Tobi und Zweistein - Bernd Gerrards - E-Book

Tobi und Zweistein E-Book

Bernd Gerrards

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Beschreibung

Tobi + Zweistein erzählt die Geschichten eines Jungen, der von seinem Großvater ein außergewöhnliches Geschenk erhält. Zunächst ist es für Tobi nur eine gewöhnliche Puppe. Doch weil Zweistein ganz besonders ist, werden beide schon bald gute Freunde. Gemeinsam erleben sie lustige und spannende Geschichten. Wenn Tobi mal nicht weiter weiß, kommt Zweistein mit gutem Rat zur Hilfe.

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Seitenzahl: 168

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Kapitel

Besuch bei den Großeltern

Ein Geschenk von Großvater

Die Mutprobe

Tobis Geburtstag

Besuch von Tante Irmi

Not macht erfinderisch

In der Schule

Frau Staller braucht Hilfe

Mama und Papa haben Streit

Glücklich verlaufen

Tobi macht alles Falsch

Sorgen um Mama

Das Rennen

Ein verlängertes Osterfest

Vater und Sohn Wochenende

Hitzefrei

Besuch bei den Großeltern

Es war sieben Uhr an einem Sonntagmorgen im Sommer und die Sonne strahlte schon warm vom Himmel. Der zehnjährige Tobi saß mit seiner Familie im Auto, auf dem Weg zu den Großeltern. Alle freuten sich auf dieses Wiedersehen und den Tag gemeinsam in Opas riesigem Garten zu verbringen. Tobis Vater Jürgen, fuhr den Wagen, seine Mutter Gabi saß wie immer als Beifahrerin daneben. Tobi und seine vier Jahre ältere Schwester Lisa mussten wie immer hinten sitzen.

Als beide Kinder noch kleiner waren, fragten sie alle zehn Minuten, wie lange es noch dauerte, bis sie endlich bei den Großeltern waren. Doch so oft wie sie inzwischen schon mitgefahren waren, kannten sie die zweistündige Strecke fast auswendig. Manchmal sang Mama Lieder aus dem Radio mit. Weil aber nur sie selbst ihre Stimme schön fand, machte Papa immer schnell das Radio lauter und Lisa, sowie Tobi hielten sich ihre Ohren zu, um Gabis Gesang nicht ertragen zu müssen. Hin und wieder spielten auch alle »Ich sehe was, was du nicht siehst«, damit es den Kindern nicht langweilig wurde. Meistens jedoch guckte jeder aus dem Autofenster und schaute verträumt in die Landschaft. Nur Jürgen konzentrierte sich auf den Verkehr und spürte doch Gabis vorwurfsvolle Blicke. Weil er schon früh bei Oma und Opa ankommen wollte, fuhr er wieder einmal ein wenig schneller als erlaubt. „Deine Raserei bringt uns noch alle in Gefahr. Du bist kein gutes Vorbild für unsere Kinder“, sagte Gabi genervt. Jürgen lächelte nur und versuchte seine Frau zu beruhigen. „Ich passe schon auf, damit uns nichts passiert. Außerdem ist weit und breit keine Polizei zu sehen, weil die Sonntagsmorgens alle noch gemütlich in ihren Betten liegen“, meinte Jürgen beruhigend. Doch da hatte er sich wohl getäuscht.

Als sie die nächste Linkskurve durchfahren hatten, wurden sie von einem hellen roten Blitzlicht am Straßenrand geblendet. „Mist, war das gerade eine Radarkontrolle“, fragte Jürgen ungläubig. Gabi nickte triumphierend und antwortete: „Jawohl, das musste ja früher oder später so kommen!“ Während Jürgen sich darüber ärgerte, das Blitzgerät nicht entdeckt zu haben und darüber hinaus Gabi eingestehen musste, Recht zu haben, stand plötzlich ein Polizist mit einer Kelle in der Hand mitten auf der Straße, um Jürgen anzuhalten. „Dann ist das wohl ein Polizist der schlafwandelt“, kicherte Lisa laut.

Jürgen hielt am Straßenrand und kurbelte sein Fenster hinunter. Mit strenger Miene sagte der Wachtmeister zu Jürgen: „Auf sie habe ich schon den ganzen Morgen gewartet.“ Gabi beugte sich zu dem offenen Fenster und antwortete nörgelnd: „Mein Mann ist auch so schnell gekommen wie er konnte.“ Da musste nicht nur die ganze Familie, sondern auch der Polizist ein wenig schmunzeln. Nachdem die Papiere kontrolliert wurden, musste Jürgen noch ein Bußgeld bezahlen und durfte anschließend weiterfahren. Von dem Schreck erholt, fieberten dann alle wieder dem bevorstehenden Tag auf dem Land entgegen.

Die ganze Familie liebte die Sonntage bei den Großeltern. Dort war es nicht so modern wie zu Hause, sondern eher altmodisch. Doch irgendwie so herrlich gemütlich. Im Wohnzimmer stand ein Radio aus früheren Zeiten und auch der Fernseher war noch immer derselbe, auf dem Jürgen schon als kleiner Junge seine Kindersendungen geguckt hatte. In der Küche befand sich ein alter Herd, der mit Kohlen geheizt wurde. Es schien so, als ob die Menschen früher mehr Zeit gehabt hätten, oder sich zumindest nehmen mussten.

Kurz vor der Ankunft waren alle Vier ganz ungeduldig, um die Großeltern endlich begrüßen zu können. Als der Wagen endlich auf dem Hof ankam, saßen die Großeltern Hand in Hand auf einer kleinen Bank vor ihrem Haus, um die wärmende Morgensonne zu genießen. Die Familie stieg aus und alle drückten sich ganz herzlich. Oma und Opa schauten liebevoll ihre Enkelkinder an und waren erstaunt, wie sehr sie seit dem letzten Besuch wieder gewachsen waren.

Nach der herzlichen Begrüßung gingen alle in den Garten hinterm Haus, wo der große Gartentisch schon für das Frühstück gedeckt war. Jeder hatte eine Menge zu erzählen von dem, was in letzter Zeit besonderes erlebt wurde, oder alles passiert war.

Während Oma noch in der Küche beschäftigt war, sorgte Opa für die Getränke. Kaffee für die Großen und Kakao für die Kinder. Lisa meinte jedoch, sie wäre jetzt fast erwachsen und wollte auch lieber Kaffee trinken. Doch so viel Zucker sie auch hineinstreute, der Kaffee wurde einfach nicht leckerer und schmeckte für sie irgendwie nach Medizin. Doch das wollte sich Lisa auf keinen Fall anmerken lassen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als den bitteren Kaffee in kleinen Schlückchen hinunterzuwürgen. Anschließend brauchte Lisa jedoch eine große Tasse Kakao zum Nachspülen, damit sie wieder einen besseren Geschmack bekam.

Nach dem sie ausgiebig gefrühstückt hatten, legten sich Papa und Lisa auf die Gartenliegen, die unter einem schattenspendenden Eichenbaum standen, um sich von dem vielen Essen auszuruhen. Mama half Großmutter unterdessen beim Abräumen. Nur Tobi blieb mit seinem Großvater noch am Tisch sitzen. Dabei erzählte er ihm, was er in der Schule alles gelernt hatte und wie erfolgreich er mit seiner Fußballmannschaft war. Sein Opa hörte ganz aufmerksam zu und fand das alles ganz spannend. Zwischendurch lächelte er Tobi an, weil er mächtig stolz auf seinen Enkel war.

Ein Geschenk von Großvater

Nach einer Weile stand Großvater auf, streckte Tobi seine Hand entgegen und bat ihn, mit zu kommen. Tobi hatte seinen Opa sehr lieb, darum ließ er sich auch nicht zweimal bitten. Schon viele spannende Geschichten hatte er Tobi erzählt. Zum Beispiel aus der Zeit, als Großvater selbst noch ein kleiner Junge war. Damals gab es nur ganz wenige Spielzeuggeschäfte. Wenn man etwas zum Spielen haben wollte, musste man es sich selber basteln. Da brauchte es schon einiges an Ideen und Geschicklichkeit. Das Geld war damals knapp und wurde für Essen und Kleidung benötigt. Nur die Wenigsten hatten so viel sparen können, um sich fertige Kleidung zu kaufen. Großvater musste immer die Hosen und Hemden seiner älteren Brüder auftragen.

Tobi folgte seinem Opa die steile Treppe zum Speicher hinauf. Er ahnte schon, was kommen würde und fragte: „Möchtest du mir wieder alte Fotos von früher zeigen?“ „Nein, heute nicht. Ich möchte dir etwas ganz Besonderes zeigen“, erwiderte Großvater. Er kramte und verschob ganz viele Kisten, um an den untersten Karton zu gelangen. „Das muss ja ziemlich alt sein, so viel Staub wie da draufliegt“, meinte Tobi, nicht gerade begeistert. Großvater öffnete ganz vorsichtig den alten Karton. Das schummrige Licht von der alten Speicherlampe und den wenigen Sonnenstrahlen die durch das Dachfenster strahlten, ließen nur erahnen, welche alten Schätze sich darin versteckten.

Es handelte sich um Opas Erinnerungsstücke aus seiner Kindheit, die alle sorgfältig in der Kiste verstaut waren. Ein paar Anziehsachen, sowie verschlissene Hosenträger, die mit ganz vielen Knoten noch eine Hose halten konnten. Jacken und Hemden mit faustgroßen Löchern und ein Paar alte Kinderschuhe, an denen die Sohle schon halb herunterhing und nur mit einem umwickelten Einmachgummi notdürftig geflickt worden waren. Na prima, das ist ja so aufregend wie einem Kuchen beim Backen im Ofen zuzugucken, dachte Tobi bei sich. Als sein Großvater ganz tief in den Karton griff und ein in Tüchern gewickeltes Bündel hervorholte, hatte Opa plötzlich Tränen in den Augen. Das musste entweder etwas ganz schlimmes, oder wunderschönes sein, was Großvater ihm da zeigen wollte. Zuerst legte er aber alle anderen Sachen wieder in die Kiste zurück, verschloss den Karton und stapelte die Kisten wieder aufeinander. Großvater nahm erst das Bündel und dann Tobis Hand. „Komm, lass uns ins Wohnzimmer gehen. Dort sind wir beide ungestört und du kannst es besser bestaunen.“

Tobi war vor lauter Neugier unfähig zu antworten und folgte seinem Opa wortlos die Treppen hinunter. Im Wohnzimmer angekommen, schloss Großvater die Türe und setzte sich mit Tobi auf das Sofa. „Was ist denn da drin“, platze es aus Tobi heraus, weil er es kaum noch abwarten konnte. Sein Großvater schaute ihn liebevoll an und begann zu erzählen: „Ich musste sehr lange auf diesen Augenblick warten, Tobi. Es kann für dich etwas sehr Wertvolles sein, wenn du die Besonderheit erkennst und es lieb gewonnen hast.“

Er schlug ganz vorsichtig das Tuch auf und zeigte seinem Enkel, was sich darin verbarg. „Oh, der sieht aber süß aus. Aber was ist das? Ein Affe, ein Bär, oder vielleicht doch ein Mensch?“ fragte Tobi sichtlich ratlos.

Großvater strich Tobi mit der Hand über den Kopf und erzählte ihm, was es damit auf sich hatte. „Das war mein liebstes Spielzeug, oder besser gesagt, der bester Freund, den ich damals besaß. Meine Mutter, also deine Urgroßmutter, hatte ihn für mich gebastelt, als ich so alt war, wie du jetzt bist. Ich habe mich damals direkt in ihn verliebt. Er ist wohl ein Äffchen und ich habe ihn, direkt als ich ihn sah, Zweistein getauft.“ „Ist das ein alter Name? Denn ich kenne niemanden, der so heißt“, sagte Tobi verwundert. Großvater lachte laut und meinte dann, „Es war der Spitzname von meinem Opa. Seine Familie und alle seine Freunde haben ihn so genannt. Er war nämlich so schlau und fand für jedes Problem eine Lösung. Darum gab man ihm den Namen, der einem berühmten Wissenschaftler ähnlich war. Und weil ich meinen Großvater so lieb hatte, habe ich mich sofort für diesen Namen entschieden. Zumal er mit dem kleinen Bäuchlein und seinen runden neugierigen Knopfaugen meinem Großvater sehr ähnlich sah und darum der Name zu ihm passte.

Doch das ist noch nicht alles Tobi. Zweistein kann noch etwas ganz Besonderes.“ Sein Enkel guckte ihn an und meinte dann lachend: „Opa, der kann doch nur stehen, sowie auf dem Bauch und Rücken liegen. Vielleicht noch süß gucken, aber das war es doch wohl schon.“ Großvater sah ihn mit leuchtenden Augen an und erzählte Tobi ein Geheimnis, welches niemand sonst auf der Welt kannte. „Oh nein, mein Junge, da irrst du dich aber gewaltig. Wenn du sein Ohr zwischen deinen Fingern reibst, ertönt eine Stimme die dir, „Guten Tag“ sagt.

Tobi guckte etwas enttäuscht und erklärte seinem Großvater, „das kenne ich schon. Lisa hatte damals eine Puppe, die machte dasselbe. Nur sagte diese immer, „Du musst mich füttern, ich habe Hunger.“ Das ist doch nichts Besonderes, Opa.“ Der Großvater lächelte seinen Enkel an: „Heutzutage ist das sicherlich normal, doch es sind immer nur ein paar Sätze, die von den Puppen aufgesagt werden. Jedoch ist das bei Zweistein etwas anders. Wenn du ihn wirklich als deinen Freund ansiehst und dich ihm gegenüber auch so verhältst, wirst du überrascht sein. Gehe mit ihm so behutsam um wie ich es gemacht habe. Wirf ihn nicht einfach in die Ecke oder unter deinen Schreibtisch, sondern behandele ihn gut.

Wenn es mir früher einmal schlecht ging, oder ich ein Problem hatte, half mir Zweistein immer mit seinem Ratschlag, wie ich es lösen konnte. Doch das macht er nur mit Menschen, die ihn sehr lieb haben. Verstehst du, was ich dir damit sagen möchte? Zweistein ist etwas ganz besonderes. Warum er das kann, weiß ich nicht. Ich habe auch nie versucht, in ihn hineinzugucken, weil ich Angst hatte, er könnte kaputt gehen. Manchmal ist es besser, die Dinge so hinzunehmen, wie sie nun einmal sind.“

Tobi tippte sich mit seinem Zeigefinger auf die Lippen. Das machte er immer, wenn er angestrengt nachdachte. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. „Kann es sein, dass Papa Zweistein zu seinem achten Geburtstag von dir geschenkt bekam? Er erzählte mir einmal, dass du ihm eine Puppe geschenkt hast, mit der er nie spielen wollte“. Großvater seufzte leise und sah Tobi tief in die Augen, als er zu ihm sagte: „Ja, das stimmt.

Nachdem ich zu alt war um noch mit ihm zu spielen, habe ich ihn eingepackt und in diesen Karton gelegt. 20 Jahre lang lag er wohlbehütet darin, bevor ich ihn deinem Vater zum Geburtstag schenkte. Ich hatte mir schon vorgestellt, dass er genau so viel Freude mit Zweistein haben würde wie ich damals, als ich klein war. Doch es kam ganz anders. Die Tage und Wochen nach seinem Geburtstag sah ich deinen Vater nie damit spielen. Das Feuerwehrauto von Onkel Franz war sein Lieblingsspielzeug geworden. Zweistein hatte für ihn keine Bedeutung. Und auf die Frage, wo er sei, sagte dein Vater nur, „Mädchen spielen mit Puppen. Ich bin aber ein Junge und möchte später einmal Feuerwehrmann werden.“ Da ging ich in sein Zimmer, um ihn zu suchen. Ich fand ihn unter seinem Bett, schon ein wenig eingestaubt. Ich drückte ihn ganz fest an mich und erinnerte mich an die vielen Jahre, in denen wir unzertrennlich waren.

Dein Vater wusste nichts mit ihm anzufangen. Also packte ich ihn wieder in ein Tuch und den Karton, um auf den Tag zu warten, an dem ich Zweistein einem Kind schenken kann, für den er ein wahrer Freund werden könnte. Und ich glaube fest daran, dass heute dieser Tag gekommen ist und du dieses Kind bist.“ Tobi dachte eigentlich genauso wie sein Vater, dass Puppen nur etwas für Mädchen sind. Jungs spielen Fußball oder mit Autos. Er sah Großvater an und spürte sehr, wie wichtig es ihm war, Zweistein einem Kind zu geben, dass seinen Wert zu schätzen wusste.

Tobi versuchte sich über das Geschenk zu freuen, damit sein Großvater glücklich war. „Danke, vielmals Opa. Ich bin schon ganz gespannt, was er mir alles zu sagen hat. Kann ich vielleicht noch etwas hier im Wohnzimmer sitzen bleiben, die anderen müssen ja nicht mitbekommen, was er mir erzählt und dass ich mit einer Puppe spiele.“ Der Großvater lachte und es fühlte sich gut für ihn an, dass Zweistein jetzt Tobi gehörte. „Du kannst dich so lange mit ihm beschäftigen, wie du möchtest, mein Junge. Aber Zweistein wird dir noch nichts erzählen, weil du nämlich nur so tust, als ob er dir gefällt. Das kann ich in deinen Augen erkennen, wie du ihn anschaust. Doch habe nur etwas Geduld, ihr werdet schon noch gute Freunde, daran glaube ich ganz fest.“ So etwas gibt es ja nicht, dachte Tobi. Diese kleine Puppe kann mir bestimmt nicht helfen, wenn ich mal nicht weiter weiß. Großvater ließ die beiden alleine und ging wieder zum Rest der Familie in den Garten zurück.

Lisa lag mit Kopfhörern und einem Buch in der Hand auf der Sonnenliege und war in Gedanken ganz weit weg. Gabi saß mit Großmutter am Gartenteich, wo sich beide über Kochrezepte unterhielten. Papa hockte auf der Wiese und schaute verträumt in Richtung der großen, alten Eiche am Ende des Gartens. Sein Blick konzentrierte sich dabei auf eine ganz bestimmte Stelle. Zwischen all den Ästen, Zweigen und Blättern. Denn dort konnte man noch sein altes Baumhaus erkennen. Als er noch klein war, beneideten ihn alle Kinder in der Nachbarschaft um seine »Ritterburg«, wie er sie nannte.

Und damit keiner einfach so hinauf kommen konnte, hatte sein Vater ihm eine Strickleiter gebastelt, ohne die es niemandem möglich war, in das Baumhaus hinauf zu klettern. So viele Stunden hatte Jürgen damals da oben alleine gespielt, oder gemeinsam mit seinen Freunden verbracht. Es war seine kleine Welt, die ihm ganz alleine gehörte.

Von da oben hatte man eine gute Sicht über den ganzen Garten, der für ihn sein Königreich war. So wie jeder König, so besaß er auch ein edles Pferd. Struppi der Familiendackel hatte die ehrenvolle Aufgabe, Jürgens Pferd zu spielen. Dem Hund war es egal, solange er im Schatten des Baumes liegen und schlafen konnte.

Großvater kam ganz langsam auf seinen Sohn zu und fragte ihn mit leiser Stimme: „Erinnerst du dich noch daran, als du der König im Baumhaus warst?“ Jürgen sah seinen Vater an und sagte voller Dankbarkeit: „Das Baumhaus war mit Abstand das schönstes Geburtstagsgeschenk, welches ich je bekommen habe. Es war mein Schloss, in dem ich ein König war. Ein Jahr später bekam ich von euch dieses Püppchen geschenkt. Wie nanntest du es noch immer? Ziegelstein oder so ähnlich. Doch was war schon so ein Tierchen im Vergleich zu einem Baumhaus, in dem man so toll spielen konnte?“ „Ach weißt du Jürgen“, erwiderte der Großvater. „Zweistein sollte keine Konkurrenz für dein Baumhaus sein. Ich hatte gehofft, dass er dir auch so ein guter Freund werden konnte, wie er es mir in meiner Kindheit gewesen war. Ich hatte damals beruflich die ganze Woche viel zu tun und war dadurch ständig unterwegs. Deine Mutter hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Haus und den Garten in Ordnung zu halten. Wir hatten also alle sehr wenig gemeinsame Zeit miteinander. Doch dann habe ich mich wieder an Zweistein erinnert, der mir als Kind ein guter Freund gewesen war. Gerade eben habe ich ihn Tobi geschenkt. Belächele ihn also nachher bitte nicht, wenn er ihn mit nach Hause nimmt. Ich glaube nämlich fest daran, dass er für ihn sehr wertvoll werden kann.“ „Ok Papa, ich verspreche es dir“, sagte Jürgen mit einem verständnisvollen Lächeln.

Langsam wurde es Abend und die Sonne malte lange Schatten in die Landschaft. Die Hitze des Tages hatte nachgelassen, doch es war noch immer angenehm warm und der Himmel noch taghell. Für das Abendbrot stellte Großmutter immer alles auf den Tisch, was sie in der Küche an Essbarem finden konnte. Ihre große Leidenschaft war das Marmeladekochen von all dem Obst, das in ihrem Garten wuchs. Zudem gab es noch die verschiedensten Brote, Würste, Käse und Kuchen. Anschließend waren alle ziemlich satt und müde vom vielen Essen. „So allmählich wird es Zeit, dass wir die Heimreise antreten", sagte Papa. Doch wie immer, wurde dieser Vorschlag mit einem flehenden »Nein, bitte noch nicht« von allen anderen erwidert. Mama war wie immer versucht es allen recht zu machen und antwortete mit einem liebevollen Blick an Papa gerichtet: „Eine Viertelstunde können wir noch bleiben. Ok, Jürgen?" Der nickte lächelnd, weil er fast immer auf Mama hörte.

Es war mittlerweile schon dunkel geworden, als alle am Auto standen, um sich zu verabschieden. „Es war wiedermal ein wunderschöner Tag mit euch. Dann fahrt schön vorsichtig und bis zum nächsten Mal", sagte Großvater, wie eigentlich bei jeder Verabschiedung. „Und dir, Tobi, wünsche ich viel Spaß mit deinem neuen Freund. Wenn du Fragen hast, kannst du mich jederzeit anrufen“, rief Opa seinem Enkel durch das offene Autofenster hinterher. „Was meinte Großvater damit, wenn du Fragen hast", wollte Lisa von ihrem Bruder wissen. Tobi hatte jedoch nicht die Absicht, seiner Schwester alles zu erzählen, was er von Opa über Zweistein erfahren hatte. Nur, das es früher Großvaters Spielzeug gewesen sei.

Wie immer war es auf der Rückfahrt nach Hause ganz ruhig im Wagen. Jeder war in Gedanken versunken, mit den Bildern des wunderschönen Tages. So viele Besuche hatte es bislang bei den Großeltern schon gegeben. Doch alle waren einzigartig gewesen und viel zu schnell vergangen. Da wurden alte Geschichten von früher erzählt, als Papa selbst noch ein Kind war. Der riesige Garten mit den vielen großen Bäumen, Großmutters Gemüsebeete und Großvaters Sammlung unzähliger Gartenzwerge, die überall verteilt herumstanden und den Eindruck erweckten, als wäre man in einem Zauberwald. Und Oma konnte ja sooo lecker kochen. Bei ihr gab es kein Müsli, oder gesunde Salate wie bei Mama. Pfannenkuchen mit selbstgemachter Marmelade, Eis mit heißen Kirschen, Frikadellen, oder Schweinebraten mit Kartoffelpüree und Gemüse, das so einzigartig schmeckte. Alles in allem, waren es immer wieder besondere Sonntage, die man nie vergisst.

Zu Hause angekommen, war es schon sehr spät. Tobi und Lisa sagten ihren Eltern gute Nacht und gingen auf ihre Zimmer. Tobi hatte sich in sein Bett gelegt und das Licht ausgeschaltet. Sein Zimmer war plötzlich wieder in einen finsteren schwarzen Raum verwandelt. Nur der schwache Schein der Straßenlaterne verwandelte das ganze Zimmer in einen Raum voller dunkler langer Schatten. Tobi hielt Zweistein ganz fest an sich gedrückt und zog seine Bettdecke bis zu seiner Nase hoch, um noch Luft zu bekommen. Und jeden Abend dachte er das Gleiche. »Mein Zimmer ist gar nicht mehr so schön wie am Tage«. Alle seine bunten Spielsachen waren verschwunden. Man konnte nur noch schwarz und weiß erkennen, was den ganzen Raum unheimlich wirken ließ.