Thomas - Leben auf die harte Tour - Damaris Kofmehl - E-Book

Thomas - Leben auf die harte Tour E-Book

Damaris Kofmehl

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Beschreibung

Bereits als Zehnjähriger will sich Thomas das Leben nehmen. Sein Vater schlägt ihn jeden Abend grün und blau, seine Mutter behandelt ihn abweisend. Er prügelt sich durch die Schulzeit, wird Neonazi und steigt mit siebzehn in die Rockerszene ein. Mit brutaler Rücksichtslosigkeit erkämpft er sich den Platz als Anführer eines Motorradclubs. Als er in einer Schlägerei beinahe sein Leben verliert und alles zu spät scheint, hat er eine Begegnung mit Gott, die alles verändert ...

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Damaris Kofmehl

THOMAS –LEBEN AUFDIE HARTE TOUR

Eine wahre Lebensgeschichte

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7478-7 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6011-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2020 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002

und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/

Holzgerlingen.

Kontakt zur Autorin: [email protected], www.damariskofmehl.ch

Lektorat: Christina Bachmann

Umschlagsgestaltung und Titelillustration: Erik Pabst, www.erikpabst.de

Autorenfoto: Patrick Horlacher

Bilder im Innenteil: © Privat

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Dieses Buch basiert auf einer wahren Geschichte. Sie wird das Geschehene aus Thomas Baurs sowie Damaris Kofmehls Perspektive wiedergeben und muss nicht unbedingt die Ansichten oder die Empfindungen von Dritten widerspiegeln. Einige Namen, die Orte sowie weitere Details wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und anderen Gründen geändert.

INHALT

Über die Autorin

Ein Gedanke für den Weg

Die Stinkbombe

Das Fahrrad

Der Engel

Sein bester Freund

Die Rocker

Ausgerastet

Kriegserklärung

Leben auf die harte Tour

Schnitzel und Trockenblümchen

Der Ausstieg

Das Ultimatum

Texas

Im Himmel

Wie es weiterging

Möchtest du Jesus in dein Herz einladen?

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

ÜBER DIE AUTORIN

Damaris Kofmehl ist gebürtige Schweizerin und schrieb bisher 41 Bücher, die auf wahren Begebenheiten beruhen. Ihre Buchrecherchen führten sie unter anderem nach Südamerika, Pakistan, Australien und in die USA. Sie lebt in der Schweiz.www.damariskofmehl.ch

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

EIN GEDANKE FÜR DEN WEG

Wir reisten nach Süddeutschland, um einen echten Rocker zu treffen. Thomas, ein harter Hund, der alle das Fürchten lehrte. Als wir uns dann das erste Mal die Hände schüttelten, war ich fast ein bisschen enttäuscht. Vor mir stand zwar ein großer, bärtiger Mann. Doch Thomas strahlt heute eine väterliche Herzlichkeit aus. Da war nichts Hartes mehr an ihm. Seine Erscheinung, ja sein ganzes Wesen passte nicht zu dem, was er uns in den folgenden Stunden erzählte.

Wir hörten die Geschichte eines Kindes, das von seinen Eltern nie die Liebe erfuhr, die ein Kind so dringend braucht. Eines Jungen, dessen Herz durch die vielen Misshandlungen verwundet und im Laufe der Jahre hart und dunkel geworden war. Gefesselt lauschten wir der Lebensgeschichte, wie sich Thomas vom rebellierenden Schüler zum Mitglied einer Motorrad-Gang entwickelte. Er wurde ein Mann, der zugedröhnt mit Drogen aller Art seine Gegner krankenhausreif schlagen konnte, ohne mit der Wimper zu zucken.

Doch dann kam Thomas in seinen Erzählungen zu dem Moment, an dem sich in seinem Leben alles veränderte. Er erzählte uns von dieser lebensverändernden Kraft, die Heilung ganz tief in sein Herz brachte. Eine Kraft, die ihn zu einem neuen Menschen machte – eben zu dem Thomas, der nun vor uns saß.

Obwohl wahrscheinlich die wenigsten von uns dieselbe Vergangenheit wie Thomas haben, steht sein Leben doch symbolisch für uns alle. Es zeigt, dass selbst in der dunkelsten Nacht Hoffnung am Horizont ist. Für jeden von uns. Es gibt in diesem Universum eine Kraft, die selbst die härtesten Herzen heilen kann. Von dieser Kraft erzählt dieses Buch.

Gabriel HäslerLife on Stage Redner, September 2019

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

DIE STINKBOMBE

Schon als der Mathelehrer zur Tür hereinkam, konnte sich Thomas das Lachen nicht verkneifen. Gleich war es so weit. Gleich würde der Lehrer zur Wandtafel gehen und die erste Rechenaufgabe an die Tafel schreiben. Und dann würde er die Wandtafel hochschieben und die Glasampulle, die Thomas in der Pause sorgfältig dahinter platziert hatte, würde zerbersten. Oh, das würde eine Gaudi!

»Thomas, was grinst du so blöd?«, fragte ihn der Lehrer, die Kreide in der Hand.

»Ich grinse doch gar nicht, Herr Möller«, grinste Thomas, während er die Wandtafel nicht aus den Augen ließ. »Ich habe bloß den Krampf im Gesicht.«

»Soso, den Krampf«, meinte Herr Möller misstrauisch. Er schien zu ahnen, dass der Neunjährige wieder mal etwas im Schilde führte. Dieses Grinsen war höchst verdächtig, vor allem bei einem Schüler, der bekannt war für seine Streiche. Erst vor wenigen Wochen hatte er den Tafelschwamm mit Öl eingeschmiert, und als Herr Möller die Tafel putzen wollte, war die ganze Wandtafel fettig gewesen und man hatte das Öl kaum mehr von der Tafel runterbekommen. Natürlich hatte Herr Möller Thomas verdächtigt. Und natürlich hatte Thomas bis zuletzt seine Unschuld beteuert.

Auch außerhalb der Schule heckte Thomas einen Streich nach dem anderen aus. An verrückten Ideen mangelte es ihm nicht. Einmal hatte er blaue Tinte ins Weihwasser der katholischen Kirche gekippt. Da sich alle Gottesdienstbesucher beim Betreten der Kirche mit Weihwasser bekreuzigten, hatten danach alle ein blaues Kreuz auf der Stirn. Thomas hatte sich schier kaputtgelacht. Dummerweise war er erwischt worden, weil er sich als Einziger nicht bekreuzigt und somit als Einziger ohne blaues Kreuz auf der Stirn in der Kirche gesessen hatte. Tja, dumm gelaufen. Danach war er zum Dorfgespräch geworden und seither wusste jeder, einfach jeder, wer der »Bauerle« war.

»Habt ihr gehört? Der Bauerle hat Tinte ins Weihwasser getan«, erzählten sich die Leute. Alle fanden es irgendwie cool. Nur die Oma, die erzkatholische, die rastete schier aus. Und dann rastete Thomas’ Vater wegen der Oma aus und dann gab’s zu Hause wieder mal was hinter die Löffel.

Ein Junge, der Thomas bei seinen Lausbubenstreichen oft unterstützte, war der Nachbarsjunge Dirk. Der Klassiker war es, bei den Nachbarn zu klingeln und dann wegzurennen. In der ersten Mainacht, in der es Tradition war, dass Jugendliche Dinge anstellten, die sonst nicht erlaubt waren, gingen Thomas und Dirk von Haus zu Haus und klebten die Schlösser der Eingangstüren mit Sekundenkleber zu. Dann versteckten sie sich hinter der Hausecke und hielten sich den Bauch vor Lachen, wenn die Leute nach Hause kamen und den Schlüssel nicht mehr ins Schloss bekamen. Einmal sammelten sie Hundekacke, legten sie vor die Haustüren und deckten sie mit Zeitungspapier zu. Sie zündeten das Papier an, klingelten an der Tür und rannten davon. Wenn die Leute dann die Tür öffneten und sahen, dass da etwas auf dem Boden brannte, trampelten sie instinktiv in den Socken darauf herum, um das Feuer zu löschen, und traten dabei voll in die Hundekacke.

Ja, an Ideen mangelte es Thomas nicht und sein neuster Streich war noch viel besser als die Sache mit dem öligen Tafelschwamm. Unruhig rutschte Thomas auf seinem Stuhl hin und her. Er konnte es kaum erwarten, bis es losging. Sein Freund Paul, der am Pult neben ihm saß, sah ihn durch seine dicken Brillengläser skeptisch von der Seite an.

»Thomas? Is’ irgendwas?«, raunte er ihm zu.

»Nö, alles bestens«, flüsterte Thomas zurück. Er hatte Paul absichtlich nicht eingeweiht. Paul war viel zu brav für so was. Ihre Freundschaft basierte im Grunde nur auf der Tatsache, dass sie beide Außenseiter waren. Sie waren ein seltsames Duo, das überhaupt nicht zusammenpasste. Thomas war der Schläger, Paul der Streber. Thomas war die Niete, Paul das Mathegenie. Da Thomas in Mathe noch schlechter war als in allen anderen Fächern, schrieb er bei den Prüfungen immer bei Paul ab. Bei der letzten Prüfung hatte er es allerdings gründlich vermasselt. Er hatte die schlaue Idee gehabt, ein paar Zahlen zu verändern, damit es nicht auffiel, dass er alles von Paul kopiert hatte. Als Herr Möller den Mathetest zurückgab, knallte er ihm den Test mit einer riesigen roten Sechs1 am oberen Rand auf sein Pult und meinte nur:

»Sogar zum Abschreiben bist du zu blöd.«

»Aber die Resultate sind doch alle richtig!«, protestierte Thomas.

»Die Resultate schon«, sagte der Lehrer. »Aber die Lösungswege nicht.« Thomas seufzte frustriert. Dass man die richtigen Zahlen brauchte, um auf die richtige Lösung zu kommen, hatte er nicht bedacht.

Jetzt!

Thomas reckte den Hals. Herr Möller hatte soeben das untere Ende der Wandtafel angefasst. Die Glasampulle war kurz davor zu zerspringen. Auf der Verpackung hatte zwar ausdrücklich gestanden:

Nicht geeignet für kleine geschlossene Räume, es sei denn, man wollte ohnehin gehen oder jemand Aufdringliches loswerden.

Perfekt!, hatte Thomas gedacht. Genau das, was ich brauche.

Und dann war es endlich so weit: Herr Möller schob die Wandtafel hoch. Es klirrte und im selben Moment breiteten sich ein gelber Rauch und ein fürchterlicher Gestank nach faulen Eiern und Erbrochenem im Schulzimmer aus. Die Klasse geriet in helle Aufregung.

»Eine Stinkbombe!«

»Igitt!«

»Macht die Fenster auf!«

»Boa, das hält ja keiner aus!«

Alle hielten sich die Hände vors Gesicht. Zwei Schüler rissen die Fenster auf. Kalte Winterluft strömte in das vernebelte Klassenzimmer. Der Lehrer entfernte sich von der Wandtafel und fixierte Thomas mit ahnungsvoller Miene.

»THOMAS!«

»Was denn?«

»Warst du das?!«

»Ich?! Natürlich nicht, Herr Möller!«

»Ich weiß genau, dass du es warst!«, quiekte Herr Möller mit tränenden Augen und wedelte wie wahnsinnig mit den Händen in der Luft herum. »Das wird Konse…« Sein Kopf lief rot an. Der Gestank war kaum noch auszuhalten.

»Raus hier! Alle raus hier!«, rief der Lehrer. Das brauchte er nicht zweimal zu sagen. Die Kinder stürmten hustend und kreischend aus dem gelb vernebelten Zimmer. Draußen im Flur scharte Herr Möller die Klasse um sich und wandte sich erneut an Thomas, der bis über beide Ohren grinste vor Vergnügen.

»Findest du das etwa lustig?!«

»Ich kann doch nichts dafür, wenn Ihre Fürze so stinken, Herr Möller!«

»Das reicht!«, rief der Lehrer, hochrot vor Empörung, und packte den Jungen kurzerhand am Arm. »Wir beide gehen jetzt zum Direktor!«

»Aber ich war das nicht!«

»Langsam hab ich die Nase gestrichen voll von dir!«

»Lassen Sie mich los!«, protestierte Thomas und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Lehrer. »Das ist Körperverletzung! Das können Sie nicht machen!«

»Und ob ich das kann! Schluss mit den Späßchen!«

»Aber ich bin’s nicht gewesen!«

»Also, ich habe genau gesehen, wie der Bauerle in der Pause etwas hinter der Wandtafel versteckt hat, Herr Möller!«, petzte da der artige Patrick ungefragt aus der Schülerschar.

»Aha!«, verkündete der Lehrer triumphierend. »Da haben wir’s ja. Danke, Patrick, für deine Ehrlichkeit.«

»Gern geschehen, Herr Möller!«

Das Grinsen auf Thomas’ Gesicht erstarb augenblicklich. Er warf Patrick einen vernichtenden Blick zu.

»Du elende Petze«, knurrte er, die Augen zu zwei gefährlich schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Und dann tickte er aus. Wutschnaubend riss er sich aus dem Griff des Lehrers und stürzte sich mit lautem Gebrüll auf seinen Klassenkameraden. Die zwei Jungen krachten auf den Boden. Die anderen Kinder sprangen erschrocken zur Seite.

»Auseinander!«, rief der Lehrer, was allerdings nicht sehr viel Wirkung zeigte.

Thomas hatte sich in einen wahren Teufel verwandelt. Unbarmherzig drosch er auf Patrick ein. Patrick lag wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken und strampelte mit den Armen und Beinen, um sich Thomas vom Leib zu halten. Er schrie so laut, dass die Türen der anderen Klassenzimmer aufflogen, weil die Lehrer sehen wollten, was da draußen los war. Im Nu drängelten sich die Kinder der anderen Klassen an ihren Lehrern vorbei auf den Korridor hinaus und scharten sich um die sich raufenden Jungs. Das absolute Chaos brach aus. Der gelbe Rauch von der Stinkbombe bahnte sich seinen Weg nach draußen und alle begannen zu husten und nach Luft zu ringen. Keiner kam auf die Idee, die Tür zu schließen, um den Gestank einzudämmen. Alle rannten wie verstört durcheinander. Ein paar Jungs feuerten den Kampf an. Und die Lehrer versuchten verzweifelt, ihre Schüler irgendwie dazu zu motivieren, wieder in die Klassenzimmer zurückzukehren, um mit dem Unterricht fortzufahren, was genauso misslang wie die kläglichen Versuche von Herrn Möller, die Streithälse auseinanderzureißen. Sein sonst immer penibel gekämmtes silbergraues Haar war zerzaust, sein Gesicht puterrot vor Überforderung. Und Thomas fluchte, spuckte und traktierte Patrick weiter mit seinen Fäusten.

»Spielverderber! Blödmann! Kakerlake, elende!«

Seine Augen blitzten vor Zorn. Er boxte Patrick in den Magen und ins Gesicht. Patrick hielt sich schützend die Hände vor den Kopf, doch Thomas war ein geübter Schläger und ließ seine ganze Aggression an ihm aus, bis der Junge schluchzte und wimmerte.

»Hör auf, Thomas! Hör auf!«

Endlich gelang es dem völlig entnervten Herrn Möller, Thomas von Patrick wegzuzerren. Mit beiden Händen musste er den Jungen festhalten. Er war kaum zu bändigen und kickte um sich wie ein tollwütiges Tier.

»Es reicht, Bauerle! Schluss jetzt!«

Thomas knirschte mit den Zähnen. Er hasste es, wenn man ihn Bauerle nannte. Immer, wenn ihn jemand so nannte, war es, um sich über ihn lustig zu machen oder ihn schuldig zu sprechen: »Der Bauerle ist schon wieder zu spät. Der Bauerle hat seine Hausaufgaben nicht gemacht. Der Bauerle hat wieder mal keine Schulhefte dabei. Das ist wieder mal typisch Bauerle!« So hieß es die ganze Zeit.

»Dafür kriegst du einen blauen Brief, Bauerle, das garantiere ich dir!«, sagte der Lehrer und hielt Thomas eisern am Arm fest, während er ihn zwischen den Schülern hindurchschleppte. Paul stand etwas verstört und steif an der Wand und blickte Thomas durch seine dicken Brillengläser verständnislos hinterher.

Es endete, wie es immer endete: Thomas wurde wieder mal zum Nachsitzen verdonnert, musste hundertmal »Ich soll keine Stinkbomben im Klassenzimmer platzen lassen« an die Wandtafel schreiben und bekam darüber hinaus die Androhung eines weiteren blauen Beschwerdebriefes an seine Eltern. Es war der fünfundzwanzigste in diesem Schuljahr. Thomas zuckte mit keiner Wimper, als der Schuldirektor es ihm mitteilte. Ihm doch egal, wie viele blaue Briefe die Schule zu ihm nach Hause schickte! Hauptsache, er hatte seinen Spaß gehabt. Und die Stinkbombe war ein absoluter Volltreffer gewesen. Sie konnten sogar ganze drei Tage lang das Klassenzimmer nicht mehr betreten wegen des Gestanks. Außerdem hatte er wieder mal klargestellt, was dem blühte, der sich mit ihm anlegte. Beim nächsten Streich würde ihn keiner mehr so schnell verpfeifen.

Der blaue Brief kam vier Tage später mit der Post. Thomas hatte die Sache längst vergessen. Doch seine Mutter erwartete ihn unheilverkündend im Flur, den blauen Brief in der einen, den Teppichklopfer in der anderen Hand. Instinktiv zuckte Thomas zusammen.

»Was hast du diesmal angestellt? Hm?«, fauchte die Mutter.

»Nichts«, log Thomas.

»Hast du der Deutschlehrerin wieder ins Gesicht gespuckt?«

»Nein, habe ich nicht.«

»Eins sag ich dir: Wenn sie dich von der Schule schmeißen, stellst du deine Füße hier nicht mehr lange untern Tisch! Glaubst du, dein Vater und ich sparen uns alles vom Mund ab, während du dich in der Schule rumprügelst und die Lehrer verärgerst? Fünfundzwanzig blaue Briefe in einem Jahr! Ist das zu fassen?!«

»Ich habe nichts getan, Mutter!«

»Zieh die Schuhe und deine Jacke aus und komm gefälligst her!«

Am liebsten hätte sich Thomas gleich wieder nach draußen verkrümelt. Aber dann hätte er das Unvermeidbare nur hinausgezögert. Mit geduckten Schultern schlüpfte er aus seinen Winterstiefeln und der Winterjacke, die beide voller Schnee waren, da er auf dem Nachhauseweg Paul – gegen dessen ausdrücklichen Willen – in einen Schneemann verwandelt hatte. Er stellte die Stiefel zu den anderen Schuhen, die alle mit militärischer Präzision und in exakt rechtem Winkel an der Wand aufgereiht waren, ein Detail, auf das sein Vater großen Wert legte. Kaum hatte Thomas die Winterjacke an den Garderobenhaken gehängt, packte ihn seine Mutter am Arm und der erste Hieb mit dem Teppichklopfer sauste auf seinen Rücken nieder. Es fühlte sich an wie ein Peitschenhieb und brannte durch die Kleider wie Feuer auf der Haut. Thomas schrie auf.

»Hör auf, Mutter!«

Doch sie hatte gerade erst angefangen. »Nichts als Ärger hat man mit dir! Nichts als Ärger!«, schimpfte sie, während sie den Jungen durch den Flur bis zu seinem Zimmer prügelte, wo sie ihn grob hineinstieß. »Das erzähle ich deinem Vater, wenn er nach Hause kommt!«

Sie zog die Zimmertür hinter ihm zu. »Abendessen ist gestrichen! Denk über deine Taten nach!«

»Du kannst mich mal!«, schnaubte Thomas hinter ihr her. »Ihr könnt mich alle mal! Ich hasse dich! Ich hasse dich!« Wütend trat er gegen die Zimmertür. Tränen des Zorns rollten ihm über die Wange. Sein ganzer Körper schmerzte von den Schlägen mit dem Teppichklopfer. Doch er wusste, das war nichts im Vergleich zu dem, was ihm blühte, wenn sein Vater aus der Kneipe kam. Es war kein Wunder, dass die älteren Geschwister alle längst ausgezogen waren. Sie hatten die Gewaltausbrüche des Vaters nicht mehr länger ertragen. Sein Vater kannte keine Gnade und wenn er sich die Birne vollgedröhnt hatte – also eigentlich jeden Abend –, war er unberechenbar.

Einmal hatte sein ältester Bruder Karl sich mit seiner Freundin im Zimmer verschanzt, um ungestört zu sein. Als der Vater betrunken nach Hause gekommen war und hörte, dass Karl mit einem Mädchen auf dem Zimmer rummachte, war er fuchsteufelswild geworden. Ohne auch nur einmal zu überlegen, hatte er eine Axt aus dem Keller geholt und damit kurzerhand Karls Zimmertür eingeschlagen. Dann hatte er das halb nackte Mädchen an den Haaren aus Karls Bett gezerrt und es auf die Straße gestoßen. Ihre Klamotten hatte er ihr aus dem Fenster hinterhergeworfen. So einer war Thomas’ Vater.

Thomas graute jetzt schon vor der Strafe, die wegen des blauen Briefs auf ihn wartete. Hätte er doch mit der Stinkbombe bis zum Frühjahr gewartet! Dann wäre es draußen warm gewesen und er hätte klammheimlich aus dem Dachfenster klettern und vor seinem Vater in die Weinberge oder in den Wald flüchten können. Das hatte er schon oft gemacht und war jeweils erst wieder nach Hause zurückgekehrt, wenn die Angst vor der Dunkelheit ihn dazu trieb. Aber jetzt war es Winter und draußen lag eine zehn Zentimeter dicke Schneeschicht. Er hatte keine Lust, sich in der Kälte die Füße abzufrieren. Doch die Angst vor Vaters Jähzorn, wenn er den blauen Brief sehen würde, schnürte ihm schon jetzt die Luft ab. Seine einzige Hoffnung war, dass sein Vater zu besoffen sein würde, um ihm noch eine Abreibung zu verpassen.

Thomas wischte sich mit den Händen über sein tränenverschmiertes Gesicht. Dann verriegelte er entschlossen die Tür seines Kinderzimmers und humpelte hinüber zu seinem Bett. Er zog sich bis auf die Unterhose aus und kroch unter seine Bettdecke. Dass es noch viel zu früh war, um schlafen zu gehen, war ihm herzlich egal. Das Abendessen war eh gestrichen und außerdem war es bitterkalt in seinem Zimmer, weil sein Vater darauf bestand, Heizkosten zu sparen. Dabei war Thomas’ Zimmer von allen das kälteste. Manchmal herrschten darin sogar Minusgrade. Es war früher mal eine alte Küche gewesen. Die hässlichen grauen Küchenkacheln waren noch immer an der Wand, direkt hinter seinem Bett. Es war ein liebloses Kinderzimmer, ohne Farbe, ohne Wärme, ein Zimmer, das genauso erbärmlich und trostlos war wie Thomas’ Leben selbst.

Der Neunjährige kuschelte sich in seine Decke und schloss die Augen. Er wünschte sich, er würde einschlafen und nie wieder aufwachen. Vielleicht hatte er ja wenigstens einmal im Leben Glück und der Tod würde ihn einfach holen.

Doch dieses Glück hatte er nicht. Mitten in der Nacht wurde er von jener Stimme aus dem Schlaf gerissen, die ihn schon so manches Mal das Fürchten gelehrt hatte.

»THOMAS!!!«

Augenblicklich saß Thomas kerzengerade in seinem Bett.

Er hat den blauen Brief gelesen!, schoss es ihm durch den Kopf. Ich bin geliefert.

»Thomas! Komm sofort her!«, zeterte sein Vater. Er klang stockbesoffen. Im Hintergrund hörte Thomas, wie seine Mutter Stress machte wegen des Briefes. Sie hetzte den Vater regelrecht gegen ihn auf, obwohl sie genau wusste, wie der Vater drauf war, wenn er getrunken hatte. Thomas krallte seine Finger in die Bettdecke und rührte sich nicht vom Fleck. Er hörte, wie sein Vater sich seinem Zimmer näherte, und starrte wie gebannt auf die Zimmertür. Sein Herz raste vor Angst. Sein Vater rüttelte an der Türklinke und als er merkte, dass Thomas abgeschlossen hatte, polterte er mit der Faust gegen die Tür.

»Thomas! Öffne die Tür!«

»Nein, tu ich nicht!«, rief Thomas und klammerte sich an seine Decke wie an einen Rettungsanker. »Lass mich in Ruhe!«

»Mach sofort die Tür auf, Bengel!«, brüllte sein Vater und rüttelte so heftig an der Türklinke, dass die ganze Tür vibrierte. »Zwing mich nicht, sie einzuschlagen!«

Thomas lief es kalt den Rücken hinunter. Er dachte an die Axt, mit der sein Vater einst die Zimmertür seines Bruders kurz und klein geschlagen hatte, um sich Zutritt zu verschaffen.

»Thomas! Ich sage es nicht noch einmal!«

»Ich lasse dich nicht rein!«, rief Thomas.

»Du öffnest jetzt sofort diese verfluchte Tür! Und zwar auf der Stelle! Ich zähle bis drei! Eins … zwei … drei!«

Ein dumpfes Poltern erklang, als sich der Vater mit seinem vollen Körpergewicht von außen gegen die Tür warf. Es war ihm offenbar bitterernst mit seiner Drohung. Er wollte tatsächlich die Tür einschlagen, um seinen neunjährigen Sohn mitten in der Nacht zu verprügeln!

Ich muss weg!, war alles, was Thomas denken konnte.

Jäh warf er die Bettdecke zurück und ergriff Hals über Kopf die Flucht. Schnee hin oder her, wenn sein Vater zur Tür hereinkam, durfte er auf keinen Fall mehr in seinem Zimmer sein oder es wäre um ihn geschehen. Barfuß und nur mit seiner Unterhose bekleidet, stürmte Thomas zum Dachfenster, riss es auf und kletterte aufs Dach. Ein eisiger Wind blies ihm Schneeflocken ins Gesicht. Hinter ihm krachte es, als das Türschloss aufbarst und sein Vater zur Tür hereinstürzte.

»Du entkommst mir nicht, Thomas!«, brüllte er und kam schwankend in Richtung Fenster. »Komm her, du mieses Stück Dreck!«

»Ich denke nicht daran!«

»Steig runter!«

»Nein!«

Thomas drehte sich um und rutschte über das schneebedeckte Dach zur Dachrinne. Er hangelte sich ein Stück daran herunter. Dann sprang er und landete barfuß im knöcheltiefen Schnee. Die Kälte bohrte sich wie Messer in seine nackten Fußsohlen. Über sich hörte er, wie sein Vater wetterte und brüllte.

»Ich kriege dich, du Lümmel!«

Thomas nahm die Beine in die Hand und rannte, so schnell er konnte, davon. Es dauerte nur Sekunden, bis hinter ihm die Haustür aufsprang und sein Vater die Verfolgung aufnahm.

»Bleib sofort stehen!«, schrie er. Aber Thomas dachte nicht im Traum daran. Er rannte durch die verschneite Gasse, als wäre der Teufel hinter ihm her. Seine Füße fühlten sich an, als würde er über ein Nagelbrett laufen. Er ignorierte den Schmerz und rannte weiter. Nur nicht stehen bleiben! Sein Vater durfte ihn nicht in die Finger bekommen. Die Kälte fraß sich in seinen nackten Körper. Dicke Schneeflocken wirbelten durch die Nacht und tanzten im Licht der Straßenlaternen. Alles sah so friedlich aus, die enge Straße mit den vielen kleinen Häuschen auf beiden Seiten, die Straßenlaternen, der Schnee. Doch der Schein trog. Nichts war friedlich in dieser Winternacht, gar nichts.

»Wenn ich dich kriege, kannst du was erleben, das schwöre ich dir!«

Zähneklappernd und voller Panik hetzte Thomas weiter in der irren Hoffnung, seinem Vater zu entkommen. Aber sein Vater kam unweigerlich näher. Thomas hörte sein schweres Keuchen und das Knarzen seiner Stiefel dicht hinter sich im Schnee und wusste, dass er keine Chance hatte. Wenn jetzt nicht ein Wunder geschah, war er verloren. Und das Wunder geschah: Ganz plötzlich ging irgendwo in einem Haus ein Licht an. Das wütende Geschrei des Vaters hatte offenbar die Nachbarn aufgeweckt. Oder zumindest einen. Aber dieser eine reichte, um Thomas in dieser Nacht den Hals zu retten. Denn wenn es etwas gab, was sein Vater genauso fürchtete wie Thomas seinen Vater, dann war es das Urteil der Nachbarn. Was die Nachbarn dachten, war wichtiger als alles andere. Die Möglichkeit, dass irgendein neugieriges altes Männlein oder Weiblein vom Fenster aus alles beobachtete, änderte schlagartig die Spielregeln. Unverzüglich brach der Vater die Verfolgung ab und verwandelte sich in den mitfühlendsten Menschen, den man sich vorstellen konnte.

»Thomas, so sei doch vernünftig! Komm nach Hause! Dann reden wir über alles«, säuselte er fürsorglich.

Thomas blieb stehen und drehte sich vorsichtig um. Sein Vater war nur wenige Meter von ihm entfernt und streckte ihm sogar die helfende Hand entgegen. Doch Thomas traute ihm nicht. Er kannte ihn. Er wusste, dass es ihm nur darum ging, vor den neugierigen Nachbarn das Gesicht zu wahren.

»Ich komme nicht!«, sagte Thomas entschlossen und trat demonstrativ einen Schritt zurück. Ihm war so kalt, dass er am ganzen Körper zitterte. Er spürte seine Füße nicht mehr. »Lieber erfriere ich!«, rief er. »Du wirst mich ja sowieso nur schlagen, wenn ich mitkomme!«

»Nein, das werde ich nicht«, versprach ihm sein Vater. Er schielte immer wieder zu dem erleuchteten Schlafzimmerfenster, wo mit Sicherheit jemand hinter dem Vorhang stand und alles mit anhörte.

»Wirst du wohl!«, rief Thomas bibbernd und schlang sich die Arme um den nackten Oberkörper. »Ich komme nicht mehr nach Hause! Ich komme nie mehr nach Hause!«

»Ich werde dich nicht verprügeln, ich verspreche es«, versicherte ihm sein Vater erneut. »Jetzt komm nach Hause, Junge, bevor du dir eine Lungenentzündung holst.«

»Ich glaube dir kein Wort!«

»Jetzt komm schon!«