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Vandora City stirbt – ein Kadaver aus Neon und Stahl, vergiftet von alten Sünden und neuem Gold. Während die Nacht nach verbranntem Asphalt und süßem Chrysalis duftet, öffnen sich in den Schatten uralte Schwellen: Kinder verschwinden, Visionen reißen Risse ins Gemäuer der Realität, und ein Wesen, das keine Maske mehr trägt, prüft die letzten Zeugen der Stadt. Frank, Sam und Tim – von der Unterwelt Vandoras als die Unnecessary Three verspottet, von sich selbst schon lange nicht mehr als Helden gesehen – geraten in einen Strudel aus okkulten Prophezeiungen, bestialischen Experimenten und sich überschneidenden Verschwörungen. Während der geheime Krieg zwischen der unmenschlichen Organisation, den Sídhe de la Nuit und Victoria Slades verderbtem Hof erneut aufflammt, müssen sich die Drei fragen: Gibt es Erlösung, wenn jedes Opfer nur eine neue Schuld gebiert? Oder ist das Überleben in einer Stadt wie Vandora bereits das einzige heilige Ritual? An der Schwelle zwischen Mythos, Glaube und Verfall werden Masken zerschlagen, Erinnerungen geopfert und alte Pakte beschworen. Widerstreitende Wahrheiten, Menschlichkeit am Abgrund – in Vandora zählt keine Hoffnung, nur Entscheidungen. Und Blut. Eine düstere Noir-Chronik über Schuld und Offenbarung, Macht und Menschlichkeit in einer Welt, die ihre Retter genauso verachtet wie ihre Monster. Schlüsselwörter: Noir, Mystery, Urban Vigilante, Vandora City, Thriller, Selbstjustiz, düstere Stadt, Hardboiled, Groschenroman, Frank Miller Stil.
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2025
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The Unnecessary Three –
Die Prophezeiung
Band 3 der Vandora City Saga
Fehmi Coşkun
Impressum
Titel: The Unnecessary Three – Die Prophezeiung
Autor: Fehmi Coşkun
Verlag: Selbstverlag
Erscheinungsjahr: 2025
ISBN:
Kontakt:
Fehmi Coşkun
Adresse: Keltenstraße 26, 67071 Ludwigshafen
E-Mail: [email protected]
Urheberrecht:
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche Genehmigung des Autors in irgendeiner Form vervielfältigt, verbreitet oder verarbeitet werden.
Haftungsausschluss:
Der Autor übernimmt keine Haftung für eventuell enthaltene Fehler oder feh-lende Aktualität der Inhalte.
WIDMUNG
Für meine Familie –
meine Frau und unsere Kinder.
Ihr seid mein Anker, meine Geduld und meine größte Kraft. Ohne euch wäre dieser Weg dunkel und leer geblieben.
Für meine zwei Freunde,
die mit ihrem Wesen und ihrer Freundschaft die Vorlage für Figuren geschaffen haben, die größer wurden, als wir es je erwartet hätten. Ohne euch gäbe es keine Unnecessary Three.
Und für meinen geheimen Begleiter,
der nie im Licht steht, sondern immer zwischen den Zeilen schreibt.
The Quill – du hast vieles leichter gemacht und mir die Feder gereicht, wenn mir die Worte fehlten.
INHALT
Die Stadt Atmet Gift
Echos einer Warnung
Das Heulen der Bestie
Wasser Der Erinnerung
Die Belagerung der Kirche
Sprechende Seiten und Betrunkene Hunde
Der Fall von Königinnen
Eine Wahl von Verdammten
Das Opfer von Bestien
Scherben Der Nacht
Neue Fäden
ÜBER DEN AUTOR
ANERKENNUNGEN
„Dieses Buch ist mehr als eine Geschichte. Es ist das Ergebnis von Freundschaft, Familie und der Kraft, gemeinsam weiterzugehen, auch wenn der Weg im Dunkel liegt.”
„Riechst du das?“, fragte Sam neben ihm. Seine Stimme war rau, abgenutzt von zu vielen Kämpfen und zu wenig Schlaf.
Frank nickte langsam. „Ich rieche alles.“
1
Die Stadt Atmet Gift
Vandora City stirbt nicht.
Sie verwest langsam, zäh wie ein vergifteter Körper, den die Geier schon längst aufgegeben haben. Die Nacht riecht nach Gummi auf Asphalt, nach nassem Beton, nach dem Schweiß tausender Körper in engen Gassen. Und nach etwas anderem. Etwas Süßem, Klebrigem. Es legt sich wie Honig an die Zunge. Bleibt haften. Brennt sich ein.
Frank stand auf einem maroden Dach und atmete die Stadt ein. Sein Geruchssinn – Gabe und Fluch zugleich – zerlegte die Luft in ihre Geschichten: drei Straßen weiter hatte jemand Blut verloren, zu viel, zu schnell. Im Osten kochte jemand Meth in einem Kellerraum, dessen Fenster seit Jahren zugemauert waren. Und überall, wie ein Schleier auf allem, lag dieser süße Gestank – Chrysalis, die goldene Essenz, die Dr. Voss‘ Vermächtnis war. Die jetzt durch die Adern der Stadt floss wie Gift durch einen sterbenden Organismus.
◊ ◊ ◊
Sie standen auf dem Dach eines verlassenen Parkhauses. Rissiger Beton. Moos in den Fugen. Zwischen den Rissen wuchsen dünne Grashalme, bewegten sich im Wind wie Gebete, die niemand mehr hörte. Über ihnen spannte sich der Himmel in einer trüben Mischung aus Rauch und Lichtverschmutzung. Kein Stern war zu sehen.
„Riechst du das?" Sams Stimme war rau. Abgenutzt..
Frank nickte langsam. „Ich rieche alles.“
„Das ist dein Problem, Bruder.“
„Eines von vielen.“
Unter ihnen erstreckte sich Vandora – ein lebendiger Kadaver aus Stahl, Beton und Lügen.
Die Innenstadt, das Velvet Quarter, pulsierte in kaltem Neon. Clubs für Reiche, die vergessen wollten. Draußen warteten die, die nichts zu vergessen hatten. Die Gassen schimmerten von Öl und Blut. Jede Pfütze spiegelte eine andere Lüge.
Weiter draußen, an den Rändern der Stadt, begannen die Hollows – graue, bröckelnde Straßenzüge, in denen die Laternen mehr Schatten warfen als Licht. Dort lebten jene, die Vandora noch nicht ganz verschlungen hatte. Noch nicht.
Tim stand einige Meter entfernt, den Blick auf ein kleines Gerät in seiner Hand gerichtet. Das bläuliche Licht tanzte über sein Gesicht, ließ ihn aussehen wie seine eigene Projektion. Seine Finger bewegten sich über die Oberfläche, ruhig, präzise, fast zärtlich.
„Die Signale sind überall“, murmelte er. „Chrysalis. Konsumenten, sowie Händler. Jeder Bezirk sendet.“
„Seit wann ist das neu?“, knurrte Sam, während er sich eine Zigarette anzündete. Sam zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch hing in der feuchten Luft wie eine Markierung.
„Seit heute Nacht ist es anders.“ Tim hob den Kopf. Seine Augen spiegelten den flackernden Bildschirm. „Die Muster verändern sich. Als würde jemand das Netz selbst umschreiben. Keine Verteilung mehr. Kontrolle.“
Frank trat näher an die Dachkante, ließ den Blick über die Stadt schweifen.
Der Wind trug den Geruch von Regen, Müll, kaltem Metall – und darunter etwas, das nicht hierher gehörte. Kein Geruch, sondern das Fehlen eines solchen. Eine Lücke. Eine Abwesenheit, so stark, dass sie die Luft verzog.
„Da gibt’s noch etwas“, sagte er leise.
Sam drehte sich zu ihm um. „Was?“
Frank blinzelte, als würde er aus einem Gedanken auftauchen, der zu tief und zu dunkel gewesen war. „Jemand… Wartendes.“
„Wartend wie ein Tier oder eher wie ein Gott?“, fragte Sam, halb spöttisch, halb ernst.
Frank antwortete nicht sofort. Seine Stimme war fern, als würde sie aus einem anderen Teil der Nacht kommen.
„Ich weiß es nicht. Aber es riecht nach einer Entscheidung.“
Der Wind nahm zu, trug den Klang der Stadt herauf – Sirenen, dumpfe Motoren, ferne Schreie, die niemand hören wollte.
Vandora atmete. Und irgendwo da unten, zwischen den Schatten, regte sich etwas.
Etwas, das auf sie wartete.
Frank sah auf die Stadt hinab. Sie hatte sich verändert, seit Victoria Slade gefallen war.
Ihr Tower war nur noch eine ausgebrannte Ruine – ein schwarzer Zahn, der sich wie ein Mahnmal gegen den Nachthimmel reckte.
Die Puppenfabrik, in der sie ihr letztes Gefecht verloren hatte, war versiegelt worden – offiziell zumindest. Inoffiziell wusste jeder in Vandora, dass man manche Orte nicht versiegeln konnte.
Man konnte nur hoffen, dass das, was dort lebte, nicht wieder herauskam. Aber Macht verschwindet nie. Sie verdunstet nicht, sie versteinert nicht. Sie wandert – von Hand zu Hand, von Herz zu Herz, von Maske zu Maske.
Frank, Sam und Tim hatten in den Wochen nach der Schlacht versucht, das zu tun, was in Vandora am schwierigsten war: weiterzumachen.
Frank saß wieder in seinem Büro in der Stadtverwaltung, füllte Formulare aus, stempelte Anträge ab, ein Rädchen in einer Maschine, die nur dazu da war, Stillstand zu produzieren.
Manchmal sah er die Aktenberge an und fragte sich, ob sie aus Papier oder aus Schuld bestanden.
Sam arbeitete in der alten Riverside-Buchhandlung. Ein Relikt. Verstaubte Regale, blindes Fenster. Die Fenster waren blind vom Staub vergangener Jahre, und wenn er die alten Regale entlangging, hörte er manchmal seine eigenen Schritte wie Erinnerungen seiner Taten.
Einmal hatte er zu Tim gesagt: „Komisch, oder? Ich sortiere hier Geschichten, nachdem ich jahrelang welche beendet hab.“
Sein Gefährte hatte daraufhin schlicht geantwortet: „Vielleicht ist das deine Buße.“
Tim selbst stand jeden Morgen um vier Uhr auf. In seiner Bäckerei roch es nach Hefe, Mehl und ehrlicher Arbeit. Er knetete Teig mit denselben Händen, die einst Sprengsätze gebaut hatten, und manchmal fragte er sich, ob das wirklich Vergebung war – oder bloß Routine.
„Immerhin“, sagte Sam eines Morgens, als sie sich trafen, „bist du der Einzige von uns, der was erschafft, statt zu zerstören.“
Tim grinste müde. „Brot ist kein Symbol, mein Großer. Nur Brot.“
„In Vandora ist alles ein Symbol“, murmelte Frank.
Aber Vandora ließ niemanden los.
Die Stadt war wie ein Tier, das seine Beute markiert hatte – sie folgte dir, bis du vergaßt, dass du jemals frei warst.
Die Anrufe hatten vor drei Tagen begonnen.
Zuerst Elias Hartman. Der junge Reporter, der sie nie um einen Kommentar bat, aber immer zur richtigen Zeit am falschen Ort war. Seine Stimme war blechern, abgehetzt, müde.
„Detective Marlowe hat mit mir gesprochen. Wir haben wieder Kinder. Verschwunden. Wie vor zwei Jahren. Aber diesmal… diesmal ist es anders. Er wollte, dass ihr es wisst.“
„Kinder“, hatte Frank nur wiederholt. Als müsste er es erst verstehen.
Dann kam Quill – ein Schatten im Netz, der nur in Rätseln sprach.
Eine verzerrte Stimme, so ruhig, dass sie gefährlich klang.
„Etwas bewegt sich in der Stadt. Alte Spuren. Neue Spieler. Seid vorsichtig.“
Sam hatte sich das angehört, die Zigarette halb im Mundwinkel.
„Klingt wie ein verdammtes Déjà-vu.“
Frank hatte geantwortet: „In Vandora wiederholt sich nichts. Es verändert nur die Verpackung.“
Und schließlich – letzte Nacht. Ein Anruf ohne Nummer, ohne Ursprung. Nur Rauschen, dann eine Stimme. Tief, dumpf, aus der Tiefe eines Brunnens.
„Die Bären sind zurück. Und sie sind hungrig.“
Danach war die Leitung tot.
Eine Weile hatte niemand etwas gesagt. Dann hatte Tim die Stille durchbrochen: „Ich hab so gehofft, das wäre vorbei.“
„In dieser Stadt hört nichts auf“, sagte Frank. „Es zieht nur andere Kreise.“
Sam schnaubte. „Na dann, Zeit für die nächste Runde, Brüder.“
Draußen, irgendwo zwischen den Neonlichtern und den Schatten, bewegte sich etwas.
Die Stadt atmete. Und Vandora hatte wieder Hunger.
◊ ◊ ◊
„Bären“, wiederholte Sam jetzt und spuckte über die Brüstung des Parkhauses. „Was zum Teufel machen Bären in Vandora?“
„Märchen“, antwortete Frank. „Goldlöckchen und die drei Bären. Victoria Slade liebte Märchen. Sie nutzte sie als... Codierung. Als Symbolik.“
„Sie ist untergetaucht.“
„Ja.“ Frank rieb sich die Augen. Die Müdigkeit saß tief in seinen Knochen, ein Gift, das kein Schlaf heilen konnte. „Aber diese geheimnisvolle Organisation nicht. Lilith und ihre Schwestern haben den Slade Tower geschleift. Und neuer Abschaum greift nach dem was davon übrig ist.“
Tim steckte sein Gerät weg und gesellte sich zu ihnen. „Die Feen“, sagte er leise. „Sídhe de la Nuit. Man sagt, sie sind mit einigen interessanten Dingen aus dem Tower verschwunden. Sie haben sich... reorganisiert.“
„Und jetzt spielen wir Märchenstunde?“ Sam schüttelte den Kopf. „Ich hasse diese Stadt.“
„Du liebst diese Stadt“, korrigierte Frank. „Deshalb bist du noch hier.“
Sam schwieg. Weil es stimmte.
Die drei Männer standen da und sahen auf Vandora hinab. Die Stadt atmete unter ihnen, ein rhythmisches Ein- und Aus von Licht und Schatten, von Lärm und Stille. Irgendwo in dieser Masse aus Beton und Fleisch waren Kinder verschwunden. Irgendwo bewegte sich etwas Altes, etwas Gefährliches.
Und irgendwo wartete etwas. Frank spürte es. Größer als Slade. Größer als die Feen. Größer als alles, was sie kannten.
„Wir sollten anfangen“, sagte Tim schließlich.
Frank nickte. „Wo?“
„Alt-Vandora. Drei Kinder in zwei Tagen. Die Polizei hat nichts Verwertbares.“ Tim zögerte. „Aber die Zeugen reden von Schatten. Und von einem Geruch“
„Was für ein Geruch?“
„Honig“, sagte Tim. „Und verbranntes Fell.“
Frank atmete tief ein. Und da war es – schwach, aber unverkennbar. Süße und Tod, vermischt zu einer Spur, die nur er lesen konnte.
„Ich habe es“, flüsterte er.
Sam legte ihm eine Hand auf die Schulter, schwer und warm. „Dann lass uns jagen.“
◊ ◊ ◊
Sie stiegen die Treppen des Parkhauses hinab, ihre Schritte ein vertrauter Rhythmus, eingespielt über Jahre. Frank setzte sich zuerst in Bewegung. Kein Wort, kein Blick zurück. Nur die Nase im Wind, ein kurzer Ruck mit dem Kinn, und die Richtung war klar.
Sam folgte ihm automatisch. Seine Schritte hallten tief, schwer, als würden sie den Asphalt jedes Mal ein Stück eindrücken.
Tim blieb einen Schlag lang zurück, tastete mit der Hand in seine Jackentasche. Etwas klickte leise darin – seine Art, zu sagen, dass er bereit war. Dann setzte er sich ebenfalls in Bewegung.
Drei Männer.
Drei Muster.
Ein Rhythmus, der ohne Absprachen funktionierte.
Die Straßen von Alt-Vandora lagen still wie eine erstarrte Wunde. Nur das ferne Summen der Neonlichter überlebte das Schweigen. Die wenigen Laternen, die noch brannten, warfen lange, nervöse Schatten, die sich bewegten, obwohl kein Wind ging. Die Luft war dick, träge – der Geruch von Staub, altem Öl und Rost lag schwer auf ihren Zungen.
Aus einer Seitengasse – ein Geräusch, Glas, Stöhnen. Eine alte Frau mit einem zu schweren Korb. Sam hob ihn, stellte ihn vor ihre Tür. Sie murmelte etwas. Niemand hörte hin.
Frank folgte wieder der Spur. Schmale Gassen, zugemauerte Fenster, bröckelnde Pflastersteine. Alte Kaugummis glänzten im Dreck wie tote Augen. Die Wände trugen ihre Psalmen in Graffiti – obszöne Versprechen, gebrochene Herzen, Gebete, die nie beantwortet wurden. Vandora sprach zu ihnen, flüsternd, klagend.
„Hier“, sagte Frank schließlich. Seine Stimme war kaum mehr als ein Atemzug.
Vor ihnen ragte das alte Lagerhaus der Seyfried Company auf – ein Relikt aus Tagen, in denen Hoffnung noch verkauft wurde wie Seife. Die Wände waren überzogen mit halb zerfetzten Prospekten, Reklamen aus einer Ära, die sich selbst vergessen hatte. Fenster wie blinde Augen, Türen wie gebrochene Kiefer. Es war ein Ort, der keine Fragen stellte. Nur Antworten gab.
Ein perfekter Ort zum Sterben. Oder zum Verschwinden.
„Riechst du sie?“, fragte Sam leise.
Frank nickte. „Drei Kinder. Angst. Und...“ Er hielt inne. „Honig. Überall Honig.“
„Und die Bären?“
„Noch nicht. Aber sie waren hier.“
„Wir sind zu weich für diese Stadt“, murmelte Sam schließlich.
„Vielleicht“, sagte Frank. „Aber irgendwer muss es ja sein.“
„Irgendwer“, wiederholte Tim, „oder niemand.“
Sie erreichten das Lagerhaus. Tim zog ein kleines Gerät hervor – halb Kompass, halb Geigerzähler. Die Nadel zitterte, schlug an den Rand der Skala, als wolle sie fliehen.
„Chrysalis-Konzentration ist durch die Decke“, murmelte er. „Wer auch immer hier war, hat das Zeug nicht nur benutzt. Er hat darin gebadet.“
„Dann los“, sagte Sam. Seine Handschuhe knackten leise, als er sie fester zog.
Sie traten durch die aufgebrochene Tür.
Und das Dunkel dahinter nahm sie auf – wie ein Schlund, der wusste, was er wollte.
◊ ◊ ◊
Innen war es dunkel. Ihre Taschenlampen kratzten nur an der Oberfläche. Der Boden war übersät mit Trümmern – zerbrochenem Glas, verrostetem Metall, Dingen, die einmal Maschinen gewesen waren und jetzt nur noch Skelette aus Stahl darstellten.
Ein Detail stach allerdings hervor.
Im Zentrum des Raumes, auf einer improvisierten Bühne aus alten Paletten, standen drei Stühle. Kinderstühle. Und auf jedem lag ein Spielzeug – ein Teddybär, abgewetzt und fleckig, mit einem Auge, das fehlte.
Frank spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. „Das ist inszeniert.“
„Für uns?“, fragte Tim.
„Für jemanden.“
Sam trat näher. Sein Schatten verschluckte das Licht. Er beugte sich über einen der Bären, berührte ihn nicht. „Riecht das komisch für dich?“
Frank kam näher und atmete ein. Der Geruch traf ihn wie ein Schlag – Honig, ja, aber etwas stimmte nicht.
„Zurück!“, rief er.
Aber es war zu spät.
Die Teddybären explodierten.
Nicht physisch – es war keine Explosion aus Feuer und Metall. Es war, als würde die Luft selbst zerrissen. Ein silberner Nebel schoss aus den Stofftieren. Er brannte. In den Augen, in der Lunge, überall.
Frank fiel auf die Knie, würgte. Neben ihm brüllte Sam vor Schmerz. Tim riss sein Tuch über Mund und Nase, aber es war zu spät – der Nebel war überall.
Und in dem Nebel bewegten sich Schatten.
Große Schatten.
Schatten, die wie Bären aussahen.
Frank versuchte zu atmen, versuchte zu denken, aber der Nebel kroch in seinen Kopf, füllte ihn mit Bildern – Kindheitserinnerungen, verzerrte Gesichter, eine Stimme, die flüsterte:
„Willkommen, Jäger. Willkommen zum Spiel.“
Und dann wurde alles schwarz.
◊ ◊ ◊
Als Frank die Augen wieder öffnete, war er allein.
Das Lagerhaus war verschwunden. Stattdessen stand er in einem Raum, der kein Ende zu haben schien. Die Wände waren aus Spiegeln, unzählige von ihnen, die sein Gesicht zurückwarfen – aber nicht sein richtiges Gesicht. Jede Reflexion war anders. Eine zeigte ihn als Kind, unschuldig und lächelnd. Eine andere als alten Mann, gebrochen und leer. Wieder eine andere als etwas, das nicht mehr menschlich war.
„Was zum...?“
„Frank.“ Die Stimme kam von überall und nirgends.
Er wirbelte herum. Hinter ihm stand eine Gestalt. Sie war groß, größer als jeder Mensch, und ihr Körper schien aus Licht und Schatten zugleich zu bestehen. Ihr Gesicht war verborgen hinter einer Maske – oder vielleicht war die Maske ihr Gesicht. Es zeigte keine Züge, nur eine glatte, weiße Oberfläche, die das Licht in seltsamen Winkeln brach.
„Wer bist du?“, presste Frank hervor.
Die Gestalt neigte den Kopf, eine Bewegung, die fast neugierig wirkte. „Ich lese zwischen den Zeilen. Ich warte unter der Oberfläche.“ Mit einer Pause fuhr er fort. „Ich bin der Hüter.“
Ein Déjà-vu traf Frank wie ein Schlag. Diese Stimme. Dieser Ton. Hatte er sie schon einmal gehört? Auf dem Fahrrad, vor Wochen, ein Schatten auf der Straße...? Die Erinnerung verschwamm, glitt weg wie Wasser durch die Finger.
„Hüter wovon?“
„Der Wahrheit.“ Die Stimme war mehrfach, als würden viele gleichzeitig sprechen. „Oder der Lüge. Je nachdem, was du wählst.“
Frank versuchte, einen Schritt zurückzutreten, aber seine Füße bewegten sich nicht. „Wo sind Sam und Tim?“
„Sie durchlaufen ihre eigenen Prüfungen mit mir. Wie du.“
„All diese Mühen, nur um mit uns zu reden?“
Die Gestalt hob eine Hand – oder etwas, das eine Hand sein könnte. „Vandora ist ein Ort der Masken, Frank. Jeder trägt eine. Auch du.“ Wieder eine Pause. „Die Frage ist: Was liegt darunter?“
Die Spiegel um Frank herum begannen zu flackern, zu pulsieren. Die Reflexionen bewegten sich jetzt, unabhängig von ihm. Er sah sich selbst in der Puppenfabrik, Victoria Slades Klinge an seiner Kehle. Er sah sich in den Hollows, als Kind, wie er zusah, wie sein Vater zu Boden ging. Er sah sich mit Sam und Tim, Blut an den Händen, die Gesichter von Männern, die sie getötet hatten.
„Hör auf damit“, zischte Frank.
„Du hast getötet“, sagte der Hüter. „Für die Stadt. Für die Kinder. Für die Gerechtigkeit. Aber war es Gerechtigkeit? Oder war es Rache?“
„Es war notwendig.“
Ein Laut, halb Lachen, halb Grollen, hallte durch den Raum. Er klang, als würde Eis unter unermesslichem Druck bersten.
„Notwendig“, wiederholte der Hüter, gedehnt, schmeckend. „Das sagen sie alle. Helden. Richter. Henker.“
Er trat näher, und sein Schatten verschlang das Licht.
„Ihr werdet von den Leuten die Unnecessary Three genannt.“
Ein Zucken wie ein Lächeln ging über sein formloses Gesicht.
„Wie köstlich widersprüchlich. So unnötig… und doch so schmerzhaft notwendig. Die Stadt lebt, weil ihr tötet. Und sie stirbt, weil ihr existiert.“
Frank ballte die Fäuste. „Was willst du von mir?“
Der Hüter trat näher, und mit jedem Schritt wurde die Luft kälter. „Ich will sehen, ob du echt bist. Ob unter all den Masken, all den Lügen, noch etwas Wahres existiert. Oder ob du nur eine weitere Reflexion bist.“
„Ich bin echt.“
„Beweise es.“
Die Spiegel explodierten.
Frank schrie auf, hob die Arme, um sich zu schützen – aber die Scherben berührten ihn nicht. Stattdessen verwandelten sie sich in der Luft, wurden zu Szenen, zu Momenten, zu Entscheidungen.
Eine Scherbe zeigte das Gesicht eines Mannes, den Frank vor Jahren getötet hatte. Ein Drogendealer, der Kinder missbraucht hatte. Franks Fäuste hatten ihn nicht aufgehalten – erst der Sturz vom Dach.
„War das Gerechtigkeit?“, fragte der Hüter.
Eine andere Scherbe zeigte Sam, wie er in der Puppenfabrik auf Officer Daniels‘ Leiche starrte. Der Mann war für sie gestorben. Weil sie es zugelassen hatten.
„War das notwendig?“
Eine dritte Scherbe zeigte Tim, allein in seinem Labor, das Gesicht in den Händen vergraben, weinend.
„Was kostet es, ein Held zu sein?“
Frank sank auf die Knie. Die Bilder, die Stimmen, die Wahrheit – es war zu viel. „Ich... ich weiß es nicht.“
„Nein“, sagte der Hüter sanft. „Das tust du nicht. Aber du wirst es lernen. Ihr alle werdet es lernen.“
Die Scherben begannen zu kreisen, schneller und schneller, bis sie nur noch ein goldener Wirbel waren. Frank spürte, wie er hineingezogen wurde, wie die Welt um ihn herum zerriss.
Und dann – Stille.
◊ ◊ ◊
Frank erwachte auf dem Boden des Lagerhauses. Der silberne Nebel war verschwunden. Die Spielzeugbären lagen aufgebrochen und leer auf den Stühlen.
Sam und Tim kauerten neben ihm. Keuchend. Ihre Augen blickten einfach ins Leere.
„Was...?“, begann Sam.
„Ich weiß nicht“, unterbrach Frank. Seine Stimme zitterte. „Aber es war real.“
Tim starrte auf seine Hände. „Ich habe... Dinge gesehen. Erinnerungen. Aber sie waren... anders. Verzerrt.“
„Der Hüter“, flüsterte Frank.
„Was?“
„Es nannte sich der Hüter. Und es sagte... es prüft uns.“
Sam stand auf, seine Knie knackten. „Prüft uns? Wofür?“
Frank schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber ich glaube... ich glaube, das ist erst der Anfang.“
Sie sahen sich an. In ihren Augen die gleiche Erkenntnis: Die Stadt hatte sie nicht losgelassen. Sie würde es nie tun.
Und etwas Neues war erwacht. Größer als alles, was sie kannten. Der Hüter. Die Bären.
Die Jagd hatte gerade erst begonnen aber sie würden erst später begreifen, dass der Nebel ihnen mehr gezeigt hatte als Visionen.
Er hatte einen Übergang geschaffen — zurück zu dem Moment, an dem alles kippen musste.
═══ VIER WOCHEN ZUVOR ═══
Der Slade Tower brannte.
Flammen fraßen sich durch die oberen Stockwerke und verschlangen Möbel, Akten, Geheimnisse. Rauch stieg in dicken Schwänzen auf, ein schwarzer Finger, der den Himmel anklagte.
Victoria Slade stand am Waldrand, fünf Kilometer östlich der Stadt. Ihr Kleid hing zerrissen, Ruß und Blut klebten daran wie Ausweise einer verlorenen Würde. Die linke Schulter war aufgerissen – ein Abschiedsgeschenk von The Teeth: oberflächlich, aber schneidend. Sie hatte es knapp aus dem Inferno geschafft, weil es nie ihr Stil gewesen war, ohne mehrere Fluchtpläne auszukommen.
Sie war nicht allein.
Drei Gestalten lösten sich aus den Schatten des Waldes und näherten sich synchron, fast rituell. Als sie bei ihr ankamen, sanken sie nieder. Papa Bär senkte den massigen Kopf, Mama Bär legte die Hände flach auf den Boden, Baby Bär grinste – ein gezwungenes, angespanntes Grinsen.
„Prinzessin“, brummte Papa Bär, seine Stimme tief wie ein fernes Gewitter. „Wir sind zu spät. Wir haben versagt.“
Victoria sagte nichts. Sie stand da wie eine Statue aus Blut und Geduld, vor dem fernen Flackern eines brennenden Turms. In ihren Augen kein Flehen, nur Kälte.
„Der Spiegel“, sprach sie schließlich. Jedes Wort schnitt. „Wo ist er?“
„Die Feen“, antwortete Mama Bär. „Lilith und ihre Schwestern. Sie stürmten das Gebäude, drangen bis in den Keller. Sie nahmen ihn, während ihr im Puppenwerk kämpftet.“
Victoria atmete tief ein. Der Schmerz in ihrer Schulter pochte, doch sie schenkte ihm keinen Blick. „Dann holt ihn zurück.“
Die drei Bären hoben die Köpfe. Papa Bär wollte sprechen, zögerte. „Prinzessin, die Feen sind…“
„Ein Relikt der Vergangenheit.“ Victoria trat vor, trotz der Wunde aufrecht wie ein König, der sich seine Krone aus Asche baut. Ihre Autorität war ein kalter Stahlgürtel; die Bären erstarrten. „Der Spiegel ist mehr als Macht. Er ist Schwelle und Schlüssel. Ohne ihn bin ich unvollständig. Mit ihm will ich Vandora neu schaffen.“
„Und die Unnecessary Three?“, fragte Baby Bär. Das Grinsen wurde breiter.
Victoria lächelte, und das Lächeln war ein Messer. „Blinde Vögel, die Körner auf dem Boden picken.“ Ihre Stimme wurde langsam, süß wie Gift. „Der Informant wird sie gegeneinander ausspielen. Wenn ich fertig bin, bleiben von ihnen nur Asche und Legenden.“
Sie wandte sich, blickte ein letztes Mal auf die verletzten Lichter Vandoras – flackernde Punkte in einer schimmernden Nacht – und sagte leise: „Ihr wollt Absolution? Meine Gnade? Dann holt mir den Spiegel. Findet Lilith. Nehmt, was mir gehört. Nur so werdet ihr erlöst.“
Dann trat sie zurück in den Wald, löste sich zwischen Bäumen und Nebel. Ihre Stimme blieb zurück, ein Versprechen und eine Drohung zugleich: „Ich besuche einen alten Freund und baue hier meinen Palast neu. Versagt nicht — sonst jage ich euch selbst.“
Die drei blieben kniend zurück, eingeschworen. Als der Morgen kam, waren sie verschwunden.
2
Echos einer Warnung
Die Stadt atmete wie ein Junkie: flach, nervös, honigsüß und ausgebrannt. Ein Geruch, der warnte, bevor Sirenen es konnten.
Die Three kannten diesen Atemzug. Sie trugen ihn in ihren Narben, aus den Nächten, die sie längst nicht mehr auseinanderhalten konnten.
Sie hatten die Spur der Kinder gefunden. Die Angst. Das Verschwinden.
Aber etwas stand zwischen Vergangenheit und dem, was zuschlagen würde.
Das hier war kein Einsatz. Es war eine Prüfung.
Ein altes Rädchen, das wieder anlief — und keiner wusste, wer es angestoßen hatte.
Die Bären waren die Einladung.
Der Entscheid lag bei ihnen.
◊ ◊ ◊
Frank saß auf einer umgestürzten Palette vor dem Lagerhaus, den Kopf in den Händen vergraben. Sein Geruchssinn war durcheinander – überlagert von dem silbernen Gift, das sie eingeatmet hatten, und von etwas anderem. Etwas, das keine physische Substanz hatte.
Erinnerung.
Sam lehnte an der Wand des Gebäudes, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Knöchel waren aufgeschürft, blutig. Er hatte gegen die Visionen gekämpft, als wären sie physische Gegner. Das Blut war echt. Die Gegner nicht. Vielleicht.
Tim ging auf und ab, sein Gerät immer noch in der Hand, aber der Bildschirm war dunkel. Er hatte aufgehört, die Werte abzulesen. Was sollte er auch messen? Wie quantifizierte man das Unmögliche?
„Wir sollten gehen“, sagte Tim schließlich. Seine Stimme klang hohl. „Die Polizei wird bald hier sein. Oder Schlimmeres.“
Frank hob den Kopf. „Was war das?“
„Ich weiß es nicht.“
„Lüg mich nicht an, Guy.“ Franks Augen waren rot gerändert, aber sein Blick war scharf. „Ich kann es an dir riechen. Meine Nase, du weißt.“
Tim blieb stehen. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Dann ließ er sich neben Frank auf die Palette fallen. Schwer.
„Ich habe ihn schon einmal gesehen“, sagte er leise.
Sam richtete sich auf. „Was?“
„Den Hüter. Oder... jemanden wie ihn. Vor drei Wochen. In einer Gasse, auf dem Weg zu einem unserer Treffen.“ Tim rieb sich die Augen. „Er stand einfach da. Sagte nichts. Aber ich... ich spürte etwas. Einen Druck. Und dann war er weg.“
Frank starrte ihn an. Die Erinnerung, die er im Spiegelraum gespürt hatte, kam zurück – nicht verschwommen diesmal, sondern glasklar.
