Tief ist der Brunnen der Vergangenheit - Jörg Zink - E-Book

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit E-Book

Jörg Zink

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Beschreibung

Das Verständnis der Bibel erfordert neben zeitgemäßer, verständlicher Sprache auch Wissen zu ihrem Hintergrund: Wer waren die Menschen, von denen die Bibel berichtet? Wie waren die Verhältnisse, unter denen die Erzähltradition der Christen entstand? Jörg Zink erklärt in diesem 1988 erstmals veröffentlichten Buch die Entwicklung der heutigen Gottesvorstellung von ihren vielfältigen Quellen bis zur Ausprägung im christlichen Glauben und verbindet sie mit lebendigen Schilderungen seiner Erlebnisse und Begegnungen im Nahen Osten der 1970er Jahre. – neu bearbeitete E-Book-Ausgabe – 255 Fotos historischer und aktueller Motive – 5 Landkarten zur biblischen Geografie – Zeittafel zum geschichtlichen Hintergrund "Ich war über zehn Jahre immer wieder dort, wo die Menschen gelebt haben, von denen die Bibel spricht, und ich habe, so meine ich, erst auf der Suche nach den Wegen, die jene frühen Menschen gegangen sind, nach den Städten, in denen sie gewohnt, nach den Brunnen, aus denen sie getrunken haben, wirklich verstanden, was uns die Geschichten der Bibel sagen wollen." Jörg Zink

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Edition Jörg Zink

 

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit

 

Eine Reise durch die Ursprungsländer der Bibel

 

Für die elektronische Ausgabe neu bearbeitetmit Christoph Zink

 

 
 

Der Hafen von Sidon im Libanonmit den Ruinen einer Kreuzfahrerburg [1]

 

www.joergzink.de

 
 

 
 

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VORSPANN

 

Inhaltsübersicht

Hinweise für das Lesen mit E-Book-Readern

Die »Edition Jörg Zink«

Vorwort

1. Schau mit mir in den BrunnenDie Urkultur Mesopotamiens

2. Wanderer AbrahamNomadenwege in Syrien

3. Ausbruch in die FreiheitÄgypten und die Wüste Sinai

4. Ein Traum wird WirklichkeitDavid, Salomo und die Phönizier

5. Die Königin von Saba und die WeihrauchstraßeDer Jemen und der Süden Arabiens

6. Tausend Jahre IsraelAssur, Babylon und die Perser

7. Spuren einer KindheitNazareth und Bethlehem

8. Gesegnetes LandJesus in Galiläa

9. Das Mysterium von Tod und LebenJesus in Jerusalem

10. Vom Geist getriebenDie erste Kirche in Syrien

11. Eine mühsame ReiseKleinasien – Griechenland – Rom

12. Schreibe dem Engel der GemeindeDie Orte der Apokalypse des Johannes

Zeittafel

Dieses Buch und sein Autor

Bildnachweis

Impressum

 
 

Hinweise für das Lesen mit E-Book-Readern

 

Das E-Book ist für eine Wiedergabe in mittlerer bis kleiner Schriftgröße optimiert.

Es wird empfohlen, eine linksbündige Wiedergabe einzustellen und bei Wahl größerer Schriften im Querformat zu lesen.

Die Bearbeitenden sind dankbar für Hinweise auf Mängel und Fehler in dieser Ausgabe. Sie erreichen uns unter [email protected].

 

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Die »Edition Jörg Zink«

 

Die Edition versammelt durchgesehene, in enger Abstimmung mit dem Autor entstandene Ausgaben zentraler Bücher und Bilder aus dem Lebenswerk des Pfarrers und Publizisten Jörg Zink.

Ihr Schwerpunkt liegt in der sorgfältigen Anpassung der Buchausgaben an die veränderten Möglichkeiten des elektronischen Lesens. Sie hat das Ziel, bleibend bedeutsame Beiträge des Autors zu Grundfragen des christlichen Glaubens in seinem Sinn zugänglich zu halten und weiter zu verbreiten.

Eine kurze Biographie des Autors und Angaben zu Hintergrund und Entstehung der vorliegenden Ausgabe sind im Abschnitt Dieses Buch und sein Autor zu finden.

Die Schreibung von Eigennamen und Orten der Bibel erlebte im christlichen Schrifttum manches Experiment, um sie zu vereinheitlichen. Die Edition verwendet hier alltagssprachlich übliche Schreibweisen.

 

Christoph Zink

 

Zur Internetseite von Jörg Zink mit weiteren Links:

> www.joergzink.de

 

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Vorwort

 

Europa – Tochter des Ostens

 

Die griechische Sage erzählt von einer jungen Prinzessin mit Namen Europa. Sie war die Tochter des Königs von Tyros, der alten Stadt an der Küste des Libanon. Der König hieß Phönix und galt der Sage nach als Ahnherr der Phönizier.

Als Europa eines Tages mit ihren Freundinnen am Meerufer spielte, erschien ein herrlicher weißer Stier. Das Mädchen begeisterte sich an ihm, und da es ihr an Mut nicht fehlte, schwang sie sich auf seinen Rücken. Aber da stürmte der Stier, in dem sich der Gott Baal verbarg, plötzlich ins Meer und schwamm, Europa auf dem Rücken, durch die Wellen nach Westen an die Küste von Kreta, setzte Europa dort ab und stieg, verwandelt in den Zeus von Kreta, ans Land.

 
 
 

Phönizische PrinzessinDas Elfenbeinköpfchen entstand um 1200 v.‍Chr.In dieser Zeit, so erzählt die Sage, wurde das Mädchen Europa von einem Stier nach Westen entführt [2]

 
 

Bei den alten Völkern des östlichen Mittelmeers stand dieser Ritt auf dem Stier als Symbol für die große Kulturbewegung, die während fast 2000 Jahren von Syrien aus nach Zypern und Kreta drängte, von Ägypten in die mykenische und ionische Inselwelt und von Anatolien über die kleinasiatische Westküste nach Griechenland. Durch das ganze 2.‍Jahrtausend vor Christus und bis tief ins erste war östliche Kultur in die westliche Welt des Mittelmeers eingeströmt: östliche Weisheit und Frömmigkeit, auch östliche Technik, Kunst des Ackerbaus und der Seefahrt. Europa, so wollten die alten Völker in dieser Geschichte sagen, ist eine Tochter des Nahen Ostens.

 

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Elfenbeinskulptur. Foto Mouslimanni, Damaskus. /. Archiv Zink

 
 

Europa auf dem StierDas Mosaik aus dem 2.‍Jahrhundert v.‍Chr. wird heute im Archäologischen Museum in Beirut ausgestellt [3]

 
 

Und wirklich: Europa ist nicht aus sich selbst heraus geworden, was es heute ist. Auf den Karawanenpisten Arabiens und den Seewegen der Phönizier, auf den Straßen der Perser und der Römer und zuletzt den Wanderpfaden christlicher Prediger kamen Gedanken in das entstehende Europa, die im Osten erdacht worden waren,. Unsere Kultur wurzelt tief im Land von Euphrat und Tigris, in den arabischen Steppengebieten und im Land der Pharaonen am Nil.

Das gilt selbstverständlich auch vom Christentum. Wenn wir heute vieles nicht mehr verstehen, das die Bibel uns sagen will, dann liegt es auch daran, dass sie in einer Welt entstand, die uns Heutigen fremd ist. Es kann deshalb nützlich sein, eine Reise dorthin zu unternehmen, wo die Menschen gelebt haben, von denen die Bibel erzählt: Die Urväter Abraham und Mose, die Urmütter Sara und Rebekka, die Könige David und Salomo, die Propheten Elija und Jesaja, die Dichter der Psalmen und schließlich Jesus, der Mann aus Nazareth in Galiläa, und nach ihm die Begründer der frühen christlichen Kirchen.

Es ist nicht nötig, alle historischen Einzelheiten zu kennen, aber vieles tritt klarer hervor, wenn wir diese fernen Länder durchwandern und nach den Wegen suchen, die jene frühen Menschen gegangen sind, nach den Städten, in denen sie gewohnt, nach den Brunnen, aus denen sie getrunken haben. Ich selbst bin mehr als ein Jahrzehnt lang immer wieder dort gewesen und habe, so meine ich, dabei erst wirklich verstanden, was die Geschichten der Bibel uns sagen wollen.

Unsere Reise führt weit zurück in die frühe Geschichte der Menschheit. Über Jahrtausende sehen wir die Völker des südwestlichen Asien in endlosen Wellen ziehen von Land zu Land, von Weideplatz zu Weideplatz. Sie erdenken ihre ersten großen Gedanken: Sie erfinden Werkzeuge, bauen ersten Siedlungen, säen und ernten das erste Getreide, graben Kanäle in die trockene Erde der breiten Täler von Euphrat und Nil, sie gründen die ersten Städte, errichten Heiligtümer auf Terrassen und Stufentürmen, sie bilden erste Erfahrungen mit Gott ab in den Gestalten ihrer Götter und Göttinnen, sie überliefern Geschichten ihrer Helden und ihrer Ahnfrauen an ihre Kinder und gewinnen die Höhe erster großer Kulturen.

Wir Heutigen, die wir in die Vergangenheit reisen, werden reicher dabei, denn wir entdecken, dass wir nicht in den wenigen Jahrzehnten zu Hause sind, die unsere eigene Lebenszeit hat, sondern in einer langen Geschichte der Menschen und einer ebenso langen Geschichte, die sich zwischen den Menschen und Gott abgespielt hat. Gehen wir also auf die Reise und hören die alten Worte, die zu uns herüberdringen. Persien und Mesopotamien, das heute Irak heißt, Syrien und die arabische Wüste, Libanon und Israel, das Land der Palästinenser und Jordanien, Ägypten, Jemen, Türkei und Griechenland sind die Landschaften, die wir durchstreifen, um der eigenen Herkunft näher zu kommen. Der »Brunnen der Vergangenheit« ist tief und geheimnisvoll und hat noch immer Wasser auch für uns.

 

Jörg Zink

 

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Mosaik »Europa«. Foto Zink. /.

1. SCHAU MIT MIR IN DEN BRUNNEN – DIE URKULTUR MESOPOTAMIENS

 

1.1Auf dem Weg zum Fest

1.2Angedeutete Herkunft

1.3Was hat das mit uns zu tun?

1.4Die Welt der Schafe und der Wölfe

1.5Ackerbau und Lehmhütte

1.6Ziegelofen und Monumentalbau

1.7Die Lagunenlandschaft des Hor al-Hammar

1.8Die mesopotamische Urkultur

1.9Die Epoche der Mütter

1.10Von den Müttern zu den Vätern

1.11Adam, Eva und das Paradies

1.12Gilgamesch und die Erfahrung des Todes

1.13Die große Flut und ihre Deutung

1.14Die Geschichte vom Turm zu Babel

1.15Der Traum von der Himmelstreppe

 

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1.1 Auf dem Weg zum Fest

 

Aus den Reisenotizen um 1970

 

Der Tag ist glühend heiß. Ich stelle den Jeep ab und gehe auf das schwarze Zelt zu, einen Steinwurf abseits der Sandpiste. Kamele weiden die spärlichen Grasbüschel ab. Mit zusammengebundenen Beinen hoppeln sie mühsam von einem zum anderen. Vor dem Zelt breitet ein Vordach sich über einen Kreis von wohl zehn oder zwölf sitzenden Männern. Frauen und Kinder sind nicht zu sehen. Wir sind im Südirak, wenige Kilometer von Ur entfernt, der alten Stadt, die uns als die Heimat Abrahams genannt wird.

 

Ich gehe mit den landesüblichen Gesten der Höflichkeit und Begrüßung auf die Männer zu und lasse mich einladen. Sie trinken Kaffee aus kleinen Tassen, einer röstet die grünen Bohnen in einem Tiegel und zerreibt sie in einem Mörser. An der Stirnseite gegen das Zelt hin sitzt unbeweglich und wohl auch unbeteiligt ein sehr alter Mann, offenbar nicht mehr fähig, dem Gespräch zu folgen. Aber immer, wenn einer der Männer das Wort ergreift, blickt er zuerst nach dem in sich versunkenen Patriarchen, wie um sich die Erlaubnis zu sprechen zu erbitten. Dann spricht er.

 

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Männerrunde in der Wüste bei UrDie vor etwa 6000 Jahren gegründete Stadt liegt im südlichen Irak in der Nähe des heutigen Nasiriya und war im 3.‍Jahrtausend v.‍Chr. ein Zentrum der sumerischen Hochkultur [4] – siehe auch Karte 1

 
 
 

So ergibt sich eine gute Stunde zuerst befangenen, dann zunehmend entspannten Gesprächs. »Ihr seid auf einer langen Reise«, sage ich. »Woher kommt ihr?« »Aus dem Jemen«, antwortet einer. Ich rechnete nach: Das sind rund 2500‍km Wegstrecke. »Und wohin geht die Reise?« »Erst nach Persien hinüber und dann nach Afghanistan.« Das sind noch einmal 2000 Kilometer. »Ihr habt keine Last auf euren Kamelen. Warum geht ihr den weiten Weg? Was werdet ihr in Afghanistan tun?«

 

Wir sind in den frühen 1970er Jahren, Afghanistan lebt im Frieden, und so erzählt einer, der in der Mitte des Halbkreises sitzt, wohl der älteste der Brüder: »In Afghanistan lebt ein Bruderstamm von uns, den haben wir seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen. Inzwischen sind dort junge Männer und junge Frauen herangewachsen. Auch wir haben junge Frauen und junge Männer. Nun besuchen wir unseren Bruderstamm. Wir nehmen die jungen Frauen von dort in unsere Familie auf und geben unserem Bruderstamm unsere Töchter. Dann feiern wir Hochzeit. Lange. Lange. Vielleicht drei Monate lang, vielleicht auch länger.« Und sie lachen breit und laut und freuen sich auf das Fest. »Habt ihr noch mehr Bruderstämme?«, frage ich. »Ja, einer wandert zur Zeit im Sudan und einer in Marokko.« »Werdet ihr sie auch besuchen?«

 

Aber da kommt keine Antwort. Stattdessen verwandeln sich die Gesichter. Finster schauen sie einander an, und finster fallen ihre Blicke auf mich. Hatte ich etwas Unpassendes, vielleicht etwas Beleidigendes gefragt? Ich muss sie an einer Stelle berührt haben, an der sie verletzlich sind. »Wir können nicht«, stößt der Älteste schließlich heraus. »Warum nicht?« »Wir können nicht über den Sinai wandern. Am Golf von Akaba ist die Grenze geschlossen. Da sitzen sie und sperren die Straße.« »Wer sitzt da?« »Die Juden.« Und wieder finsteres Schweigen.

 

Nach einer langen Pause: »Unsere Väter haben, solange man zurückdenken kann, immer ihre Wegerechte gehabt. Ihre Weiderechte zwischen Marokko und Afghanistan und ihre Wege für die Karawanen.« Und wieder nach einem Schweigen: »Heute sitzen da Fremde und schließen die Grenzen. Bei uns hat es niemals Grenzen gegeben.« Und wieder nach einer Zeit verbissenen Brütens: »Es ist uns gleich, wer in Palästina wohnt, aber die Grenzen müssen offen sein.«

 

Während eines langen Schweigens, das ich nicht unterbrechen will, spüre ich, wie fremd ein Staat wie Israel sich in jener Gegend der Erde ausnimmt Nicht nur, weil die Menschen in Israel anders sind, sondern weil sie einen Geist mitbringen, der nach zwei Jahrtausenden des Aufenthalts im Westen nun zurückkommt in das Land seines Ursprungs, aber geprägt wurde in Europa und Amerika – einen Geist, den diese wandernden Menschen nicht verstehen und mit ihrer Tradition und dem Stil ihres Lebens nicht verbinden können. Es geht nicht um territoriale Fragen, es geht nicht um nationale oder religiöse Abneigungen. Es geht um die offenen Grenzen, um die freie Beweglichkeit der Nomaden und ihr uraltes und seit Jahrtausenden eingespieltes Zusammenwirken mit den sesshaften Bauern. Und das muss auch im Blick auf die arabischen Staaten gelten, die ihre Grenzen schließen.

 

Wie im Land Ur, im Land am unteren Euphrat, lebten auf der trockenen Erde Mesopotamiens seit zehn Jahrtausenden die Bauernvölker, in Lehmhäusern wohnend, unter drei oder vier Palmen und führten das Wasser aus dem Strom auf ihre Felder. Und seit noch längerer Zeit wanderten die Nomadenfamilien mit ihren Eseln und später mit ihren Kamelen vorbei auf der Suche nach Wasser und Gras, ihre Tiere fraßen die abgeernteten Felder ab und düngten sie. Jahrtausendelang war das eingespielt. Die Nomaden brachten Nachrichten aus der großen Welt mit, erzählten von fremden Ländern und Kulturen, von neuen Ereignissen und neuen wandernden Völkern.

 

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Nomaden, Irak. Foto Zink. /. Archiv EMH

 
 

Kamelführer in der syrischen WüsteWie dieser junge Mann ziehen in den Weiten des Nahen Ostens noch immer Nomaden mit ihren Tieren auf uralten Wegen [5]

 
 

Nur wenig hätte sich in diesen Jahrtausenden bewegt durch die Bauernfamilien, die an der immer gleichen Wasserstelle saßen, sondern alles bewegte sich durch die Wanderungen der Nomaden. Der Ackerbau war das konservative Element: In seinem Umkreis gibt es keine Zeit, keine Geschichte, keine Entwicklung, sondern Saat und Ernte, Geburt und Tod und den immer gleichen Kreislauf des Jahres und des Menschenlebens.

Bewegung kam in dieses Land durch den wiederholten Einbruch fremder Völker, den Durchzug wandernder Sippen und durch den Austausch mit ihnen. Nomaden waren Pendler zwischen den Staaten und den Kulturen, die Schmuggler und die Spione, Ideenträger, Berichterstatter. Sie trugen Erfindungen und neue Lebensweisen von Land zu Land.

Die Kultur im mesopotamischen Raum entwickelte sich so ungewöhnlich dynamisch, weil das fruchtbare, an Wasser reiche Land zwischen Gebirgen und Wüsten von immer neuen land- und wassersuchenden Völkern durchzogen wurde. In geschichtlicher Zeit drängte rund alle hundert Jahre ein neues Volk in diesen Raum, brachte eine eigene Lebensweise mit und verband sie mit der bodenständigen Kultur, und jedes Mal kamen neue Impulse in die staatlichen und kulturellen Verhältnisse. Schon vom 3.‍Jahrtausend an verband sich das Leben der wandernden Stämme auf ihren Wüstenpisten mit den Häfen am Mittelmeer und am Persischen Golf, und mit Hilfe von Schilfbooten erreichten seefahrende Händler Indien und das halbe Afrika.

Die neuen Herrscher übernahmen immer auch Teile der Kultur ihrer Vorgänger, und immer brachten sie ihre Kenntnis fremder Kulturen in die Entwicklung ein. So wurde das Land der Sumerer und der Babylonier zur Keimzelle der ersten Hochkultur.

 

Aus den Reisenotizen um 1970

 

Nach einer Pause, in der die ganze Runde schweigend an den Kaffeetassen herumschlürft, fange ich wieder an zu fragen: »Ihr habt keine Last auf euren Kamelen. Gibt es nichts zu transportieren zwischen dem Jemen und Afghanistan?« »Nein, es gibt nichts«, antwortet einer, »unsere Väter haben Seide transportiert und Weihrauch und Salz und Lebensmittel, immer auf den Kamelen. Wir haben nur noch unsere Kamele, aber es gibt nichts mehr zu transportieren. Wo früher die Karawanen waren, sind heute die Autostraßen. Die Autos sind schneller. Unsere Kamele können wir nur noch verkaufen, aber wer kauft heute Kamele?«

 

Ich weiß, wovon er redet. »Achtzigtausend Lastkraftwagen haben wir aus Deutschland bezogen«, hat mir ein Beamter in Bagdad erzählt. Der Irak gehört zu den Ländern, die darauf hoffen, den Anschluss an die moderne Zeit mit Hilfe von Straßen und Autos zu schaffen. Wenn die arabischen Länder sich aber einmal gegen die Überfremdung wehren, dann werden die nomadischen Sippen längst zerstreut sein und ihre Kinder werden die Slums der Großstädte bewohnen.

 

Eine uralte Lebensform, aus der unsere Kultur kommt, endet in diesen Tagen, und was an die Stelle tritt, ist bis zur Stunde nur unaufhaltsame Zerstörung. Eine millionenfache Tragödie spielt sich ab, und nur die wenigen Mächtigen der neuen Oberschicht gehören zu den Gewinnern. Am Elend verdienen vor allem die Industrienationen, während die Zeit der Nomaden, die Zeit der großen Urfigur des wandernden Menschen, die Zeit Abrahams, für immer vorbei sein wird.

 

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Kamelkarawane, Syrien. Foto Zink. /. Archiv Zink

 
 

Die junge Generation der Nomadenhat keine Zukunft mehr auf den Wegen der Karawanen. Autos haben Kamele weithin entbehrlich gemacht [6]

 
 

*

Nomaden, Irak. Foto Zink. /. Archiv EMH

 

1.2 Angedeutete Herkunft

 

Es begann nicht weit von dem Weideplatz, an dem wir unter dem schwarzen Vordach über eine Hochzeit in Afghanistan gesprochen hatten: in Ur am unteren Euphrat. Damals lag die Stadt noch am Meer. In den 4000 Jahren seither schuf der Euphrat mit seinem unendlichen Schlamm neues Land bis hinaus an den Persischen Golf bei Basra. Ur war zur Zeit der Sumerer noch Hafenstadt und Metropole des Handels bis hinüber nach Indien.

 

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Der Stufenturm von Urhatte vier Stufen und war dem Stadtgott gewidmet, dem Gott des Mondes. Die Grundterrasse wurde nach alten Spuren rekonstruiert, die Treppe führte von einem Tempel am Fuß des Turms geradlinig bis zur Spitze, wo sich ein weiterer kleiner Tempel befand [7]

 
 

Die Bibel erzählt kurz und nur andeutend:

 

»Terach, der Vater Abrahams, Nahors und Harans, wohnte zu Ur. Als nun Haran vor seinem Vater Terach in Ur starb, verließ Terach seine Heimat Ur mit Abraham, seinem Sohn, und Lot, dem Sohn Harans, um ins Land Kanaan« – das heutige Palästina – »zu ziehen. Sie gelangten (aber nur) bis Harran und ließen sich dort nieder.«(1. Mose 11,27–‍31)

 

Aus den Reisenotizen um 1970

 

Wanderungsbewegungen von einer Stadt in die Wüste und von der Wüste in eine Stadt sind im Zusammenhang beduinischer Lebensweise nicht ungewöhnlich. Dass Terach die Hafenstadt Ur verließ und sich in die Steppe begab, kann auch bedeuten, dass er einen bestimmten Grund hatte, wegzugehen. Wenn heute ein Städter in Syrien oder im Irak Schwierigkeiten mit seiner Regierung bekommt – was leicht geschieht – und sei er ein Lehrer, ein Arzt oder ein Geschäftsmann, dann verkauft er sein Haus, schafft sich ein Zelt und eine Herde Schafe an und verschwindet mit ihnen in der Steppe. Man sagt: »Er geht nach links.« »Links« ist die Seite der Gefahr, der Entbehrung, auch des Unheils, jedenfalls die Seite eines nicht kalkulierbaren Risikos. Im Steppengebiet zwischen Syrien und dem Irak traf ich an einem Brunnen einen Anwalt aus einer syrischen Stadt mit seinen Schafen. Er war in Sicherheit. Denn sobald er sich im Bereich beduinischer Lebensordnungen befand, am Rand des Kulturlands oder gar in der Wüste, war er für seine Regierung unerreichbar. Ging Terach aus der Großstadt Ur »nach links«?

 

Karte 1 >

Zikkurat des Nanna, Ur. Foto Zink. /. Archiv EMH

 
 

Die Welt der Bibel zwischen 2000 und 1600 v.‍Chr.Die frühen Kulturen im »fruchtbaren Halbmond« des Nahen Ostens und die Wanderungsbewegungen Abrahams und der Urväter Israels

 
 

Die Bibel sagt nicht, wann das geschah. Sie sagt nur, Abraham sei ein wandernder Aramäer gewesen. Von den Aramäern wissen wir, dass sie zwischen dem 19. und dem 14.‍Jahrhundert v.‍Chr. in mehreren Wellen aus der arabischen Wüste in den babylonischen und syrischen Raum einwanderten und dort sesshaft wurden. Die Familie des Terach hatte wohl schon einige Zeit in Ur gelebt, als sie weiterzog nach Syrien und Palästina. Das war nicht ungewöhnlich, denn soweit die Wüstenbewohner nicht den Ackerbau wählten, zogen sie mit ihren Schaf- und Ziegenherden quer durch das Land, friedlich oder auch als bewaffnete Gruppe. Es ist durchaus glaubhaft, wenn es später von Abraham heißt, er sei ein Krieger gewesen. Alle Nomaden sind bis zum heutigen Tag bewaffnet und notfalls zu kämpfen bereit, wenn anders ein Weideplatz oder ein Brunnen nicht zu erreichen ist.

 

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Wasserstelle bei einer Quelle an einem BerghangBrunnen und Wasserstellen waren seit jeher die Zentren, um die sich Menschen, Familien und Völker sammelten, Mittelpunkte der alten Welt auch für geistigen Austausch und Rechtsprechung. Hier entschied sich jahrtausendelang, ob ein Mensch den anderen neben sich trinken und damit leben ließ. Am Brunnen lag die »Quelle der Gerechtigkeit«, dort entstand die Tugend der Gastfreundschaft, und so wurde schließlich der Brunnen zum Symbol für das Leben, das der Mensch aus Gott hat [8]

 
 

Terach also, nach dem Bericht der Bibel der Scheich einer Großfamilie, zog am Euphrat aufwärts, vorbei an Babylon bis dorthin, wo heute die Türkei den Strom in die baumlose, trockene Ackerbauzone der Syrer entlässt, bis zum uralten Ort Harran und ließ sich dort nieder.

Erzählungen dieser Art, die uns aus der alten Welt erreichen, haben häufig zwei Ebenen: Sie erzählen einerseits von bestimmten Personen, die Abraham oder Terach hießen, und andererseits von Völkerbewegungen, von Großfamilien und Sippen, die sich nach einem Ahnherrn nannten. Sie sagen nicht, wie wir sagen würden: »Ein Nomadenvolk, das sich nach Terach nannte, wanderte nach Harran.« Sondern: »Terach, der Urvater, wanderte.« Dieser Terach konnte eine historische Gestalt sein, aber Nomaden unterscheiden in ihren Geschichten nicht unbedingt zwischen Einzelpersonen und der ganzen Familie.

Von Harran aus folgte ein zweiter Teil des Wanderwegs:

 

»Gott sprach zu Abraham: Geh aus deinem Land. Verlass deine Sippe und deines Vaters Familie und zieh in ein Land, das ich dir zeigen will. Da zog Abraham aus mit seiner Frau Sara und seinem Neffen Lot, mit all seinem Besitz und all seinen Leuten und wanderte nach Kanaan.«(1. Mose 12,1–‍6)

 

Dies klingt, als sei unter dem Namen Terach ein größerer Stämmeverband von Ur nach Harran gezogen und Abraham habe sich später aus ihm gelöst.

Die Israeliten späterer Jahrhunderte erinnerten sich mit dieser Geschichte daran, dass zu Beginn ihres Volkes und ihrer Religion ein Urvater aus der Sesshaftigkeit aufbrach und auf Weisung eines geheimnisvollen Gottes in ein fremdes Land zog. In kriegerischen Zeiten, in der Unruhe hin- und herwogenden Gedränges großer und kleiner Völker, löste er sich aus der kaum gewonnenen Heimat und wanderte mehr als 1000 Kilometer von Harran in der südlichen Türkei in den Süden von Kanaan und bis an die Grenze Ägyptens.

Abraham ist nicht nur als der Stammvater eine Urgestalt Israels, sondern vor allem deshalb, weil das Schicksal dieses Volks seitdem – nur selten von kurzen Zeiten der Sesshaftigkeit unterbrochen – das des Abraham war: eine stete Wanderschaft. Und wenn die christlichen Kirchen sich noch heute als »wanderndes Gottesvolk« sehen, nehmen sie das Bild Abrahams auf, des Nomaden.

 

*

Kamele an einer Wasserstelle. Foto Manoug Alemian, Beirut. /. Archiv Zink

 

1.3 Was hat das mit uns zu tun?

 

»Tief ist der Brunnen der Vergangenheit«, sagt Thomas Mann in seinem Roman über Joseph und seine Brüder. Wir leben aus ihm. Wir schöpfen unsere Kräfte aus ihm, auch wenn wir ihm nie wirklich auf den Grund sehen. Was aus der fernen Vergangenheit der biblischen Urgeschichte zu uns heraufkam, hat unsere europäische Gedankenwelt, unser Empfinden und unsere Weltsicht so nachhaltig bestimmt, dass ein Gutteil der frühen Ereignisse zu Beginn unserer Kultur auch unsere eigene Seelengeschichte ist.

Was im Laufe von Jahrtausenden geschah, was da geschaut und gedacht wurde, gelangt aber auf zwei Wegen zu uns, einem gleichsam oberirdischen und einem unterirdischen:

Der oberirdische Weg trägt die Erfahrung der Menschheit in Form von Bauwerken, Kunstwerken, Dichtungen, Werkzeugen, Bildern, Dokumenten oder Ritualen aus der Vergangenheit in die Zukunft. Stein, Papyrus, Gold oder Bronze, Elfenbein, Keramik oder Marmor sind die Materialien, die uns erlauben, greifbar und sichtbar mit der Vergangenheit zu kommunizieren. Diese breit gefächerte Überlieferung, die aus den Anfängen der Menschheitsgeschichte strömt bis zu uns und über unsere Zeit hinaus, prägt und formt uns und ist das Element, in dem etwas wie Kultur, Gemeinwesen, Recht und Sitte von Völkern, etwas wie Religion, Kunst und Sprache gedeihen.

Die Erfahrung, die die Menschheit in den Jahrtausenden ihrer Wege über die Erde gewonnen hat, senkt sich aber auch in die Seelen von Einzelnen oder von Völkern ein – das ist der gleichsam unterirdische Weg. Die Bilder, in denen Menschen ihr Dasein gedeutet haben, die Bilder, die ihnen von außen entgegentraten und ihnen zum Schicksal wurden, formten die Gestalten und Kräfte eines gemeinsamen Unbewussten – auch jene Bilder, in denen sich Gott ihnen seit den ersten Anfängen menschlichen Verstehens zeigte: Schlange und Baum, Berg und Grotte, Brunnen und Wasser, Stier und Vogel, Sturm und Reiter, und die Tiefenpsychologie hat entdeckt, dass zwischen den Träumen heutiger Menschen und den Mythen und Märchen der alten Welt Ähnlichkeiten bestehen – oder besser: dass beide demselben Grund entstammen, den Erinnerungen, die seit uralter Vorzeit in den Seelen der Menschen bewahrt worden sind.

Menschen sind ja, was sie sind, nicht nur durch die Kultur und Umwelt, die sie prägen, sondern mehr noch durch das unbewusste Erbe aus Jahrtausenden menschheitlicher Erfahrung. Aus ihm rührt ihre eigene schöpferische Kraft, aus ihm erwachsen ihre Träume, Ängste und Hoffnungen. Wer die Bilder betrachtet, in denen wir träumen, begegnet auch bei dem religiösen Denken gänzlich entfremdeten Menschen immer wieder den uralten Vorstellungen, die uns alle leiten und uns bestimmen, ohne dass wir davon zu wissen brauchen. In Jahrtausenden wurden Bildmuster in uns eingewebt, die wir heute bewusster zu sehen lernen, und ebenso lange formten sich die Überlieferungen zu den komplizierten Gedankenbildern, in denen wir zu beschreiben suchen, was wir meinen, wenn wir »Gott« sagen. Nach wie vor wirken aus unserem eigenen Unbewussten die mythischen Bilder längst vergangener Zeiten auf unsere Gedanken und Entscheidungen ein. Nach wie vor träumen wir Bilder, die aus den Erfahrungen von zehntausend Jahren menschlicher Geschichte in uns erwachen, und finden auf diesen Wegen uns selbst.

 

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Priester aus einer sumerischen StadtEr lebte einige Jahrhunderte vor Abraham, vor 4000 Jahren, und kniet vor dem Bild seines Gottes, vor sich ein Gefäß, das wohl eine Opfergabe enthält. Wir können in solchen Kunstwerken mit der Vergangenheit Verbindung aufnehmen, können sie uns vorstellen und werden feststellen, wie das, was der unbekannte Priester geschaut hat, noch immer auch in uns selbst weiterlebt [9]

 
 

Aus was für einem Land aber kamen die Menschen der Bibel? Das zu bedenken ist wichtig, weil schon die Erzähler des Alten Testaments bewusst und unbewusst geprägt waren von einem Erbe, das aus Jahrtausenden zu ihnen kam – aus dem Land, das Abraham einst verließ und das wir bis heute auf der Suche nach Spuren der alten Völker durchwandern können. Was also haben sie von dort mitgenommen?

 

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Statuette eines Priesters. Musée du Louvre (Paris). /. Archiv Zink

 
 

Der syrische Himmelsgott ElDiese vergoldete Figur eines thronenden Gottes entspricht der Vorstellung in der ersten Hälfte des 2.‍Jahrtausends. Dieses Bild war den Zeitgenossen Abrahams vertraut und den Menschen im Raum um Harran selbstverständlich. Wenn wir verstehen möchten, was denn Abraham sich unter »Gott« vorgestellt hat, werden wir es am ehesten im Bild dieser Figur finden, wie auch der Gott, den sich viele Christen bis heute vorstellen, von diesem im Himmel thronenden El nicht grundlegend verschieden ist. Wie stark dieses Bild in Israel auch in viel späteren Zeiten gewirkt hat, zeigt sich in der Erzählung, Mose habe nach seiner Begegnung mit Gott »Hörner« getragen, er habe also – wie in vorisraelitischen Zeiten – als Priester eine Maske mit Hörnern getragen, um seinen Gott abzuspiegeln [10]

 
 

*

Goldener El. Foto Zink. /. Archiv Zink

 

1.4 Die Welt der Schafe und der Wölfe

 

Aus den Reisenotizen um 1970

 

Auf der Suche nach dem Lebensumkreis der Nomaden fahre ich mit dem Jeep durch die heiße Wüste um Uruk, die alte Sumererstadt, stundenlang über den harten, flachen Lehmboden. Wege und Straßen gibt es nicht. Einzig da und dort steht ein einsamer Hügel gegen den schnurgeraden, flimmernden Horizont: Rest einer von vielen uralten Städten. Ab und zu läuft ein Wolf vorbei, einmal ein ganzes Rudel. Schließlich tauchen zwei einsame schwarze Zelte auf, ein paar Dutzend Lämmer in ihrer Nähe.

 

Eine ältere Frau erscheint im Eingang, dazu fünf Kinder. Ein paar Hunde. Nirgends ein Mann. »Das kann doch nicht wahr sein«, wende ich mich an meinen ortskundigen Begleiter. »Was tut die Frau hier mitten im Wolfsgebiet?« »Sie wartet«, antwortet er gleichmütig. »Die Männer sind unterwegs. Die Frauen holen mit den Eseln Wasser. Die Schafe sind an der Tränke.« »Und wann kommen die Männer wieder?« »In drei Tagen, vielleicht auch in fünf.« »Und was ist mit den Wölfen ?« »Mit einem wird die Frau fertig. Mit dem Knüppel. Mit sechs oder acht die Hunde.« »Und wenn es zehn sind?« »Dann werden die Lämmer gefressen und danach die Kinder. Vielleicht am Ende auch die Frau. Aber das ist immer so gewesen.« Mir graut. Das also ist die große Freiheit der Schäfer-Nomaden.

 

An einem der flachen Wasserlöcher treffe ich die jüngeren Frauen, Wasser schöpfend. Im Katharinenkloster im Sinai hatte ich einmal einen der Mönche gefragt, wie sie sich ihre Lebensmittel und ihren übrigen Bedarf beschafften, und er gab mit einer lässigen Handbewegung zur Antwort: »Mit Kamelen, mit Eseln und mit Frauen.« Die Reihenfolge gab wohl den Rang an: Das billigste Transportmittel, aber auch das schlechteste, sind Frauen.

 

Hier bei Uruk sehe ich sie Wassersäcke schleppen, unter denen ein gut trainierter Mann aus Europa nach hundert Metern zusammenbräche. Und sind die Wasserstellen erschöpft, vertrocknet durch die sengende Sonne, dann wandern sie im unendlichen, feinen Staub irgendwohin, wo noch eine Pfütze ist, und die Esel, diese ältesten Verkehrs- und Transportmittel der Menschheit, die geduldigsten aller Lastenträger, schleppen Zelte und Hausrat bis zur Erschöpfung.

 

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Was­ser­schöp­fen[11]

 
 

Die Bibel erzählt vom Gegensatz zwischen Nomaden und Bauern:

 

»Adam und Eva hatten zwei Söhne: Kain und Abel. Abel war ein Schafhirte, Kain ein Ackerbauer. Eines Tages opferte Kain dem Herrn von den Früchten seines Ackers. Auch Abel opferte, und zwar von den Lämmern seiner Herde. Gott aber sah Abel und sein Opfer gnädig an, Kain und sein Opfer nicht. Da fasste den Kain der Zorn und er senkte finster den Blick … Und er sprach zu seinem Bruder Abel: ›Lass uns aufs Feld gehen!‹ Und als sie auf dem Felde waren, fiel er über seinen Bruder her und schlug ihn tot.«(1. Mose 4,2‍–‍8)

 

Wenn Nomaden mit einer ausgehungerten Herde ins Kulturland kommen, fürchten die Bauern um ihre Felder. Und da die Bevölkerungen von Dörfern und Städten meist stärker sind als Nomadensippen, gehen Kämpfe zwischen Nomaden und Bauern in der Regel zu Ungunsten der Wandernden aus. Der uralte Streit zwischen beiden Gruppen, aber auch die Tatsache, dass sie beide auf einander angewiesen sind – der Nomade auf das, was auf den abgeernteten Äckern des Bauern noch übrig ist, der Bauer auf den Dung der Herden – spiegelt sich darin, dass Kain und Abel Brüder sind und dennoch der Stärkere den Schwächeren totschlägt, während sie miteinander »auf dem Feld« sind. Die Erzähler der Bibel stellten sich auf die Seite Abels: Die Freiheit der Nomaden – das war die Lebensform, die ihr Gott wollte, nicht die Gebundenheit der Bauern.

 

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Frauen an einer Wasserstelle. Foto Zink. /. Archiv Zink

 

1.5 Ackerbau und Lehmhütte

 

Die zweite Urlebensform, die die Menschen dieses Landes prägt, ist das sesshafte Wohnen an Kanälen und Wasserläufen, das Bewässern des Landes und der Ackerbau.

 

Aus den Reisenotizen um 1970

 

In einem der Dörfer steht sie vor mir: eine Bäuerin mit ihrem Kind. Sie ist keine Araberin, sondern offenbar Nachfahrin der sumerischen Urbevölkerung, des »schwarzköpfigen Volks«, wie es sich selbst nannte, und das zu erkennen ist an einem kleinen Wuchs, eher stämmigen Körpern und breiten Köpfen. Ihre Vorfahren mögen seit vier- oder fünftausend Jahren schon auf diesem Stück Erde sitzen.

 

Eine andere Frau beugt sich über den Backofen, eine tonnengroße Röhre aus Lehm, und schaut nach dem Feuer. Wenn die Wand heiß ist und nur noch Glut auf dem Grund, klebt sie ihre Teigfladen an die Innenseite der Röhre. Sind sie fertig gebacken, lassen sie sich leicht herausnehmen. Als ich wieder gehe, stehen die beiden am Ausgang des Dorfs und grüßen freundlich zum Abschied. Hinter ihnen eines der Häuser, gedeckt mit einem gewölbten Lehmdach, über das eine Matte fein geflochtenen Schilfs gezogen ist. Davor ihre Küche: eine tischartige Lehmstufe und die offene Backröhre. Dann versinkt die Szene rasch in der Dunkelheit.

 

An einem anderen Abend, als die Sonne schon tief steht, komme ich nahe der alten sumerischen Stadt Lagasch auf dem Weg über Lehmhaufen und leere Wassergräben in ein Dorf aus sechs oder acht Lehmhütten. Vier junge Frauen und ein junger Mann sind eben dabei, ein neues Haus zu bauen.

 

In eine Grube schütten sie Wasser und stampfen mit bloßen Füßen darin hin und her, bis sich der geeignete Lehmbrei bildet, und stampfen gehacktes Stroh hinein, damit er besser hält. Sie kneten die Masse mit Händen und Füßen und haben ihr Vergnügen damit, dann holen sie unförmige Lehmklöße aus dem Loch, so groß sie eben halten können, und bauen eine Mauer daraus. Sie formen keine Ziegel, sondern setzen die Batzen einfach aufeinander und streichen sie am Ende zur glatten, geraden Wand.

 

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Lehmhäuser mit Dächern aus Schilf­mat­ten[12]

 
 

Solche Hütten können halten, solange die Sonne scheint. Beim nächsten Regen sinken sie zusammen und liegen als lehmiger Haufen im Schlamm des Dorfs, doch danach sind sie leicht neu zu errichten. Die Lehmbauweise ist wohl die früheste, einfachste Form einer Siedlung bei Menschen, die vom Acker, von Erde leben, und in Mesopotamien ist sie viele Jahrtausende alt.

Redet man mit einem Bauern über diese Lebensweise, dann sagt er etwa so: »Der Lehm ist unser Vater. Er gibt uns unsere Nahrung. Aus ihm bauen wir unsere Häuser. Schon unsere Vorväter hatten ihn in der Hand. Wir sind aus Lehm gemacht und werden wieder zu Lehm. Der Lehm ist das Leben unserer Ahnen. Sie sind zu Lehm geworden, und wir bauen unsere Häuser aus ihnen. Wir lieben den Lehm.« – »Erde bist du, und zu Erde wirst du werden«, sagt die Bibel (1. Mose 3,19). Spricht man umgekehrt einen Nomaden auf die Bauern an, fragt der nicht selten zunächst verächtlich: »Sie sprechen von den Lehmbraunen?«

 

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Frauen vor Lehmhäusern. Foto Zink. /. Archiv Zink

 

1.6 Ziegelofen und Monumentalbau

 

Aus dem Lehm aber entstanden auch die erstaunlichen Bauwerke, die seit Jahrtausenden stehen. In Aqar Quf, 30 Kilometer westlich von Bagdad, liegt die alte Hauptstadt des Königs Kurigalzu I., der in der Zeit Abrahams oder kurz danach regierte. Der Kern seines früheren Stufenturms ragt heute noch 57 Meter hoch aus dem flachen Land und wurde im unteren Bereich von irakischen Archäologen eindrucksvoll rekonstruiert. Auch die 600 Kilometer nördlich, im Mossul-Becken, gelegenen alten Städte Ninive, Assur und die assyrische Königsstadt Nimrud waren in weiten Teilen aus Ziegeln gebaut.

 

Aus den Reisenotizen um 1970

 

Die volle Härte der Arbeit im Lehm begegnet mir in einer der vielen großen Ziegeleien. Hunderte von Arbeitern schaufeln den Lehm aus einer Halde und schieben ihn mit Loren in eine mechanische Presserei. Ein paar sehr alte Männer fallen mir auf »Wie ist das bei euch?«, frage ich. »Wie lange müsst ihr arbeiten?« »Man fängt mit acht Jahren an«, gibt einer zur Antwort, »und arbeitet, solange man einen Ziegel halten kann.« »Und wenn man das nicht mehr kann?« »Dann liegt man auf der Straße. Renten gibt es nicht.«

 

»Habt ihr keine Gewerkschaft?« »Doch, wir haben sie, aber sie nützt nichts, denn der Staat setzt sie gegen uns ein.« Im Grunde gleicht das Leben dieser Männer dem ihrer Vorfahren in den Ziegeleien von Babylon oder von Assur. Sieben bis acht Jahre alt sind die Jüngsten. Eine Ausbildung bekommen sie nicht und haben nur die Chance, ihr Leben lang Ziegel zu machen, bis der letzte aus ihrer Hand fällt.

 

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Arbeiter in einer ZiegeleiEr hat zu Hause einige Schafe, die seine Familie nicht ernähren. Nun hockt er vor einem Holzrahmen wie seine Urahnen vor 5000 Jahren. Ist der Holzrahmen voll, zieht er ihn nach oben heraus und lässt den Ziegel zum Trocknen liegen. Aus solchen ungebrannten Ziegeln ist der Kern auch des Turms von Aqar Quf gemacht, und sie sind zum Teil erstaunlich gut erhalten. Alle zehn oder zwanzig Lagen wurden Schilfmatten als Verstärkung eingesetzt: Mit Erdöl getränkt und dadurch geschützt gegen Fäulnis, sind sie bis heute fast unversehrt und elastisch wie damals [13]

 
 

Neben luftgetrockneten Ziegeln wurden ab etwa 3000 v.‍Chr. auch gebrannte Ziegel verwendet, denn das Rohöl, das an vielen Stellen direkt aus dem Boden quoll, bedeutete unerschöpflichen Brennstoff für dauerhaft haltbare Baukeramik. Ziegel wurden nicht mehr, wie bisher die Tongefäße, in Löchern im Boden gebrannt, sondern in riesigen, eigens dafür errichteten Öfen.

 

Aus den Reisenotizen um 1970

 

Im unendlichen Einerlei der Steppe stehen am Wegrand ein paar stumpfe Würfel; aus einem quillt tiefschwarzer Rauch. Rund 150 Meter lang ist der Brennofen und sechs Meter hoch. Oben sehe ich schwarze Gestalten arbeiten und steige hinauf. Häcksel liegt auf breiten Haufen, rohes, schwarzes Erdöl steht in Kanistern bereit. Es ist ein heißer Tag, wohl zwischen 40 und 45 Grad. Das Dach des Ofens ist glutheiß, ein Weilchen sehe ich zu, aber nach zehn Minuten steige ich wieder hinunter. Die Arbeiter stehen den ganzen Tag in der kaum erträglichen Hitze von oben und von unten und schieben die Masse aus Häcksel und Öl durch offene Luken ins qualmende Feuer. Die Bibel erzählt von der Sklaverei deportierter Völker in Babylon oder Assur. Hier wird leicht vorstellbar, wie es ihnen erging.

 

Die schwarzgerußten Männer wirken, als kämen sie geradewegs aus der Hölle, aber sie lachen und bitten mich vor dem Abschied zu ihrem Pausenplatz. Dort haben sie Wasserkrüge, unten spitz zulaufend, in Löcher in die Erde gestellt, denn wer hier arbeitet, muss jede Stunde mindestens einen halben Liter trinken. Eine Weile sitzen wir neben dem Ofen, zwischen Ölfässern und umhüllt vom Rauch, und trinken den köstlichen Tee, den man bei den Hirten und Lehmarbeitern Mesopotamiens zu bereiten versteht. Wir haben keine gemeinsame Sprache, aber ihre schwarzen Gesichter strahlen, als sei einen Gast zu haben etwas vom Schönsten, das es für sie zu erleben gibt.

 

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Ziegelarbeiter, Irak. Foto Zink. /. Archiv EMH

 
 

Brennöfen im Irak[14]

 
 

Die Bibel verspottet diese Versuche der Menschen, mit vielen Millionen solcher Lehmsteine einmal den Himmel zu erreichen, wenn sie vom »Turmbau zu Babel« erzählt:

 

»›Wohlan!‹, sprachen die Menschen. ›Lasst uns Ziegel formen und brennen! Lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht. Denn wir wollen berühmt werden und nicht in alle Länder zerstreut werden.‹«(1. Mose 11,3‍f.)

 

Weil der Turm dennoch winzig ausfiel gegenüber der Höhe des Himmels, musste Gott »herabkommen vom Himmel, sich die Stadt zu besehen und den Turm, den die Menschen gebaut hatten«. Gott aber verwirrte ihre Sprache, und keiner verstand mehr den anderen. Sie verstreuten sich über das ganze Land und mussten aufhören mit dem Bau ihrer Stadt.

Monumentale Städte und Türme zu bauen gelingt nur, wenn man hunderttausende Menschen zu Sklaven macht und dabei die Gemeinschaft der Menschen zugrunde geht. Dies meint der Spott der freien Nomaden, der mit solchen Geschichten das entstehende Herrschaftssystem der Städte abzuwehren versucht.

 

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Brennofen, Irak. Foto Zink. /. Archiv EMH

 
 

Das Minarett von Samarrawurde vor etwa 1200 Jahren in islamischer Zeit gebaut und zieht sich wie eine Turmschnecke in die Höhe. Auf einer zwei Meter breiten Straße wandert man als Besucher hinauf. Im Mittelalter wurde der Turm zu Babel nicht selten als schneckenförmiges Bauwerk gemalt. Als der Turm von Samarra entstand, gab es zwischen dem Kalifen Harun al-Raschid in Bagdad und Kaiser Karl dem Großen in Aachen freundschaftliche Kontakte, Gesandte reisten hin und her. Vielleicht haben sie die Idee eines in sich gewundenen »Turms zu Babel« mitgebracht [15]

 
 

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Schneckenminarett von Samarra. Foto Zink. /. Archiv EMH

 

1.7 Die Lagunenlandschaft des Hor al-Hammar

 

Ur, die Stadt Abrahams, lag zu seiner Zeit, wie schon erwähnt, am Persischen Golf und war eine Hafenstadt. Seitdem schob der Euphrat mit Massen von Lehm, die er mit sich führt, das Ufer hinaus, so dass es heute bei Basra liegt, am Schatt el-Arab, 260 Kilometer östlich von Ur. Wo früher das Meer war, dehnt sich eine paradiesische Landschaft aus Seen und Dattelpalmen: das Hor al-Hammar.

 

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Im Hor al-Hammarfährt man in Booten zum Fischfang mit Wurfnetzen aus oder zum Besuch ins nächste Dorf. Das Vieh wird mit Wasserpflanzen gefüttert, und während der heißen Stunden findet das dörfliche Leben, das gelassene Ruhen und Palavern unter den Palmen statt [16]

 
 

Man lebt in Schilfhäusern, fünf Meter breit, vier Meter hoch und bis zu fünfundzwanzig Meter lang stehen sie an den Ufern. Schilfbündel übernehmen die Rolle von Balken, kunstvoll geflochtene Matten dienen als Wände und Dach.

 

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Hor al-Hammar, Irak. Foto Zink. /. Archiv Zink

 
 

Schilfhäusersind besonders schöne Behausungen: leicht zu reinigen, ständig von leichtem Wind durchweht und nach allen Seiten offen, so dass auch die Frauen von drinnen sehen können, was draußen geschieht. Bei Ausgrabungen aus dem 4.‍Jahrtausend v.‍Chr. hat man Schilfmatten solcher Häuser gefunden, sie blieben im trockenen Sand unzerstört, und ihre Flechtmuster haben sich seitdem nicht geändert [17]

 
 

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Schilfhaus, Irak. Foto Zink. /. Archiv EMH

 
 

Die Wände von Schilfhäusernwerden bis heute ohne jeden Nagel aus Schilfrohr und Palmblättern zusammengebunden [18]

 
 

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Detail eines Schilfhauses. Foto Zink. /. Archiv Zink

 
 

Ein sumerisches Rollsiegelaus der Zeit um 3000 v.‍Chr. zeigt eine Rinderherde um ein Schilfhaus, wie es noch heute gebaut wird. Auch in der sumerischen Sintflutsage spricht die Göttin zu dem Helden Utnapischtim »durch die Schilf­wand« [19]

 
 
 

Aus den Reisenotizen um 1970

 

Das Hor al-Hammar könnte ein »Garten« sein wie der, der nach der Schöpfungsgeschichte der Bibel »östlich von Eden« liegt. »Eden« ist ein sumerisches Wort und bedeutet so viel wie Wüste. »Östlich der Wüste« von Uruk und Ur oder östlich der Wüste gegen Arabien hin könnte damit gemeint sein.

 

Der idyllische Eindruck täuscht allerdings sehr: Das Wasser ist mit Parasiten verseucht, und wer hier lebt, leidet oft unter schweren chronischen Krankheiten. Vierzig Jahre beträgt die Lebenserwartung, hoch ist die Säuglingssterblichkeit, und trotz der Fülle an Palmen herrscht bittere Armut. Die Familien ernten zwar Datteln, müssen sie aber verkaufen und leben selbst von denen, die vom Baum fallen, weil sie angefault sind. Wenn hier einmal die Autobahn von Nasiriya nach Basra durchführt, wird die Heimat dieser Menschen zugrunde gehen und den Jungen nichts bleiben als der Weg in die Slums einer großen Stadt.

 

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Rollsiegel, Sumer. Foto Zink. /. Archiv EMH

 

1.8 Die mesopotamische Urkultur

 

Den ältesten Hintergrund der Geschichten der Bibel bildet der heutige Irak und seine uralten Religionen und Kulturen. 1600 v.‍Chr. vielleicht lebte Abraham, aber der Brunnen der Geschichte ist tiefer. Denken wir zurück bis etwa 10 000 Jahre v.‍Chr.: Im Orient ist »mittlere Steinzeit«, und irgendwann in dieser Zeit – oder noch früher– müssen die Frauen in den Völkern der Jäger und Sammler entdeckt haben, dass bestimmte Gräser, die kleine Körner hervorbrachten, essbar waren. Sie fingen an, mit Hacken die Erde aufzureißen und das erste Getreide zu züchten. Am eingesäten Feld, das sie bewässern und auf dessen Frucht sie warten mussten, wurden sie sesshaft.

Später gründeten sie inmitten der Felder die ersten großen Ansiedlungen. Weder die Jäger noch die wandernden Schafhirten brauchten eine Stadt, mit dem Ackerbau aber suchten die Menschen den Schutz der sesshaften Gemeinschaft. Um 8000 v.‍Chr. gründeten sie die Stadt Jericho in der fruchtbaren Oase am unteren Jordan, um 7000 v.‍Chr. die Stadt Çatal Höyük im anatolischen Hochland und kurz danach die ersten Städte in Mesopotamien.

Von da an werden die Jahrtausende einzeln benannt: Das 7.‍Jahrtausend v.‍Chr. nennen wir das »prä-keramische Neolithikum«, also die Jungsteinzeit vor der Erfindung der Keramik. Um 6000 wird das erste Tongefäß gebrannt, und so heißen das 6. und 5.‍Jahrtausend »keramisches Neolithikum«. Schon in der Mitte des 6.‍Jahrtausends, als hätte sich der Geist des Menschen mit all seinen Kräften auf diese neuentdeckte Kunst geworfen, entstehen die zauberhaften Tongefäße von Tell Halaf im westlichen Mesopotamien.

Um 4000 v.‍Chr. erfinden die Menschen jenes Raums den Holzpflug und die Töpferscheibe, auch das Rad für ihre ersten Wagen. In dieser Zeit finden sie auch schmelzbare Metalle, das Kupfer zunächst. So sprechen wir vom vierten Jahrtausend als der »Kupfersteinzeit«.

Um 3000 wird das Kupfer zum ersten Mal in Formen gegossen, so dass Werkzeuge, bisher immer aus Stein gefertigt, nun in Kupfer hergestellt werden konnten. Wir sprechen vom dritten Jahrtausend als der »Kupferzeit«. Um 2500 beginnen die Menschen, Kupfer und Zinn zu verbinden und gewinnen so die härtere Bronze. Das 2.‍Jahrtausend wird darum als »Bronzezeit« bezeichnet, die um 1200 v.‍Chr. durch die »Eisenzeit« abgelöst wird.

Um 3500 v.‍Chr. geschieht, was den mesopotamischen Raum für mehr als 3000 Jahre prägen wird: Das rätselhafte Volk der Sumerer wandert, aus irgendeinem Gebirge kommend, in Mesopotamien ein, und es entsteht in wenigen Jahrhunderten die sumerische Hochkultur, die älteste der Menschheit. Es ist ein unbegreiflich begabtes Volk, von einem Schönheitssinn, einer Gedankentiefe und einem Erfindungsreichtum wie selten in der Geschichte.

 

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Figur aus einem sumerischen TempelDie seltsam starken Figuren von schauenden Menschen, die man nahe Bagdad in Tell Asmar im Tempel des Gottes Abu gefunden hat, stammen aus dem Anfang des 3.‍Jahrtausends v.‍Chr. Sie wurden vielleicht als Stellvertreter für Menschen im Heiligtum aufgestellt, damit der Mensch immer vor seinem Gott anwesend sei, und schauten mit übergroßen Augen anbetend zum Ort des Gottes im Tempel. In den Händen hielt die Figur wohl eine Art Kelch mit einem Opfer.Die weit geöffneten Augen drücken die Faszination aus, die den Menschen erfasst, wenn er Gott erblickt, aber auch sein Entsetzen. Der Prophet Jesaja ruft im Augenblick einer plötzlichen Schau Gottes: »Weh mir! Ich bin verloren! Ich bin ein Mensch mit unreinen Lippen, ich wohne unter Menschen mit unreinen Lippen und habe den König, den Herrscher der himmlischen Heere, gesehen mit meinen Augen!« (‍Jesaja 6,5). [20]

 
 

Plötzlich entstehen, als seien die Kräfte aus zehntausend Jahren mit einem Schlage frei geworden, Paläste, Tempel, Stufentürme, Plastiken aus Basalt oder Diorit. Eine Bilderschrift – die älteste, die wir kennen – mit 2000 Symbolzeichen, die Keilschrift, entsteht. Eine Mathematik, aufgebaut auf der Zahl Sechs wie unsere Mathematik auf der Zahl Zehn und so kompliziert immerhin, dass sie die erste echte Astronomie ermöglicht. Von den Sumerern haben wir bis heute die Einteilung des Tages in 24 Stunden – je 6 Stunden für ein Viertel des Sonnenumlaufs –, der Stunde in 60 Minuten, der Minute in 60 Sekunden, des Kreises in 360 Grad und vieles andere. Ihr Schulsystem führte jeden Staatsdiener durch achtzehn Jahre gründlicher und vielseitiger Ausbildung in Künsten und Wissensgebieten und in einer großen Anzahl von Fremdsprachen bis zu seiner Berufung.

Nun traten die ersten Könige auf, Diener der Götter und selbst Träger göttlicher Würde. Ihre Aufgabe war es, Tempel zu bauen, großangelegte Rituale zu feiern, Bewässerungskanäle zu graben, auf die Abgrenzungen der Felder zu achten, Baumaterial zu beschaffen und Lebensmittelreserven anzulegen. Eine exakte Verwaltung ordnete das Leben in den weiten Ackerbauzonen rings um die Städte.

Diese erste große Kultur der Sumerer dauerte rund 1000 Jahre. Dann begann eine unruhige Epoche immer neuer Einbrüche fremder Völker ins Land von Euphrat und Tigris. Um 2500 v.‍Chr. drangen die ersten semitischen Eroberer von der arabischen Wüste her ins Land: Ihr König Sargon von Akkad gründete das erste Großreich, schuf das erste stehende Heer, erfand den Eroberungskrieg und vergrößerte seinen Einflussbereich bis Anatolien und bis ans Mittelmeer.

 

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Priesterstatue, Irak. Foto Zink. /. Archiv Zink

 
 

König Sargon von AkkadKaum ist die Kunst des Bronzegusses entdeckt, entsteht schon eines der ganz großen Kunstwerke in dieser Technik. Der Kopf wurde später absichtlich beschädigt, die als Augen eingesetzten Steine herausgestoßen und die Augenhöhlen rundum zerschlagen, aber noch immer strahlt er souveräne Kraft und Gelassenheit aus. Das Haar ist in Zöpfe gefasst, der Bart gekräuselt nach Art der sumerischen Könige, deren kulturelles Erbe Sargon (um 2356‍–‍2300 v.‍Chr.) übernahm und pflegte [21]

 
 

Nach 2000 v.‍Chr. dringen die Amoriter ein und gründen das altbabylonische Reich, das seinen Höhepunkt unter dem großen König und Gesetzgeber Hammurapi erreicht (1792‍–1750 v.‍Chr.). Auch dieses Reich ist ein auf Eroberung und Unterwerfung gebauter Macht- und Militärstaat. Aber auch dieses Reich besteht nicht lange: Um 1580 v.‍Chr. zerstören die Hethiter Babylon, und kurz danach wandert wieder ein neues Volk ein, das sofort die Herrschaft ergreift: die Kassiten.

 

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Sargon von Akkad. Foto Zink. /. Archiv Zink

 
 

Streitwagenfahrer der MitanniIhr zweirädriges Fahrzeug mit Scheibenrädern erinnert an den Schrecken, der die Völker Mesopotamiens erfasste, als Anfang des 2.‍Jahrtausends v.‍Chr. erstmals ein Reitervolk mit solchen Wagen aus den Bergen herabkam und alles umstürzte, was es an bestehender Ordnung und Herrschaft gab, ob sie nun später Hurriter hießen, Hyksos, Mitanni oder Hethiter. Sie brausten daher, errichteten mehr oder weniger beständige Reiche und unterlagen irgendwann dem nächsten Sturm aus den Bergen oder der Wüste [22]

 
 

Im Westen von Mesopotamien geschieht Ähnliches. Um 2500 dringen Wüstenbewohner, die wir »Kanaanäer« oder »Kanaaniten« nennen, ins südliche Syrien ein, das heutige Palästina, und bilden zahlreiche Stadtstaaten. Mit ihnen mussten nach 1300 v.‍Chr. die Israeliten das Land »Kanaan« teilen, im Alten Testament spielen sie deshalb eine wichtige Rolle.

Alle diese Einwanderer kommen nicht so, wie ein Eroberer ein Land besetzt, sondern sie sickern, in jeder Generation wieder neu, in größeren oder kleineren Wellen in das Gebiet des »fruchtbaren Halbmonds« ein, in jenes große Kulturgebiet vom Persischen Golf bis zur syrischen Mittelmeerküste und von da südwärts bis zur ägyptischen Grenze. Irgendwann in dieser Zeit – vermutlich zwischen dem 17. und dem 15.‍Jahrhundert v.‍Chr. – muss die Wanderung Abrahams stattgefunden haben.

Überblickt man die 2000 Jahre geschichtlicher Zeit bis 1500 v.‍Chr., so sieht man ein ständiges Hin und Her von Wanderbewegungen indogermanischer oder semitischer Völker, die teils aus dem iranischen Hochland und dem südlichen Zentralasien kommen, teils aus den Wüsten- und Steppengebieten südlich von Mesopotamien und Syrien. Aus dieser ständigen Fluktuation gewinnt Mesopotamien – anders als das stabile Ägypten – seine lebendige, immer wieder Neues hervorbringende Kraft.

 

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Mitanni im Streitwagen. Musée du Louvre (Paris). /. Archiv Zink

 

1.9 Die Epoche der Mütter

 

Wir kehren noch einmal in die Zeit zwischen dem 10. und dem 4.‍Jahrtausend v.‍Chr. zurück. Denn in ihr suchen wir die so überaus wichtige Epoche des Mutterrechts und der Mutterkultur, die wir das »Matriarchat« nennen.

Es ist wohl 12 000 Jahre her – mit aller Vorsicht soll diese Abgrenzung gelten, es können auch 15 000 sein –, seit im Nahen Osten die schweifenden Familien und Völkergruppen den Erdboden als Ort des Wohnens, des Säens, Pflanzens und Erntens entdeckten. An anderen Stellen der Welt geschah dies erst viel später. Wir nehmen an, dass, wie gesagt, die Frauen anfingen, die winzigen Körner, die damals aus den Vorläufern unseres Getreides wuchsen, der Erde anzuvertrauen in der Erwartung, es werde etwas Essbares daraus hervorwachsen. Früh schon muss den Menschen aufgefallen sein, dass die Erde etwas tat, was unter den Menschen die Mütter taten: Leben schaffen, neues, junges Leben, und früh schon muss ihnen die Erde wie eine große Mutter erschienen sein, die ihre Kinder, die Pflanzen, die Tiere und die Menschen, hervorbrachte und ernährte. Auch müssen sie entdeckt haben, wie der Umlauf des Mondes im selben Rhythmus geschah wie der Zyklus der Frauen, dass also der Himmel und die Fruchtbarkeit der Erde in Beziehung miteinander standen.

Mit der neuen Kunst des Säens und Pflanzens, mit der Technik des Ackerbaus kam die feste Wohnsiedlung, und mit beidem begann die Kultur der Mütter, auf die die Frauen von heute mit Recht immer wieder verweisen, um besser zu verstehen, was in den Jahrtausenden seither zwischen Frauen und Männern sich abgespielt hat.

Um 7000 v.‍Chr. wuchsen die Siedlungen zu Städten. Die ersten Nutztiere wurden gezähmt: Rinder, Schafe und Ziegen. Erstaunlich solide und schöne hölzerne Möbel entstanden. Die ursprünglich raue Zivilisation der Nomaden wurde feiner, differenzierter, sensibler. Es entstand im Wortsinn das, was wir »Kultur« nennen, denn dieses Wort bedeutet ursprünglich nichts anderes als eben »Ackerbau«.

Mit Beginn der Sesshaftigkeit und durch die neue Bedeutung der Mütter änderte sich auch das religiöse Bewusstsein: Nomaden richteten ihre religiöse Aufmerksamkeit auf die Bewegungen der Gestirne oder die magischen Kräfte von Tieren. Die Religionen der Epoche der Mütter waren dagegen der Erde zugewandt: dem Wachstum, dem Rhythmus von Tod und Leben, und erst von hier aus auch dem Mond und der Sonne.

 

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Göttin aus dem 3.‍Jahrtausend v.‍Chr.Kenntlich an einer Schlangenkrone, ist sie umgeben vom Heer der Sterne und vor allem vom Vollmond (links) und vom Sichelmond (rechts), stellt also den Umlauf des Mondes dar. Aus dem Gefäß in ihrer Linken strömt Wasser wie aus einer Quelle: Element des Segens einer lebendigen, immer wiederkehrenden Lebenskraft [23]

 
 

Anders als in den späteren Zeiten war dieser Epoche nicht ein bestimmter Kult heilig, kein Tempel, kein Bild eines Gottes allein, sondern das Dasein überhaupt: alles, was dem Leben seine Kraft gab, seine Schönheit, sein Leid auch und seine Angst, seine Schrecken, sein Ende und seine Wiederkehr.

Die Urgöttinnen jener ersten Jahrtausende wurden wohl anfangs nicht als Einzelgestalten mit Gesichtern und Namen verehrt, sondern als allgegenwärtige Mächte, Vertreterinnen der Weisheit und der Gerechtigkeit, Vertreterinnen auch des Gemeinsamen im Leben der Menschen, das allem Eigenwillen der Einzelnen überlegen und entgegengesetzt ist.

 

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Tonrelief einer Göttin. Foto Zink. /. Archiv Zink

 
 

Große Mutter im Grundstein eines Hauses