überhaupt Gurken im Märchenwald? Oder hatten die anderen Prinzessinnen dort schon alle Vorräte geplündert? Keine Gurken. Sophie erschauerte.

Ein paar getrocknete Melonenflocken rieselten auf die Buchseite. Sophie schaute in den Spiegel und erschrak. Oh nein! Diese Stirnfalten! Erst Schlafmangel, und jetzt auch noch Falten. Schnell entspannte sie ihr Gesicht und verbannte die Gurken aus ihren Gedanken.

Sophies restliche Morgentoilette (die ein ganzes Kapitel füllen würde) beinhaltete so exquisite Zutaten wie Tomaten in Öl, Cashewnusscreme, Pferdehufpulver und sogar Kuhblut. Zwei volle Stunden später trat Sophie aus dem Haus. Sie trug ihr rosafarbenes Kleid, ihre gläsernen Stöckelschuhe und einen perfekt geflochtenen Zopf. Bis zur Ankunft des Schulmeisters blieb ihr gerade noch ein Tag Zeit, und den wollte sie nutzen. Der Schulmeister sollte sehen, wie gut sie war. Damit er nicht etwa Belle an ihrer Stelle mitnahm oder Tabitha oder sonst eine von diesen Heuchlerinnen.

Sophies beste Freundin lebte auf dem Friedhof. Sophie hasste alles Düstere, aber sie stieg jede Woche einmal zu dem Haus auf dem Friedhofshügel hinauf. Immer mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, weil es ja schließlich eine gute Tat war.

Ihr Weg führte an den sonnigen kleinen Häuschen am See vorbei zum Waldrand. Lautes Hämmern schallte durch die Dorfgassen, denn überall nagelten besorgte Väter Türen und Fenster zu. Auch die Mütter trafen ihre Vorbereitungen, und die Kinder saßen auf der Haustreppe, die Nase wie üblich in einem Märchenbuch. Alle Kinder in Gavaldon lasen von morgens bis abends (was sollten sie auch sonst tun?). Und heute natürlich erst recht, weil sie nach Hinweisen suchten, die sie vor ihrer Entführung bewahren konnten. Sophie hatte das alles schon vor vier Jahren erlebt, aber damals war sie noch nicht an der Reihe gewesen. Der Schulmeister nahm nur Jungen und Mädchen mit, die ihr zwölftes Lebensjahr vollendet hatten und sich nicht mehr als Kinder verkleiden konnten.

Doch jetzt war Sophie an der Reihe.

Sophie spürte ein Ziepen in den Oberschenkeln, während sie mit ihrem Picknickkorb zum Gräberhügel hinaufstapfte. Waren ihre Beine beim Gehen etwa dicker geworden? Eine Prinzessin mit dicken Oberschenkeln? Undenkbar! Schnell lenkte sie sich ab, indem sie ihre guten Taten der letzten Woche noch einmal in Gedanken durchging. Sie hatte die Gänse im See mit Linsen und Blutegeln gefüttert (ein natürliches Abführmittel, weil die armen Tiere von den Dorftrampeln hier immer mit Käse vollgestopft wurden). Dann hatte sie eine selbst gemachte Reinigungsmilch ins Waisenhaus gebracht (was gibt es Wichtigeres im Leben als reine Haut?). Und schließlich hatte sie einen Spiegel im Kirchenklo aufgestellt, damit die Gläubigen frisch gestylt in ihre Bank zurückkehren konnten. War das genug? Wieder fielen ihr die Gurken ein. Vielleicht konnte sie einen kleinen Vorrat mit in den Wald nehmen? Aber waren Gurken schwer? Sophie überlegte, ob die Schule ihr einen Diener oder Lakaien schicken würde.

»Wo gehst du hin?«

Sophie wirbelte herum. Radley mit dem feuerroten Haarschopf stand vor ihr und grinste sie mit seinen Hasenzähnen an. Dieser Dummkopf lief ihr auf Schritt und Tritt nach.

»Ich besuche eine Freundin«, sagte Sophie.

»Warum bist du mit einer Hexe befreundet?«

»Sie ist keine Hexe.«

»Doch, ist sie. Weil sie so komisch ist und keine Freunde hat.«

»Dann bist du auch eine Hexe«, hätte Sophie fast gesagt. Stattdessen lächelte sie geduldig, um Radley zu zeigen, dass sie nur aus reiner Nächstenliebe mit ihm sprach.

»Die kommt jetzt in die Schule für Böse«, brabbelte Radley. »Dann brauchst du eine neue Freundin.«

»Er nimmt immer zwei Kinder mit«, sagte Sophie zähneknirschend.

»Ja, schon. Für die andere Schule nimmt er Belle. Belle ist die Beste. Aber wenn du willst, kann ich dein neuer Freund sein.« Radley grinste hoffnungsvoll.

»Danke, ich habe genug Freunde«, fauchte Sophie.

Radley wurde knallrot. »Oh, klar – ich dachte nur …«, stotterte er und schlich davon wie ein geprügelter Hund.

Sophie starrte ihm nach und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Ihre ganzen guten Taten, das ewige künstliche Lächeln – alles umsonst, nur wegen diesem Jammerlappen. Warum hatte sie nicht einfach gesagt: »Ja, gern, lass uns Freunde sein.«? Radley wäre selig gewesen, und Sophie hätte beim Schulmeister gepunktet. Der Schulmeister sah nämlich alles, genau wie der Nikolaus. Aber es ging einfach nicht. Sie war schön, und Radley war hässlich. Basta. Warum hätte sie ihm also falsche Hoffnungen machen sollen? Das wäre gemein gewesen. Der Schulmeister würde es schon verstehen.

Sophie zog das rostige Friedhofstor auf und ging hinein. Überall wucherte stachliges Unkraut, das ihr die Beine zerkratzte. Vermoderte Grabsteine ragten kreuz und quer aus den welken Blätterhaufen auf. Langsam schlängelte sie sich zwischen den dunklen Gräbern hindurch und zählte sorgfältig die Reihen. Ihre Mutter lag auch auf diesem Friedhof, aber Sophie hatte ihr Grab nie angeschaut. Nicht einmal bei der Beerdigung. Und jetzt erst recht nicht. Als sie an der sechsten Reihe vorbeikam, fiel ihr Blick auf eine traurige Hängebirke. Morgen beginnt mein neues Leben, tröstete sie sich.

Mitten im dichtesten Gräbergewirr ragte die baufällige Villa Grabhügel auf. Die Villa war nicht verrammelt wie die Häuser am See, sah aber wenig einladend aus. Die Treppe zur Veranda schimmerte grün vor Schimmel. Tote Birken und vertrockneter Efeu wuchsen an den verwitterten Holzwänden empor, und das spitzgiebelige Dach erinnerte an einen schwarzen Hexenhut.

Sophie stieg die knarzenden Stufen hinauf und hielt die Luft an, um den Gestank nicht einatmen zu müssen – eine grässliche Mischung aus Knoblauch und nasser Katze. Am Boden lagen geköpfte Vögel, die vermutlich dem Katzenmonster zum Opfer gefallen waren. Sophie wandte schnell den Blick ab.

Sie klopfte an die Tür und wappnete sich gegen die Flut von Schimpfwörtern, die gleich über sie hereinbrechen würde.

»Hau ab«, ertönte eine knurrige Stimme.

»Aber Aggie, wie redest du denn mit deiner besten Freundin?«, säuselte Sophie.

»Du bist nicht meine beste Freundin.«

»Wer dann?«, fragte Sophie beunruhigt. War Belle ihr etwa zuvorgekommen?

»Das geht dich nichts an.«

Sophie holte tief Luft. Bloß nicht denselben Fehler machen wie bei Radley. »Aber wir hatten doch gestern so viel Spaß, Agatha. Ich dachte, du freust dich, wenn ich komme.«

»Du hast mir die Haare orange gefärbt.«

»Ja, aber das haben wir doch wieder in Ordnung gebracht!«

»Du willst nur deine blöden Schönheitsmittelchen an mir ausprobieren.«

»Ja klar – dazu sind Freunde doch da«, sagte Sophie. »Dass man sich gegenseitig hilft.«

»Nützt ja doch nichts. Ich werde nie so hübsch wie du.«

Sophie suchte nach einer netten Antwort. Aber sie brauchte zu lange, und Aggies Klumpschuhe stampften bereits von der Tür weg. »Deshalb können wir doch trotzdem befreundet sein«, rief sie schnell.

Wie auf ein Stichwort tauchte das struppige Katzenvieh auf und fauchte sie an.

»Ich hab dir auch Kekse mitgebracht!«

Die Schritte verharrten. »Richtige? Oder selbstgebackene?« Sophie wich vor dem Katzenmonster zurück. »Selbstgebackene. Mit viel Butter, wie du’s gern magst.«

Die Katze fauchte immer drohender.

»Agatha, lass mich rein …«

»Du hast gesagt, ich stinke.«

»Du stinkst nicht.«

»Warum hast du’s dann letztes Mal gesagt?«

»Weil du letztes Mal gestunken hast! Agatha, deine Katze faucht mich an …«

Die Katze fuhr ihre Krallen aus und Sophie kreischte. Dann schoss eine Hand hervor und schlug die Katze weg.

»Schlitzer sind die Vögel ausgegangen«, brummte Agatha.

Ihr schwarzer Haarschopf glänzte vor Fett, und ihr unförmiges schwarzes Kleid schlabberte um ihre dürren Knochen. Die dunklen Glupschaugen starrten Sophie vorwurfsvoll an.

»Ich wollte mit dir spazieren gehen«, sagte Sophie.

Agatha lehnte sich an die Tür. »Was willst du überhaupt von mir? Ich kapier’s einfach nicht.«

»Ich mag dich, weil du so süß und lustig bist«, schleimte Sophie.

»Meine Mutter sagt, ich bin eine Kratzbürste. Eine von euch beiden lügt.« Agatha zog das Tuch von Sophies Korb weg. Trockene Haferkekse kamen darunter zum Vorschein. Agatha warf Sophie einen vernichtenden Blick zu und zog sich ins Haus zurück.

»Gehen wir jetzt spazieren oder nicht?«, fragte Sophie.

Agatha wollte ihr schon die Tür vor der Nase zuknallen, doch dann sah sie Sophies enttäuschtes Gesicht.

»Okay, aber nur kurz«, knurrte sie und stapfte an Sophie vorbei. »Und wenn du was Gemeines oder Hochnäsiges sagst, hetze ich Schlitzer auf dich.«

Sophie rannte hinter ihr her. »Dann kann ich ja gleich den Mund halten!«, keuchte sie.

Die gefürchtete elfte Nacht des elften Monats brach bald an. Auf dem Dorfplatz, der in der letzten Abendsonne lag, herrschte geschäftiges Treiben. Bald würde der Schulmeister kommen. Die Männer schärften ihre Schwerter, stellten Fallen auf und organisierten die Nachtwache. Und die Frauen nahmen sich ihre Kinder vor. Den hübschen wurden die Haare geschoren, die Zähne geschwärzt, und zum Schluss hüllte man sie in alte Lumpen. Die hässlichen wurden sauber geschrubbt, in bunte Kleider gesteckt und ihre Gesichter hinter einem Schleier verborgen. Die braven mussten fluchen und schreien und ihre Geschwister quälen, auch wenn es ihnen noch so schwerfiel. Und die bösen wurden zum Beten in die Kirche geschickt. Alle anderen Kinder sangen die Hymne von Gavaldon: »Gesegnet sind die Mittelmäßigen …«

Die Angst ging um in Gavaldon. Ein paar Jungen ketteten sich vorsichtshalber aneinander, einige Mädchen versteckten sich auf dem Schuldach. Selbst die alte Lumpensammlerin auf dem Dorfplatz ließ sich von der Aufregung anstecken. Krächzend hüpfte sie um ein mageres Feuer herum: »Verbrennt alle Märchenbücher! Ins Feuer damit.« Aber niemand hörte auf sie.

Agatha starrte ungläubig auf das Chaos um sie herum. »Wie kann ein ganzes Dorf so dumm sein und an diesen Märchenquatsch glauben?«

»Weil Märchen wahr sind.«

»Das ist nicht dein Ernst«, schnaubte Agatha.

»Doch, natürlich.«

»Du glaubst also wirklich, dass ein Schulmeister alle vier Jahre zwei Kinder entführt und in eine Schule für Gute und eine für Böse steckt? Und am Ende kommen sie in ein Märchen?«

»Ja, klar.«

»Ich muss gleich kotzen. Und was lernt man in dieser Schule?«

»Na, was wohl? In der Schule für Gute werden Mädchen zu Prinzessinnen gemacht (solche wie ich) und Jungen zu tapferen Helden. Man lernt, ein Königreich zu regieren oder einen Märchenprinzen für sich zu gewinnen, mit dem man für immer glücklich ist.« Sophie hielt inne und runzelte die Stirn. »Und in der anderen Schule werden Hexen und böse Zauberer ausgebildet, oder Trolle und so … Dort lernt man auch schwarze Magie – wie man Menschen in Tiere verzaubert zum Beispiel.«

»Schwarze Magie?«, schnaubte Agatha. »Menschen in Tiere verzaubern? An so was Dämliches glaubst du?«

»Klar. Die Märchenbücher sind der Beweis dafür. Da kannst du alle drin sehen, die bis jetzt entführt wurden. Hans im Glück, Dornröschen, Rapunzel … Jeder von ihnen hat sein eigenes Märchen bekommen.«

»Vergiss es. Ich lese diese blöden Märchenbücher nicht.«

»Und warum liegt dann der Stapel neben deinem Bett?«

Agatha funkelte Sophie an. »Wer sagt dir, dass Märchen wahr sind? Vielleicht ist es nur ein Buchhändlertrick. Oder die Eltern haben sich das alles ausgedacht, um ihre Kinder vom Wald fernzuhalten. Es gibt keinen Schulmeister und keine schwarze Magie.«

»Und wer hat dann die Kinder entführt?«

»Niemand. Die sind von selber verschwunden. Alle vier Jahre rennen zwei in den Wald, um ihren Eltern Angst einzujagen. Und dann werden sie von Wölfen gefressen.«

»Das ist die dümmste Erklärung, die ich je gehört habe.«

»Pah! Wenn hier jemand dumm ist, dann du! Nicht ich!«

Sophie sah Agatha zornig an. »Du hast doch bloß Angst!«, zischte sie, weil sie nicht gern als dumm dastehen wollte.

»Angst? Ich?« Agatha lachte. »Und warum, bitte?«

»Weil du natürlich auch mitkommst.«

Agatha verging das Lachen. Sophie war offenbar nicht die Einzige, die diesen Blödsinn glaubte. Die Leute auf dem Dorfplatz starrten sie an, als wäre alles sonnenklar. Gut in Rosa. Böse in Schwarz. Sophie und Agatha – das perfekte Paar für den Schulmeister.

Agatha schauderte. Aber die Sache hatte auch ihr Gutes. Wenn der Schulmeister sie tatsächlich mitnahm, konnten sie in Zukunft zusammen spazieren gehen, ohne angegafft zu werden. Agatha hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Sophie dagegen warf sich vor den Leuten in Pose und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. Bis ihr Blick auf Belle fiel.

Mit kahl geschorenem Kopf und schmutzigen Kleidern kniete Belle im Dreck und schmierte sich das Gesicht mit Schlamm ein. Dieser Bauerntrampel – keinerlei Ehrgeiz!, dachte Sophie. Belles Zukunft war genau vorgezeichnet: Sie würde im Dorf bleiben, heiraten und Kinder kriegen. Sie würde kochen, putzen, Schweine schlachten und ihren Mann bedienen, bis sie alt und grau wurde und ihr die Zähne ausfielen. Nein, Belle kam für den Schulmeister nicht infrage. Sie war keine Prinzessin … Belle war gar nichts.

Triumphierend schaute Sophie auf die armseligen Dorfbewohner und sonnte sich in ihren Blicken.

»Komm endlich«, knurrte Agatha. »Ich will hier weg.«

Die Sonne versank blutrot am Horizont, während Sophie und Agatha einträchtig am Seeufer saßen. Sophie stopfte Gurken in einen Seidenbeutel, und Agatha zündete Streichhölzer an und schleuderte sie in den See. Nach dem zehnten Streichholz warf Sophie ihr einen tadelnden Blick zu.

»Das ist gut für die Nerven«, verteidigte sich Agatha.

Sophie quetschte ihre letzte Gurke in den Beutel. »Ich versteh nicht, warum Belle unbedingt hierbleiben will, wo sie doch einen Märchenprinzen bekommen könnte«, sagte sie.

»Vielleicht, weil sie dann Heimweh hätte? Weil sie ihre Eltern und Geschwister nie wiedersehen würde?«

»Ach, das wäre mir egal.« Sophie schwieg eine Weile, dann fügte sie hinzu: »Hast du dich je gefragt, was aus deinem Vater geworden ist?«

»Der ist abgehauen, als ich auf die Welt gekommen bin. Hab ich dir doch schon gesagt.«

»Aber wo ist er hin? Gavaldon ist ganz von Wald umschlossen. Und einfach so zu verschwinden …« Sophie drehte sich zu Agatha um. »Vielleicht hat er einen Weg in die Märchenwelt gefunden! Ein magisches Portal! Und jetzt wartet er dort auf dich.«

»Pah. Der ist bestimmt zu seiner Frau zurück. Und mich hat er einfach vergessen.«

Seufzend wandte Sophie sich wieder ihren Gurken zu. »Deine Mutter ist nie da, wenn ich zu dir komme.«

»Weil sie jetzt immer in die Stadt geht«, erklärte Agatha. »Hier hat sie nicht genug Patienten. Kein gutes Pflaster halt.«

»Allerdings nicht«, schnaubte Sophie. »Wer will sich schon auf einem Friedhof behandeln lassen?«

»Was hast du gegen Friedhöfe?«, fragte Agatha. »Das Leben hier hat seine Vorzüge. Keine neugierigen Nachbarn. Keine falschen Freundinnen, die mir die Haare orange färben und mich in die Schule für Böse schicken wollen.«

Sophie legte ihren Gurkenbeutel weg. »Falsche Freundin, ach ja?«

»Hab ich etwa gesagt, dass du mich besuchen sollst? Ich brauch dich nicht.«

»Warum hast du mich dann reingelassen?«

»Weil du so einsam ausgesehen hast«, sagte Agatha. »Du hast mir leidgetan.«

»Ich dir?« Sophies Augen funkelten. »Du kannst froh sein, dass du mich hast. Jemand Gutes wie mich.«

»Jetzt hast du dich verraten«, zischte Agatha. »Ich bin deine gute Tat! Du willst nur mit mir punkten.«

Sophie schwieg lange. »Also gut, vielleicht war es anfangs so«, gab sie schließlich zu. »Aber jetzt nicht mehr.«

»Das sagst du doch nur, weil ich dich durchschaut habe«, brummte Agatha.

»Nein, weil ich dich mag. Niemand versteht mich«, jammerte Sophie und starrte auf ihre Hände. »Nur du. Du siehst mich, wie ich bin. Deshalb komm ich immer wieder her. Du bist nicht mehr meine gute Tat, Aggie. Du bist meine Freundin.«

Agathas Hals färbte sich feuerrot.

»Was ist?«, fragte Sophie stirnrunzelnd.

»Nichts …«, murmelte Agatha. »Es ist nur … ich … ich hatte noch nie eine Freundin.«

Sophie nahm ihre Hand. »Siehst du, Aggie. Und ab morgen können wir in unserer neuen Schule Freundinnen sein.«

Agatha verdrehte die Augen und riss sich los. »Also gut, mal angenommen, ich würde tief genug sinken, um an diesen Märchenquatsch zu glauben. Warum sollte ich in die Schule für Böse gehen? Ich bin doch keine Hexe.«

»Nein, natürlich nicht, Agatha.« Sophie seufzte. »Du bist nur anders.«

»Wie anders?«, fragte Agatha scharf.

»Also erstens trägst du immer Schwarz.«

»Weil Schwarz nicht so schnell schmutzig wird.«

»Und du gehst nie aus dem Haus.«

»Weil mich zu Hause niemand anstarrt.«

»Und beim Märchenwettbewerb denkst du dir abartiges Zeug aus. Dass Schneewittchen am Ende von Aasgeiern gefressen wird, zum Beispiel, oder dass Dornröschen sich in der Badewanne ertränkt.«

»Na und? Das war doch ein gutes Ende.«

»Und zum Geburtstag hast du mir einen toten Frosch geschenkt!«

»Ja, damit du nicht vergisst, dass wir alle sterblich sind und irgendwann von Würmern gefressen werden. Deshalb müssen wir das Leben genießen, solange wir es haben. Was ist falsch daran?«

»Und an Halloween hast du dich als Braut verkleidet.«

»Ja, klar. Hochzeiten sind doch gruselig.«

Sophie starrte sie fassungslos an.

»Gut, dann bin ich eben anders«, fauchte Agatha. »Na und?«

Sophie zögerte. »Im Märchen sind die Leute, die anders sind, meistens die Bösen …«

»Ach ja? Dann bin ich also doch eine Hexe?« Agatha schniefte beleidigt.

»Das liegt an dir, Aggie«, erwiderte Sophie sanft. »Jeder bestimmt selbst, wie seine Geschichte endet.«

Agatha schwieg eine Weile. Dann berührte sie Sophies Hand. »Warum willst du unbedingt von hier weg? Und warum glaubst du diesen Blödsinn?«

»Weil ich in Gavaldon ersticke«, stieß Sophie hervor. »So ein normales, langweiliges Leben ist nichts für mich.«

»Komisch«, sagte Agatha. »Gerade deshalb mag ich dich. Weil ich bei dir normal sein kann. Und mehr wollte ich nie.«

Die Kirchenglocken klangen dumpf durch das Tal, sechs Mal, sieben Mal. Agatha und Sophie schreckten hoch. Sie hatten jegliches Zeitgefühl verloren. Und während die Glocken langsam verhallten, schworen sich beide, dass sie für immer Freundinnen bleiben würden.

Ganz egal, wo.

Als die Sonne unterging, waren alle Kinder längst eingesperrt. Durch die Ritzen in den Fensterläden spähten sie zu ihren Vätern, Schwestern und Großmüttern hinaus, die mit Fackeln am Waldrand Wache standen. Niemand würde diesen Feuerring durchbrechen.

Während andere Kinder hinter ihren verrammelten Fenstern zitterten, riss Sophie ihres wieder auf, um dem Entführer die Arbeit zu erleichtern. Sorgfältig breitete sie ihr Werkzeug aus – Haarnadeln, Pinzetten, Nagelfeilen – und machte sich an die Arbeit.

Die ersten Entführungen lagen zweihundert Jahre zurück. Manchmal verschwanden zwei Jungen, manchmal zwei Mädchen und manchmal ein Mädchen und ein Junge. Auch das Alter war ganz unterschiedlich: Einer der beiden war vielleicht sechzehn, der andere vierzehn oder beide gerade erst zwölf. Mit der Zeit aber bildete sich ein Muster heraus. Das erste Kind war immer gut und schön, das zweite kratzbürstig und hässlich. Und alle wurden erbarmungslos aus ihren Familien gerissen und tauchten nie wieder auf.

Anfangs glaubte man, die beiden Kinder seien von Bären gefressen worden, obwohl es keine Bären in Gavaldon gab. Als vier Jahre später wieder ein Paar verschwand, brauchte man einen neuen Sündenbock und verdächtigte Schwarzbären, statt einfach nur Bären. Weil Schwarzbären im dunklen Wald ja praktisch unsichtbar waren. Doch die Bärenjagd verlief im Sand und die Entführungen gingen weiter. Schließlich faselten die Leute sogar von Phantombären, bis sie endlich einsahen, dass sie auf der falschen Fährte waren.

Unterdessen machten die Kinder von Gavaldon eine seltsame Entdeckung. Die Gesichter der Entführten, die auf den Suchplakaten am Dorfplatz zu sehen waren, tauchten alle auf den Bildern in ihren Märchenbüchern wieder auf. Ein Junge namens Hans zum Beispiel, der vor hundert Jahren verschwunden war. Im Märchen war er immer noch ein Kind, nur hatte er da eine Bohnenranke im Garten und eine Schwäche für Zauberbohnen. Und Angus, der sommersprossige Schlingel mit den spitzen Ohren, der zusammen mit Hans verschwunden war, hockte im selben Märchen als sommersprossiger Riese oben auf der Bohnenranke. Beide Jungen waren irgendwie in diesem Märchen gelandet. Aber die Erwachsenen lachten die Kinder nur aus, wenn sie ihnen davon erzählten.

Doch bald verging ihnen das Lachen, weil die Kinder ihnen immer vertrautere Gesichter zeigten. Die hübsche Anya, die vor fünfzig Jahren verschwand, saß als kleine Meerjungfrau auf einem mondbeschienenen Felsen, während die böse Estra sich in die hinterhältige Meerhexe verwandelt hatte. Philip, der brave Pfarrersjunge, tauchte als tapferes Schneiderlein wieder auf, und die eingebildete Gula war eine grausige Waldhexe geworden. Die verschwundenen Kinder führten im Märchen ein neues Leben – manche waren gut, andere böse.

Die Bücher kamen alle aus Mr Deauvilles »Märchenhandlung«, einem staubigen alten Buchladen zwischen der Bäckerei Battersby und dem Dorfpub. Aber woher hatte Mr Deauville diese Märchenbücher?

Einmal im Jahr, an einem x-beliebigen Morgen, tauchte in seinem Laden eine Bücherkiste mit vier neuen Märchen auf. Mr Deauville hängte ein Schild an seine Ladentür: »Bis auf Weiteres geschlossen«. Und dann saß er tagein, tagaus in seinem Hinterzimmer und schrieb die Märchen für die Kinder von Gavaldon ab. Jedes Kind bekam ein eigenes Buch.

Wenn er fertig war, stellte er die Originale in seinem Schaufenster aus. Die Kinder standen Schlange vor seinem Laden, zusammen mit verzweifelten Eltern, die ihr zuletzt verschwundenes Kind in einem der Märchen wiederzufinden hofften.

Auf die Frage, wer ihm die Bücher schickte, zuckte Mr Deauville nur die Schultern. Die Bücher stünden einfach eines Morgens da. Wie durch Magie. »Und außerdem …«, fügte er hinzu. »Was ist so merkwürdig daran? Es sind schließlich Märchenbücher.«

Bald fiel den Eltern noch etwas anderes auf. Die Dörfer in den Märchenbüchern glichen alle dem Dorf Gavaldon. Dieselben sonnigen Häuschen am Seeufer mit den bunten Tulpen am Wegrand. Dieselben roten Wagen, gelben Schulhäuser und Läden, derselbe schiefe Kirchturm. Nur war alles als ferne Fantasiewelt hingemalt. Und die Märchendörfer erfüllten nur den einen Zweck, eine Geschichte darin beginnen und enden zu lassen. Alles, was dazwischen passierte, spielte im dunklen, endlosen Wald, der die Dörfer umschloss.

In einem Wald wie dem von Gavaldon.

Nach den ersten Entführungen waren die Dorfbewohner ausgeschwärmt, um die verschwundenen Kinder zu suchen. Aber der Wald trieb sie erbarmungslos zurück – mit Hagelschauern, Unwettern und umstürzenden Bäumen. Und wenn sie sich endlich doch durch alles hindurchgekämpft hatten, kamen sie immer an derselben Stelle wieder heraus – in ihrem eigenen Dorf, egal wo sie eingedrungen waren. Der Wald gab die Kinder nicht preis. Und eines Tages fanden sie auch heraus, warum.

Mr Deauville hatte gerade die neuen Märchen ausgepackt, als er einen riesigen Fleck in dem Bücherkarton entdeckte. Es war ein Tintenfleck, noch ganz frisch. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich der Fleck als kunstvolles Wappen, das aus einem weißen und einem schwarzen Schwan bestand. Drei Buchstaben prangten darunter:

S.G.B.

und in dem Banner unter dem Wappen stand in kleinen schwarzen Buchstaben:

DIE SCHULE FÜR GUT UND BÖSE

Die Entführungen gingen weiter, doch jetzt hatte der Dieb einen Namen: »Der Schulmeister«. Und die Eltern wussten, wohin ihre Kinder verschwanden.

Kurz nach zehn brach Sophie das letzte Schloss an ihrem Fenster auf und öffnete die Läden. Von hier aus konnte sie bis zum Waldrand sehen, wo ihr Vater Wache hielt. Nur wirkte er nicht so besorgt wie die anderen Leute. Fröhlich lächelnd legte er den Arm um die Schultern der Witwe Honora.

Sophie schüttelte den Kopf. Was fand ihr Vater nur an dieser Frau? Sophies Mutter war schön wie eine Märchenkönigin gewesen. Doch Honora sah aus wie ein Truthahn mit ihrem winzigen Kopf und dem plumpen Körper.

Jetzt flüsterte ihr Vater der Witwe etwas ins Ohr und Sophies Wangen brannten. Machte es ihm gar nichts aus, dass seine Tochter in Gefahr schwebte? Bei Honoras Söhnen hätte er sicher anders reagiert. Gut, er hatte Sophie in ihrem Zimmer eingeschlossen, so wie andere Väter, die um ihre Töchter bangten. Aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Sophie wusste längst, dass ihr Vater sie nicht liebte – weil sie kein Junge war.

Und jetzt wollte er die alte Hexe auch noch heiraten. Sophies Mutter war seit fünf Jahren tot, sodass niemand etwas dagegen sagen konnte. Ihr Vater musste Honora nur das Eheversprechen geben, dann hatte er endlich zwei Söhne und eine neue Familie. Aber dazu brauchte er Sophies Segen. Sophie wechselte jedes Mal das Thema, wenn er davon anfing, hackte Gurken oder schenkte ihm ein zerstreutes Lächeln. Ihre Strategie ging auf, denn inzwischen ließ er sie in Ruhe.

»Soll der alte Feigling sie doch heiraten, wenn ich fort bin«, brummte Sophie. Vielleicht merkte er dann endlich, was er an ihr gehabt hatte.

Behutsam legte sie Lebkuchenherzen für den Schulmeister auf ihr Fensterbrett. Aus richtiger Butter und mit viel Zucker, weil die hier etwas ganz Besonderes waren. Eine Botschaft, dass Sophie freiwillig mitkommen würde.

Dann sank sie zufrieden in ihre Kissen, schloss die Augen und zählte die Sekunden bis Mitternacht. Adieu, Gavaldon!

Sobald Sophie vom Fenster verschwunden war, stopfte Agatha sich die Lebkuchen in den Mund. Lockt ja doch nur die Ratten an, dachte sie, und ein paar Krümel rieselten auf ihre schwarzen Klumpschuhe. Gähnend trat sie den Heimweg an, als die Turmuhr Viertel vor zwölf anzeigte.

Nach dem Spaziergang mit Sophie war Agatha Richtung Friedhof zurückgegangen. Aber die Vorstellung, dass Sophie heimlich in den Wald schlich, um in diese Schule für Vollidioten zu kommen, ließ ihr keine Ruhe. Womöglich wurde Sophie von einem Wildschwein aufgespießt? Schließlich war Agatha ins Dorf gelaufen und hatte hinter einem Baum in Sophies Garten gelauert. Von dort aus hatte sie alles beobachtet. Wie Sophie ihr verrammeltes Fenster aufbrach und fröhlich singend ihre Koffer packte (ein Lied über Prinzen und eine Märchenhochzeit, das Agatha den Magen umdrehte). Wie sie sich schön machte, ihr bestes Kleid anzog und endlich ins Bett ging. Agatha zerquetschte die letzten Lebkuchenkrümel mit ihren Stiefeln und stapfte zum Friedhof davon. Sophie war in Sicherheit, und morgen würde sie dumm aus der Wäsche schauen. Aber Agatha nahm sich vor, kein Salz in ihre Wunden zu reiben. Sie würde Sophie trösten und für sie da sein.

Gedankenverloren trottete sie den Hang hinauf. Dabei fiel ihr Blick auf den breiten Streifen Dunkelheit am fackelerleuchteten Waldrand. Die Wachen, die für den Friedhof eingeteilt waren, hatten sich verkrümelt. Was gab es dort auch schon zu bewachen? Nur Agatha und ihre Mutter, die im Dorf als Hexen verschrien waren.

Agatha seufzte. Was hatte sie nur an sich, dass sie immer alle Leute vergraulte? Die Kinder rannten kreischend vor ihr davon, und die Erwachsenen drückten sich an die Häuserwände, wenn sie vorüberging. Diese Dummköpfe befürchteten allen Ernstes, dass Agatha sie verhexen könnte. Selbst die Totengräber ergriffen die Flucht, wenn sie auftauchte. Und immer dieses Getuschel hinter ihrem Rücken: »Hexe«, »böser Blick«, »Bösenschule«. Eine Zeitlang hatte Agatha sich kaum noch aus dem Haus gewagt. Tagelang, wochenlang war sie wie ein Gespenst in der Villa Grabhügel herumgegeistert.

Gelangweilt hatte sie sich dabei allerdings nicht. Sie schrieb Gedichte (»Das Leben ist zum Kotzen« und »Der Himmel ist ein Friedhof«) und zeichnete Porträts von Schlitzer, die so gut waren, dass die Mäuse quiekend davonrannten. Einmal schrieb sie sogar ein Märchen, das natürlich böse endete: »Und so schlotterten sie vor Angst bis an ihr unseliges Ende.« Aber dann hatte eines Tages Sophie an ihre Tür geklopft.

Ächzend stieg Agatha die knarzende Treppe hinauf, und Schlitzer huschte heraus und leckte ihr die Knöchel. Drinnen sang jemand aus vollem Hals:

In einem tiefen grünen TannSteht eine Schule wundersamDie Schule für Gute und Bö-hö-se.

Agatha verdrehte die Augen und stieß die Tür auf.

Ihre Mutter stand fröhlich trällernd im Zimmer, mit dem Rücken zu ihr. Sie packte mehrere schwarze Umhänge, Besen und zwei spitze schwarze Hexenhüte in einen alten Koffer.

Zwei Türme ragen in den Himmel,Der eine weiß wie Schne-he,Finster und schwarz der ande-re.Wag nicht zu fliehen,Der Wald ist ein Graus,Nur über ein Märchen find’st du hinaus.

»Planst du eine Reise in die Südsee?«, fragte Agatha sarkastisch. »Du weißt doch, dass du nicht aus Gavaldon rauskommst. Höchstens mit Flügeln.«

Callis drehte sich um. »Meinst du, drei Umhänge sind genug?«, fragte sie. Ihre dunklen Glupschaugen lugten unter dem fettigen schwarzen Haarschopf hervor. Agatha schauderte. Sah sie auch so grässlich aus wie ihre Mutter?

»Die sind doch alle gleich«, murrte sie. »Warum brauchst du drei davon?«

»Falls du mal einen deiner Freundin leihen willst, oder so.«

»Was? Die sind für mich?«

»Ich habe dir auch zwei Hüte eingepackt, falls einer verbeult ist, einen Besenstiel, falls der von dort mieft, und ein paar Phiolen mit Hundszungen, Eidechsenbeinen und Froschzehen. Man kann ja nie wissen.«

»Mutter«, fragte Agatha, obwohl sie die Antwort kannte, »wofür soll das alles gut sein?«

»Na, für die Begrüßungsparty in der Schule für Böse«, trällerte Callis. »Damit du nicht völlig blank dastehst.«

Agatha kickte ihre Stiefel von den Füßen. »Wie oft soll ich es dir noch sagen? Ich bin glücklich hier. Ich habe alles, was ich brauche. Mein Bett, meine Katze und meine beste Freundin.«

»Dann nimm dir ein Beispiel an deiner Freundin, Schätzchen. Die hat Ehrgeiz und macht was aus ihrem Leben«, sagte Callis und knallte den Koffer zu. »Du bist ein Glückspilz, Agatha. Du darfst eine Märchenhexe werden. Ich wäre selber so gern in die Bösenschule gegangen. Aber der Schulmeister wollte mich nicht. Er hat stattdessen einen Jungen genommen, einen richtigen Dummkopf.«

Agatha schlüpfte unter ihre Decke und brummte: »Na und? Das ganze Dorf hält dich für eine Hexe. Was willst du also?«

Callis wirbelte herum. »Ich will, dass du von hier fortkommst«, zischte sie, und ihre Augen glühten wie Kohlen. »Dieser Ort ist nicht gut für dich, du bist schon ganz schwach und ängstlich geworden. Hier verrottest du nur und wartest den ganzen Tag darauf, dass Sophie kommt und dich Gassi führt wie einen Hund.«

Agatha starrte ihre Mutter sprachlos an.

Doch Callis lächelte strahlend und packte weiter. »Pass gut auf deine Freundin auf, Schätzchen. Die Schule des Guten ist nicht so paradiesisch, wie es sich anhört. Die Arme wird sich noch wundern. Und jetzt gute Nacht. Der Schulmeister wird bald hier sein, und wenn du schläfst, ist es einfacher für ihn.«

Sophie konnte nicht einschlafen. Fünf Minuten vor Mitternacht und immer noch keine Spur von dem Kinderdieb. Sie kniete sich aufs Bett und spähte durch die Fensterläden. Am Waldrand schwenkten die Wächter ihre Fackeln. Sophie runzelte die Stirn. Wie soll er denn da durchkommen?

Dann sah sie, dass die Lebkuchenherzen vom Fensterbrett verschwunden waren.

Er ist schon da!

Drei prall gefüllte rosafarbene Koffer flogen zum Fenster hinaus, gefolgt von zwei Füßen in gläsernen Pantöffelchen.

Agatha schreckte aus einem Albtraum hoch. Callis schnarchte laut auf der anderen Seite des Zimmers, mit Schlitzer an ihrer Seite. Neben Agathas Bett stand der gepackte Koffer. »Agatha aus Gavaldon, Villa Grabhügel 1a« stand darauf. Oben auf dem Koffer lag ein Beutel mit Pfefferkuchen als Proviant.

Agatha mampfte die Pfefferkuchen und starrte durch die zersprungene Fensterscheibe. Am Waldrand unten loderten unzählige Fackeln, aber hier oben auf dem Friedhof hielt nur einer Wache – ein Dicker mit wulstigen Armen und dünnen Beinen. Er stemmte ein Stück von einem zerbröckelten Grabstein wie eine Hantel über den Kopf, um sich wachzuhalten.

Agatha biss in ihren letzten Pfefferkuchen und schaute auf den dunklen Wald hinaus. Leuchtend blaue Augen starrten zu ihr zurück.

Blitzschnell duckte sie sich in ihr Bett hinunter. Nach einer Weile hob sie langsam den Kopf. Nichts. Auch der Wächter war verschwunden.

Oder nein, halt! Er hing bewusstlos über seiner Grabstein-Hantel, die Fackel war erloschen.

Ein buckliger Schatten schlich von ihm weg. Ein Schatten ohne Körper. Seelenruhig schwebte er über die Gräber. Dann glitt er unter dem Friedhofstor hindurch, den Hang hinunter, bis zum hell erleuchteten Dorfplatz.

Agatha stockte der Atem. Der Schatten war kein Hirngespinst, sondern Wirklichkeit. Also gab es den Schulmeister doch?

Aber mich will er nicht. Agatha atmete auf, doch dann stieg die Panik in ihr auf.

Sophie.

Was jetzt? Was sollte sie tun? Ihre Mutter aufwecken? Um Hilfe rufen? Nein, zu spät.

Callis, die sich schlafend stellte, hörte, wie Agatha aufstand und kurz darauf die Tür hinter ihr zufiel. Sie drückte Schlitzer fest an sich, damit er nicht aufwachte.

Sophie kauerte hinter einem Baum und wartete auf den Schulmeister.

Wo blieb er nur? Plötzlich entdeckte sie etwas auf dem Boden. Lebkuchenkrümel, von einem klobigen Stiefel in die Erde gequetscht. Von einem Stiefel, der so hässlich war, dass er nur einer Person gehören konnte. Sophie ballte die Fäuste.

Im selben Moment pressten sich zwei Hände auf ihren Mund und sie wurde mit einem gewaltigen Fußtritt in ihr Zimmer zurückbefördert. Kopfüber krachte Sophie auf ihr Bett und wirbelte herum. Agatha!

»Spinnst du?«, kreischte sie. »Du elender Wurm! Halt dich gefälligst da raus!« Dann sah sie Agathas angstgeweitete Augen. »Du hast ihn gesehen«, stieß sie hervor.

Agatha hielt Sophie mit einer Hand den Mund zu und drückte sie mit der anderen auf die Matratze. Dann spähte sie durchs Fenster. Der bucklige Schatten schwebte über den Dorfplatz, an dem ahnungslosen, bewaffneten Wächter vorbei, und steuerte direkt auf Sophies Haus zu. Agatha unterdrückte einen Schrei. Sophie riss sich los und packte sie an den Schultern.

WUMM!, machte es an der Tür.

WUMM! WUMM!

Sophie rümpfte die Nase. Konnte der nicht höflich klopfen?

WUMM!

Schlösser krachten. Angeln quietschten.

Agatha wich an die Wand zurück. Sophie dagegen faltete die Hände und zupfte ihr Kleid zurecht, um den hohen Besuch zu empfangen.

Dann gab die Tür nach. Agatha warf sich dagegen, während Sophie nur die Augen rollte. »Setz dich einfach hin, Aggie!«

Agatha drückte mit aller Kraft die Türklinke hoch, aber sie verlor den Halt. Die Tür flog auf und sie wurde durchs Zimmer geschleudert.

»Ich hab was gesehen!«, keuchte Sophies Vater und schwenkte seine Fackel herum. Er war weiß wie ein Laken.

Der bucklige Schatten löste sich lautlos von der Wand und verstellte Sophies Vater den Weg.

»Da!«, schrie Agatha. Sophies Vater drehte sich um, aber der Schatten blies seine Fackel aus. Agatha riss ein Streichholz aus ihrer Tasche und zündete es an. Sophies Vater lag bewusstlos am Boden. Und Sophie war verschwunden.

Draußen waren laute Schreie zu hören.

Agatha schaute zum Fenster hinaus und sah, wie die Dorfbewohner dem Schatten nachjagten, der Sophie zum Waldrand zerrte. Immer mehr Leute rannten schreiend und gestikulierend hinterher …

Sophie dagegen strahlte übers ganze Gesicht.

Mit einem Satz sprang Agatha aus dem Fenster und rannte ihr nach. Die Dorfbewohner hatten Sophie fast eingeholt, doch plötzlich loderten die Fackeln in ihren Händen auf, meterhoch, und sie waren in einem Flammenring gefangen. Agatha lief um die Feuerfalle herum, sie rannte wie der Teufel, um ihre Freundin zu retten, bevor sie im Wald verschwand.

Währenddessen wurde Sophie aus dem weichen Gras gezerrt und über steinigen Grund geschleift. Wie ärgerlich, dachte sie. Ich kann doch nicht in einem schmutzigen Kleid in der Schule des Guten auftauchen! »Wo bleiben die Diener?«, fragte sie den Schatten. »Oder die Kürbiskutsche? – Das ist doch das Mindeste, was man erwarten kann.«

Agatha rannte und rannte, aber Sophie war schon fast zwischen den Bäumen verschwunden. Ringsum loderten die Flammen, immer höher und höher, als wollten sie das ganze Dorf verschlingen.

Sophie atmete auf. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Aber wo blieb das zweite Kind, für die Schule des Bösen? Agatha war es nicht, darin hatte sie sich getäuscht. Sophie schaute auf den turmhohen Flammenring zurück, während sie weiter Richtung Bäume geschleift wurde. Adieu, Gavaldon – auf Nimmerwiedersehen, ödes Dorfleben!

Dann sah sie Agatha durch die Flammen sprinten. Wie eine Wahnsinnige warf sie sich auf Sophie, und beide Mädchen wurden in die Dunkelheit gerissen.

Sofort erlosch das Feuer und alle Leute stürzten in den Wald. Aber die Bäume rückten eng zusammen und versperrten ihnen den Weg.

Es war zu spät.

»SPINNSTDU?«, brüllte Sophie. Sie kratzte und biss Agatha, während der Schatten die beiden Mädchen durch den stockdunklen Wald zerrte. Agatha trat um sich und versuchte, Sophie von dem Schatten zu befreien.

»DUMACHSTALLESKAPUTT!«, heulte Sophie. Agatha biss ihr in die Hand. »Auuuaa!«, brüllte Sophie und warf sich herum, sodass Agatha unten lag und im Dreck schleifte. Agatha zog sich sofort wieder hoch und robbte auf den Schatten zu. Ihr Klumpschuh quetschte Sophie das Gesicht.

Dann spürten beide, wie sie vom Boden abhoben.

Etwas Kaltes, Spillriges wickelte sich um sie. Agatha fummelte ein Streichholz aus ihrem Kleid, entzündete es an ihrem knochigen Handgelenk und wurde leichenblass. Der Schatten war fort. Umschlungen von Ranken, die sich um eine riesige Ulme wanden, wurden sie plötzlich hochgehievt und auf den untersten Ast gesetzt.

»Wir gehen jetzt sofort nach Hause«, zischte Agatha.

Der Ast wackelte, bog sich zurück wie eine Schleuder und schoss sie nach oben. Kreischend landeten sie auf dem nächsten Ast. Agatha kramte ein neues Streichholz hervor, doch sie wurden immer höher hinaufgeschleudert. Wie Pingpongbälle hüpften sie nach oben, bis sie endlich mit zerfetzten Kleidern und völlig zerkratzt den höchsten Ast erreicht hatten.

Auf dem Wipfel der Ulme thronte ein schwarzes Riesenei, das vor ihren Augen aufplatzte und sie mit dunklem Dotterschleim vollspritzte. Ein gewaltiger Vogel, der ganz aus Knochen bestand, schlüpfte heraus. Er warf einen Blick auf die beiden Mädchen und stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Dann nahm er sie in seine Krallen und schoss mit ihnen vom Baum herunter. Agatha und Sophie schrien wie am Spieß. Der Knochenvogel fegte durch den dunklen Wald, und Agatha zündete ein Streichholz nach dem anderen an seinen dürren Rippen an. Glitzernde rote Augen und stachlige Schatten tauchten aus dem Dunkel auf. Knorrige Bäume schnappten nach ihnen, während der Vogel im Zickzackflug den Ästen auswich. Dann krachte ein gewaltiger Donnerschlag über den Bäumen, und sie stürzten kopfüber in ein tosendes Unwetter. Grelle Feuerblitze zuckten durch den Wald. Verzweifelt beschirmten sie ihre Gesichter gegen Regen, Schlamm und spitze Äste, duckten sich unter Spinnweben und Giftschlangen weg, bis der Vogel in ein tödliches Dornengestrüpp krachte. Beide Mädchen kniffen die Augen zu, auf das Schlimmste gefasst …

Dann wurde es still.

»Agatha …?«

Als Agatha die Augen öffnete, schien ihr die Sonne ins Gesicht. Sie schaute hinunter und rang nach Luft.

»Wahnsinn! Die gibt es ja wirklich!«

Tief unter ihnen lagen zwei riesige Schlösser im Wald. Das eine hatte rosa und blaue Türme aus Glas, die im Sonnendunst über einem schimmernden See funkelten. Das andere war schroff und rußgeschwärzt, und seine scharfen Turmspitzen bohrten sich in einen finsteren Gewitterhimmel wie die Zähne eines Monsters.

Die Schule für Gut und Böse.

Der Knochenvogel segelte über die funkelnden Glastürme und lockerte seinen Griff um Sophie. Agatha klammerte sich verzweifelt an ihrer Freundin fest, aber Sophie strahlte vor Glück. »Agatha, ich bin eine Prinzessin!«

Doch der Vogel ließ Agatha fallen.

Fassungslos musste Sophie mit ansehen, wie Agatha in einem rosa Zuckerwattenebel verschwand. »Nein – warte …!«

In vollem Tempo sauste der Vogel auf die Schule für Böse zu, deren scharfe Fänge nach frischer Beute gierten.

Dann ließ er Sophie einfach in die Sturmhölle fallen.

Sophie schlug die Augen auf und fand sich in einem stinkenden Burggraben wieder, der bis zum Rand mit dickem schwarzem Schlamm gefüllt war. Eine düstere Nebelwand hüllte sie ein. Sophie wollte aufstehen, aber ihre Füße reichten nicht bis zum Grund, und sie tauchte noch tiefer ein. Der Schlamm drang ihr in die Nase und brannte in ihrer Kehle. Würgend griff sie nach einem rettenden Ast, der sich als angefressener Ziegenkadaver entpuppte. Entsetzt ließ sie los und versuchte wegzuschwimmen, konnte aber die Hand kaum vor den Augen sehen. Über ihr ertönte lautes Geschrei, und sie blickte auf. Im ersten Moment nahm sie nur eine rasche Bewegung wahr, dann schoss ein ganzer Schwarm von Knochenvögeln durch den Nebel herunter und ließ kreischende Kinder in den Burggraben fallen. Auf die Schreie folgte lautes Platschen, und die nächste Vogelwelle rückte heran. Dann noch eine und noch eine, bis der Himmel von hilflos herunterpurzelnden Kindern erfüllt war. Einer der Vögel zischte direkt auf Sophie zu, die ihm gerade noch ausweichen konnte. Ein gewaltiger Schlammschwall klatschte ihr ins Gesicht.

Sie wischte sich den Schlamm aus den Augen und fand sich einem Jungen ohne Hemd gegenüber. Er war bleich und schmächtig, hatte einen winzigen Kopf mit einer langen Nase, spitze Zähne und schwarzes Haar, das ihm über seine Knopfaugen fiel. Er sah aus wie ein Wiesel.

»Der Vogel hat mein Hemd gefressen«, keuchte er. »Darf ich mal dein Haar anfassen?«

Sophie wich zurück.

»So schönes Prinzessinnenhaar in der Schule für Böse?«, sagte der Junge und paddelte auf sie zu.

Sophie sah sich verzweifelt nach einer Waffe um – einem Stock, einem Stein, einer toten Ziege …

»Willst du mit mir im selben Zimmer wohnen?«, fragte der Wieseljunge hoffnungsvoll. Igitt. Radley hatte sich in einen Nager verwandelt! Der Junge streckte seine magere Hand nach ihr aus, und Sophie wollte ihm die Faust aufs Auge knallen, aber da platschte ein kreischendes Kind zwischen ihnen ins Wasser.

Blitzschnell schoss Sophie davon, und als sie einmal kurz zurückblickte, war der Wieseljunge fort.

Im Nebel zeichneten sich die Silhouetten der Kinder ab, die zwischen herumschwappenden Koffern und Taschen hindurchpaddelten und ihrem Gepäck nachjagten. Sobald sie ihre Sachen entdeckt hatten, wurden sie von der Strömung fortgerissen, auf das gespenstische Heulen zu, das in der Ferne ertönte. Sophie schwamm hinterher, bis der Nebel sich lichtete und das Ufer zum Vorschein kam. Dort wartete ein Rudel Wölfe in blutroten Uniformjacken und schwarzen Lederhosen. Die Wölfe standen auf zwei Beinen und trieben die Schüler mit Reitpeitschen zusammen.

Sophie klammerte sich an der Uferböschung fest und kletterte hinauf. Als sie ihr Spiegelbild im Wasser sah, erstarrte sie. Ihr Kleid war zerfetzt und klebrig von der stinkenden Brühe, ihr Gesicht schlammverschmiert, und in ihren Haaren ringelte sich eine ganze Regenwurmsippe. »Hilfe!«, würgte sie hervor. »Ich bin in der falschen Schu…«

Einer der Wölfe packte sie und kickte sie in die Schlange der Schüler. Sophie machte den Mund auf, um zu protestieren, doch dann sah sie, dass der Wieseljunge zu ihr herschwamm. »Warte auf mich!«, heulte er.

Wortlos stellte Sophie sich in die Schlange, die im Nebel vorwärtsrückte. Sobald ein Schüler trödelte, schnalzten die Wölfe mit der Peitsche. Sophie hielt ängstlich Schritt, wischte an ihrem Kleid herum, pulte Würmer aus ihrem Haar und trauerte ihrem rosa Gepäck nach, das irgendwo in der Ferne verschwunden war.

Das Schlosstor strotzte vor Eisenspitzen und war zudem mit Stacheldraht umwickelt. Als Sophie näher kam, wurde der Draht lebendig und entpuppte sich als ein Geflecht von schwarzen Vipern, die zischend nach ihr schnappten. Quiekend vor Angst stürzte Sophie durch das Tor. Dann warf sie einen Blick zurück und entzifferte die rostige Schrift darüber, die von zwei schwarzen Schwänen flankiert war:

SCHULE FÜR BÖSEZUR ENTFALTUNG UND VERBREITUNG DER NIEDERTRACHT

Sophie drehte sich wieder um. Vor ihr ragte der Hauptturm im Nebel auf wie ein Dämon, ein wuchtiges Bauwerk aus pockennarbigem schwarzem Stein mit zwei dicken, krummen Seitentürmchen. An den Turmspitzen hing dichter rotgeäderter Efeu, der an blutige Flügel erinnerte.

Knurrend trieben die Wölfe ihre Schützlinge zum Turmtor und in den langen, gezackten Tunnel dahinter, der wie eine Krokodilsschnauze geformt war. Sophie lief es kalt den Rücken hinunter, als der Gang immer schmaler wurde, bis sie ihren Vordermann kaum noch sehen konnte. Zitternd quetschte sie sich zwischen zwei Felsblöcken hindurch und betrat eine zugige Halle, die nach verfaultem Fisch stank. Teuflische Fratzen mit Fackeln im Maul grinsten von den Dachsparren herunter. Eine zahnlose Hexengestalt aus Eisen hielt einen Apfel hoch. Ihr Gesicht glühte düster im Feuerschein. An der Wand zog sich eine bröckelnde Säulenreihe entlang. Die erste Säule war mit einem riesigen schwarzen N beschriftet, an dem Kobolde und Harpyien auf und ab huschten wie an einem Baum. Die zweite Säule trug ein blutrotes I, das mit Trollen und Riesen verziert war. Sophie schritt langsam daran vorbei, bis sie das Wort entziffern konnte, das die Buchstaben der Säulenreihe bildeten: N-I-M-M-E-R. Sie war jetzt weit genug in den Saal vorgerückt, um die Schlange vor ihr zu überblicken. Endlich konnte sie die anderen Schüler richtig sehen und fiel fast in Ohnmacht vor Schreck.

Eines der Mädchen hatte grässlich vorstehende Zähne, drei spärliche Haarbüschel auf dem Kopf und nur ein Auge mitten auf der Stirn. Ein Junge sah wie ein wandelnder Teigklumpen mit wulstigen Armen und Beinen aus, und sein Kopf war völlig kahl. Direkt vor Sophie trottete ein Mädchen mit gespenstisch grüner Haut und einem starren Grinsen im Gesicht. Und der Junge, der vor diesem Mädchen ging, war behaart wie ein Affe. Alle waren ungefähr in Sophies Alter, aber sonst gab es keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Sophie hatte noch nie so viel Hässlichkeit auf einmal gesehen. Sie war hier die Sonne im Reich der Finsternis.

Auf der anderen Seite des Grabens fühlte sich Agatha genauso fehl am Platz. Sie war kaum zwei Minuten da und hatte schon fast eine Fee umgebracht.

Sie war auf einer Wiese mit roten und gelben Lilien erwacht, die aufgeregt tuschelten und mit ihren Blättern und Knospen auf Agatha zeigten. Doch dann war das Problem offenbar geklärt, denn die Lilien beugten sich über sie wie besorgte Großmütter und schlangen ihre Stiele um Agathas Handgelenke. Ruckartig wurde sie auf die Füße gerissen und stand mit einem Mal in einer Wiese voller Mädchen, die um einen schimmernden See herum erblühten.

Ja, wirklich. Agatha traute ihren Augen kaum, denn die Mädchen sprossen einfach aus der Erde. Zuerst tauchten ihre Köpfe auf, dann die Hälse, dann die Oberkörper und der ganze Rest. Die Mädchen streckten ihre Arme zum flauschblauen Himmel und setzten ihre Füße in zierlichen Pantöffelchen auf den Boden. Agatha lief es kalt über den Rücken. Nicht, weil diese Mädchen wie Tulpen aus der Erde sprossen, sondern weil sie so schön waren.

Alle hatten rosige Gesichter und schimmerndes langes Haar, das ihnen in weichen Wellen über die Schultern fiel. Und alle trugen luftige Kleider in Rosa, Weiß und Gelb – wie ein Korb voll pastellfarbener Ostereier. Drei Feen mit glitzernden Flügeln erwarteten die Mädchen. Zart klimpernd staubten sie ihre Schützlinge ab, gaben ihnen Honigbuschtee zu trinken und kümmerten sich um ihr Gepäck, das mit den Besitzerinnen aus dem Boden geploppt war.

Lauter Sophies, wohin sie auch blickte. Sie hatten alles, was Agatha nicht hatte. Agatha sackte das Herz in die schwarzen Klumpschuhe, und sie schämte sich wie schon lange nicht mehr. Am liebsten wäre sie in ein Mauseloch gekrochen, oder – noch besser – in eine modrige Gruft. Dann wurde sie unsanft aus ihren Gedanken gerissen.

Eine der Feen hatte sie gebissen. »Was zum Teufel …?« Agatha schüttelte das kleine Wesen ab, doch es stürzte sich erneut auf sie und biss ihr in den Hals, dann in den Hintern. Wütend hüpfte Agatha herum und versuchte, die Fee zu fangen, die aber viel zu schnell war und sie in sämtliche Körperteile biss. Am Ende flog sie ihr versehentlich in den Mund und Agatha schluckte sie hinunter. Erleichtert hob sie den Kopf.

Sechzig wunderschöne Prinzessinnen starrten sie an. Was war das hier? Ein Wolf im Schafspelz?

Agatha spürte ein Kitzeln im Hals und würgte die Fee wieder heraus. Zu ihrer Überraschung war es ein Junge – ein Feenjunge.

In der Ferne läuteten die Glocken in dem prächtigen rosa-blauen Schloss am See. Die Feen packten ihre Schützlinge an den Schultern, zogen sie in die Luft und flogen mit ihnen über den See zu den Türmen. Agatha nahm die Beine in die Hand und flüchtete, aber sie kam nicht weit. Ruckzuck hoben zwei Feen sie in die Luft.

Die anderen Mädchen wurden vor dem Glaspalast sanft abgesetzt, doch Agathas Feen schleiften sie vorwärts wie eine Gefangene. Verzweifelt spähte sie zum anderen Seeufer hinüber. Wo war Sophie?

Auf halbem Weg verwandelte sich der kristallklare See in einen schlammigen Burggraben, und das gegenüberliegende Ufer war in dichten grauen Nebel gehüllt. Wenn sie Sophie retten wollte, musste Agatha irgendwie über diesen Graben gelangen. Aber vorher musste sie diese geflügelten Nervensägen loswerden. »Ablenkung« lautete das Zauberwort.

Über dem goldenen Tor vor ihr prangten die Worte:

SCHULE FÜR GUTZUR ERLEUCHTUNG UND VERZAUBERUNG

Agatha sah ihr Spiegelbild in den funkelnden Buchstaben und wandte schnell den Blick ab. Spiegel mied sie wie die Pest. (Hunde und Schweine betrachten sich auch nicht im Spiegel.)

Das Schlosstor war aus schimmerndem Milchglas und mit zwei weißen Schwänen verziert. Die Flügeltür schwang auf und die Feen scheuchten die Mädchen in eine enge Spiegelpassage. Plötzlich geriet die Schlange ins Stocken und ein paar Mädchen umzingelten Agatha wie ein Schwarm Haie.

Dann warteten sie schweigend darauf, dass Agatha ihre hässliche Maske abnahm und ihr wahres Gesicht zeigte. Das Gesicht einer Prinzessin. Agatha starrte tapfer zurück. Doch dann traf sie auf ihr Spiegelbild, das sich tausendfach in der langen Galerie fortsetzte. Beschämt senkte sie ihren Blick auf den Marmorboden. Ein paar Feen schwirrten herbei, um die Schlange anzutreiben, aber die meisten ließen sich neugierig auf den Schultern ihrer Schützlinge nieder und schauten zu. Endlich trat ein Mädchen mit hüftlangem goldenem Haar, rosigen Lippen und himmelblauen Augen vor. Sie war einfach zu schön, um wahr zu sein.

»Hallo, ich bin Beatrix«, flötete sie. »Und du? Ich habe deinen Namen nicht verstanden.«

»Ich hab ihn ja auch noch nicht gesagt«, antwortete Agatha, die Augen immer noch auf dem Boden.

»Bist du sicher, dass du hier in der richtigen Schule bist?«, fragte Beatrix zuckersüß.

»Ähm, ich …«, stammelte Agatha. In ihrem Hinterkopf ziepte etwas, aber sie bekam es nicht zu fassen.

»Oder bist du vielleicht zur falschen Schule geschwommen?«, fügte Beatrix lächelnd hinzu.

Ablenkung! Ja, das war es. Agatha musste sie ablenken.

»Aber das ist doch die Schule des Guten, nicht wahr?«, fragte sie und schaute in Beatrix’ strahlend blaue Augen. »Wo schöne Mädchen hinkommen, die später Prinzessinnen werden sollen.«

»Oh.« Beatrix kräuselte die Lippen. »Dann hast du dich also nicht verirrt? Aber wo ist dann dein Flowerpower-Pass?«

Agatha blinzelte. »Mein was?«

»Das Ticket, mit dem wir alle hergekommen sind. Nur Schüler, die offiziell aufgenommen wurden, bekommen so einen Flowerpower-Pass.«

Die Mädchen hielten ihre goldenen Tickets hoch. Auf jedem stand ein Name in verschnörkelter Schrift, und darunter prangte das schwarz-weiße Schwanensiegel des Schulmeisters.

»Ach so, der Flowerpower-Pass«, sagte Agatha und kramte in ihren Taschen. »Kommt her, dann zeig ich ihn euch.«

Die Mädchen traten vorsichtig näher. Agatha wühlte und wühlte … Streichhölzer … Münzen … getrocknete Blätter …

»So klein ist das Ticket nicht«, sagte Beatrix.

»Ähm, beim Waschen eingelaufen …« Agatha wühlte weiter in ihren Taschen … noch mehr Streichhölzer, geschmolzene Schokolade, ein geköpfter Vogel (Schlitzer natürlich). »Es muss irgendwo da drin sein …«

»Vielleicht hast du es ja verloren?«, sagte Beatrix.

»Ah, jetzt hab ich’s …«, rief Agatha schnell. Aber das Einzige, was sie vorweisen konnte, waren nervöse rote Flecken an ihrem Hals.

»Du weißt doch, was mit ungebetenen Eindringlingen passiert«, sagte Beatrix, und die anderen Mädchen umringten sie drohend.

»Da ist es …« Tu was! Los!

Aber Agatha fiel auf die Schnelle nichts ein – außer einem donnernden Furz.

Eine wirksame Ablenkung löst Chaos und Panik aus. Insofern hatte Agatha ihr Ziel hundertprozentig erreicht. Es stank wie die Pest, und die Mädchen rannten schreiend davon. Ein paar Feen fielen in Ohnmacht, sodass der Weg zur Tür frei wurde. Nur Beatrix stand wie angewurzelt da. Agatha beugte sich zu ihr hin und fletschte die Zähne wie der böse Wolf in Rotkäppchen.

»Buh!«

Beatrix rannte um ihr Leben.

Agatha raste zur Tür, während die Mädchen sich gegenseitig fast niedertrampelten, um nur ja schnell an die frische Luft zu kommen. Sophie retten!, war Agathas einziger Gedanke, und sie stürmte durch das Schlosstor zum See hinunter. Doch bevor sie ins Wasser springen konnte, baute sich eine Riesenwelle auf und schleuderte sie durch das Schlosstor zurück. Agatha landete auf dem Bauch in einer Wasserpfütze, mitten unter den fassungslosen Mädchen. Hastig rappelte sie sich auf und erstarrte.

»Willkommen, liebe Erstklässlerinnen«, sagte eine zwei Meter große Nymphe, die vor ihnen in der Luft schwebte. »Willkommen in der Schule des Guten.«

Der Gestank brachte Sophie beinahe um. Würgend schleppte sie sich in der Schlange vorwärts. Es roch nach ungewaschenen Körpern, modrigen Steinen und stinkendem Wolfsfell. Sophie stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Anfang der Schlange zu sehen, doch die Monsterparade setzte sich endlos fort. Die anderen warfen ihr böse Blicke zu, aber Sophie ignorierte es. Unbeirrt blieb sie bei ihrem Prinzessinnenlächeln, falls das alles hier nur ein Test war, oder ein Witz oder was auch immer.

»Bitte«, sagte sie zu einem der Grauwölfe. »Ich will ja nicht Ihre Autorität anzweifeln, aber kann ich vielleicht den Schulmeister sprechen? Ich glaube, ich …« Der Wolf brüllte und sprühte sie mit seinem Speichel voll. Sophie verstummte.

Schweigend schlurfte sie hinter den anderen her in eine baufällige Halle mit drei windschiefen schwarzen Treppen, die sich nebeneinander nach oben wanden. Die erste war mit geschnitzten Monstern verziert und trug den Schriftzug »BOSHEIT« am Geländer. Auf der zweiten, die voll haariger Spinnen war, stand »UNHEIL«. Und auf der dritten das Wort »LASTER«. Zischelnde Schlangen wanden sich um die Geländer. An den Wänden hingen Bilder in verschiedenfarbigen Rahmen. Sie zeigten ehemalige Schüler und daneben eine Szene aus dem Märchen, in dem sie gelandet waren. Ein kleines Mädchen lächelte verschmitzt aus einem goldenen Rahmen herunter. Auf dem Bild daneben war sie als gruselige Hexe zu sehen, mit einem reglosen Mädchen zu ihren Füßen. Darunter hing eine goldene Tafel:

Das nächste Bild zeigte einen hässlichen Jungen mit dicken, zusammengewachsenen Augenbrauen. In der Zeichnung daneben tauchte er als Mörder auf, der ein Messer an die Kehle einer Frau hielt:

Direkt unter Drogan war ein magerer blonder Junge in einem silbernen Rahmen abgebildet. Er hatte sich in einen Unhold verwandelt, der mit elf anderen ein ganzes Dorf überfiel.

Dann entdeckte Sophie einen verstaubten Bronzerahmen mit einem winzigen Glatzkopf, der angstvoll die Augen aufriss. Sophie sog die Luft ein. Das war doch der Junge, der immer die hübschen Mädchen in Gavaldon gebissen hatte. Er war vor vier Jahren verschwunden. Neben Bane – so hieß der Junge – hing keine Zeichnung. Nur eine rostige Tafel, auf der »DURCHGEFALLEN« stand.

Sophie schauderte. Was war wohl aus ihm geworden? Ihr Blick wanderte über die goldenen, silbernen und bronzenen Rahmen an den Wänden. Eine Galerie des Grauens: Hexen, die schöne Prinzen erschlugen, menschenfressende Riesen, Oger, kopflose Reiter und blutrünstige Seeungeheuer. Und alle waren früher mal Kinder gewesen. Freche kleine Nervensägen vielleicht, aber hier tauchten sie als wahre Bestien auf, als das leibhaftige Böse. Doch selbst die Bösewichte, die einen grausamen Tod erlitten hatten, wurden hier im Augenblick ihres größten Triumphes abgebildet – Rumpelstilzchen, der Wolf von Rotkäppchen oder den sieben Geißlein. Als hätten sie am Ende tatsächlich gesiegt. Sophie sah, wie die anderen Schüler voller Ehrfurcht zu den Porträts aufblickten, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie war unter künftige Mörder und Monster geraten.

Was nun? Sie musste sofort zur Schulleitung, um die Verwechslung aufzuklären. Ein Blick in die Schülerlisten würde genügen. Aber bis jetzt hatte Sophie nur Wölfe gesehen, die nicht mal sprechen konnten, geschweige denn eine Liste lesen.