The School for Good and Evil, Band 5: Wer ist der Stärkste im ganzen Land? - Soman Chainani - E-Book

The School for Good and Evil, Band 5: Wer ist der Stärkste im ganzen Land? E-Book

Soman Chainani

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Beschreibung

Das Böse hat die Herrschaft über Camelot an sich gerissen und den wahren König zum Tode verurteilt. Während Sophie und ihre Klassenkameraden gefangen genommen werden, gelingt Agatha nur knapp die Flucht. Gemeinsam mit den Schülern der Schule für Gut und Böse sucht Agatha nach einem Weg, Sophie und ihre Freunde zu befreien und den falschen König zu stürzen – bevor es zu spät ist. In einem tiefen, dunklen Tann liegt eine Schule wundersam: Die Schule für Gut und Böse. Zwei Türme wie Zwillingsköpfe, einer für die Reinen, einer für die Gemeinen. Es gibt kein Entrinnen, der Wald ist ein Graus. Nur durch ein Märchen find'st du hinaus. The School for Good and Evil: Band 1: Es kann nur eine geben Band 2: Eine Welt ohne Prinzen Band 3: Und wenn sie nicht gestorben sind Band 4: Ein Königreich auf einen Streich Band 5: Wer ist der Stärkste im ganzen Land? In Camelot ist das Chaos ausgebrochen! Das Böse hat die Herrschaft über das Königreich an sich gerissen und Tedros – den wahren König – zum Tode verurteilt. Während Sophie und ihre Klassenkammeraden von Rhian, dem falschen König, gefangen genommen werden, gelingt Agatha nur ganz knapp die Flucht. Verzweifelt wendet sie sich an die Schüler und Lehrer der Schule für Gut und Böse, um sowohl Sophie, der eine Zwangsheirat mit Rhian bevorsteht, als auch Tedros und ihre Freunde zu retten. Und den falschen König zu stürzen – bevor es zu spät ist. Denn das Böse will nicht nur über Camelot und den Endloswald herrschen, sondern die Zukunft von Gut und Böse für immer umschreiben.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2020 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2020 Ravensburger Verlag Titel der Originalausgabe »The School for Good and Evil #5: A Crystal of Time« Textcopyright © 2019 Soman Chainani Cover and map illustration copyright © 2019 Iacopo Bruno Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen. Übersetzung: Ilse Rothfuss Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-51056-6www.ravensburger.de

Für Uma und Kaveen

In einem tiefen, dunklen Tann Liegt eine Schule wundersam. Die Schule für Gut und Böse. Zwei Türme wie Zwillingsköpfe Einer für die Reinen, Einer für die Gemeinen. Es gibt kein Entrinnen, Der Wald ist ein Graus, Nur durch ein Märchen Find’st du hinaus.

Agatha rannte.

Wenn der neue König von Camelot deine wahre Liebe umbringen will, deine beste Freundin gefangen hält und dich jagt wie einen Hund, dann brauchst du einen Plan.

Aber Agatha hatte keinen Plan, keine Verbündeten und kein Versteck, in dem sie sich verkriechen konnte. Also rannte sie.

Sie rannte und rannte, weg von Camelot, weit, weit weg, ohne zu wissen, wohin. Wie ein gehetztes Tier lief sie durch den Endloswald, zerfetzte ihr schwarzes Kleid im Unterholz, stürmte weiter, immer weiter, während die Sonne auf- und unterging … Bei jedem Schritt schlug ihr Täubchens Kristallkugel gegen die Rippen, und an den Bäumen tauchten überall Plakate mit ihrem Gesicht auf – eine Warnung, dass Nachrichten sich schneller verbreiteten, als ihre Beine sie tragen konnten.

Am nächsten Tag waren Agathas Füße voller Blasen, ihr ganzer Körper schmerzte, und sie hatte nichts anderes im Magen als die Beeren, Äpfel und Pilze, die sie unterwegs gepflückt hatte. Zudem lief sie offenbar im Kreis – vorbei an den rauchigen Flussufern von Mahadeva, über die Grenze zu Gillikin, dann im blassen Dämmerlicht zurück nach Mahadeva. In ihrer Verzweiflung schaffte sie es nicht, sich einen Plan zurechtzulegen oder einen Unterschlupf zu suchen. Die Gegenwart verschwand hinter dichtem Nebel, und ihre Gedanken kehrten unweigerlich in die Vergangenheit zurück: Tedros in Ketten, zum Tode verurteilt … ihre Freunde gefangen … Merlin bewusstlos fortgeschleppt … Rhian, der Junge, der die schlimmste Form des Bösen verkörperte, auf Tedros’ Thron …

Erschöpft irrte Agatha durch eine rosa Nebelbank, suchte vergeblich nach einem Weg. Rosa Nebel – war das nicht Gillikin? Aber Gillikin hatte sie längst hinter sich gelassen – wie kam sie dann wieder dorthin? Agatha hielt inne. Sie musste sich zusammenreißen, besser aufpassen – nach vorn sehen. Nur leider war im Augenblick gar nichts zu sehen, außer den rosa Nebelschwaden, die in ihrer aufgewühlten Fantasie die Gestalt der Schlange annahmen. Die Gestalt jenes grün maskierten Monsters, das alle für tot hielten. Dabei hatte Agatha es auf ihrer Flucht aus dem Schloss mit eigenen Augen gesehen – und zwar quicklebendig!

Als sie endlich in die Gegenwart zurückfand, war der Nebel verschwunden und die Nacht angebrochen. Irgendwie war sie im Stymphwald gelandet, wo es weder Weg noch Steg gab. Ein Unwetter brach herein, Blitze zuckten durch die Bäume. Agatha kauerte sich unter einen efeuüberwucherten Pilz.

Wohin jetzt? Wer konnte ihr helfen, wenn alle ihre Freunde in Rhians Kerker saßen? Und wie sollte sie einen Plan machen, wenn sie nicht wusste, gegen wen sie überhaupt kämpfte?

Ich habe den Leichnam der Schlange mit eigenen Augen gesehen. Wie kann sie dann wieder lebendig sein?

Rhian stand noch auf dem Balkon, als ich der Schlange über den Weg gelaufen bin. Rhian kann es also nicht gewesen sein …

Es muss jemand anderes sein. Ein Komplize von Rhian.

Der Löwe und die Schlange.

Agatha dachte an Sophie. Sie hatte Rhians Ring angenommen, weil sie ihn für Tedros’ Ritter gehalten hatte. Weil sie geglaubt hatte, in ihm endlich ihre wahre Liebe gefunden zu haben – einen Jungen, der das Gute in ihr sah … Aber dann wurde sie als Geisel genommen, von einem Schurken, dessen Seele noch viel schwärzer war als ihre …

Wenigstens würde Rhian Sophie nichts antun. Noch nicht. Er brauchte sie. Wofür genau blieb Agatha allerdings schleierhaft.

Aber einen würde er nicht verschonen: Tedros.

Tedros, der am Abend zuvor gehört hatte, wie Agatha zu Sophie sagte, dass sie enttäuscht von ihm sei. Tedros, der seine Krone, sein Königreich, sein Volk verloren hatte und in der Hand eines Feindes war, den er noch kurz zuvor wie einen Bruder umarmt hatte. Und der jetzt behauptete, Tedros’ Bruder zu sein.

Agatha unterdrückte ein Schluchzen. Wenn sie ihren Prinzen doch nur umarmen und ihm sagen könnte, wie sehr sie ihn liebte! Dass sie nie mehr an ihm zweifeln würde, dass sie ihr Leben für ihn geben würde. Ich rette dich, Tedros. Das verspreche ich dir. Auch wenn ich noch keinen Plan habe, und keine Menschenseele an meiner Seite.

Bis dahin musste Tedros stark bleiben, egal was Rhian und seine Männer ihm antaten. Tedros musste irgendwie überleben.

Falls er nicht bereits tot war.

Der Gedanke ließ Agatha aufspringen. Unter wildem Blitzgeflacker raste sie durch die letzten Ausläufer des Stymphwalds, an den gespenstischen Ufern Akguls entlang, die mit Asche statt Sand bedeckt waren. Der Beutel mit Täubchens Kristallkugel lastete schwer auf ihr, hämmerte unablässig gegen die wunde Stelle an ihrer Hüfte. Sie musste eine Pause einlegen … sich ausruhen … Seit Tagen hatte sie nicht mehr geschlafen, und ihr Verstand drehte sich im Kreis wie ein ins Leere laufendes Rad …

Rhian hat das Schwert ausdem Stein gezogen. Also ist er der König.

Agatha rannte noch schneller. Aber wie war das möglich? Die Herrin vom See hielt die Schlange für den König, nicht Rhian. Und Artus hatte Tedros als seinen Erben betrachtet.

Da stimmte etwas nicht. Irgendwas war oberfaul mit der Magie.

Agatha vergaß beinahe zu atmen, so angestrengt dachte sie nach. Die stickige Wärme wich einem kalten Wind, gefolgt von wirbelndem Schnee; der Wald öffnete sich und ging in einen breiten Tundrastreifen über. In ihrer Benommenheit dachte Agatha einen Augenblick, es wäre schon wieder Winter geworden.

Vor ihr tauchten die Umrisse eines Schlosses auf, schmale Türme, die sich in tief hängende Wolken bohrten.

Camelot.

War sie nach all den Strapazen wieder in die tödliche Falle zurückgelaufen? War alles umsonst gewesen?

Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie taumelte zurück, machte kehrt, um wieder loszurennen …

Aber sie konnte nicht mehr. Ihre Beine knickten unter ihr ein, und sie sank in den weichen Schnee. Ihr schwarzes Kleid breitete sich um sie herum aus wie eine finstere Wolke, und der Schlaf überrollte sie wie eine Dampfwalze.

Agatha träumte von einem schiefen Turm, der hoch in die Wolken hinaufreichte und aus lauter goldenen Käfigen bestand. In jedem dieser Käfige saß einer ihrer Freunde und Verbündeten – Merlin, Guinevere, Lanzelot, Professor Täubchen, Hester, Anadil, Dot, Kiko, Hort, ihre Mutter, Stefan, Professor Sader, Lady Lesso und viele andere. Die Käfige balancierten gefährlich übereinander, und die beiden obersten, in denen Tedros und Sophie saßen, schwankten so heftig, dass sie jeden Moment herunterzukrachen drohten. Der Turm wurde immer wackliger, und Agatha stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen, um ihre Freunde vor dem sicheren Tod zu bewahren. Doch kaum hatte sie den Turm wieder zur Ruhe gebracht, da tauchte ein Schatten über dem obersten Käfig auf …

Halb Löwe. Halb Schlange.

Die Gestalt packte die Käfige, einen nach dem anderen, und schleuderte sie vom Turm hinunter.

Agatha erwachte, schweißgebadet trotz der eisigen Kälte, und hob vorsichtig den Kopf: Der Sturm war vorübergezogen, das Schloss ragte jetzt scharf umrissen in der Morgensonne auf.

Aber was war das? Zwei riesige Eisentore schwangen auf, krachten gegen die Steinmauern und gaben den Eingang zu der weißen Festung frei, die über dem stillen grauen See aufragte.

Agathas Herz machte einen Satz. Nein, das war nicht Camelot. Sondern Avalon.

Eine innere Stimme hatte sie wohl hergeführt. Zu dem einzigen Wesen, das ihre Fragen beantworten konnte.

»Hallo?«, rief Agatha über das stille Wasser.

Keine Antwort.

»Herrin vom See!«, rief sie erneut.

Nichts. Nicht das leiseste Wellenkräuseln.

Eine kalte Angst stieg in ihr auf. Die Herrin vom See war einst die mächtigste Verbündete von Gut gewesen. Deshalb hatte Agathas Seele sie zu ihr geführt. Um Hilfe von ihr zu erbitten.

Aber Chaddick war auch hierhergekommen, weil er Hilfe brauchte – und er hatte es mit dem Leben bezahlt.

Agatha starrte auf die Treppe, die im Zickzack zu den fünf weißen Türmen hinaufführte. Das letzte Mal war sie mit Sophie nach Avalon gekommen, um Chaddicks Leichnam zu suchen. Vor ihrem inneren Auge tauchte die blutgesprenkelte Stelle im Schnee auf, an der Tedros’ ermordeter Ritter gelegen hatte, eine höhnische Botschaft der Schlange in seinen steifen Händen.

Agatha hatte die Schlange nie ohne Maske gesehen. Im Gegensatz zur Herrin vom See, die das Gesicht dieses Monsters ja gesehen haben musste, als sie es geküsst hatte.

Ein Kuss, der sie ihrer Kräfte beraubt und mit dem sie König Artus’ Sohn verraten hatte. Ein Kuss, mit dem sie der Schlange geholfen hatte, Rhian auf Tedros’ Thron zu bringen – einen schmutzigen Verräter, der sich als Tedros’ Ritter ausgegeben hatte, obwohl er in Wahrheit die ganze Zeit mit der Schlange im Bunde war.

Agatha drehte sich wieder zum See um. Die Herrin hatte die Schlange beschützt. Und nicht nur das: Sie hatte sich in sie verliebt und dadurch ihre Kräfte verloren.

Agatha schluckte. Es war falsch gewesen, hierherzukommen, aber wohin hätte sie sich sonst wenden sollen?

»Ich bin’s, Agatha!«, schrie sie erneut aus vollem Hals. »Merlins Freundin. Er braucht deine Hilfe!«

Ihre Stimme hallte weit über das Ufer. Und plötzlich erschauerte der See.

Agatha beugte sich vor, aber sie sah nur ihr eigenes Spiegelbild in der silbrigen Oberfläche.

Ganz langsam veränderte sich ihr Gesicht im Wasser, verwandelte sich in das einer runzligen alten Hexe mit zottigen weißen Haarbüscheln, die hier und da an dem kahlen Schädel klebten. Lauernd lag die Herrin unter der Wasseroberfläche, wie ein Troll unter einer Brücke, und starrte mit ihren kalten Augen zu Agatha herauf. Ihre Stimme schallte durch das Wasser, tief und verzerrt …

»Wir hatten eine Abmachung, und ich habe Merlins Frage beantwortet!«, fauchte die Herrin vom See. »Nur eine Frage habe ich ihm gewährt – eine einzige –, unter der Bedingung, dass er nie wieder herkommen würde. Und nun will er sich aus dieser Abmachung herauswinden, indem er dich schickt? Geh. Du bist hier nicht willkommen.«

»Er hat mich nicht geschickt«, sagte Agatha. »Merlin ist in Gefangenschaft geraten! Rhian, der neue König von Camelot, hat Tedros, Merlin, Professor Täubchen und alle unsere Freunde in den Kerker geworfen. Und Merlin ist verletzt! Er stirbt, wenn ich ihn nicht rette. Genau wie Tedros, Artus’ Sohn. Der wahre König.«

Das Gesicht der Herrin zeigte weder Erschrecken noch Entsetzen, und erst recht kein Mitgefühl. Da war … nichts. Nur Leere.

»Hast du nicht gehört? Du musst ihnen helfen!«, flehte Agatha. »Du hast einen heiligen Eid geschworen, den König von Camelot zu beschützen.«

»Und das habe ich auch getan«, grollte die Herrin. »Der Junge mit der grünen Maske trug Artus’ Blut in sich. Er war Artus’ ältester Sohn und Erbe. Ich konnte es riechen, als ich noch meine Kräfte hatte. Das Blut des Einen und Wahren Königs.« Sie verstummte, und ihr Gesicht verdüsterte sich. »Er hatte auch besondere Kräfte, dieser Junge. Starke Kräfte. Er erriet mein Geheimnis: Dass ich einsam geworden war in diesem kalten, wässrigen Grab. Der Junge wusste, dass ich meine Magie gegen Liebe tauschen würde, sollte ich je die Chance dazu erhalten. Und er bot sie mir. Ein einziger Kuss, so sagte er, würde mich aus meinem Gefängnis erlösen. Er wollte mich nach Camelot bringen. Liebe versprach er mir, mein eigenes Happy End …« Sie wandte den Blick von Agatha ab und sank tiefer ins Wasser. »Wie sollte ich ahnen, dass ich als hässliche alte Hexe enden würde, wenn ich meine Kräfte aufgab? Jetzt bin ich einsamer denn je.« Ihre Augen wurden hart. »Aber das war sein Recht. Er ist der König. Und ich diene dem König.«

»Ja, aber du hast den Falschen geküsst«, sagte Agatha. »Rhian ist König – der Löwe, wie er sich nennt. Der Junge, den du geküsst hast, war die Schlange. Er hat dich geküsst, um dir deine Magie zu rauben und die mächtigste Beschützerin von Gut zu entwaffnen. Er hat dich überlistet. Und ich muss wissen, wer diese Schlange ist. Denn wenn die Schlange dich täuschen kann, schafft sie das auch bei Excalibur! Dann wissen wir, wie das Böse auf Tedros’ Thron gekommen ist.«

Die Herrin vom See rauschte auf Agatha zu, bis ihr verschrumpeltes Gesicht dicht unter der Wasserfläche schwebte. »Mich überlistet niemand. Der Junge, den ich geküsst habe, hatte Artus’ Blut. Er ist der König. Wenn ich also die Schlange geküsst habe, wie du ihn nennst, dann hat die Schlange Excalibur aus dem Stein gezogen und sitzt jetzt auf dem Thron.«

»Aber das war nicht die Schlange, sondern Rhian! Und ich habe die Schlange bei ihm gesehen! Sie arbeiten zusammen, um die Leute im Wald hinters Licht zu führen. So wie sie es bei dir und Excalibur gemacht haben.«

Wütend krachte die Herrin aus den Wellen hervor. »Ich habe sein Blut gerochen. Ich habe den König gerochen.« Ihre Worte hallten wie Donnergrollen über den See. »Und selbst wenn er mich überlistet hätte, Excalibur lässt sich nicht täuschen. Wer immer das Schwert herausgezogen hat, ist Artus’ Bluterbe. Der Junge, den ich beschützt habe. Er ist der rechtmäßige König … nicht der, den Merlin auf dem Thron sehen will – oder du.« Langsam sank sie ins Wasser zurück.

»Nein, warte!«, schrie Agatha. »Du kannst nicht einfach gehen! Du kannst sie doch nicht sterben lassen!«

Die Herrin hielt inne, ihr kahler Schädel schimmerte im Wasser wie eine riesige Perle. Als sie aufblickte, war das Eis in ihren Augen geschmolzen. Nur Schmerz und Kummer lagen noch darin.

»Merlin und deine Freunde sind selbst schuld an ihrem Unglück. Ihr Schicksal liegt jetzt in der Hand des Storikers«, sagte sie leise. »Ich habe euren Chaddick begraben, wie ihr es verlangt habt. Und ich habe Merlin geholfen, als er mich darum bat. Ich habe nichts mehr zu geben. Geh jetzt. Ich kann dir nicht helfen.«

»Doch, das kannst du«, flehte Agatha. »Wenn du mir das Gesicht der Schlange zeigst, kann ich herausfinden, wo diese beiden Jungen herkommen. Und den Leuten beweisen, dass sie Lügner sind …«

»Was geschehen ist, ist geschehen«, murmelte die Herrin und sank noch tiefer. »Ich diene dem König.«

»Würde der wahre König Merlin etwas antun?«, rief Agatha verzweifelt. »Würde Artus’ Erbe das Versprechen brechen, das er dir gegeben hat, und dich in diesem Zustand zurücklassen? Du sagst, Excalibur lässt sich nicht täuschen, aber du hast das Schwert erschaffen, und du machst Fehler, wie man sieht! Hör mich an, bitte! Wahrheit wird zur Lüge und Lüge zur Wahrheit. Gut und Böse sind ein und dasselbe. Selbst dein Schwert erkennt den wahren König nicht mehr! Und im tiefsten Herzen weißt du auch, dass ich die Wahrheit sage. Die unverfälschte Wahrheit. Ich verlange ja nur, dass du mir das Gesicht der Schlange zeigst. Zeig mir, wie der Junge aussieht, den du geküsst hast, und ich komme nie mehr zurück. Ich gebe dir dasselbe Versprechen wie Merlin. Und ich werde es halten, das schwöre ich dir!«

Die Herrin schaute Agatha lange an, während sie immer tiefer ins Wasser sank und ihre zerlumpten Gewänder sich um sie herum ausbreiteten wie eine tote Qualle. Langsam verblasste sie in den Tiefen des Sees.

»Nein!« Agatha fiel auf die Knie und schlug sich die Hände vors Gesicht. An wen sollte sie sich jetzt wenden, wenn selbst die letzte Hoffnung von Gut sie im Stich ließ?

Verzweifelt dachte sie an ihren Prinzen, der in Ketten auf seine Hinrichtung wartete … an die Schlange, die in einem Winkel des Schlosses gelauert und ihr so höhnisch zugenickt hatte, als wäre das hier erst der Anfang …

Ein Gluckern riss sie aus ihren Gedanken und sie spähte durch ihre Finger. Langsam schwebte eine Pergamentrolle auf sie zu.

Hastig riss sie die Rolle an sich und wickelte sie auf. Die Herrin hatte ihr geantwortet.

»Aber das ist … das ist doch nicht möglich …«, stieß Agatha hervor und starrte auf den See, der nun ganz still war.

Blinzelnd schaute sie wieder auf das Pergament, auf die Tintenzeichnung eines schönen Jungengesichts, das sie nur zu gut kannte. Verwirrt schüttelte sie den Kopf.

Agatha hatte die Herrin gebeten, ihr die Schlange zu zeigen. Den Jungen, den sie geküsst hatte. Den Jungen, der Agathas Freunde getötet hatte und sich hinter einer Maske verbarg. Die Schlange, die mit Rhian im Bund war und ihn zum König gemacht hatte.

Aber die Herrin hatte nicht die Schlange gezeichnet.

Sondern Rhian.

Hester, Anadil und Dot saßen benommen in einer stinkenden Zelle, einquetscht neben Beatrix, Rina, Hort, Willam, Bogden, Nicola und Kiko. Vor kaum einer halben Stunde hatten sie noch hinter Tedros und Agatha auf dem Balkon von Camelot gestanden, um mit dem ganzen Wald den Sieg über die Schlange zu feiern. Der Leichnam der Schlange war dem Volk präsentiert worden, und der Jubel hatte kein Ende genommen.

Und jetzt saßen sie als Staatsfeinde im Verlies.

Hester wartete darauf, dass einer von ihnen etwas sagen, die Initiative ergreifen würde. Normalerweise hätte das Agatha gemacht – nur … Agatha war nicht da.

Durch die dicken Mauern drang schwach der Trubel aus dem Schlosshof herein, denn das Fest ging dort draußen fröhlich weiter. Aus Tedros’ Siegesfeier war die Krönungszeremonie von König Rhian geworden …

»Von heute an seid ihr den König los, der euch die Tür vor der Nase zuschlug, als ihr ihn gebraucht hättet«, ertönte Rhians Stimme gedämpft. »Und ich frage euch: Was ist das für ein Herrscher, der sich in seinem Schloss verkriecht, statt gegen die Schlange zu kämpfen? Ein König, der selbst bei seinem Krönungstest versagt hat! Doch jetzt habt ihr einen richtigen König. Unsere Welt mag in Gut und Böse aufgespalten sein, aber wir sind ein Wald. Und das Volk – die kleinen Leute, die all die Jahre vergessen wurden – wird wieder in den Vordergrund rücken. Der Löwe hört euch zu!«

»LÖWE! LÖWE! LÖWE!«, johlte die Menge.

Der Dämon an Hesters Hals glühte drohend. Anadil und Dot, die neben Hester saßen, zerrten an ihren unbequemen Kleidern, die sie auf der Siegesfeier tragen mussten. Nicola riss den Saum von ihrem Rock ab und verband Horts verletzte Schulter, während Hort wütend gegen die Zellentür trat. Rina und Beatrix mühten sich vergeblich ab, ihre Fingerspitzen zum Glühen zu bringen, und Anadils schwarze Ratten streckten immer wieder die Köpfe aus ihrer Tasche und warteten auf Befehle. Willam und der schmächtige Bogden hatten sich in eine Ecke verzogen und befragten ihre Tarotkarten. Hester hörte sie aufgeregt tuscheln: »Schlimme Geschenke …«, »haben ihn ja gewarnt …«, »hätte mal auf uns hören sollen …«.

Die anderen blieben stumm.

»Es könnte alles viel schlimmer sein«, sagte Hester schließlich.

»Was?«, schrie Hort. »Spinnst du? Dieser Abschaum, den wir für den treuen Vasallen des Königs gehalten haben, sitzt auf dem Thron von Camelot, und du sagst, es könnte schlimmer sein?«

»Hätte man sich ja denken können. Ein Typ, der in Sophie verknallt ist, kann doch nur böse sein«, giftete Kiko.

»Nicht dass ich Sophie verteidigen will«, sagte Dot, die vergeblich versuchte, ihre Haarschleife in Schokolade zu verwandeln. »Aber Rhian hat sie genauso an der Nase herumgeführt wie uns.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Rina. »Vielleicht war sie ja die ganze Zeit in seine Pläne eingeweiht und hat deshalb seinen Ring angenommen.«

»Und Agatha um ihre Stellung als Königin gebracht? So böse ist nicht mal Sophie«, sagte Anadil.

»Wir haben nur dagestanden, statt uns zu wehren«, murmelte Nicola frustriert. »Wir hätten was tun müssen.«

»Wie denn? Es ging alles so schnell«, knurrte Hort. »Im einen Moment wurde die tote Schlange herumgetragen, und im nächsten haben die Wachen Tedros gepackt und Merlin bewusstlos geschlagen.«

»Habt ihr gesehen, wo er hingebracht wurde?«, fragte Dot.

»Und Guinevere?«, fügte Rina hinzu.

»Was ist mit Agatha?«, fragte Bogden. »Ich hab sie zuletzt gesehen, wie sie im Hof unten durch die Menge stürzte.«

»Vielleicht ist sie entkommen«, murmelte Kiko.

»Oder der Mob draußen hat sie totgeschlagen«, knurrte Anadil.

»Hat wohl lieber ihr Leben riskiert, als sich einsperren zu lassen«, sagte Willam. »Und zu Recht. Ich bin hier aufgewachsen, und ich weiß, dass diese Verliese immun gegen Magie sind. Hier ist noch keiner rausgekommen.«

»Genau, und wir haben auch keine Freunde mehr, die uns rausholen könnten«, fügte Hort hinzu.

»Stimmt. Und weil wir für Rhian zu nichts mehr nütze sind, hackt er uns vielleicht noch heute Abend den Kopf ab.« Beatrix schaute verächtlich zu Hester. »Und jetzt sag mir, weise Hexe, was könnte schlimmer sein?«

»Wir könnten mit Tedros in einer Zelle sitzen«, brummte Hester.

Anadil und Dot prusteten los.

»Hester«, ertönte eine Stimme, und alle fuhren zu Professor Täubchen herum, die ihren Kopf durch die Gitterstäbe der Nachbarzelle streckte. Ihr Gesicht war blass und verschwitzt. »Tedros und Merlin sind vielleicht tot – der wahre König von Camelot und der größte Zauberer von Gut«, sagte sie schwach. »Und statt einen Rettungsplan auszuarbeiten, macht ihr dumme Witze?«

»Daran erkennt man den Unterschied zwischen Gut und Böse«, murmelte Anadil. »Böse nimmt die Dinge von der positiven Seite.«

»Bei allem Respekt, Professor, aber müssten Sie nicht einen Plan haben?«, piepste Dot. »Sie sind doch die Schulleiterin, und …«

»Tolle Schulleiterin«, fiel Hester ihr ins Wort. »Sitzt seit gut zehn Minuten in ihrer Zelle und sagt kein Wort.«

»Aber nur weil ich versucht habe, mir etwas …«

Hester lachte höhnisch. »Ja, klar – Feen glauben immer, sie könnten alle Probleme mit ein bisschen Zauberstaub und Simsalabim fortwedeln. Aber Magie nützt uns hier nichts.« Hesters Dämon glühte wieder auf. »Vielleicht waren Sie einfach zu lange an einer Schule, in der Gut immer gewinnt, um zu begreifen, dass diesmal Böse gesiegt hat. Böse, das sich als Gut ausgibt, was natürlich glatter Betrug ist. Aber gewonnen haben sie trotzdem. Wachen Sie endlich auf, Professor! Wir kämpfen gegen einen Feind, der sich nicht an die Regeln hält – also können Sie sich ausdenken, was immer Sie wollen, damit erreichen Sie nichts.«

»Und schon gar nicht ohne Ihre kaputte Kristallkugel«, legte Anadil nach.

»Und ohne Ihren Zauberstab«, fügte Dot hinzu.

»Haben Sie wenigstens Ihre Karte dabei?«, fragte Hort herausfordernd.

»Wie könnt ihr es wagen, so mit ihr zu sprechen!«, rief Beatrix aufgebracht. »Professor Täubchen hat sich ihr Leben lang für die Schule und ihre Schützlinge aufgeopfert. Und ihr wisst doch, wie krank sie war und dass Merlin ihr befohlen hat, in der Schule zu bleiben, als die Schlange Camelot angegriffen hat. Trotzdem ist sie hier, um uns zu beschützen, Gut und Böse. Sie dient der Schule seit …« Beatrix warf einen Blick auf Täubchens silbrige Haare und ihre tiefen Runzeln, »… weiß der Himmel wie lange, und ihr pflaumt sie an, als ob sie euch was schuldig wäre! Würdet ihr mit Lady Lesso auch so reden? Lady Lesso, die gestorben ist, um Professor Täubchen zu retten? Sie würde von euch erwarten, dass ihr ihrer besten Freundin vertraut und ihr zur Seite steht.«

Im Verlies wurde es still.

Aber Täubchen lebte auf, als Lady Lessos Name fiel. Sie zog ihren Dutt straffer und streckte ihren Kopf noch weiter durch das Gitter vor. »Hester, es ist nur natürlich, dass du in dieser elenden Lage wild um dich schlägst. Aber Rhian ist nicht Rafal, auch wenn alles noch so schwarz aussieht. Er hat keine Magie, soweit ich sehen kann, und er wird auch nicht von einem Unsterblichkeitszauber beschützt. Rhian ist nur durch Lügen so weit gekommen. Er hat die ganze Zeit gelogen. Wo er herkommt, wer er ist … Und sein Anspruch auf die Krone ist mit Sicherheit auch eine Lüge.«

»Aber er hat Excalibur aus dem Stein gezogen«, wandte Hester ein. »Also muss er Artus’ Sohn sein, oder eben doch ein Magier.«

Professor Täubchen winkte ab. »Schwert hin oder her, mein Instinkt sagt mir, dass er weder Artus’ Sohn noch der wahre König ist. Ich habe natürlich keine Beweise, aber ich bin mir sicher, dass es einen Grund gibt, warum Rhians Akte nie auf meinem Schreibtisch gelandet ist. Angeblich war er in der Fuchswaldschule für Jungen, aber das könnte eine Lüge sein, so wie alles andere auch. Und mit Lügen allein kommt er nicht bis ganz nach oben, nicht ohne besondere Talente, Disziplin und Training. Etwas, das meine Schüler in höchstem Maß besitzen. Wenn wir uns also an einen Plan halten, sind wir ihm immer einen Schritt voraus. Und nun hört zu, Kinder. Erstens: Deine Ratten werden unsere Spione sein, Anadil. Schick eine von ihnen weg, um Merlin zu suchen. Die zweite soll Tedros finden, und die dritte Agatha, wo immer sie sein mag …«

Anadils Ratten strampelten aus ihrer Tasche hervor, um sich endlich nützlich zu machen, aber Anadil quetschte sie wieder zurück. »Glauben Sie, ich hätte nicht selbst schon daran gedacht? Aber Sie haben ja Willam gehört – die Verliese sind ausbruchsicher. Wie sollen sie da …? Autsch!«

Eine der Ratten hatte Anadil in den Finger gebissen. Blitzschnell huschten alle drei aus ihrer Tasche, schnüffelten an den Wänden und zwängten sich durch verschiedene Spalten.

»Ratten finden immer einen Weg.« Täubchen reckte den Hals, um die Stelle, an der gerade einer der Nager verschwunden war, genauer ins Auge zu fassen. Ein goldener Schimmer drang von draußen herein. »Nicola, kannst du dort irgendetwas erkennen?«

Nicola drückte ihr Auge an den Spalt, kratzte mit dem Daumennagel an den Rändern und spürte, wie der modrige Stein zu bröckeln begann. Die Kerkermauern waren eindeutig nicht befestigt oder instandgehalten worden, ebenso wenig wie der Rest des heruntergekommenen Schlosses. Nicola nahm ihre Haarspange und scharrte Erde und Stein aus dem Loch, bis es ein bisschen größer war und mehr Licht hereinfiel. »Ich sehe … Sonnenlicht … und einen Hang …«

»Sonnenlicht?« Hort schnaubte abfällig. »Okay, ich weiß, dass in eurer Leserwelt alles ganz anders ist, aber bei uns sind Verliese unterirdisch.«

»Danke für die Belehrung, da wär ich natürlich nie draufgekommen«, schoss Nicola zurück. »Und eure Verliese sind vielleicht unterirdisch, aber das hier liegt offensichtlich an der Hangseite, sonst könnte ich das Schloss von hier aus nicht sehen.« Sie scharrte noch mehr Erde heraus. »Ich sehe sogar Leute, eine riesige Menge. Und alle starren zum Blauen Turm hinauf. Wahrscheinlich zu Rhian …«

Die Stimme des Königs drang jetzt deutlicher durch das Loch.

»Euer Leben lang habt ihr der Feder gedient, und der Storiker hat über Jahrhunderte hinweg über diesen Wald geherrscht. Aber was hat euch das gebracht? Jedes Jahr wählt er neue Schüler für seine Geschichten aus, kleine Helden, die später zu Ruhm und Ehre gelangen. Aber natürlich nimmt er nur die Reichen und Gebildeten. Die Kinder dieser feinen Schule. Während ihr, das hart arbeitende Volk, die Unsichtbaren, außen vor gelassen werdet. Dabei verkörpert ihr die wahren Geschichten des Endloswalds.«

Aufgeregtes Stimmengewirr drang durch die Mauern.

»Bei uns hat er nie so viel geredet«, murmelte Dot.

»Nicola, siehst du den Balkon, auf dem Rhian steht?«, fragte Täubchen.

Nicola schüttelte den Kopf.

Täubchen wandte sich an Hester. »Kann dein Dämon das Loch weiter aufhacken? Wir müssen den Balkon besser in den Blick bekommen.«

Hester runzelte die Stirn. »Sie haben zu viele Kürbisse in Kutschen verwandelt, Professor. Oder glauben Sie im Ernst, mein Dämon kann uns hier rausholen, indem er ein Loch in die Wand hackt?«

»Wer redet denn von rausholen? Er soll nur das Loch vergrößern. Aber wenn du lieber hier drin versauern willst, als mir zu vertrauen, dann bitte!«, fauchte Täubchen.

Hester fluchte leise, ließ aber ihren Dämon anschwellen, bis er sich von ihrem Hals löste. Er flog zu dem Loch, hieb seine Klauen wie einen Eispickel in den Spalt und grunzte freudig.

»Vorsicht«, sagte Hester zu ihm. »Deine Klaue ist noch nicht ganz verheilt.« Dann verstummte sie, denn in dem Loch tauchte etwas Schwarzes auf. Ihr Dämon wich erschrocken zurück, aber da war es bereits wieder verschwunden.

»Was war das?«, fragte Anadil.

Hester beugte sich vor und inspizierte das Loch im Mauerwerk. »Sieht aus wie …« Aber das war doch nicht möglich?Die Schlange war tot …

»Von wegen vertrauen!« Dot wirbelte zu Täubchen herum. »Sie haben doch gehört, dass hier noch keiner rausgekommen ist. Und selbst wenn wir es schaffen und den Bund der Dreizehn alarmieren, was könnten die schon tun? Camelot stürmen? Rhian hat Wachen, und der ganze Wald steht hinter ihm. Wer soll uns da von außen retten?«

»Ich habe nie gesagt, dass wir Hilfe von außen holen sollen«, gab Täubchen zurück.

Die ganze Mannschaft starrte sie an.

»Sophie«, sagte Hort plötzlich.

»Genau, Rhian braucht Sophie«, erklärte Täubchen. »Der König von Camelot braucht eine Königin, um seine Macht zu festigen, erst recht ein König wie Rhian, den das Volk nicht kennt. Und genau deshalb will Rhian Sophie als seine Königin – weil sie eine Legende ist, ein Gesicht, das im ganzen Wald bekannt ist. Für die Leute wäre das so, als würde sich das Beste, was Gut zu bieten hat, mit dem Besten von Böse vermählen. Und damit stünde Rhian über der ewigen Feindschaft zwischen Immer und Nimmer, was ihn für beide Seiten zu einem akzeptablen Anführer machen würde. Und nachdem Rhian Sophie seinen Ring aufgedrängt hat, wird er alles tun, um sie bei Laune zu halten und sich ihre Loyalität zu sichern … Aber am Ende, das weiß ich, ist sie dennoch auf unserer Seite.«

»Nicht unbedingt«, wandte Rina ein. »Sophie hat sich damals mit Rafal gegen die ganze Schule verbündet und uns beinahe alle umgebracht. Und jetzt sollen wir ihr vertrauen?«

»Ja, weil Sophie nicht mehr die Alte ist«, sagte Täubchen. »Deshalb will Rhian sie auch zur Königin. Denn Sophie kann als Einzige im Wald sowohl auf Gut als auch auf Böse Anspruch erheben – schließlich hat sie Rafal geschlagen und ist zugleich Schulleiterin des Bösen. Aber wir wissen, auf welcher Seite Sophie in Wahrheit steht. Auf dieser Mission hat sie alles getan, um ihre Mannschaft und Tedros’ Krone zu beschützen, das werdet ihr nicht abstreiten können. Und Rhians Ring hat sie genommen, weil sie in ihn verliebt war und ihn für Tedros’ treuen Ritter hielt. Sie hat Ja gesagt aus Liebe zu ihren Freunden und nicht, um gegen sie zu arbeiten. Was immer Sophie jetzt tun muss, um am Leben zu bleiben, an dieser Liebe dürfen wir nicht zweifeln. Schließlich hängt auch unser Leben davon ab.«

Beatrix runzelte die Stirn. »Ich traue ihr trotzdem nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Kiko.

»Willkommen im Club«, knurrte Anadil.

Täubchen ging nicht darauf ein. »Und nun zu unserem Plan. Wir warten, bis Anadils Ratten mit Nachrichten von den anderen zurückkommen. Und wenn die Zeit reif ist, schicken wir Sophie eine Botschaft und bilden eine Kommunikationskette, um unsere Rettung zu organisieren.« Täubchen studierte das Loch, das Hesters Dämon in den feuchten, bröckeligen Stein gehauen hatte. Rhians Stimme drang jetzt noch viel lauter herein.

»Aber vergessen wir nicht meine künftige Königin«, verkündete er gerade, und die Leute johlten: »Sophie! Sophie! Sophie!«

»Kannst du den Balkon schon sehen, Nicola?«, drängte Täubchen.

Nicola beugte sich vor, ein Auge an dem Loch. »Fast. Aber das ist so weit oben, und wir sind auf der falschen Seite.«

Täubchen wandte sich an Hester. »Lass deinen Dämon weiterhacken. Wir brauchen einen guten Blick auf diesen Balkon, auch wenn er noch so weit oben ist.«

»Aber Sie haben es doch gehört!«, fauchte Hester, verstummte jedoch, als ihr Dämon mit seiner verletzten Klaue auf das Loch einhackte. »Und außerdem, was nützt uns so ein winziger Ausschnitt, noch dazu von hinten gesehen?«

»Rhians Piraten werden jeden Moment zurückkommen, um nach uns zu schauen«, fuhr Täubchen fort, ohne auf Hesters Einwand einzugehen. »Hort, du kennst diese Jungen wahrscheinlich? Dein Vater war doch Pirat?«

Hort schnaubte und zupfte an seinen Socken. »Das sind nicht meine Freunde.«

»Dann wird es Zeit, dass sich das ändert«, befahl Täubchen. »Freunde dich mit ihnen an.«

»Mit diesem Verbrecherhaufen? Nein, danke«, murrte Hort. »Das sind Söldner und keine richtigen Piraten.«

»Ach ja? Und du bist ein richtiger Geschichtslehrer? Wenn du einer wärst, wüsstest du, dass auch Söldner dem Piratenbund beigetreten sind, um mit König Artus gegen den Grünen Ritter zu kämpfen. Sprich mit ihnen. Und locke so viele Informationen wie möglich aus ihnen heraus.«

Hort zögerte. »Was für Informationen?«

»Alles. Wie sie Rhian kennengelernt haben, wo Rhian in Wahrheit herkommt …«

Irgendwo weit weg quietschte Metall, dann folgte ein lautes Krachen. Das Eisentor. Da war jemand ins Verlies gekommen.

Stiefeltritte polterten den Gang entlang, und zwei Piraten in der Rüstung Camelots zerrten eine schlaffe Gestalt an ihrer Zelle vorbei. Der Gefangene wehrte sich schwach – ein Auge war zugeschwollen, sein Gesicht verschrammt und voller Beulen, seine Kleidung zerfetzt und blutverschmiert.

»Tedros?«, krächzte Kiko.

Der Prinz hob den Kopf, und als er seine Freunde erkannte, warf er sich herum und starrte sie mit seinem guten Auge an. »Wo ist Agatha?«, keuchte er. »Und meine Mutter?«

Die Wachen kickten ihm die Beine weg und schleiften ihn weiter den Gang entlang in pechschwarze Dunkelheit. Am anderen Ende warfen sie ihn in eine Zelle.

Hester stutzte. Die Zelle war offenbar besetzt gewesen, denn im selben Moment, als Tedros hineingestoßen wurde, kamen drei Gestalten heraus, die jetzt ohne Ketten den Gang entlangschlurften.

Als das Trio näher kam, quetschten sich Hester, Anadil und Dot an die Gitterstäbe und fanden sich Auge in Auge mit einem Hexenzirkel der anderen Art. In graue Umhänge gehüllt huschten sie an ihnen vorbei. Und alle drei sahen genau gleich aus: zottige graue Haare, die ihnen bis zur Hüfte hingen, klapperdürre Arme und Beine, rote, ledrige Haut, einen langen Hals, eine hohe, fliehende Stirn, dünne, aschfahle Lippen und schräg stehende Augen. Mit einem boshaften Grinsen in Täubchens Richtung folgten sie den Piraten aus dem Verlies, und die Tür krachte hinter ihnen zu.

»Wer war das?«, fragte Hester.

»Die Mistralschwestern«, sagte Täubchen grimmig. »König Artus’ Ratgeberinnen, die Camelot in Grund und Boden gewirtschaftet haben. Artus hat sie gerufen, nachdem Guinevere ihn verlassen hatte. Und nach Artus’ Tod hatten die drei freie Hand, bis Tedros volljährig wurde und sie ins Gefängnis warf. Was immer Rhian dazu bewogen hat, sie freizulassen – es bedeutet nichts Gutes.« Täubchen hielt kurz inne und rief den Gang hinunter: »Tedros, kannst du mich hören?«

Rhians Stimme, die jetzt wieder laut durch das Loch schallte, übertönte Tedros’ Antwort, falls er überhaupt etwas gesagt hatte.

»Er ist verletzt«, murmelte Täubchen. »Wir können ihn nicht einfach dortlassen. Wir müssen ihm helfen.«

»Und wie?«, fragte Beatrix beklommen. »Anadils Ratten sind fort, und wir sitzen hier fest. Seine Zelle ist ganz am anderen Ende und …«

In diesem Moment ging das Tor wieder auf und gedämpfte Schritte ertönten, als jemand langsam die Treppe herunterkam. Ein lang gezogener Schatten fiel an die Wand und über ihre Gitterstäbe, bis sich im rötlichen Fackelschein eine grün maskierte Gestalt abzeichnete. Der anliegende schwarze Sichelanzug hing in Fetzen herunter, sodass an vielen Stellen die bleiche, blutige Haut durchschimmerte.

Erschrocken wichen alle in ihren Zellen zurück, auch die Schulleiterin.

»Aber d-d-du bist doch … tot!«, stotterte Hort.

»Wir haben deine Leiche gesehen!«, rief Dot.

Und Kiko fügte hinzu: »Rhian hat dich getötet!«

Die eisblauen Augen der Schlange glitzerten hinter der Maske. Lässig nahm sie ihre Hand hinter dem Rücken hervor; Anadils Ratte zappelte in ihrem Griff.

Die Schlange hob einen Finger, die Sichel an ihrer Fingerspitze wurde messerscharf. Die Ratte stieß ein angstvolles Quieken aus …

»Nein!«, schrie Anadil.

Aber es war zu spät. Die Schlange durchbohrte das Herz der Ratte und ließ sie auf den Boden fallen. »Ich hab meine Wachen hinter den beiden anderen hergeschickt, die Agatha und Merlin suchen sollen«, sagte die Schlange mit schneidender Stimme, bevor sie sich abwandte und die Treppe hinaufging. »Wenn ich die Nächste erwische, stirbt einer von euch gleich mit ihr.« Kurz darauf krachte die Eisentür zu.

Anadil stürzte nach vorn, griff durch die Gitterstäbe und nahm ihre Ratte hoch. Schluchzend drückte sie das Tierchen an ihre Brust und kauerte sich in eine Ecke.

Hort, Nicola und Dot versuchten sie zu trösten, aber Anadil schluchzte nur noch mehr. Erst als Hester den Arm um sie legte, beruhigte sie sich.

»Sie hatte solche Angst«, schniefte sie, während sie einen Stoffstreifen von ihrem Kleid abriss und die Ratte darin einhüllte. »Sie hat mich direkt angesehen, sie wusste, dass sie sterben wird!« Weinend vergrub Anadil ihren Kopf an Hesters Schulter.

»Woher wusste die Schlange, dass die beiden anderen Ratten Merlin und Agatha suchen?«, fragte Hort betroffen.

»Ja, und wie kommt es, dass sie am Leben ist?«, fügte Nicola hinzu.

Hester wurde flau im Magen. »Dieses Ding, das ich in dem Loch gesehen habe …« Sie schaute zu ihrem Dämon, der wieder auf den Stein einhackte. »Das war eine Sichel.«

»Dann hat er uns die ganze Zeit belauscht?«, flüsterte Beatrix.

»Ja, und er weiß alles.« Hort zeigte auf das Loch. »Wir können Sophie keine Nachricht schicken, solange diese Sichel draußen herumschwirrt und uns belauscht.«

Alle schauten verzweifelt zu Täubchen, die ihren Blick den Gang entlang zur Treppe richtete.

»Was ist?«, fragte Hester.

»Seine Stimme«, sagte Täubchen. »Sie klang irgendwie … vertraut …«

Die anderen sahen einander fragend an. In dem Moment schallte wieder Rhians Stimme durch das Loch. »Ich komme aus dem Nichts, und jetzt bin ich euer König. Sophie wuchs in der Leserwelt auf und wird bald eure Königin sein. Wir sind einfache Leute, so wie ihr.«

»Wenn ihr mich fragt, klang er ein bisschen wie Rhian«, sagte Hester plötzlich.

»Ein bisschen?«, riefen Willam und Bogden. »Das ist verdammt untertrieben!«

»Genau wie Rhian«, bestätigte Täubchen.

Auf einmal ertönte ein Knacken in der Wand, und Staub rieselte herunter. Hesters Dämon hatte wieder einen Stein herausgestemmt und das Loch noch mehr vergrößert, bevor er erschöpft an den Hals seiner Herrin zurückflog.

»Jetzt kann ich den Balkon sehen«, verkündete Nicola. »Aber nicht sehr gut.«

»Dann spiegeln wir ihn hier herein. Von meiner Zelle aus geht das nicht, aber Hester kennt den Zauber«, sagte Täubchen. »Hester, das ist der, den ich dir gezeigt habe, als Sophie in den Turm des Schulmeisters gezogen ist.«

»Magie funktioniert hier nicht«, knurrte Hester. »Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen, Professor?«

»Aber nur im Verlies nicht«, bestätigte Täubchen.

Endlich verstand Hester. Warum war sie nicht selbst darauf gekommen? Aber deshalb war Täubchen ja auch die Schulleiterin und sie eine Schülerin, die noch viel lernen musste. Sie hätte nie an Täubchen zweifeln dürfen.

Hester stürzte zur Wand, streckte ihren Finger durch das Loch in die Sommerhitze hinaus. Sie spürte, wie ihre Fingerspitze aufglühte, bis sie blutrot leuchtete. Magie folgt dem Gefühl, lautete die oberste Regel. Und Hesters Hass auf Rhian war groß genug, um ganz Camelot zu beleuchten.

»Ist das nicht zu riskant?«, fragte Kiko. »Ich meine, wenn die Sichel da draußen ist …«

»Hast du eine bessere Idee? Oder soll ich dich lieber gleich umbringen, damit du keine Angst mehr haben musst?«, zischte Hester. Obwohl Kiko natürlich recht hatte. Wenn die Sichel draußen vor dem Loch auf der Lauer lag und lauschte … Aber egal, dieses Risiko musste sie eingehen, um einen besseren Blick auf den Balkon zu bekommen. Wie sollten sie sonst Sophie mit Rhian beobachten und herausfinden, auf welcher Seite Sophie stand?

Hester presste ihr Auge an das Loch und schaute zu dem Balkon auf, der aus dieser Entfernung nicht größer als eine Streichholzschachtel war. Außerdem war er nur von der Seite zu sehen, wie Nicola bereits gesagt hatte, sodass Rhian und Sophie, die hoch über der Menge thronten, Hester den Rücken zukehrten.

Egal, irgendwie würde es schon gehen. Hester richtete ihr Fingerglühen auf Rhian und Sophie. Mit einer Hälfte ihres Geistes konzentrierte sie sich auf die Balkonecke, die sie in die Zelle spiegeln sollte, und mit der anderen auf die feuchte, schmutzige Wand vor ihr. »Reflecta asimova«, flüsterte sie.

Eine zweidimensionale Projektion der Szene erschien in der Zelle und schwebte in der Luft. In stumpfen Farben, wie auf einem verblichenen alten Gemälde, erhielten die Gefangenen einen stark vergrößerten Blick auf die Vorgänge auf dem Balkon des Blauen Turms. So konnten sie Rhian und Sophie in Nahaufnahme beobachten, wenn auch nur im Profil.

»Wieso spiegelst du sie nicht von vorn?«, maulte Beatrix, während sie Rhian und Sophie studierte. »Ich kann ja ihre Gesichter gar nicht sehen.«

»Der Zauber vergrößert nur den Blick, den ich durch das Loch habe!«, fauchte Hester gereizt. »Und ich sehe den Balkon nur von der Seite.«

Die Projektion zeigte Rhian, der noch immer mit seinen Gästen redete. Seine hochgewachsene Gestalt im blau-goldenen Anzug lag im Schatten, eine Hand ruhte auf Sophies Arm, die andere auf ihrem Rücken.

»Warum läuft sie nicht weg?«, fragte Nicola.

»Oder tritt ihm in die Eier?«, sagte Dot.

»Ich wusste doch, dass man ihr nicht trauen kann.« Das war natürlich Rina.

»Nein, das ist nicht der Grund«, widersprach Hester. »Seht doch genauer hin.«

Alle folgten ihrem Blick. Hester konnte zwar Rhians und Sophies Gesicht nicht heranzoomen, aber sie sahen Sophie von hinten, wie sie sich von Rhian zu lösen versuchte … Rhians Knöchel traten weiß hervor, so fest packte er sie am Arm, während er ihr mit der anderen Hand Excalibur an den Rücken presste …

»Dreckskerl!«, zischte Beatrix und wirbelte zu Täubchen herum. »Haben Sie nicht gesagt, Rhian wird alles tun, um Sophie bei Laune zu halten? Und das macht er, indem er ihr sein Schwert in den Rücken drückt?«

»Er wäre nicht der erste Mann, der sich seine Frau mit dem Schwert gefügig macht«, erwiderte Täubchen ernst.

Dot seufzte. »Sophie hat wirklich einen grottenschlechten Geschmack bei Jungs.«

Schließlich war Sophie diesem Monster gerade eben noch um den Hals gefallen, weil sie ihn für Tedros’ neuen Ritter gehalten hatte. Und nun entpuppte sich der Ritter als Tedros’ Feind und drohte ihr mit dem Tod, wenn sie nicht mitspielte.

Plötzlich fiel ihnen noch jemand auf dem Balkon ins Auge. Eine Gestalt, die sich im Hintergrund hielt, um von der Menge nicht gesehen zu werden.

Die Schlange.

In ihrem zerfetzten schwarzen Sichelanzug stand sie da, den Blick auf den König gerichtet.

»Zuallererst müssen wir unsere Prinzessin zur Königin machen«, tönte Rhian. »Und als künftige Königin wird Sophie für die Hochzeitsplanung zuständig sein. Kein protziges königliches Spektakel wie einst. Sondern eine Hochzeit, die uns den einfachen Leuten näherbringt – euch, den Waldbewohnern. Eine Hochzeit für das Volk!«

»Sophie! Sophie! Sophie!«, brüllte die Menge.

Sophie wand sich in Rhians Griff, aber Rhian drückte ihr das Schwert noch fester in den Rücken. »Eine ganze Woche voller Feste und Paraden wartet auf euch, jeder darf nach Herzenslust mitfeiern«, fuhr er fort. »Danach folgen die Hochzeit und Krönung eurer neuen Königin.«

»Königin Sophie! Königin Sophie!«, jubelte das Volk und klatschte begeistert Beifall.

Sophie richtete sich kerzengerade auf und lauschte den Hochrufen der Menge. Dann drehte sie sich abrupt zu Rhian und schaute ihn herausfordernd an.

Rhian erstarrte, seine Hand war noch immer in ihren Arm gekrallt. Obwohl sein Gesicht im Schatten lag, konnte Hester sehen, wie er Sophie fixierte.

Die Menge verstummte. Alle spürten die Spannung.

Langsam wandte der König sich dem Volk zu. »Mir scheint, unsere Sophie hat eine Bitte«, sagte er lächelnd. »Eine Bitte, der ich nur ungern nachkomme, weil ich wollte, dass diese Hochzeit allein unser Moment ist. Aber sei’s drum: Was meine Königin wünscht, soll ihr gewährt werden.«

Rhian schaute seine Braut an, die Lippen zu einem kalten Lächeln verzogen. »Der Abend unserer Trauungszeremonie wird also mit der Hinrichtung des Verräter-Königs beginnen.«

Sophie zuckte so heftig zurück, dass sie sich beinahe an der scharfen Schwertklinge verletzt hätte.

»Heute in einer Woche wird Tedros sterben«, beendete Rhian seine Ankündigung, ohne Sophie aus den Augen zu lassen.

Entsetzte Schreie stiegen aus der Menge auf, das Volk von Camelot wollte Artus’ Sohn zu Hilfe kommen. Aber die Bewohner anderer Königreiche brüllten sie einfach nieder. Königreiche, die Tedros sträflich vernachlässigt hatte und die jetzt fest zum neuen König hielten.

»VERRÄTERIN!«, schrie ein Mann aus Camelot zu Sophie hinauf. »TEDROSHATDIRVERTRAUT!«

Sophie starrte ihn sprachlos an.

»Geh jetzt, Liebes«, säuselte Rhian. Er küsste sie auf die Wange und übergab sie seinen bewaffneten Wachen. »Du hast eine königliche Hochzeit zu planen. Und dein Volk erwartet nur das Beste von dir.«

Eine Sekunde lang konnte Hester noch Sophies versteinertes Gesicht sehen, dann zerrten die Piraten sie ins Schloss hinein.

In der Zelle herrschte Totenstille, während die Menge Sophies Namen johlte und Rhian gelassen auf dem Balkon posierte.

»Stimmt es, was er sagt?«, drang eine dumpfe Stimme vom anderen Ende des Gangs zu ihnen. Tedros. »Will Sophie mich wirklich tot sehen?«

Niemand antwortete ihm, weil sich auf dem Balkon etwas abspielte, das Täubchens Mannschaft gebannt mitverfolgte.

Der Körper der Schlange veränderte sich. Oder vielmehr ihre Kleider …

Die Sicheln fügten sich magisch zu einem hautengen Anzug zusammen, der sich golden-blau färbte – statt blau-golden wie Rhians Königsgewand.

Rhian spürte offenbar, was hinter ihm vorging, denn er schaute zu dem grün maskierten Jungen zurück und nahm zum ersten Mal dessen Anwesenheit zur Kenntnis. Das sonnengebräunte Gesicht des Königs war jetzt deutlich zu sehen. Seine Haare schimmerten wie ein Bronzehelm, seine blaugrünen Augen glitten kurz über die Schlange, die sich weiterhin im Hintergrund hielt. Rhian schien nicht überrascht, dass sein einstiger Todfeind am Leben war und noch dazu einen Anzug in den Farben des Königs trug, wenn auch spiegelverkehrt.

Stattdessen schenkte er der Schlange ein winziges Lächeln, bevor er sich wieder der Menge zuwandte. »Der Storiker hat euch nie geholfen. Euch, dem wahren Volk. Er hilft nur der Elite, den Reichen, die in die Schule gehen. Wie kann er also die Stimme des Waldes sein? Er, der Gut und Böse spaltet, Arm und Reich, gewöhnliche und gebildete Leute? Genau das macht unseren Wald so verwundbar und hätte euch fast das Leben gekostet. Die Feder. Die Fäulnis geht von der Feder aus.«

Das Volk murrte zustimmend.

Rhians Augen wanderten über die Menge. »Du dort, Ananya von Niederwald.« Er zeigte auf eine dünne, zerlumpte Frau, die ihn mit offenem Mund anstarrte. Ein König, der ihren Namen kannte? »Dreißig Jahre lang hast du in den Ställen deines Herrschers geschuftet, bist im Morgengrauen aufgestanden, um die Pferde des Hexenkönigs von Niederwald zu striegeln. Aber keine Feder erzählt deine Geschichte. Niemand weiß, welche Opfer du gebracht hast, wen du geliebt hast oder welche Lektionen man von dir lernen kann – Lektionen, die weitaus wertvoller sind als die Abenteuer irgendwelcher hochnäsigen Prinzessinnen, die der Storiker auswählt.«

Ananya wurde rot unter den bewundernden Blicken der Menge.

»Und du dort«, fuhr Rhian fort und zeigte auf einen kräftigen Mann und drei kahl geschorene Jungen an seiner Seite. »Dimitrow von Lieblichtal, dessen drei Söhne sich für die Schule für Gute bewarben und abgelehnt wurden. Dennoch dienen sie den jungen Prinzen von Lieblichtal als Knechte. Tag für Tag rackert ihr euch ab, obwohl ihr im tiefsten Herzen wisst, dass eure Herren nicht besser sind als ihr und dass ihr genau wie sie die Chance verdient, zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Werdet ihr eines Tages sterben, ohne dass eure Geschichte erzählt wird? Werdet ihr alle so ruhmlos enden – unbekannt, von allen vergessen?«

Die Menge wurde immer aufgeregter. Wie war es möglich, dass dieser König, der so hoch über ihnen stand, ganz gewöhnliche Leute ehrte? Dass er sie überhaupt wahrnahm?

»Aber vielleicht gibt es eine Feder, die eure Geschichten erzählt?«, fuhr Rhian fort. »Eine Feder, die nicht von willkürlicher Magie beherrscht wird, sondern von einem Mann, dem ihr vertraut. Eine Feder, die im hellen Tageslicht wirkt statt hinter dicken Schulmauern. Eine Feder für einen Löwen.«

Er beugte sich vor und fuhr fort: »Dem Storiker seid ihr gleichgültig. Mir nicht. Wer hat euch vor der Schlange gerettet? Nicht der Storiker, sondern ich, euer König. Der Storiker legt keine Rechenschaft vor euch ab. Ich schon, denn ich will, dass ihr alle geehrt werdet, wie ihr es verdient. Und meine Feder auch.«

»Ja! Ja!«, schrie das Volk.

»Meine Feder wird euch Vergessenen eine Stimme geben. Und sie wird die Wahrheit sagen. Eure Wahrheit!«, rief der König.

»Oh ja! Bitte! Bitte!«

»Die Herrschaft des Storikers ist vorbei! Eine neue Feder steigt auf. Eine neue Ära beginnt.«

Wie aufs Stichwort löste sich eine schmale goldene Sichel aus dem Anzug der Schlange, schwebte über der Balkonbrüstung, ungesehen vom Volk, und wurde schwarz und schuppig. Dann stieg die Sichel in die Luft, immer noch unsichtbar, bis sie sich im hellen Sonnenschein in eine lange goldene Feder mit messerscharfen Enden verwandelte und langsam zu Rhian herabsank.

Die Menge starrte mit offenem Mund hinauf.

»Endlich. Eine Feder für das Volk!«, rief Rhian, als die falsche Feder in seine ausgestreckte Hand schwebte. »Und ihr Name ist Löwenmähne.«

Die Menge johlte begeistert: »Löwenmähne! Löwenmähne!«

Rhian streckte seinen Finger aus und die Feder schoss in den Himmel über Camelot und schrieb in goldenen Lettern auf den leuchtend blauen Hintergrund wie auf ein leeres Blatt Papier:

DIE SCHLANGE IST TOT. EIN LÖWE HAT SICH ERHOBEN. DER EINE UND WAHRE KÖNIG.

Das Publikum war überwältigt. Ehrfürchtig fielen die Bewohner des Waldes, Gut wie Böse, vor König Rhian auf die Knie. Und die Rebellen aus Camelot wurden von den Umstehenden in die Knie gezwungen, auch wenn sie sich noch so sehr dagegen sträubten.

Der König hob die Arme. »Schluss mit ›Es war einmal‹. Wir leben jetzt. Ich will eure Geschichten hören. Meine Männer und ich werden euch befragen, damit meine Feder Tag für Tag die wahren Botschaften des Waldes wiedergeben kann. Keine Abenteuer von privilegierten Prinzen und Hexen, die um die Macht kämpfen, sondern Geschichten, die euch ins rechte Licht rücken. Folgt meiner Feder, und der Storiker hat keinen Platz mehr in unserer Welt. Folgt meiner Feder, und jeder von euch erhält die Chance, zu Ruhm und Ehre zu gelangen.«

Die Leute johlten vor Begeisterung, während Löwenmähne weiter in den Himmel über Camelot aufstieg, blinkend und blitzend wie ein Leuchtfeuer.

»Aber Löwenmähne allein kann den Storiker und sein Lügenerbe nicht besiegen«, fuhr Rhian fort. »Der Löwe in der Geschichte vom Löwen und der Schlange hatte einen Adler an seiner Seite, der dafür sorgte, dass die Schlange nie wieder in sein Reich eindringen konnte. Ein Löwe braucht einen Adler, um über das Böse zu siegen. Einen treuen Vasallen, der ihm als sein engster Ratgeber dient. Und diesen Vasallen möchte ich euch jetzt vorstellen. Einen Vertrauten, der mir hilft, den Wald wieder groß zu machen, dem ihr genauso vertrauen könnt wie mir.«

Erwartungsvolles Schweigen breitete sich aus, und die Schlange trat langsam aus dem Schatten, die grüne Maske immer noch über dem Gesicht.

Doch sobald die Schlange an einer dunklen Wand vorbeiglitt, ins Blickfeld des Volks, zerstoben die Sicheln, die die Maske bildeten, und lösten sich in Luft auf.

»Hier also habt ihr meinen Adler … den treuen Ritter eures Königs«, verkündete Rhian. »Sir Japeth!«

Die Schlange trat ins Licht und gab ihr Gesicht der Menge preis, ihr golden-blauer Anzug funkelte in der Sonne.

»In dieser verstaubten alten Schule, von der ich gesprochen habe, herrschten zwei wie wir. Zwei vom selben Blut, die im Streit miteinander lagen, Gut und Böse!«, rief der König und legte einen Arm um Japeth, während Löwenmähne über ihren Köpfen schwebte. »Und zwei vom selben Blut herrschen nun über eine neue Feder. Nicht für Gut. Nicht für Böse. Sondern für das Volk.«

Die Menge brach erneut in Jubel aus und johlte den Namen des Vasallen: »Japeth! Japeth!«

Genau in diesem Moment drehte die Schlange sich um und starrte direkt in Hesters Projektion, als wüsste er, dass die Gefangenen ihn beobachteten.

Zum ersten Mal sah Hester das schöne, kantige Gesicht der Schlange, und ihre Knie wurden weich.

»Wie war das noch? Wir sind ihm immer einen Schritt voraus?«, zischte sie Täubchen zu.

Die Schulleiterin des Guten schwieg, als Sir Japeth sie höhnisch angrinste, bevor er sich wieder umdrehte und dem Volk zuwinkte, Seite an Seite mit seinem Zwillingsbruder, König Rhian …

Der Löwe und die Schlange herrschten gemeinsam über den Wald.

Die Wachen hielten Sophie von der Bühne fern, aber sie konnte alles sehen, was dort vorging, auch wenn ihre Gedanken weder bei König Rhian noch bei seinem aalglatten Zwilling weilten. Nein, Sophie dachte an den einzigen Menschen, der für sie zählte …

Agatha.

Tedros war zum Tode verurteilt, aber sie wusste zumindest, wo er war. Im Verlies. Und am Leben. Fürs Erste jedenfalls. Und solange Tedros lebte, bestand Hoffnung. Aber Agatha …

Sophies Herz zog sich vor Angst zusammen. Als sie ihre beste Freundin zuletzt gesehen hatte, war Agatha um ihr Leben gerannt, vor den Wachen durch das Chaos im Schlosshof geflüchtet. War sie entkommen? Und wenn ja, lebte sie noch?

Mit Tränen in den Augen starrte Sophie auf den Diamantring an ihrem Finger.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie einen anderen Ring getragen, den Ring des bösen Schulmeisters, der sie von ihrer einzigen und wahren Freundin – Agatha – getrennt hatte. Und so war es jetzt auch wieder.

Trotzdem war es nicht dasselbe. Damals wollte Sophie auf der Seite von Böse sein.

Die Hochzeit mit Rhian sollte ihre Wiedergutmachung sein, ihre wahre Liebe besiegeln.

Sophie hatte sich von Rhian verstanden gefühlt. Wenn sie ihm in die Augen schaute, sah sie einen ehrlichen, anständigen Jungen vor sich – einen von Gut. Einen Jungen, der die Schatten des Bösen in ihrem Herzen erkannt hatte und sie trotzdem liebte, so wie Agatha.

Noch dazu war er auch äußerlich ein richtiger Märchenprinz, obwohl sie seinen Ring nicht deshalb angenommen hatte. Nein, es war die Art, wie er sie ansah. So wie Tedros Agatha anschaute. Als könnte er ohne ihre Liebe nicht leben.

Zwei Liebespaare und vier beste Freunde. Das perfekte Ende: Teddy mit Aggie, Sophie mit Rhian.

Aber Agatha hatte Sophie gewarnt: »Eins weiß ich hundertprozentig, Sophie: Wir beide, du und ich, wir bekommen nie ein Happy End.«

Und natürlich hatte sie recht behalten. Agatha war der einzige Mensch, den Sophie jemals wirklich geliebt hatte. Und für sie stand fest, dass Aggie immer zu ihrem Leben gehören würde. Aber jetzt? Sie waren weiter von einem Happy End entfernt denn je … und es gab keinen Weg zurück.

Zwei der vier Wachen packten Sophie von hinten und zerrten sie in den Blauen Turm. Die beiden Piraten stanken nach Zwiebeln, Most und Schweiß – ein Geruch, der ihr den Magen umdrehte –, und ihre schmutzigen Nägel gruben sich in Sophies Schultern, bis sie endlich die Kraft aufbrachte, ihre Arme hochzureißen und sie wegzustoßen.

»Ich trage den Ring des Königs!«, herrschte Sophie die Wachen an. »Und wenn ihr euren Kopf auf dem Hals behalten wollt, dann verzieht euch samt eurem grässlichen Gestank ins nächste Badezimmer und lasst eure schmutzigen Pfoten von mir!«

Einer der Wächter riss seinen Helm herunter, und die braun gebrannte Fratze von Wesley, dem Piraten, der sie in Schöne Aussicht gefoltert hatte, kam darunter zum Vorschein. »Der König will, dess mer dich in ’n Kartenraum bringen. Traut dir nich über ’n Weg, falls de die Flatter machst, so wie Agatha«, feixte er und zeigte ihr seine fauligen Zähne. »Also gehste jetzt schön mit, so wie eben, oder wir tragen dich, aber das wird dann nich so nett.«

Die drei anderen Wachen nahmen ebenfalls ihre Helme ab und Sophie erkannte nun auch den Rest der Piratenbande. Thiago mit den blutroten Tattoos um die Augen; der dunkelhäutige Aran mit dem Flammenmal im Nacken und ein muskelbepacktes Mädchen mit kurz geschorenem dunklem Haar, Piercings in der Wange und einem lauernden Blick.

»Also überleg’s dir, Whiskey Woo«, knurrte das Mädchen.

Daraufhin ließ Sophie sich widerstandslos weiterzerren.

Als sie durch die Rotunde des Blauen Turms gescheucht wurde, war dort ein Trupp von fünfzig Handwerkern mit Renovierungsarbeiten beschäftigt. Löwenwappen wurden auf die Säulen gemalt, die Marmorböden ausgebessert, mit frischen Löweninsignien auf jeder Fliese, und der zersprungene Kronleuchter wurde gegen einen neuen ausgetauscht, an dem Tausende winzige Löwenköpfe aus Kristall baumelten. Die verblichenen blauen Stühle bekamen neue Bezüge und Kissen mit goldenen Löwenwappen. Alles, was noch aus König Artus’ Herrschaft stammte, wurde einfach ersetzt – jede einzelne rußgeschwärzte Büste oder Statue des alten Königs musste den protzigen Abbildern des neuen weichen.

Durch die Vorhänge drang heller Sonnenschein und brachte die runde Halle zum Leuchten, alles blitzte und blinkte, das Licht tanzte in den geschliffenen Edelsteinen und ließ die frischen Farben noch mehr erstrahlen. Drei ausgemergelte alte Frauen, die völlig gleich aussahen und auch die gleichen lavendelblauen Seidengewänder trugen, kreuzten Sophies Weg. Sie drückten jedem der Handwerker einen Beutel mit klimpernden Münzen in die Hand und bewegten sich steif und majestätisch, als wären sie die Schlossherrinnen. Als sie Sophies Blick begegneten, lächelten sie ihr unterwürfig zu und stürzten sich in einen wackligen Hofknicks.

Sophie schauderte bei ihrem Anblick. Diese drei waren ihr irgendwie unheimlich, nicht nur ihr dümmliches Grinsen und ihr missglückter Knicks, als gehörten sie in eine Freakshow, sondern auch ihre nackten Füße, die unter den lavendelblauen Kleidern hervorlugten. Während die Frauen weiter die Handwerker entlohnten, starrte Sophie auf die schmutzigen Füße, die mit den verhornten gelben Nägeln mehr nach einem Schornsteinfeger als einer Hofdame aussahen.

Kein Zweifel. An diesen drei Frauen war etwas oberfaul.

»Ich dachte, Camelot hat kein Geld«, sagte Sophie zu den Wachen. »Wie bezahlen wir denn das alles?«

»Beeba, soll mer ihr vielleicht den Schädel spalten? Mal sehn, was mer da finden«, sagte Thiago zu dem Piratenmädchen.

»Würmer«, feixte Beeba.

Was natürlich keine Antwort auf Sophies Frage war. Sophie wurde weitergezerrt, vorbei an Wohn- und Schlafgemächern, einer Bibliothek und einem Solarium, alle mit Löwenwappen und Schnitzereien aufgehübscht. Camelot musste geradezu im Geld schwimmen. Die Frage war nur, wo das ganze Gold plötzlich herkam. Und wer diese drei Frauen waren, die sich wie die Herrinnen von Camelot aufführten. Aber vor allem: Wie hatte das alles so schnell über die Bühne gehen können? Rhian war gerade erst König geworden, und schon wurde alles nach seinen Angaben verändert? Sophie begegnete weiteren Arbeitern, die mit einem riesigen Porträt des gekrönten Rhian vorbeischlurften und die Wachen nach dem Weg zur Halle der Könige fragten, wo das Bild aufgehängt werden sollte. König Rhian muss das alles schon lange geplant haben, dachte Sophie und schaute den Arbeitern nach, die zum Weißen Turm abschwenkten …

Nenn ihn nicht so!, wies Sophie sich selbst zurecht. Er ist nicht der König. Aber wie konnte er dann Excalibur aus dem Stein ziehen?

Doch darauf hatte sie keine Antwort. Noch nicht jedenfalls.

Unter einem der Fenster waren die Arbeiten an der zerstörten Zugbrücke in vollem Gang. Durch ein anderes sah Sophie ein Heer von Gärtnern, die den Rasen frisch einsäten und leuchtend blaue Rosenbüsche pflanzten, während im Hof des Goldenen Turms auf der anderen Seite goldene Löwen in die Becken der spiegelnden Teiche gemalt wurden.

Plötzlich entstand ein Tumult, und eine braunhäutige Frau mit Kochmütze auf dem Kopf wurde von Piratenwachen aus dem Schloss gescheucht, zusammen mit ihren Küchenmägden, während ein neuer junger Chefkoch mit ausschließlich männlichen Helfern in die Schlossküche geführt wurde.

»Aber meine Familie, die Silkimas, kocht seit zweihundert Jahren für Camelot«, protestierte die Frau.

»Und herzlichen Dank auch für eure Dienste«, sagte ein gut aussehender Wächter mit schmalen Augen, der eine andere Uniform trug – golden schimmernd und kostbar, als nähme er einen höheren Rang ein.

Irgendwie kam er Sophie vertraut vor. Aber ihr blieb keine Zeit, sein Gesicht genauer zu studieren, weil sie jetzt in den Kartenraum gezerrt wurde, der sauber und frisch roch wie eine Lilienwiese – überhaupt nicht nach einem dieser üblichen stickigen Abstellräume, die vor allem von ungewaschenen Rittern belagert wurden.

Als Sophie aufschaute, schwebten mehrere Karten der Waldreiche im bernsteinfarbenen Lampenlicht über einem großen runden Tisch, wie Ballons mit gekappten Schnüren. Bei genauerem Hinsehen entpuppten sie sich keineswegs als die brüchigen alten Karten aus König Artus’ Zeiten … Nein, das hier waren die magischen Karten, die Sophie und Agatha in der Höhle der Schlange gesehen hatten – mit winzigen Figuren, die für Professor Täubchens Mannschaft standen, sodass die Schlange jede ihrer Bewegungen verfolgen konnte. Im Augenblick schwebten die Figuren alle über dem winzigen dreidimensionalen Schloss Camelot, während ihre lebenden Pendants in den Verliesen schmachteten. Nur eine der Figuren bewegte sich nicht in der Nähe des Schlosses, sondern war aus Camelot entkommen und näherte sich der Grenze des Königreichs …

AGATHA.

Sophie schnappte nach Luft. Sie lebt! Aggie lebt!

Und wenn Agatha lebte, würde sie alles tun, um Tedros zu befreien. Es bestand also die Chance, dass Sophie und Agatha mit vereinten Kräften den wahren König von Camelot retten konnten. Aggie von außen, Sophie von innen.

Aber wie? Wenn kein Wunder geschah, würde Tedros in einer Woche sterben. Die Zeit lief ihnen davon. Und Rhian konnte Agatha auf der Karte aufspüren, wann immer er wollte …

Die Karte!