Tod auf der Finca - Alex Conrad - E-Book

Tod auf der Finca E-Book

Alex Conrad

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Beschreibung

Carmen Munar ermittelt NICHTS IST, WIE ES SCHEINT Mit ihrer Beförderung zum Sargento wird Carmen vom Dezernat Palma nach Inca versetzt. Gleich an ihrem ersten Arbeitstag als Leiterin einer Ermittlungseinheit muss sie sich mit einem Todesfall auseinandersetzen. Ein Mann wurde von seinem Zuchteber in den Oberschenkel gebissen und ist verblutet. Ein klarer Unglücksfall. Bis Peter, Tierarzt und Carmens Ex-Mann, Zweifel äußert. Obwohl ihr die Einmischung von ihrem Ex nicht gefällt, ist Carmens Misstrauen geweckt. Während Carmen sich bei den Ermittlungen mit ihrem neuen Kollegen zusammenraufen muss, holt sie ein alter Fall ein, der nicht nur ihr Leben bedroht.

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8392-7

Alex ConradTod auf der FincaCarmen Munar ermittelt

Für Mallorca, meine Heimat

Prolog

Schritte … der Hall ihrer eigenen in dieser schmalen und verwinkelten Gasse oder fremde? Carmen blieb stehen, lauschte. Ihre rechte Hand ging wie automatisch zum Holster, umschloss mit den Fingern die Dienstwaffe.

Einatmen, ausatmen. Dieses verfluchte Gefühl von Angst wegatmen. Bei Tag wirkte die Altstadt von Palma ja durchaus romantisch, aber sobald die Nacht hereinbrach, war es abseits des Haupttrubels mit seinen Restaurants und Bars vorbei mit Romantik.

Noch immer die Hand an der Waffe ging Carmen weiter. Ihr eigener Herzschlag dröhnte in den Ohren, machte es unmöglich, auf fremde Schritte zu lauschen. Gleich erreichte sie eine Ecke. Sie hastete um die Abzweigung, blieb stehen, drehte sich um und spähte in die Gasse zurück.

Ein Schatten huschte in einen zurückgesetzten Hauseingang. Es war also tatsächlich jemand hinter ihr gewesen. Wartete er dort nur auf die Gelegenheit, ihr erneut hinterherzulaufen, oder täuschte sie sich und es war nur ein Anwohner, der nun sein Haus betrat? Wenn doch dieses Dröhnen in den Ohren nicht wäre, könnte sie vielleicht das Klappen einer Tür hören.

Carmen biss sich auf die Unterlippe. Eben noch hatte sie den jungen Mädchen und Frauen im Selbstverteidigungskurs gepredigt, dass es nicht nur auf die Techniken bei einem möglichen Angriff ankam, sondern vielmehr schon auf ein selbstbewusstes Auftreten, um nicht als Opfer auserkoren zu werden. Wieso gelang ihr das selbst nicht immer?

„Ich bin wehrhaft, habe die Kontrolle. Es gibt keine Bedrohung“, flüsterte sie ihr Mantra, das ihr die Therapeutin damals ans Herz gelegt hatte. Ihr Atem wurde etwas ruhiger und sie streckte den Rücken durch.

Erneut spähte sie um die Ecke in die Gasse zurück. Kein Schatten zu sehen. Mit schnellen Schritten ging sie weiter. Wieso war sie auch zu Fuß zu dem Kurs gegangen, statt das Auto zu nehmen? Sinnlose Frage … Rücken durchdrücken, fest auftreten. Alles nur Einbildung, heraufbeschworen von einer nicht rationalen Angst. Bilder der Vergangenheit tauchten vor ihr auf. Drohgebärden und Gebrüll von Sergio im Gerichtssaal beim Urteilsspruch über ihn und die Mitglieder seines Drogenkonsortiums. Sie könne niemals sicher sein, irgendwann stehe jemand hinter ihr und dann … Carmen löste den Griff an der Waffe und wischte sich mit der flachen Hand über die Stirn, um die Bilder zu vertreiben, doch das ungute Gefühl nahm zu, ihr Atem beschleunigte.

Vor ihr war eine Straßenlampe ausgefallen und das letzte Stück bis zu einer breiteren Straße schien sich in der Dunkelheit aufzulösen.

Ein Duft stieg ihr in die Nase: Aftershave – ganz nah!

Ruckartig drehte sie sich um, duckte sich dabei, ihre Finger berührten Stoff. Carmen packte zu, schnellte mit dem Oberkörper hoch, riss die Arme mit nach oben.

Mit einem Schrei landete der Angreifer auf dem Boden. Sein Atem ging stoßweise.

Carmen zog ihre Waffe, entsicherte. „Nicht bewegen! Ich bin bewaffnet!“ Mit der anderen Hand fingerte sie ihr Handy aus der Tasche. Drückte dabei den Knopf auf der Seite für die Taschenlampenfunktion.

„Schlampe!“, schrie der Mann und drehte geblendet den Kopf weg.

„Ich sagte: Nicht bewegen!“ Noch immer richtete Carmen ihre Waffe auf den Mann. Trotz der Handylampe konnte sie sein Gesicht nicht gut erkennen, denn er trug ein Kapuzenshirt und hatte die Kapuze fest unterhalb seines Mundes zusammengebunden. Oberhalb zog sich das Gummiband bis über seine Augenbrauen. Handschellen oder Kabelbinder hatte sie nicht dabei. Sie musste die Kollegen anrufen.

Ihr Blick ging hastig zwischen dem Angreifer und dem Handydisplay hin und her. In der rechten Hand hielt sie die Waffe und mit der linken allein rutschte sie am Display für die Kurzwahl ab.

Der Tritt gegen ihre Waffenhand kam unerwartet. Ihre Waffe schlitterte über den Boden und der Angreifer stand wieder auf beiden Beinen. Drückte sie energisch an die Hauswand.

Bevor Carmen mit einem Abwehrschlag auf seinen Hals kontern konnte, sprang er einen Meter zurück.

„Glück gehabt“, zischte er und rannte davon.

Der Puls an ihren Schläfen wummerte, der Schweiß in ihrem Nacken lief mittlerweile ihren Rücken hinab. Einatmen, ausatmen.

Der Lichtschein ihrer Handylampe zitterte, als sie den Boden ableuchtete. Wenige Meter vor ihr lag die Waffe. Sie hob sie auf, sicherte sie und schob sie zurück ins Holster.

Den Typen zu verfolgen, konnte sie vergessen, der war längst irgendwo verschwunden. Für eine Suche in der Verbrecherkartei hatte sie zu wenig von seinem Gesicht erkennen können. Die Angst wich der Wut. Carmen trat gegen die Hauswand. Wieder und wieder. Bis ihre Beine müder wurden, die Atmung ruhiger. Dieses Arschloch würde sie nicht kleinkriegen. „Ich bin wehrhaft, ich habe die Kontrolle.“

Eins

Carmen zupfte ihre Uniform zurecht. Sie hasste es, sich zu offiziellen Anlässen hineinzuzwängen, und war dankbar, anschließend zum normalen Dienst wieder in ihre Jeans schlüpfen zu können. Bestimmt wollte sie der Polizeichef sehen, um sie zum letzten Erfolg zu beglückwünschen. Über ein halbes Jahr hatte sie die Ermittlungen in einem verzwickten Mordfall geleitet und den Mörder überführt.

Zumindest hoffte Carmen, dass es nichts mit ihrer nächtlichen Begegnung zu tun hatte. Die wenigen Tage, die bisher vergangen waren, hatte sie mehrmals angesetzt, ihrem Kollegen Joan von dem Vorfall zu erzählen, doch am Ende Abstand davon genommen. Da sie den Angreifer nicht erkannt hatte, wäre es sinnlos und würde nur für Aufregung in ihrem beruflichen Umfeld sorgen. Zwar war die Erinnerung nicht verblasst, doch die Angst beherrschte sie nicht. Rational betrachtet wusste sie nichts über den Angreifer und möglicherweise war es einfach nur ein missglückter Angriff eines Junkies auf der Suche nach Geld gewesen. Wobei … hätte der Geld gehabt, sich ein Aftershave zu leisten?

Wenn nach Dienstschluss die Wut darüber, sich ausgeliefert zu fühlen, hochgekocht war, war sie am Meer entlanggelaufen. Von der Kathedrale bis zum Fährhafen und zurück … schneller und schneller, bis alles Denken und Fühlen nur noch von dem nächsten Schritt vor ihr beherrscht worden war.

Carmen atmete tief durch, bevor sie an die Tür des Leiters der Policia Nacional klopfte.

„Herein.“

Sie öffnete die Tür, trat ein und schloss sie wieder hinter sich, ehe sie sich militärisch korrekt zum Gruß vor den Schreibtisch von Agustin stellte. „Director General!“

„Buenos días. Schön, dass Sie trotz der frühen Morgenstunde pünktlich sind. Bitte nehmen Sie Platz.“ Er lächelte Carmen freundlich zu.

Mit durchgedrücktem Rücken setzte sie sich auf den Stuhl.

„Carmen, ich darf Sie doch so nennen?“

Sie nickte.

„Nun, Sie haben beachtliche Erfolge vorzuweisen und das nicht nur hier in Palma. Ihre anderen Stationen auf dem Festland können sich ebenfalls sehen lassen.“

Wo führte das hin? Wollte er sie versetzen? Carmen fühlte sich sehr wohl in ihrer Heimatstadt und war vor acht Jahren überglücklich gewesen, als sie von Valencia zurück nach Palma beordert worden war. Zwar sah sie seitdem ihre Eltern nicht mehr so häufig, doch ihre Karriere ging vor. Ihr Vater hatte damals auch nicht gezögert, als ihm die Leitung einer Fliesenfabrik angeboten worden war und dafür die ganze Familie von Mallorca nach Valencia umziehen musste.

Obwohl Carmen die Zeit auf dem Festland genossen hatte, wollte sie jetzt nicht so schnell von Mallorca weg. Sie rang sich ein Lächeln ab.

„Haben Sie keine Angst.“

Er schien ihre Gedanken lesen zu können.

„Auch, wenn Sie mit sechsunddreißig Jahren noch jung sind, ist Ihre Karriere beispielhaft und immer mehr Frauen übernehmen Führungspositionen.“

„Um die Quote der Gleichberechtigung zu erfüllen“, rutschte Carmen heraus und sie bereute es sofort, als sie sah, wie Agustin die Nasenlöcher blähte. „Verzeihung.“

„Schon gut. Sie mögen damit in manchen Fällen recht haben, doch bei Ihnen …“, er beugte sich etwas vor, „ist es Ihre unermüdliche Leistung, die das Innenministerium von meiner Empfehlung überzeugt hat.“

Es klopfte.

Agustin lächelte sie an. „Ah, das wird Coronel Francisco Gamundi Barceló sein. Herein.“

Der Chef der Guardia Civil? Das wurde immer mysteriöser.

Die Tür öffnete sich und tatsächlich trat der Polizeichef, der alle Kriminalermittlungseinheiten außerhalb Palmas unter sich hatte, ein.

Carmen sprang auf und hob die Hand zum militärischen Gruß.

Francisco lachte. „So förmlich brauchen wir das hier heute nicht. Buenos días, Carmen.“ Er reichte ihr die Hand, bevor er Agustin freundschaftlich umarmte. „Weiß sie es schon?“

Agustin schüttelte den Kopf. „Du kommst gerade richtig.“ Er deutete auf den Stuhl neben ihr. „Setz dich doch.“

Francisco drehte sich zu Carmen. „Nehmen Sie auch bitte wieder Platz.“

„Also, da wir nun vollzählig sind“, Agustin lächelte breit, bevor er fortfuhr, „wird es offiziell. Carmen, Sie werden befördert in den Stand eines Sargento und unter dem Polizeichef von Inca, Capitán Matias Ramirez Forteza, die Leitung der dortigen operativen Ermittlungseinheit der Kriminalpolizei übernehmen. Ihr Vorgänger ist in Ruhestand gegangen.“

Carmens Mund wurde trocken vor Aufregung. Beförderung und Leitung. Damit hatte sie in frühestens drei Jahren gerechnet, wenn überhaupt. Sie würde umziehen müssen, um bei einem Verbrechen schnell verfügbar zu sein. Gab es freie Wohnungen in Inca? Möglicherweise käme sogar ein kleines Haus infrage. Ihr Ex-Mann Peter hatte sich dort nach ihrer Trennung vor zwei Jahren ein Landhaus gekauft. Vielleicht könnte er ihr bei der Suche helfen? Ein Garten wäre nett und …

„Carmen?“

Sie schreckte aus ihren Gedanken auf. „Es … es ist mir eine Ehre.“

Francisco erhob sich und reichte ihr die Hand. „Auch wenn wir wahrscheinlich nicht viel direkt miteinander zu tun haben werden, freue ich mich auf die Zusammen­arbeit.“

Carmen war ebenfalls aufgestanden und erwiderte den Händedruck mit der gleichen Festigkeit. „Wann soll ich anfangen?“

„Sie wohnen ja zur Zeit in Palma“, Francisco rieb sich das Kinn, „doch wir würden einen Umzug Ihrerseits mehr als begrüßen, denn gerade als Leiterin könnte es durchaus sein, dass Sie auch außerhalb der normalen Bereitschaft schnell zu einem Fall dazukommen müssen und …“

„Das ist kein Problem“, unterbrach Carmen. „Ich sehe das genauso und zwanzig Minuten Fahrt oder mehr … so lange will ich die Kollegen im Ernstfall nicht warten lassen.“

„Ihre Bereitschaft freut mich sehr, doch ein Umzug muss nicht sofort sein, wenn Sie nicht gleich etwas Passendes finden. Reicht Ihnen eine Woche für eventuelle Vorbereitungen? Selbstverständlich stehen Ihnen während dieser Zeit freie Tage zu.“

„Ja, das hieße dann, dass ich zum Ersten dort anfangen soll?“

Mittlerweile hatte sich Agustin erhoben. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, weil es ein Samstag ist?“

Energisch schüttelte Carmen den Kopf. „Und wenn es ein Sonntag wäre.“

Francisco ging zur Tür. „In Ihrer ersten Woche werden Sie mit Ihrem Team auf sich gestellt sein, da sich Ihr Vorgesetzter Capitán Ramirez im Urlaub befindet. Ihre Ernennung ist jedoch mit ihm abgesprochen und ich soll Ihnen sagen, dass er sich auf die Zusammenarbeit freut.“

Carmen nickte. „Bitte, noch eine Frage, bevor Sie gehen.“

„Ja?“

Sie musste nachfragen, obwohl sie Angst vor der Antwort hatte. „Gab es nicht innerhalb der Einheit in Inca jemanden, den man auf den Posten hätte befördern können?“

Francisco blickte an ihr vorbei zu Agustin. Carmen folgte seinem Blick, drehte den Kopf und sah Agustin nicken.

Mit zwei Schritten kam Francisco auf sie zu. „Sie brauchen keine Bedenken zu haben. Und nein, Sie wurden nicht befördert, um eine Frauenquote in höheren Positionen zu erfüllen. Sie haben einfach mehr Zusatzqualifikationen in freiwilligen Lehrgängen erworben als einer Ihrer Kollegen vor Ort. Besonders Ihre letzten Weiterbildungen, bei denen es um Täterpsychologie und Weiterentwicklung in der Spurensicherung ging, haben Sie qualifiziert. Immerhin Themengebiete, die Sie für eine erfolgreiche Ermittlung nicht selbst bräuchten, da Ihnen dazu die forensische Spezialeinheit von hier zur Verfügung steht. Doch aufgrund Ihrer Qualifizierung müssen die Forensiker bestimmt nicht oft zu Ihnen rausfahren. Ihr Kollege Gerado Bibiloni Capó hatte dafür keine Zeit. Er wurde letztes Jahr Vater.“

Carmen überkam sofort ein schlechtes Gewissen. Nur, weil dieser Gerado anscheinend seine Vaterrolle ernst nahm und im ersten Lebensjahr des Nachwuchses nicht aufs Festland zu Weiterbildungskursen wollte, hatte sie ihm den Posten weggeschnappt. „Ich verstehe“, sagte sie leise.

Agustin räusperte sich. „Es waren nicht nur die Fortbildungen. Ihre Aufklärungsquote ist besser. Sie haben es ehrlich verdient.“

Nachdem Carmen sich verabschiedet hatte, trat sie auf die Straße. Obwohl es erst halb neun war, schien ihr die Märzsonne kraftvoll ins Gesicht. Stolz und Angst, ob sie der neuen Aufgabe gewachsen war, wechselten sich ab. Sie ging den Passeig de Mallorca Richtung Meer und bog dann nach links zum Museo Es Baluard ab. Ein Kaffee auf der Terrasse des Museums für moderne Kunst sollte helfen, ihre Gedanken zu sortieren. Nur wenige Tische waren besetzt und sie nahm unter einem Sonnenschirm Platz.

Eine leichte Brise trug die Salzluft vom Meer herüber und die Takelagen der Segelboote im Jachthafen klirrten leise.

Genussvoll biss sie in das Croissant. Kleine Krümel fielen auf ihre Uniformhose, die sie rasch wegwischte. Nachdem sie das letzte Stück aufgegessen und einen zweiten Kaffee bestellt hatte, nahm sie ihr Handy aus der Tasche. Die Wohnungssuche stand an erster Stelle.

„Hola, liebste meiner Ex-Frauen“, begrüßte sie Peter, als er den Anruf annahm.

„Und deine einzige“, gab Carmen lachend zurück. „Störe ich?“

„Das Lämmchen steht gerade wacklig auf und die Mutter kümmert sich rührend. Also werde ich im Moment nicht gebraucht.“

„War wohl eine schwierige Geburt, wenn die Besitzer sich einen Tierarzt leisten.“

„He, davon lebe ich schließlich. War eine Steißgeburt. Aber du rufst bestimmt nicht an, um dich von meinen Geburtserzählungen langweilen zu lassen.“

Sie sah ihn direkt vor sich, wie er stolz neben dem Lämmchen stand. „Ich suche eine Wohnung in Inca. Kannst du mir helfen?“

„Bist du Palma über oder treibt dich die Sehnsucht in meine Nähe?“

Carmen schüttelte den Kopf. Sie ahnte, dass in dem versteckten Scherz der Frage möglicherweise ein Körnchen Wahrheit steckte. Seit der Trennung war der Kontakt nie abgebrochen und sie hatte bereits mehrmals den Eindruck gehabt, Peter würde gerne einen erneuten Versuch miteinander wagen. Ausgesprochen hatte er es allerdings nicht. Unwillkürlich musste sie lächeln, bevor sie ihm von der Beförderung und der knappen Zeitspanne für einen möglichen Umzug erzählte.

Nachdem er sie beglückwünscht hatte, versprach er, sich umzuhören und am nächsten Tag zu melden.

Carmen warf noch einen Blick zum Meer. In Inca gäbe es keinen Pausenspaziergang am Wasser entlang. Wehmut überkam sie auch beim Gedanken, nicht mehr mit ihrem Kollegen Joan zusammenarbeiten zu können. Und er würde einen neuen Kollegen oder eine Kollegin an seine Seite bekommen … Dabei hatte er eine Beförderung eigentlich auch verdient.

***

„Was ziehst du denn für ein Gesicht?“, begrüßte sie Joan, als Carmen das gemeinsame Büro betrat.

Sie schloss die Tür und setzte sich ihm gegenüber vor seinen Schreibtisch. Auf dem Weg zur Dienststelle, nachdem sie sich umgezogen hatte, waren ihr so viele Dinge durch den Kopf gegangen, doch eine Lösung, wie sie Joan die Neuigkeit mitteilen sollte, hatte sie dabei nicht gefunden.

„Ähm, also …“ Sie knetete ihre Hände.

Joan sah sie auffordernd an.

„Ich gehe weg.“

„Wie? Wohin?“

Grinste er etwa? „Du weißt es schon“, stellte Carmen fest.

Joan sprang auf und ging um den Tisch. „Ja, und ich gratuliere dir.“

Bevor sie aufstehen konnte, hatte er sich zu ihr gebeugt und umarmte sie.

„Du bist nicht sauer?“

„Worauf? Dass du befördert bist und dich künftig mit der Landbevölkerung rumschlagen wirst?“ Lachend schüttelte er den Kopf. „Keine Beförderung wäre es mir wert, Palma zu verlassen. Nein, ernsthaft. Ich würde da auf dem Acker eingehen, ich brauche die Stadt, das Meer, Bars, Singlefrauen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich hoffe nur, dass sie mir einen würdigen Nachfolger für dich an die Seite stellen, sonst werde ich doch noch wehmütig. Wobei … Wenn ich Glück habe, ist er oder sie ein wenig größer als du.“

Carmen tat, als würde sie einen Radiergummi nach ihm werfen. „Besser ein Meter fünfundsechzig geballte Kraft als ein Schlaffi von ein Meter und achtzig.“

***

Stöhnend schaltete Roberto den Wecker aus. Die letzten Stunden hatte er sich mehr oder weniger schlaflos von einer Seite auf die andere gedreht und sich immer wieder gefragt, warum er es nicht einfach lassen konnte.

Der letzte Abend lief noch einmal vor ihm ab. Fahrig hatte er den Schuldschein unterschrieben.

„Hier, dein Geld“, hatte Amador gesagt und ihm die Geldscheine über den Tisch geschoben.

Roberto nahm es an sich und stopfte es in die Hosentasche, während Amador den Schuldschein in der Schublade des Schreibtisches einschloss.

„Du weißt, in einem Monat ist Zahltag und nicht nur für den Kredit von heute.“ Amador stand auf. „Und ich erwarte, dass du pünktlich hier bist. Mit dem Geld und den Zinsen.“

„Ja, ja.“ Roberto hastete aus dem kleinen Büro und ging zurück in den Raum mit den Pokertischen.

Alle Augen der Mitspieler waren auf ihn gerichtet, als er wieder Platz nahm. Der Tischgroupier, der Robertos Karten in der Zwischenzeit verwahrt hatte, schob sie ihm zu.

„Was ist nun, Roberto?“, fragte sein Gegenüber. „Gehst du mit oder machst du dir in die Hosen?“

Roberto zog die vier Fünfhunderter aus der Tasche. Sollte er? Noch einmal warf er einen Blick auf seine Karten: drei Damen und zwei Neuner. Ein wirklich gutes Full House. Er holte tief Luft, bevor er die zweitausend Euro in die Tischmitte legte. „Ich will sehen!“

Sein Gegenüber hatte langsam die Hand gesenkt, in der er die Karten gehalten hatte. „Full House auf Asse.“

Roberto hatte gewürgt, Kälte war ihm durch den Magen gezogen. Scheiße!

Bei der Erinnerung überkam ihn erneut ein Würgereiz. Es war eine verdammte Sucht. So wie ein Alkoholiker nach einem Schluck gierte, berauschte ihn die Erwartung, wenn sein Einsatz auf dem Tisch lag. Das Adre­nalin flutete seinen Körper und alle Sinne richteten sich auf ein einziges Ziel: die nächsten Karten, der erneute mentale Wettkampf mit den Gegnern am Pokertisch. Der Säufer hatte später lediglich einen Kater zu beklagen, während er Schuldschein um Schuldschein bei Geldhaien unterschrieb und ein Ausweg in immer weitere Ferne rückte.

Mit schlurfenden Schritten ging er ins Badezimmer. Noch hatte er ein Bad. Wenn nicht bald Geld reinkäme, würde er spätestens in zwei Monaten die Miete nicht bezahlen können. Wie gerne wollte er mit allem auf­hören, doch die Gier nach dem Adrenalin des Spiels zwang ihn nach wenigen Tagen erneut, die geheimen Plätze aufzusuchen, an denen die Gleichgesinnten ihrer Sucht nachgingen. Ein einziges gutes Spiel könnte alles drehen. Er wäre seine Schulden los und … Er schüttelte den Kopf. Nichts und … Er würde hingehen und die Spirale von Neuem in Gang setzen. Aber irgendwann musste er doch auch wieder Glück haben. Vor einem halben Jahr war er schuldenfrei gewesen – nach einem einzigen Abend und einem Gewinn von vierzehntausend Euro. Er brauchte bloß ein wenig Startkapital, dann …

***

Roberto parkte sein Auto vor der Schinkenfabrik. Noch hatte er zehn Minuten bis Arbeitsbeginn. Er öffnete das Fenster, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und steckte sie an. Genussvoll atmete er ein, während er das Handy aus der Tasche nahm. Sein Großvater Antonio war bestimmt auch früh auf den Beinen, denn seit Jahren fütterte er seine Zuchtschweine selbst und überließ das niemandem. Roberto wählte.

„Sí, was gibt’s?“

„Buenos días, Opa, hier ist Roberto.“

„Was willst du? Ich habe nicht viel Zeit. Eduardo wartet auf sein Futter.“

War ja klar, dass der Zuchteber wie immer Vorrang hatte. „Geht es ihm gut?“

„Du überraschst mich. Seit wann interessiert dich der Prachtbursche?“

Da wollte er einmal nett sein und schon stellte sein Opa das infrage. Roberto zog an der Zigarette. „Geht es dem Eber gut, geht es dir gut. Dachte ich.“

„Wir fühlen uns beide prächtig. Also, was willst du?“

Roberto drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. „Ich … also da ist so eine …“

„Warte einen Moment.“

Roberto hörte, wie sein Großvater zu jemandem sprach: „Nein und nochmals nein. Für deine Sauen gebe ich Eduardos Sperma nicht her. Solange du nicht reinrassig züchten willst, kannst du das vergessen … das ist nicht verhandelbar.“

Das musste der Nachbarzüchter Miquel sein, mit dem sein Opa seit einiger Zeit im Streit lag. Wie aus der Ferne vernahm Roberto die Stimme des anderen: „Cabezón!“ Und anschließend hörte er Schritte, als der andere sich anscheinend von seinem Großvater entfernte. Roberto musste dem Mann zustimmen, denn Sturkopf traf auf seinen Opa wirklich zu.

„So, da bin ich. Also, du brauchst wieder mal Geld“, sagte Antonio.

„Hilfst du mir?“

„Ich habe dir schon zu oft geholfen, doch jetzt ist damit Schluss. Selbst deine Eltern, würden sie noch leben, hätten dir schon längst den Geldhahn zugedreht.“

„Aber Opa, es ist wirklich das letzte Mal, bitte“, flehte Roberto.

„Nein! Und du solltest auch nicht auf ein üppiges Erbe spekulieren, denn ich werde demnächst mein Testament erstellen und alles dem Verein zum Erhalt der Rasse des mallorquinischen Schweins vermachen. Die werden sich dann auch anständig um Eduardo und seine Nachkommen kümmern.“

Diese Worte drückten Roberto direkt die Magensäure nach oben. Er schluckte und rieb mit der Handfläche über das Brustbein. „Ich bin doch dein Enkel … dein einziger.“

„Glaubst du, ich bin dement? Ich muss jetzt. Adios.“

Roberto setzte zu einer Erwiderung an, doch das Tuten zeigte an, dass sein Opa bereits aufgelegt hatte. Zwar konnte er ihn nicht enterben, zumal Roberto der einzige noch lebende nahe Verwandte war, … aber nur der Pflichtteil? „Verdammter Sturkopf!“

Nachdem er seine Schutzkleidung angezogen hatte, ging er in die Arbeitshalle und füllte die ersten Rollcontainer mit den Schweineteilen zur Weiterverarbeitung, die an andere Betriebe geliefert wurden. Was übrig blieb, warf er in den Container mit den Schlachtabfällen.

War man kein Zuchtschwein, durfte man zwar mindestens zwei Jahre durch die Eichenwälder toben, landete aber am Ende hier und die Keulen erfreuten irgendwann die Zungen der Gourmets, die sich diese Schinken leisten konnten. Nur zu Weihnachten kamen die Angestellten in den Genuss, wenn zur Betriebsfeier einige der Keulen für alle aufgeschnitten wurden.

Fast alles vom Schwein wurde genutzt und so blieben nur wenige nicht brauchbare Innereien und Knochen übrig. Selbst Nase und Ohren fanden Verwendung in Eintöpfen. Roberto warf einen der übrig gebliebenen Schädel samt Gebiss mit nur noch wenig Fleisch daran zu den Schlacht­abfällen. Daraus ließ sich nun wirklich nichts mehr machen, besonders seit auch ganze Köpfe nicht mehr für die rustikale Bauernküche gefragt waren. Selbst Auskochen brachte keinen guten Ertrag an Knochenmark und die Futterfabriken wollten sie ebenfalls nicht zu Mehl verarbeiten, da es zu umständlich war, vorher die Zähne alle zu ziehen. Obwohl den kastrierten Ebern die Hauer erst gar nicht richtig wuchsen und falls doch, sie abgeschliffen wurden, waren die Schneidezähne nicht minder gefährlich. Roberto musste aufpassen, sich nicht an ihnen zu verletzen.

„Du stierst auf die Zähne, als überlegst du, sie für die Zahnfee unters Kopfkissen zu packen.“ Sein Kollege Felipe stieß ihn lachend in die Seite.

„Ich bin nur vorsichtig.“ Mit Schwung schob er den Rollcontainer zum Ausgang.

„Na, du bist heute ja wieder mal gut gelaunt.“ Felipe ging neben ihm. „Du brauchst echt mal bald eine Freundin, dann bist du morgens zwar müde, aber dafür lassen dich die Hormone grinsen.“

Roberto blieb stehen. „Du willst mich bloß wieder verkuppeln. Das ging schon das letzte Mal schief.“

„Ich gebe ja zu, ich wusste nicht, dass Elena so schräg drauf ist und einen Kontrollwahn hat.“

„Das war nicht nur ein Wahn. Die ist besessen, so wie die mich gestalkt hat. Aber das Schlimmste war, wie sie mir diese Spionageapp auf mein Handy geladen hat, damit sie immer wusste, wo ich bin.“ Er schüttelte den Kopf. „Dann lieber allein.“ Elena hatte ihn mit einem Küchenmesser in der Hand erwartet, weil sie dachte, er würde sich im Rotlichtviertel von Zafra mit Frauen amüsieren. Dabei hatte er nur im Hinterzimmer gezockt. Gerade so hatte er es ihr aus der Hand reißen können. Auf die Polizei hatte er verzichtet, sonst hätte er erklären müssen, wo er gewesen war. Glücklicherweise war Elena kurz danach von ihrer Firma nach Madrid versetzt worden.

Felipe legte die Hand auf seine Schulter. „Ich mein ja nur.“ Er sah auf die Uhr. „Mittagspause.“

Zwei

Nachdenklich strich Carmen mit der flachen Hand über ihren Schreibtisch.

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass dich noch immer was bedrückt.“ Joan sah sie eindringlich an. „Komm, lass es raus. Viel Gelegenheit wirst du nicht mehr haben, mir dein Herz auszuschütten.“ Er nickte ihr aufmunternd zu.

Sie schluckte. Sollte sie Joan ausgerechnet jetzt, wo sie nur noch wenige Tage hier mit ihm zusammenarbeiten würde, von dem Angriff erzählen? Bisher hatte sie sich nicht wieder verfolgt gefühlt und bald wäre ihr Arbeitsfeld Inca und sie weg aus Palma. „Du wirst mir fehlen.“

„Du mir auch“, sagte Joan gepresst. „Aber das ist nicht alles, oder?“

Carmen überlegte kurz, wie sie ihre Gedanken am besten in Worte fassen konnte. „Weißt du, zuerst einmal gibt es da wohl einen Kollegen in Inca, der auch gut an der Reihe hätte sein können, und ich habe Angst, dass er sich übergangen fühlt und …“

„Stopp“, unterbrach Joan. „Du hast dich weder aktiv dorthin beworben noch irgendetwas getan, damit das passiert. Dein neuer Kollege wird das bestimmt ähnlich sehen oder hat er ein Bewerbungsschreiben eingereicht?“

„Soweit ich weiß nicht.“

„Na siehst du.“ Joan rollte mit seinem Bürostuhl vor ihren Tisch. „Was noch?“

„Die langen Dienstwege.“ Erneut strich Carmen mit der Handfläche über die Tischplatte. „Du weißt, wie eng wir hier mit dem jeweiligen Ermittlungsrichter zusammenarbeiten und wie unbürokratisch in den meisten Fällen unsere Anfragen an die Rechtsmedizin, die Ballistiker oder Informatiker bearbeitet werden. Wir haben mehr oder weniger freie Hand, es reicht ein Anruf, insbesondere wenn Julián die Koordination leitet. Da bekommen wir fast immer sofort das Okay und er kümmert sich, dass der Ermittlungsrichter alle erforderlichen Anordnungen unterschreibt, und …“ Carmen sah Joan fest an. Sie wollte nicht wie ein jammerndes Häufchen Elend wirken, wo sie gerade so einen Karrieresprung machte, doch mittlerweile überwogen die Bedenken ihre Freude.

„Du weißt aber schon, dass …“, setzte Joan an, als das Telefon klingelte und er abhob.

Carmen kannte fast jeden seiner Gesichtsausdrücke und das energisch vorgeschobene Kinn mit leicht gespitzten Lippen, während er zuhörte, deutete auf einen Einsatz hin. Sie stand auf und ging bereits an die Tür.

„Sind gleich da.“ Joan legte den Hörer auf.

Carmen hielt ihm die Tür auf. „Was gibt es?“

„Schreie aus einer Wohnung. Die Nachbarin hat angerufen. Kollegen der Eingreiftruppe sind auch schon unterwegs.“

Gemeinsam rannten sie die Treppen hinunter in die Tiefgarage zum Einsatzwagen und zogen die Schutz­westen an.

Joan setzte sich ans Steuer und während er aus der Garage fuhr, rief Carmen die Leitstelle an und bat um die Telefonnummer der Nachbarin, die angerufen hatte.

Auf Joans Fahrkünste konnte sie sich verlassen, weshalb Carmen sich auf das Telefonat konzentrierte.

Als die Nachbarin ans Telefon ging, stellte sich Carmen kurz vor und fragte: „Wie oft gab es bisher nebenan Streit?“

„In der letzten Zeit wurde es schon häufiger mal laut, aber nicht so wie heute.“

„Was ist anders?“

„Immer wieder Schreie, aber dann einer, so schrill, das habe ich noch nie gehört.“

Carmens Kopf wurde gegen die Scheibe gedrückt, als Joan rasant um eine Kurve fuhr. Sie konzentrierte sich erneut. „Und dann?“

„Ja, danach war alles leiser.“

„Noch eine Frage: Leben Kinder in der Wohnung?“

„Nein.“

„Danke“, sagte Carmen hastig, als Joan abrupt bremste und auf dem Bürgersteig vor einem sechsstöckigen Haus parkte. Vor ihnen standen bereits zwei Einsatzwagen der uniformierten Kollegen, die sich gerade am Hauseingang besprachen.

„Und?“, fragte Joan, während sie beide zu den Kollegen liefen.

„Zum Glück keine Kinder.“ Carmen wandte sich an den Brigadeführer. „Die Nachbarin rief an, als es einen besonders schrillen Schrei gab, danach wurde zwar immer noch geschrien, aber leiser. Wir gehen vom Mann und seiner Frau aus. Von ihr stammte wahrscheinlich der Schrei.“

„Alle Szenarien sind denkbar“, ergänzte Joan.

Der Brigadeführer nickte und ging mit vier Männern voran ins Treppenhaus. Weitere Männer und Frauen aus dem zweiten Einsatzwagen liefen um das Haus, um mögliche Fluchtwege abzusperren.

Der vorsorglich gerufene Rettungswagen hielt auf der Straße.

Vor der Wohnungstür im dritten Stock blieben Carmen und Joan seitlich mit der Waffe im Anschlag stehen.

Neben dem Brigadeführer hatten zwei Kollegen mit einem Rammbock vor der Tür Stellung bezogen.

Der Brigadeführer hämmerte an die Tür. „Aufmachen, Polizei!“

Keine Reaktion.

Erneut forderte er auf, die Tür zu öffnen.

Die Geräusche, die aus der Wohnung drangen, konnte Carmen nicht wirklich zuordnen: Ein Möbelstück, was gezogen wurde, oder ein Körper, den jemand über den Boden schleifte?

Egal, sie konzentrierte sich auf das Angriffszeichen.

Die Tür sprang unter dem Stoß der Ramme sofort weit auf und Carmen stürmte mit Joan an der Seite den uniformierten Kollegen hinterher.

Eine frische Blutspur führte vom Eingangsbereich in das Wohnzimmer. Wahrscheinlich hatte das Opfer zuvor versucht, die Wohnung zu verlassen, war aber nur bis in den langen Flur gekommen.

Am Ende des Ganges stand ein großer Garderobenschrank zwischen den offen stehenden Türen von Wohnzimmer und Küche. Davor lag seitlich ein Badezimmer, in das einer der Kollegen nun vorsichtig ging.

Aus Wohnzimmer, Küche und Bad kam jeweils der Ruf: „Gesichert!“

Zwei weitere Zimmer gab es noch. Der Brigadeführer setzte gerade die ersten Handzeichen an seine Kollegen, als Carmen aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Blutbesudelt mit einem Messer in der Hand stürmte der Mann aus dem Schrank und rannte ins Wohnzimmer auf den Balkon zu.

„Stehen bleiben!“ Carmen hechtete dem Mann hinterher.

Noch bevor Joan oder die Kollegen bei ihr waren, hatte sie den Mann erreicht, stürzte sich in seinen Rücken, riss ihn zu Boden. Mit dem rechten Fuß trat sie ihm das Messer aus der Hand, das über den Fliesenboden schlitterte.

Joan zog ruckartig beide Arme des Mannes zu sich und legte ihm Handfesseln an.

„Opfer im Schlafzimmer!“, rief der Brigadeführer und funkte den unten wartenden Notarzt an.

***

Endlich ging die Schicht zu Ende und Roberto brachte die letzten Schlachtabfälle des Tages nach draußen.

Felipe lehnte an der Wand der Halle und rauchte. „Lust auf ein Feierabendbier?“

Warum eigentlich nicht? Während er Felipe zunickte, griff er in den Container. „Ah! Mist.“ Hastig zog Roberto seine Hand zurück. Blut lief aus dem Riss in seinem Handschuh. Einer der scharfkantigen Schneidezähne hatte ihm den Daumenballen aufgeschlitzt. Er drückte mit der anderen Hand dagegen.

„Soll ich den Arzt rufen?“ Felipe kam zu ihm. „Sieht übel aus.“

„Bis zum Betriebsarzt schaffe ich es noch selbst. Kannst du hier den Rest machen?“

„Geh schon.“ Felipe nickte. „Und danach brauchst du erst recht ein Bier. Ich warte auf dem Parkplatz.“

Mit vier Stichen hatte der Arzt die Wunde genäht. „Tetanus ist noch aktuell?“

„Ja. Die letzte Impfung war vor zwei Jahren.“

Der Arzt legte einen Verband an. „Ich gebe dir noch Schmerzmittel und Antibiotika mit.“ Er ging zum Schreibtisch und holte aus der Schublade zwei Medikamenten­packungen. „Krankschreiben werde ich dich auch für eine gute Woche.“

„Geht es nicht auch ohne?“ Schon am nächsten Wochenende fand die Hochzeit statt, zu der er nach Mallorca reisen wollte. Die entfernte Cousine war ihm vollkommen egal, aber er hoffte, in einem persönlichen Gespräch seinen Opa doch noch überzeugen zu können. Da kam es nicht gut beim Arbeitgeber, wenn er kurz vorher oder gar währenddessen krankgeschrieben war.

Über den Brillenrand sah ihn der Arzt an. „Machen wir es folgendermaßen. Da heute Freitag ist, kommst du am Montagmorgen vor Schichtbeginn zu mir und ich sehe mir die Wunde an. Verheilt sie gut und zeigt keine Entzündung, kannst du arbeiten.“

„Prima.“ Erleichtert nahm Roberto die Medikamente entgegen und verabschiedete sich.

Während er sich umzog, dachte er über den Besuch bei seinem Großvater nach. Nur persönlich würde er ihn überzeugen können, auch wenn er dafür die Reisekosten einsetzen musste. Ein Einsatz, der sich hoffentlich mehr lohnte als seine sonstigen. Zurzeit gab es glücklicherweise günstige Flugangebote und er hoffte, die Ausgabe würde kein zu großes Loch in seine so schon knappe Kasse reißen. Vielleicht könnte ein kleines Spielchen mit geringem Einsatz wenigstens diese Lücke füllen. Am Samstag war ein solcher Abend angesetzt mit Einsätzen von maximal hundert Euro. Eigentlich ein Witz, aber eine Maßnahme, um neue Spielerkunden zu gewinnen. Doch bei nicht zu erfahrenen Spielern, die an so einem Abend kamen, lagen die Chancen gut, mit geringem Einsatz Gewinn einzufahren. Hätte Roberto erst einmal die Reisekosten erspielt, würde er sich die Strategie für das Gespräch mit seinem Großvater überlegen.

Er schloss seinen Spind und ging hinaus.

„Na endlich. Ich verdurste bald“, begrüßte ihn Felipe auf dem Parkplatz.

„Musste halt genäht werden.“ Roberto hob die verbundene Hand. „Ich würde gerne erst mein Auto zu Hause abstellen.“

„Geht klar. Dann in einer halben Stunde in unserer Bar?“

„Spielt da heute wer?“

Felipe schloss sein Auto auf. „Keine Ahnung. Letztes Wochenende gab es eine Party mit Songs der Achtziger.“

„Da war ich ja noch nicht mal auf der Welt.“ Roberto schüttelte den Kopf. „Bis nachher.“

Auf der Terrasse vor der Bar waren alle Tische besetzt, als Roberto ankam. Von Felipe war noch nichts zu sehen. Im Augenwinkel nahm Roberto wahr, wie ein Pärchen aufstand, ging rasch hin und setzte sich an den nun frei gewordenen Tisch.

Kurz danach kam die Bedienung, stellte die leeren Gläser auf ein Tablett und wischte den Tisch ab.

Roberto bestellte ein Bier.

Während er den ersten tiefen Zug trank, schlenderte Felipe heran und setzte sich. „Sorry, hat ein bisschen länger gedauert, weil ich Ana erst noch wo abgesetzt habe. Mädelsabend.“

„Siehst du, immer muss man etwas für die Frauen tun.“ Roberto grinste schief.

„Du kannst mir meine Ana nicht ausreden, nur weil du gerade so eine frauenlose Phase hast.“ Er winkte der Bedienung und bestellte ebenfalls ein Bier. „Hast du eigentlich noch Schmerzen?“

„Geht so. Habe ja Tabletten bekommen.“

„Und kannst du am Montag arbeiten?“

Roberto nickte. „Wird schon gehen. Ich will ja Ende der Woche nach Mallorca. Den Urlaubstag habe ich auch beantragt. Da käme es nicht besonders gut, wenn ich vorher krank bin.“

Felipe drehte sein Feuerzeug in den Händen. „Die Zähne sind wirklich spitz. Letzt habe ich in der Zeitung gelesen, dass ein Schwein seinen Besitzer attackiert und sogar gebissen hat.“

„Und dann?“

„Keine Ahnung, erinnere mich nicht mehr. War aber bestimmt nicht lustig.“

„Übel.“ Roberto betrachtete seine verletzte Hand. „Und ich weiß noch, wie ich als Kind mal nur knapp einem Schwein bei meinem Onkel entkommen bin. Gerade so habe ich es noch über den Zaun geschafft. Und dann ist das Vieh doch glatt durch den Zaun gebrochen. Mann, was bin ich gerannt.“ Er nahm eine Zigarette aus der Schachtel. „Dafür räche ich mich heute an den Biestern, indem ich sie zu Schinken verarbeite.“

***

Aufgeregt las Miquel die E-Mail der chinesischen Interessenten. Sie boten ihm eine Partnerschaft an, wenn es ihm gelänge, Schweinesperma von Eduardo zu bekommen. Sie schrieben weiterhin, dass Miquel im Fall einer Einigung bei jedem Ferkel aus der Zucht einen Anteil erhalten würde.

Er wischte seine schwitzigen Finger an der Hose ab. Selbst bei einem nur kleinen Betrag pro Nachkommen käme im Laufe der Zeit ein ansprechendes Sümmchen zustande. Möglicherweise könnte er mit Eduardos Sperma auch selbst einen präsentablen Zuchteber aufziehen und eine längere Geschäftsbeziehung mit den Chinesen anbahnen.

Anscheinend waren sie bei ihren Verhandlungen mit Antonio gescheitert und hatten sich deshalb an ihn gewandt. Da ging es ihnen nicht besser als ihm selbst. Schon bald wollte einer der Chinesen auf die Insel kommen. Bis dahin brauchte Miquel Ergebnisse. Leider hatte Antonio ihn an diesem Morgen mehr oder weniger von seinem Grundstück geworfen.

Unschlüssig hielt Miquel seine Finger über der Tastatur. Wenn Antonio krank würde oder verletzt wäre, könnte er anbieten, sich in der Zwischenzeit um die Schweine und auch Eduardo zu kümmern … die Chinesen würden gar nicht mitbekommen, dass Eduardo nur ausgeliehen war. Ein verknackster Knöchel reichte eigentlich schon.

Sollten sie erst einmal kommen und bis dahin … Miquel schrieb zurück, dass er sich darum kümmern würde und sich bereits auf das Treffen freute.

Drei

Carmen schloss die letzte Website. Es sah wirklich nicht prickelnd aus, was die Wohnungssuche anbelangte. Hoffentlich hatte Peter nachher gute Nachrichten. Sie blickte auf die Uhr. Schon halb zwölf. Zu spät, um noch zum Samstagsmarkt zu huschen.

Durch die Festnahme gestern war sie auch zu nichts mehr gekommen. Wie in Zeitlupe lief erneut in ihrem Kopf die Szene ab. Sie hatte instinktiv gehandelt und im Bewusstsein, sich auf Joan verlassen zu können, der ihr Vorpreschen hoffentlich genauso wertete. So ein tiefes Vertrauen auf den Partner während eines Einsatzes kam nicht von heute auf morgen. Das mussten sich beide zusammen aufbauen. Wenigstens hatte die Frau überlebt und lag im Krankenhaus. Am Montag hofften sie, das arme Opfer befragen zu können.

Carmen seufzte. In Inca hatte sie erst einmal nichts, worauf sie bauen konnte. Eine Beförderung gab es nicht umsonst und der Preis, den sie zahlen musste, hieß, sich alles neu zu erarbeiten.

Sie stellte die Tasse unter den Kaffeevollautomaten und drückte die Taste. Wassertank füllen. Sie goss Wasser nach und betätigte erneut den Knopf. Abtropfschale unter der Brüheinheit leeren. Wer das programmiert hatte, lebte schon in der ganz eigenen Hölle. Warum konnte die blöde Maschine nicht einfach alle ihre Wünsche gleichzeitig auflisten? Sie wollte doch nur eine weitere Tasse Kaffee. Seufzend leerte sie die Schale und auch gleich den Kaffeerestebehälter mit. Ein letzter prüfender Blick, ob noch genügend Bohnen drin waren. Knopf drücken. Zufrieden hörte Carmen dem Mahlwerk zu, als ihr Telefon klingelte.

Auf dem Display sah sie Peters Namen aufleuchten. So früh? Hoffentlich hatte er gute Nachrichten. „Buenos días.“

„Hola! Wie geht es der frisch Beförderten?“

„Ich mache mir gerade erst den dritten Kaffee, also noch nicht hundert Prozent.“ Carmen griff die Tasse, klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter fest und öffnete die Milchpackung. Der Drehverschluss hakte und das Handy rutschte dabei vom Ohr weg. Sie hörte nur Wortfetzen. Verdammt! Rasch nahm sie das Telefon wieder in die Hand und hielt es richtig, während sie mit der anderen die Milch eingoss. „Entschuldige, ich habe dich gerade nicht gehört. Was hast du gesagt?“

Peter lachte. „Klingt beinahe nach einer Ausrede, weil du dich nicht mit mir treffen willst.“

Carmen trat mit der Tasse auf den kleinen Balkon und pustete über den Rand. „Treffen?“

„Du hast mir wirklich nicht zugehört“, stellte Peter fest.

„Die Milchpackung und das Handy …, ach egal. Also: wann, wo, warum?“ Carmen nippte am Kaffee.

„Ich habe vielleicht eine Wohnung für dich und dachte, wir …“

„Echt? Das ist fast nicht zu glauben. Ich wollte vorhin schon den Computer an die Wand schmeißen, weil ich überhaupt nichts gefunden habe.“

Sie hörte, wie Peter schnaufte.

„Lo siento, es tut mir wirklich leid, dass ich dich unterbrochen habe.“

„Schon gut, eigentlich müsste ich ja daran gewöhnt sein, dass ich bei dir nicht ausreden darf. Um es kurz zu machen: Hast du nachher so gegen drei Zeit? Wir könnten uns in dem Lokal in Inca am dritten Kreisel treffen.“

„Das Ledergeschäft, das nebenan ein Restaurant hat?“

„Ja, genau. Dann erzähle ich dir, was ich habe, und wenn du willst, können wir es danach um vier ansehen.“

Carmen wusste, dass Peter ihr in diesem Moment nichts weiter über die Wohnung sagen würde, und es deshalb sinnlos war, nachzufragen. Doch es fiel ihr schwer, ihre Neugier im Zaum zu halten. Wäre die Wohnungs­frage geklärt, könnte sie sich voll und ganz auf die neue Aufgabe konzentrieren. Leicht würde das bestimmt nicht. Sie sah auf die Straße unten. Wie würde wohl demnächst ihr Ausblick sein, wenn es mit der Wohnung in Inca klappte?

„Bist du noch da?“

„Ja, ich habe nur …“

„Also um drei?“, unterbrach sie Peter. „Das nächste Lämmchen wartet schon sehnsüchtig auf seine Impfung.“

„Ich bin pünktlich.“

Der Wind blies Carmen die Haare ins Gesicht, während sie über den hauseigenen Parkplatz hinter dem Wohnhaus zu ihrem Auto ging. Sie fingerte einen Haargummi aus der Hosentasche und band ihre schulterlangen Haare zu einem Zopf. Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und es sah nach Regen aus.

Als sie die Autobahn nach Inca erreichte, klatschten die ersten Tropfen auf die Windschutzscheibe und der Scheibenwischer verschmierte lediglich den Staub. Carmen betätigte den Hebel für das Wischwasser, doch außer einem leichten Brummen tat sich nichts. „Mist“, fluchte sie. Das kam davon, wenn man immer zu Fuß zur Dienststelle ging und dort auf einen Dienstwagen zurückgreifen konnte. Sie fuhr direkt wieder in Son Fuster von der Autobahn ab und parkte bei der ersten Gelegenheit auf einem Seitenstreifen.

Irgendwo musste noch eine Wasserflasche sein. Im Kofferraum unter diversen leeren Einkaufstaschen wurde sie fündig. Der Regen hatte mittlerweile zugenommen, und bis sie mit der Flasche das Wischwasser aufgefüllt hatte, war ihr T-Shirt auf dem Rücken feucht.

Schnell stieg sie wieder ein, betätigte die Waschanlage und fuhr erneut zur Autobahn.

Kurz vor Inca entlud sich ein Platzregen und es ging nur noch im Schritttempo vorwärts. Na super! Pünktlich wäre sie schon mal nicht.

Fünfzehn Minuten nach drei bog sie auf den Parkplatz des Restaurants ein, dessen dazugehöriges Ladengeschäft bereits geschlossen hatte. Obwohl der heftige Schauer in Nieselregen übergegangen war, reichte es aus, dass Carmens ohnehin noch feuchtes Shirt wieder nasser wurde, während sie zum Restauranteingang rannte. Rechts von der Tür standen unter einem Dach einige Tische, die Hälfte von ihnen besetzt. Am äußersten Ende entdeckte sie Peter, der auf seinem Handy tippte.

„Hola.“ Carmen hatte Peters Tisch erreicht.

Er hob den Kopf und sein breites Lächeln erfasste selbst seine Augenfältchen mit.

Bevor er aufstehen konnte, beugte sich Carmen zu ihm hinab und begrüßte ihn mit zwei Wangenküssen.

„Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt bei dem Wetter.“

Energisch schüttelte Carmen den Kopf. „Und wenn es hageln und blitzen würde. Außerdem bist du doch eher der Wetterflüchtling. Wer hatte denn keine Lust, bis zur Rente bei deutschem Schmuddelwetter bis zu den Knien im Matsch auf irgendeiner Wiese eines Bauernhofs zu versinken?“

„He, hätte ich meinem Geburtsland nicht den Rücken gekehrt, wären wir uns vielleicht nie begegnet.“ Er zwinkerte ihr zu.

Kurz blitzte die Erinnerung ihres Kennenlernens auf, wie er vor über sieben Jahren und gerade frisch auf die Insel gezogen bei den Strandfeiern in der Johannisnacht neben ihr gestanden hatte, um zum rituellen nächtlichen Bad ins Meer zu gehen. Mit dem Fuß war er im nassen Sand hängen geblieben, gegen sie gestolpert und hatte sie umgerissen.

„Wo auch immer du gerade mit deinen Gedanken bist“, Peter stand auf, „lass dich auch noch einmal drücken zu deiner Beförderung.“ Er breitete seine Arme aus.

„Danke.“ Für einen Moment genoss Carmen es, seinen Körper an ihrem zu spüren. „Also“, sie löste sich von ihm und setzte sich, „was für eine Wohnung ist es?“

„Du änderst dich nie.“ Peter legte den Kopf schief. „Immer gleich zum Punkt, innehalten ist nicht.“

„Sagt genau der Richtige, der von Tier zu Tier hetzt und selbst in der Nacht aus dem Bett springt, wenn eine Kuh beim Kalben Probleme hat.“

„Ja, ja“, er hob lachend die Hände, „wir geben uns da beide nichts.“

Die Bedienung kam an den Tisch, unterbrach ihr Gespräch und Carmen bestellte einen Kaffee mit Milch.

„Dem schließe ich mich an“, sagte Peter, „bitte auch einen Café con leche.“

Mit beiden Händen zog Carmen ihren nassen Zopf nach. „Also, nun erzähl endlich.“

„Sie ist nicht sonderlich groß und …“

Die Kellnerin servierte die Getränke.

So schwer es Carmen fiel, wartete sie ab, bis die Tassen auf dem Tisch standen und die Bedienung gegangen war. „Egal. Wo und wie teuer?“

Betont bedächtig rührte Peter in seinem Kaffee. Damit hatte er sie schon immer reizen können: schweigen und abwesend tun. Auch wenn sie keine Lust hatte, sich auf das Spiel einzulassen, blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Langsam ließ sie den Zucker in ihre Tasse rieseln und vermied es, ihn anzusehen. Anschließend rollte sie das Zuckertütchen zusammen und klemmte es unter die Untertasse. Noch immer hielt sie den Blick gesenkt.

Peter räusperte sich.

Gewonnen, jubelte sie innerlich und sah auf.

„Meine Sprechstundenhilfe Isabel hat bei ihrer Tante gewohnt, die in ihrem Stadthaus eine kleine Einliegerwohnung hat. Und da Isabel jetzt mit ihrem Freund zusammenzieht, wird sie frei.“

„Hat sie eine eigene Küche und Bad?“

Peter schüttelte lächelnd den Kopf. „Was glaubst du denn? Es ist eine vollständige Wohnung. Meinst du, ich würde dich in einer WG unterbringen wollen?“

Carmen nippte an ihrem Kaffee. „Und die können wir uns heute ansehen?“

„Ja. Die Tante, sie heißt übrigens Laura, wollte eigentlich nicht an jemand Fremdes vermieten, aber ich habe ihr zugeredet und sie meinte dann, dass es vielleicht ganz gut sei, wenn eine Polizistin im Haus wäre.“

Carmen schluckte. „Ist es eine Gegend, in der eingebrochen wird oder ist ihr schon einmal etwas passiert?“ Sie hatte keine Lust, eine ängstliche Frau ständig beruhigen zu müssen. Und, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wollte auch sie nicht in so einem Viertel wohnen. Nicht nach dem letzten Vorfall. Sie sah Peter auffordernd an.

„Du hast wirklich immer nur irgendwelche Verbrechen im Kopf.“ Peter trank seine Tasse aus. „Sie denkt, eine Polizistin macht keine laute Musik, denn der wäre es schließlich unangenehm, wenn dann Kollegen wegen einer Lärmbeschwerde kämen.“

Tatsächlich fühlte sich Carmen kurz ertappt. Sie streckte ihren Rücken. „Du schaust ja auch jedem Tier am Straßenrand hinterher und überlegst, ob es ihm gut geht. Oder nimmst einem Hundebesitzer das Leckerli aus der Hand, weil du glaubst, das Tier wäre zu dick.“

„Touché.“ Peter legte den Kopf schief. „Uns beiden ist wohl nicht mehr zu helfen.“

Carmen nickte. „Wir lieben eben, was wir tun.“

„Ich soll dich auch von meiner Mutter grüßen und sie schickt ebenfalls Glückwünsche an dich“, sagte Peter.

„Danke, wie geht es ihr?“

„Sie ist zufrieden, nur Papa schimpft täglich über das deutsche Wetter, selbst wenn die Sonne scheint. Und es vergeht keine Woche, in der er nicht auf sie einredet, dass doch beide in Vorruhestand gehen könnten und er mit ihr nach Barcelona zurück möchte.“

„Und wie stehen seine Chancen, sich durchzusetzen?“

Peter zuckte die Schultern. „Ich denke, es ist nicht vollkommen ausgeschlossen. Meine Tante hat vor einem Jahr das große Haus am Stadtrand von Barcelona renoviert, aber mein Cousin und die zwei Cousinen sind ja mittlerweile in alle Winde zerstreut, sodass sogar drei Wohnungen in dem Haus frei sind. Meine Tante hat meinem Vater die Dachgeschosswohnung für eine sagenhaft günstige Miete angeboten.“

„Was aber deine Mutter nicht beeindruckt hat, nehme ich an.“ Carmen sah ihre ehemalige Schwiegermutter vor sich, wie sie sich vor Peters Vater aufbaute und kopfschüttelnd die Hände in die Hüften stemmte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihr Frankfurt verlassen würde.“