Tod.Ernst - Dave Cousins - E-Book

Tod.Ernst E-Book

Dave Cousins

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Beschreibung

Unvermittelt findet sich die sechzehnjährige Alex in einer so grotesken Situation wieder, dass sie gezwungen ist, sich mit ihrer Lage auseinanderzusetzen. Sind das Erinnerungen ihrer eigenen Zukunft, die plötzlich vor ihr auftauchen, oder Déjà-Vu-Erlebnisse? Und kann sie die Katastrophe, auf die die Ereignisse unaufhaltsam zusteuern, noch vermeiden? Im entscheidenden Augenblick handelt Alex schließlich selbstlos – und gibt dem Geschehen eine überraschende Wendung … Humorvoll und authentisch erzählt – ein Roman, so verrückt wie das Leben selbst.

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DAVE COUSINS

TOD.ERNST

Aus dem Englischen von Anne Brauner

EINS:

Die Leiche

ZWEI:

Einer muss sterben

DREI:

Das Zeichen

1

Das Alexandra-Syndrom

2

Mein Held

3

Meine Nemesis

4

Bitte bleiben Sie sitzen, bis der Bus vollständig zum Halten gekommen ist

5

Wo bin ich nur mit meinen Gedanken?

6

«Das machst du immer so»

7

Meine neue Lieblingsbewohnerin

8

Doppelter Wortwert

9

Es gibt ein Wort dafür

10

Die Worst-Case-Szenario-Picture-Show

11

Zurzeit gestört

12

«Second Chance»

13

One for Sorrow

14

Knapp entronnen

15

Eine späte Aufholjagd

16

Das Klavier fällt herunter

17

Versprechungen, Versprechungen

18

Dünne Goth-Hexe

19

… und wenn es noch so blöd erscheint

20

Es ist kein Mord, wenn das Opfer sich anbietet

21

Genau das Gleiche wie letztes Mal

22

Noch etwas, das ich nicht kommen sah

23

Restlos erledigt

24

Die Nacht, über die wir nicht reden

25

Zeit totschlagen

26

Limited Edition

27

Mein Dating-Ratgeber

28

Man sollte nie zurückkehren

29

Abstieg in die Hölle

30

Alex Zwei

31

Granny Yoda

32

«Smash Glass in Case of Emergency»

33

Irgendwie unvermeidlich

33 1/3

Richtig gut oder richtig schlecht?

34

Tanz weiter!

35

Toter Punkt

36

Meine Leute

37

Das Ende, mit dem niemand gerechnet hat

38

Ein wunderbares Leben

 

Danksagung

FÜR JEAN-CLAUDE LIN UND ANNE BRAUNER, OHNE DIE ES DIESES BUCH NICHT GÄBE.

LEBEN – ES GIBT NICHTS SELTENERES AUF DER WELT.DIE MEISTEN MENSCHEN EXISTIEREN, WEITER NICHTS.

OSCAR WILDE

EINS: DIE LEICHE

Das ist nicht meine erste Leiche, aber irgendetwas stört mich an ihr. Es könnte an dem gruseligen pinken T-Shirt des Mädchens liegen – ich meine, in so was will ich nicht tot überm Zaun hängen! Oder es ist der Spruch, der in schwarzen Spraydosenbuchstaben auf dem T-Shirt steht: LIVE FAST, DIE YOUNG. Die Tatsache, dass sich ihr Wunsch so eindeutig erfüllt hat, lässt mich frösteln.

Aber ich weiß, dass es nicht das T-Shirt ist, das mir eiskalte Schauer über den Rücken jagt und mein Herz zum Rasen bringt. Sondern dass das tote Mädchen auf dem Edelstahltisch bis auf die Kleidung genauso aussieht wie ich.

Nein, schlimmer …

Sie IST ich.

Das ergibt keinen Sinn, oder? Wie kann ich tot sein und gleichzeitig total schockiert hier rumstehen? Gute Frage. Glaubt mir, sie schwirrt mir auch gerade durch den Kopf – unter anderem.

Als Erstes denke ich: Ich träume! Kann doch gar nicht anders sein, denn ich muss dazu sagen, dass ich splitterfasernackt bin! Das muss einer dieser Albträume sein, in denen man in die Schulkantine geht und sich wundert, warum alle lachen und mit dem Finger auf einen zeigen, bis man an sich herunterschaut und merkt, dass man vergessen hat, sich anzuziehen.

Also werde ich ja wohl gleich aufwachen, oder?

Ich versuche, den bohrenden Zweifel zu verdrängen, der in meinem Hinterkopf vermeldet, dass ich nie auch nur ansatzweise etwas wie das hier geträumt habe, aber was sollte es bitte schön sonst sein? Wenn ich da tot auf der Bahre liege, was macht das dann aus mir hier? Ein Gespenst? Einen Geist, der verflucht ist, unter den Lebenden zu spuken, bis mein vorzeitiges Ende gerächt wird?

Das glaube ich nicht, schließlich haben wir bereits festgestellt, dass ich nackt bin – und nicht durchsichtig. Wäre ich tot, würde ich kaum merken, wie kalt es hier ist, dabei habe ich eine mega Gänsehaut, das könnt ihr mir glauben.

Mit anderen Worten, wenn ich kein Geist bin und das Ganze kein Traum ist, dann muss es – ich zögere, das Wort auch nur zu denken – WIRKLICHKEIT sein. Wenn ich aber akzeptiere, dass das alles tatsächlich geschieht, muss ich auch die Angst und die Panik zulassen. Ganz zu schweigen von einem Haufen Fragen, zum Beispiel: Wo zum Teufel bin ich hier? Und wie bin ich her gekommen?

Eins ist jedenfalls sicher: In unserer Schulkantine bin ich nicht, eher in einer Art Leichenhalle. Ich habe zwar noch nie eine von innen gesehen, aber die kalten Edelstahloberflächen, die gekachelten Wände und die herumliegenden Leichen weisen mit tödlicher Sicherheit darauf hin. Voll das lustige Wortspiel, was?

Schon gut, ich finde es auch nicht zum Lachen. Die meiste Zeit versuche ich, nicht auf die stillen Ausbuchtungen in den beiden Leichensäcken zu schauen, die auf den Rollwagen neben meiner Doppelgängerin in dem pinken T-Shirt liegen. Einen verrückten Augenblick lang bin ich in Versuchung, den Reißverschluss des einen Sacks aufzuziehen und nachzusehen, ob die Leiche darin auch so aussieht wie ich, doch ich halte mich zurück. Mir ist nicht klar, was mich mehr verstören würde – wenn es so wäre oder wenn jemand Fremdes darin läge.

Da wir gerade von verstörenden Dingen reden … Was läuft hier eigentlich für eine grauenhafte Musik? Es klingt wie Beatles-Hits auf Panflöte oder so. Wahrscheinlich soll das beruhigend wirken – als Hintergrundgeräusch, damit den Bestattern die Arbeit mit den Sägen und Bohrern, die da hinten auf Aluminiumschalen liegen, leichter von der Hand geht. Doch was ist aus dem Respekt vor den Toten geworden? Warum tut man diesen Leuten, die ohnehin einen schlechten Tag erwischt haben, so etwas an, während ihre Eingeweide rausgesaugt werden? Musik ist wichtig – und so ein Schund trifft mich in der Tiefe meiner Seele!

Ich muss mich konzentrieren.

Okay, ich bin in einer Leichenhalle. So weit, so sonderbar.

Die nächste Frage, die sich aufdrängt, lautet: Wie bin ich bloß hier gelandet?

Bei dem Versuch, mich zu erinnern, fühlt sich mein Gedächtnis seltsam wattig an, als würde ich durch ein schmutziges Fenster in einen dunklen verrauchten Raum blicken. Ich erkenne schattenhafte Figuren, die sich bewegen, und höre gedämpfte Stimmen, aber ich kann mir kein Bild davon machen, was geschieht.

Meine letzte klare Erinnerung stammt von heute Morgen, als ich meinen Frühstückstoast verbrannt habe.

Einen Moment lang rieche ich ihn buchstäblich – den trockenen Rauch, als wäre jemand hereingekommen, der gerade noch an einem Lagerfeuer stand. Und plötzlich habe ich das deutliche Gefühl, nicht mehr allein im Raum zu sein.

Der Verdacht wird durch ein höfliches Räuspern in meinem Rücken bestätigt.

Da fällt es mir wieder ein – ich bin NACKT!

Jetzt muss ich doch wirklich AUFWACHEN, oder? Ich meine – Hallo?

«Möchtest du vielleicht das hier überziehen?» Eine männliche Stimme, war ja klar. Ein weißer Laborkittel schwebt in mein Sichtfeld. «Ich sehe nicht hin, versprochen.»

Ich ziehe das dargebotene Anstandshemd über und knöpfe es unbeholfen zu, während meine Ohren vor Scham rot anlaufen.

Schließlich drehe ich mich um und sehe ihn an.

Ich will ganz ehrlich zu euch sein: In den Horror-bildern in meinem Kopf kommt kein Turniertänzer vor.

Außerdem bezweifle ich, dass dieser Typ, der ein rotes Seidenhemd, eine schwarze Weste und eine etwas zu knapp geschnittene Hose trägt, wirklich Turnier tanzt. Er sieht nur so aus.

«Hallo.» Für einen Moment blendet mich sein Lächeln, und das meine ich nicht metaphorisch. Der Typ hat die weißesten, perfektesten Zähne, die ich je gesehen habe. Sein Teint in dunklem Orange und der gepflegte Kinnbart verstärken diese Wirkung noch.

Er macht nicht den Eindruck, als wäre er sonderlich verärgert, peinlich berührt oder auch nur überrascht, weil er ein nacktes Mädchen in seiner Leichenhalle entdeckt hat. (Ich gehe davon aus, dass er hier arbeitet.) Vermutlich war er auf dem Heimweg von einem Salsakurs oder dergleichen und wollte nur noch mal kurz nach den Leichen sehen.

«Hi!» Ich lächle zurück und winke ihm aus unerfindlichen Gründen zaghaft zu. «Tut mir leid, ich …» Als ich merke, dass ich nicht erklären kann, was ich hier mache, verstumme ich. Stattdessen stelle ich eine Frage. «Arbeiten Sie hier?»

Er nickt und lässt den Blick mit einer Miene durch den Raum schweifen, die man nur als tiefe Zuneigung deuten kann. «Ja! Hier findet der ganze Zauber statt! Gefällt’s dir?»

«Äh … jep, es ist … toll!» Ich werfe einen flüchtigen Blick auf das tote Mädchen.

«Ach ja, das war bestimmt ein ganz schöner Schock.»

Ich lache. «Das können Sie laut sagen!»

Er lächelt, als wolle er mir versichern, dass es eine absolut vernünftige Erklärung gibt. Kein Grund zur Sorge. Gleich amüsieren wir uns darüber, und dann können alle wieder nach Hause gehen.

«Was es doch für Zufälle gibt?!», sage ich. «Wenn dieses scheußliche T-Shirt nicht wäre, könnten wir Zwillinge sein.»

«Allerdings!» Jetzt sieht er mich bekümmert an.

Vielleicht hätte ich die Kleidung des toten Mädchens nicht kritisieren sollen. Das war ein bisschen unsensibel, über so etwas macht man sich nicht lustig.

«Sie werden es mir nicht glauben», sage ich zu dem Mann und setze ein reumütiges Lächeln auf. «Aber ich weiß nicht mehr, wie ich hergekommen bin!»

Er runzelt seine makellose Stirn und neigt den Kopf. «Du bist gestorben, Darling. Wie soll man deiner Meinung nach sonst hier landen?»

ZWEI: EINER MUSS STERBEN

Okay, nicht ausflippen! Sicherlich gibt es eine logische Erklärung. Bloß weil mir gerade keine einfällt, heißt es nicht, dass es keine gibt. Ich muss nur ruhig bleiben und atmen. (Aber wie soll das gehen, wenn ich tot bin?)

«Hier, trink das.» Die Hand, die mir das Wasserglas reicht, ist gebräunt und streckt sich aus einem blut roten Ärmel, der von einem Manschettenknopf in Form zweier gekreuzter Sensen zusammengehalten wird. «Flüssigkeitsmangel kann zum Problem werden, also trink möglichst viel Wasser.»

Ich sitze auf einem harten Kunststoffstuhl, wie es sie auch in unserer Schule gibt, und wähne mich kurz im Sanitätsraum. Ich rieche Desinfektionsmittel und andere fremde Gerüche, die nur in Arztpraxen und Kliniken vorkommen, doch in Wahrheit weiß ich, wo ich bin …

«Was ist passiert?»

«Du bist ohnmächtig geworden, Darling.»

Das kommt hin und wieder vor. Außerdem neige ich zu Panikattacken. Und manchmal muss ich mich übergeben. Ehrlich, meine Talente sind unerschöpflich.

Nachdem ich noch einen Schluck getrunken habe, sehe ich auf und blicke in ein gebräuntes Gesicht mit strahlend weißen Zähnen.

«Einfach nur atmen!», sagen die Zähne, und ich spüre eine beruhigende Hand auf meiner Schulter. «Du wirst dich noch ein Weilchen komisch fühlen. Das bringt das Sterben so mit sich.» Als der Mann glucksend lacht, hört es sich an, als würde etwas Festes, Klebriges durch den Ausguss gespült.

Ich nicke. «Geht schon. Ich wache bestimmt gleich auf.» Das wollte ich eigentlich nicht laut sagen.

Der Leichenbestatter seufzt. «Dabei lief es doch ganz gut.»

Mit zusammengekniffenen Augen schaue ich ihn an.

«Leugnung», sagt er. «Das kostet unendlich viel Zeit. Je eher du die Dinge akzeptierst, meine Liebe, umso schneller geht’s weiter.»

«Weiter? Sie haben mir gerade mitgeteilt, ich sei tot! Wo soll ich denn bitte hingehen?»

«Ich habe gesagt, dass du gestorben bist – von Totsein war keine Rede.»

«Da gibt es einen Unterschied?»

Der Mann lacht. «Das will ich meinen! Wenn du tot wärst, wäre unsere Unterhaltung recht einseitig, findest du nicht?»

«Ich bin also lebendig?»

«Und wie.»

Ich sehe an mir herunter, um zu prüfen, ob alles dort ist, wo es hingehört, und ich nicht mittlerweile verblasse oder so. Ich spüre, wie der Sitz aus Hartplastik in meine Beine schneidet und wie glatt und kalt das Wasserglas in meiner Hand ist. Ich kann aufstehen – okay, vielleicht doch nicht so eine gute Idee! – und mich wieder hinsetzen. Ich kann sprechen, und soweit ich das beurteilen kann, atme ich noch. Ich halte kurz die Luft an, nur um zu wissen, wie es sich anfühlt, erneut einzuatmen. Mir scheint, ich bin tatsächlich noch hier.

Aber sie auch, mein totes Ich.

«Und wenn ich lebendig bin, wer oder was ist sie dann?»

«Meine Güte, du stellst vielleicht Fragen!» Wieder lässt der sonnengebräunte Mann seine weißen Zähne aufblitzen. «Darling, ich fürchte, das arme Kind auf dem Rolltisch bist du.»

«Aber Sie haben gerade gesagt … Also, wie kann das Mädchen ich sein, wenn ich doch hier sitze und mit Ihnen rede?»

Das Lächeln schwächelt. «Es tut mir leid, aber ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Belassen wir es dabei, dass es auf der Welt nicht ganz so zugeht, wie man es dir weisgemacht hat.»

Witzig! «Das erklärt aber noch lange nicht, warum es mich doppelt geben kann!»

Der Leichenbestatter seufzt schwer. «Nichts für ungut, meine Liebe, aber du hast noch nicht ganz verstanden, worum es hier geht. An deiner Stelle würde ich mich darauf konzentrieren, dass es noch eine lebendige Ausgabe von dir gibt, und die Frage, die dir auf der Zunge brennen sollte, wäre: Das ist eine wunderbare Neuigkeit, Gerry. Was soll ich jetzt machen?»

«Gerry?»

«Sorry, habe ich mich etwa nicht vorgestellt? Wie unhöflich.»

«Sie heißen Gerry?»

«Eigentlich Gerald, aber das klingt so offiziell, findest du nicht auch? Ich habe mich nie so richtig wie ein Gerald gefühlt … außer einmal …» Für einen kurzen Moment geht sein Blick glasig in die Ferne, doch dann blinzelt er und sieht mich an. «’tschuldigung! Wo war ich doch gleich?»

«Das ist eine wunderbare Neuigkeit, Gerry. Was soll ich jetzt machen?»

«Fantastisch!» Er klatscht in die Hände. «Du gehörst auf die Bühne! Falls du die nächsten vierundzwanzig Stunden überlebst, heißt das.»

«Wie bitte?»

«Ich gebe dir mehr oder weniger vierundzwanzig Stunden. So lange brauchst du eigentlich nicht, aber es erleichtert den Neustart, und warum sollte man es den Leuten unnötig schwermachen, nicht wahr? Das ist dir doch sicher auch klar. Hey, das ist ja das reinste Gedicht! Ich bin so was von begabt, stimmt’s?»

«Hilfe, jetzt mal langsam! Was heißt das, Sie geben mir vierundzwanzig Stunden? Um was genau zu tun?»

Jetzt funkeln seine Augen. «Du darfst die letzten vierundzwanzig Stunden deines Lebens wiederholen, aber diesmal solltest du versuchen, nicht zu sterben.»

Ich starre ihn an. «Sie meinen … wie eine Zeitreise?»

«Ha! Was für eine Vorstellung!» Gerry schüttelt den Kopf. «Nein – das, was du als Zeit bezeichnest, ist wohl leider nur ein menschliches Gerüst für Ordnung und Begrenzung und außerdem …» Er hält inne, um das passende Wort zu suchen. «Relativ.»

Mein Kopf wird ganz heiß, während ich all diese Informationen verarbeite.

«Gut, wie spät ist es jetzt?» Gerry zeigt auf eine Wanduhr, die mir bisher nicht aufgefallen ist. Meine Freundin Tash hat genau die gleiche in der Küche. Ihre Mutter hat sie bei Ikea gekauft.

«Fünf vor halb zwölf.»

«Aber in New York ist es erst fünf vor halb sieben.» Er lächelt. «Wenn wir nach New York fliegen würden, wäre das tatsächlich eine Zeitreise, weil wir eher ankämen, als wir losgeflogen sind.»

«Aber das sind nur … Uhren!»

Gerry wirkt enttäuscht, doch dann hellt sich seine Miene auf. «Magst du Videospiele?»

«Ja, ich spiele manchmal mit meinem Dad.»

«Dann stell dir das Ganze als Videospiel vor. Du stirbst und bekommst ein Extraleben, damit du auf das letzte gespeicherte Level zurückgehen und von vorne beginnen kannst.»

«Das heißt, ich kehre zum heutigen Morgen zurück und fange noch mal an?»

«Hurra! Sie hat’s begriffen!» Gerry klatscht in die Hände. «Aber diesmal musst du versuchen, deinen Tod zu verhindern, Darling.»

Ich will ihn schon darauf hinweisen, wie lächerlich, um nicht zu sagen unmöglich das ist, doch dann fällt mein Blick auf meine tote Ausgabe, die reglos auf der Bahre liegt, und die Worte verdorren mir auf der Zunge.

«Was ist denn letztes Mal genau passiert? Wie bin ich … nun ja, gestorben?»

«Ach nee», sagt Gerry. «Ich soll aus dem Nähkästchen plaudern?»

«Ja, los, verraten Sie es mir! Wurde ich ermordet? Überfahren? Oder von einem Stier auf die Hörner genommen?» Ich werfe einen Blick auf die Leiche. Äußerlich sind keine Verletzungen erkennbar, aber was heißt das schon?

Gerry schlägt in gespieltem Entsetzen die Hand vor den Mund. «Du meine Güte, was hast du für eine grausige Fantasie!»

«Also? Was ist mir zugestoßen?»

Gerry schwebt zum Spülbecken und füllt mir Wasser aus dem Hahn nach. «Wieso bist du so vom Tod be sessen, Darling?» Er wirbelt herum und reicht mir das Glas. «Konzentriere dich lieber auf das Leben.»

«Sie wissen gar nicht, wie ich gestorben bin, oder?»

«Es würde dir sowieso nichts nützen, das zu wissen», antwortet er mit einem Lächeln, das andeutet, dass er sehr wohl Bescheid weiß, es aber für sich behält.

«Doch. Wenn ich zum Beispiel wüsste, dass es bei einem Verkehrsunfall passiert ist, würde ich mich nicht ins Auto setzen.»

«Ja, aber das würde dich dennoch nicht zwangsläufig retten. Kann sein, dass du beim letzten Mal verunglückt bist und es diesmal etwas ganz anderes ist – dein blutrünstiger Stier zum Beispiel.» Er erschauert. «Einiges ist festgelegt, aber längst nicht alles. Sieh es mal so: Je mehr du diesmal änderst, umso besser. Es geht vor allem um Entscheidungen. Um da zu landen, wo du hingehörst, musst du alles richtig machen. Eine falsche Entscheidung, und du bist wieder hier und hast nichts mehr zu lachen. Da, schon wieder – Reim, Reim, Reim –, ich kann einfach nicht anders!» Kichernd klatscht er in die Hände.

«Aber wenn ich keine Ahnung habe, was ich beim letzten Mal getan habe, wie soll ich es dann ändern? Es könnte passieren, dass ich von Anfang an alles einfach wiederhole!»

«Das ist vollkommen richtig.» Die Vorstellung bereitet Gerry sichtlich Kummer. «Ist dir bewusst, wie viele Entscheidungen der Mensch jeden Tag trifft? Tausend! Zehntausend! Von den kleinen, was es zum Frühstück gibt, bis zu den großen, die das ganze Leben verändern.» Er geht zu der Instrumentenschale und nimmt eine große Edelstahlsäge in die Hand. «Wir sind Gewohnheitstiere, Alex – in neun von zehn Fällen tun wir immer das Gleiche. Wir haben Vorlieben, Vorurteile, Lieblingsfarben, abergläubische Vorstellungen … die alle unterbewusst unsere Entscheidungen beeinflussen.» Gerry hält inne und begutachtet seine Zähne im Spiegel des Sägenblatts. «Also, ja, wahrscheinlich begehst du die gleichen Fehler wieder, aber du hast dennoch die Chance, es besser zu machen. Die wenigsten Menschen bekommen diese Gelegenheit, du solltest dich glücklich schätzen. Auserwählt.»

«Und wieso ich?»

«Wieso nicht du? Schicksal. Schwein gehabt. Manchmal steckt kein Grund, keine Logik dahinter, wer lebt und wer stirbt. Ehrlich gesagt, ist es eine Lotterie, und du, meine Liebe, hast das Glückslos gezogen.» Klirrend lässt er die Säge wieder in die Schale fallen. «Um das Warum solltest du dir keine Gedanken machen.»

«Worum denn dann?», frage ich, ohne zu wissen, ob ich die Antwort wirklich hören möchte.

«Überlege dir, was du mit dieser seltenen und ziemlich wunderbaren Möglichkeit anfängst. Wie oft bekommt man schon eine zweite Chance im Leben, geschweige denn im Tod?»

Obwohl Gerry lächelt, werde ich das Gefühl nicht los, dass er mir etwas verheimlicht.

Ich massiere meine Schläfen, um die Kopfschmerzen zu lindern, die sich hinter meinen Augen zusammenziehen.

«Selbstverständlich kann ich dir nur garantieren, dass du überlebst, wenn du jemanden findest, der deinen Platz einnimmt.»

«Was!?»

«Tut mir leid, Alex, das hätte ich vielleicht eher erwähnen sollen.» Er lächelt kurz. «Einer muss sterben, so ist das Leben beziehungsweise der Tod nun mal!» Er schmunzelt und zuckt mit den Schultern, als hätte er darüber keine Macht. «Außerdem brauche ich eine Leiche, Darling. Ich muss mein Soll erfüllen.»

Ich sehe ihn fassungslos an.

«Kein Grund, so geschockt zu gucken. Ständig sterben Menschen, zwei pro Sekunde sogar. Was glaubst du denn, was passieren würde, wenn niemand mehr stirbt? Man könnte sich kaum noch bewegen, so voll wäre es, und es gäbe weder genug zu essen noch zu trinken. Und im Bus müsste man die ganze Zeit stehen!»

Allmählich sickern die Konsequenzen dessen, was er sagt, durch die Mauer der Verdrängung, die mein Gehirn aufbauen möchte.

«Sie wollen behaupten … Wenn ich nicht selbst sterben will, muss ich JEMANDEN UMBRINGEN?»

DREI: DAS ZEICHEN

Gerry legt mir sanft eine Hand auf den Arm. «Oh, so darfst du das nicht sehen! Du musst niemanden eigenhändig ermorden, du musst nur einen … aussuchen.» Das Gefühl der Zuwendung wird durch das Funkeln in seinen Augen ein wenig beeinträchtigt.

«Und der- oder diejenige stirbt dann an meiner Stelle?»

Gerrys Zähne glänzen im grellen Lampenlicht.

«Aber dann bin ich ja doch schuld! Auch wenn ich nicht selbst abdrücke!»

Er strahlt mich an. «Betrachte es als Selbsterhaltungstrieb – so wie wenn man nach rechts und links schaut, bevor man die Straße überquert. Man springt ja auch nicht ohne Fallschirm aus einem Flugzeug. Du sorgst einfach für dich, das ist vernünftig.»

Fast hat er mich so weit, aber noch nicht ganz. «Trotzdem würde ich nur überleben, weil ein anderer stirbt. Es wäre, als ob man jemandem den Fallschirm klaut und ihn aus dem Flieger schubst!»

«Hmm», erwidert er stirnrunzelnd. «Hauptsache, du sorgst vorher dafür, dass das Opfer das hübsche pinke T-Shirt überzieht.»

«Was?»

«Das pinke T-Shirt.» Er zeigt auf das tote Mädchen. «Das ist das Zeichen.»

Sprachlos sehe ich ihn an.

«Ich muss erkennen können, wen du ausersehen hast, statt deiner zu sterben», sagt Gerry. «Einige Kollegen bevorzugen etwas Dunkleres – einen schwarzen Fleck auf einem Zettel oder Krähen auf einem Fenstersims, aber das ist alles so trostlos und schaurig! Ich favorisiere etwas, das mehr Pfiff hat, aber mein Humor ist vielleicht ein wenig abgründig.» Er grinst.

«Noch mal zum Mitschreiben: Wenn ich möchte, dass jemand mich ersetzt und für mich stirbt, soll ich ihm oder ihr das pinke T-Shirt geben?»

«Du musst natürlich schon dafür sorgen, dass es auch angezogen wird.»

«Und wie soll ich das genau machen?»

«Wie genau, kann ich dir auch nicht sagen, aber dir wird schon etwas einfallen. Es geht hier ganz akut um dein Leben und deinen Tod, Darling! Wenn du selbst im äußersten Notfall keine Lösung findest, hast du es offen gesagt nicht verdient zu leben!»

Vor lauter Panik ziehe ich die Schultern hoch und kann kaum noch atmen. Ich spüre, wie mein Herz sich windet und gegen den plötzlichen Druck ankämpft.

Dann ermahne ich mich, dass das Ganze nicht real sein kann. Das ist doch der Beweis: Ich soll jemanden auswählen, der sterben soll, und ihm dafür ein pinkes T-Shirt überziehen! Ein klassisch unsinniger Traum, oder nicht? Deshalb gibt es auch keinen Grund zur Panik. Ich muss einfach weiter mitspielen und abwarten, bis der typische Albtraummoment kommt, in dem ich in den Abgrund springen soll und vor Schreck aufwache.

Als ich den Blick wieder hebe, lacht Gerry.

«Was ist so lustig?»

«Wenn du dein Gesicht sehen könntest!» Er wischt sich eine Träne von der Wange. «Eine Minute lang bist du mir auf den Leim gegangen, nicht wahr? Das pinke T-Shirt ist das Zeichen – als ob!» Er lacht bellend und schlägt mit der Hand auf den Rollwagen aus Edelstahl. «’tschuldigung, Darling. Hier unten gibt es nicht viel zu lachen – wir müssen uns amüsieren, wenn wir können.»

Ich weiß nicht, ob ich sauer oder erleichtert sein soll. «Ich muss also keinen Ersatz für mich finden?»

«O doch, der Teil stimmt. Wie gesagt, Alex: Jemand muss sterben. Und wenn du es nicht sein willst …», er tippt sich an die Nasenspitze, «wäre es eine hervorragende Idee, eine andere Person dafür zu finden.»

Mir wird erneut eng um die Brust.

«Aber du kannst dir das Zeichen aussuchen – es mag sein, was immer du willst. Du musst sie dem oder der Glücklichen nur überreichen. Es spielt keine Rolle, ob die Person den Gegenstand dann wegwirft oder zurückgibt – das Zeichen steht nach der ersten Berührung.»

«Das T-Shirt hat nichts damit zu tun?»

«So kann man das auch nicht sagen. Vergiss nicht, je mehr du veränderst, umso besser – diesem T-Shirt würde ich an deiner Stelle dringend aus dem Weg gehen.» Gerry lächelt. «Was soll es nun sein? Was hast du denn so?» Er zeigt auf das tote Mädchen.

Ich kann den Blick nicht von ihm losreißen. Schlägt er gerade wirklich vor, was ich vermute?

«Es muss etwas sein, das du dabeihattest, als du gestorben bist», sagt Gerry und weist mit dem Kinn zur Bahre. «Schau mal nach, was du in deinen Taschen findest.»

Das ist hoffentlich wieder ein Scherz, doch ich fürchte, Gerry meint es todernst. «Mir kann nichts passieren, oder? Wenn man die Taschen der eigenen Leiche durchsucht, ist es schließlich eher so, als würde man seinem früheren Ich begegnen, nicht wahr?»

Gerry kichert kurz und schrill. «Deine Fantasie möchte ich haben! Eine Begegnung mit seinem früheren Ich! Wirklich unmöglich!»

Klar, und ansonsten läuft alles völlig normal ab, was?

Ich gehe vorsichtig auf die Leiche zu und hoffe, dass sie sich als unecht erweist – eine raffiniert ausge stattete Schaufensterpuppe oder eine Wachsfigur –, doch je näher ich komme, umso menschlicher wirkt sie. Mein Kopf fühlt sich mit einem Mal schwer und schwebend zugleich an, und ich muss mich seitlich an der Bahre festhalten. Als ich den kalten Stahl berühre, wird es jedoch schlimmer, realer.

Ich wende den Blick von dem schrecklich vertrauten, aber leblosen und grauen Gesicht ab und strecke die Hand zu der Jeanstasche des Mädchens aus. Fast glaube ich, dass die Gestalt ruckartig aufwacht und mich packt, sobald ich sie berühre. Doch vielleicht ist das eben der Moment, auf den ich die ganze Zeit warte und der mich aus diesem wahnsinnigen Albtraum reißt?

Nachdem ich tief Luft geholt und mich gewappnet habe, zittert meine Hand so sehr, dass es mir erst beim dritten Versuch gelingt, die Finger hineinzustecken.

Das Mädchen bewegt sich nicht.

Weil sie tot ist.

Und ich stehe gezwungenermaßen immer noch hier und hole mein Handy aus der Tasche meiner eigenen Leiche. (Ernsthaft – kann es noch gestörter werden?) Ich tippe aufs Display, aber es bleibt dunkel und reagiert nicht.

Obwohl ich weiß, dass ich ein Zeichen finden soll, suche ich insgeheim auch nach möglichen Hinweisen auf die Todesursache oder zumindest darauf, was in den letzten Stunden passiert ist.

In der Handyhülle steckt, wenig überraschend, eine Busfahrkarte zu meinem Wochenendjob, hin und zurück. Weiter hole ich meinen Honiglippenbalsam, ein Taschentuch und einen gelben Post-It-Klebezettel aus der Tasche. Wenn das kein Hinweis sein soll! Aber als ich das Papier entfalte, finde ich nur einen blauen Kulikrakel, als hätte jemand überprüft, ob der Stift funktioniert.

Ganz unten in der Tasche ertaste ich einen runden Klumpen und muss die Hand ganz hineinstecken, um ihn herauszuholen. Ich spüre durch den Stoff, wie fest das Bein des Mädchens ist, hart und schrecklich kalt. Erschauernd packe ich den Gegenstand und ziehe meine Finger schnell zurück.

Als ich die Hand öffne, ist es ein Ring, den ich nicht wiedererkenne. Er ist scheußlich – ein grünes wasserspeierartiges Wesen, das die Zunge herausstreckt – und gehört bestimmt nicht mir. Keine Ahnung, warum sich jemand so etwas zulegen sollte oder was zum Teufel es in meiner Hosentasche macht. Gleichzeitig erscheint mir der Ring wiederum nicht als besonders bedeutsam oder hilfreich, um zu beleuchten, wie ich gestorben bin. Es sei denn, der Ring ist verflucht? Vor einer Stunde hätte ich darüber noch gelacht, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.

Als ich mich über die Leiche beuge, um die andere Tasche zu untersuchen, weht mir etwas entgegen, das mich an den Obdachlosen an der Bushaltestelle erinnert. Einen schrecklichen Moment lang fürchte ich, es wäre der Geruch von verwesendem Fleisch, doch dann registriere ich den Alkohol – mein totes Ich stinkt nach Schnaps!

Dabei trinke ich nicht mehr. Seit dem letzten Mal. Aber vielleicht ist das der Grund, warum alles den Bach runtergegangen ist? Kürzliche Erfahrungen haben Folgendes ergeben:

Bierbedingte Blindheit würde auch den schlechten Geschmack bei der Wahl des T-Shirts erklären.

«Ich will dich ja nicht drängen, Darling», sagt Gerry. «Aber die Zeit ist heute Nacht nicht auf unserer Seite.»

Ich bin schwer in Versuchung zu erwidern, dass er eben noch bestritten hat, es gebe so etwas wie Zeit überhaupt, aber ein rötliches Mal auf dem linken Handrücken des Mädchens lenkt mich ab. In meinen Augen sieht es wie ein Hase aus, mit einem Klecks als Gesicht und zwei langen Ohren. Zunächst halte ich es erschrocken für verschmiertes Blut, doch so eine kleine Wunde konnte nun wirklich nicht tödlich sein.

In der anderen Tasche finde ich nur meinen Schlüssel mit dem Schlüsselring in Form eines Drachens, der Flagge von Wales.

«Perfekt!» Gerry klatscht in die Hände. «Der Drache des Schicksals. Wie überaus passend!»

«Das soll das Zeichen sein?»

«Warum nicht?»

Ich betrachte den roten Filzdrachen mit den großen Augen und dem albernen Lächeln. «Und das gebe ich nun der Person, die meinen Platz einnehmen soll, und die stirbt dann?»

Gerry lässt die Zähne aufblitzen. «Einfach, oder?»

Grauenhaft einfach und total wahnwitzig. Gott sei Dank ist es nur ein dämlicher Traum.

«Jetzt kommt noch etwas Wichtiges, Alex.» Gerry packt meine Schultern und zieht ein ernstes Gesicht. «Du musst dich daran erinnern, was hier geschehen ist. Du musst daran glauben!»

Meine Wangen werden heiß. «Ja, natürlich!» Obwohl ich bereitwillig nicke, ist mir das alles plötzlich sehr unangenehm. «Äh … und wenn es mir kurz entfällt oder wenn ich beim Aufwachen glaube, es sei alles nur ein Traum?»

«Echt? Ich hätte dich für klüger gehalten.» In seiner Stimme klingt nun eine gewisse Schärfe mit. «Dieses Traumding ist ein blödes Klischee, Alex. Wenn du es vergisst oder verdrängst, wirst du höchstwahrscheinlich genau das Gleiche tun wie vorher und das gleiche Ergebnis erzielen.» Er weist mit dem Kopf auf das tote Mädchen.

«Aber das kann ja eigentlich nicht passieren, oder? Das kann ich doch gar nicht vergessen!»

«Es gibt leider keine Garantie, denn das hängt davon ab, wie dein Gehirn mit einem eventuell noch vorhandenen Sterbetrauma umgeht.» Gerry zeigt auf das Glas, das ich in der Hand halte. «Trink das Wasser lieber aus. Der Flüssigkeitspegel kann in Bezug auf die Schmerzen bei einem Neustart viel ausmachen.»

«Schmerzen?»

«Du bist gestorben, Darling. Da geht’s nicht einfach ohne Nebenwirkungen weiter.» Er lächelt. «Hattest du schon einmal einen Kater?»

Ich nicke und zucke bei der Erinnerung zusammen.

«Tja, ich muss gestehen, so wird es im Allgemeinen wahrgenommen. Wenn du aufwachst, fühlst du dich wie nach einer sehr harten Nacht!»

«Na super!»

«Besser als die Alternative, das kann ich dir versichern. Oh, und noch etwas: Beim Aufwachen hast du die ersten fünf Stunden nach dem Neustart bereits verschlafen, also würde ich mich an deiner Stelle ranhalten. Bist du bereit?»

«NEIN!»

Wie eine Flut rauscht Schwärze von allen Seiten auf mich zu. Als Letztes sehe ich ein blendend weißes Lächeln in der Luft hängen, das unmittelbar von dem Gefühl begleitet wird, als hätte mir jemand voll ins Gesicht geschlagen.

1DAS ALEXANDRA-SYNDROM

Ich höre Gesang. Lieblich. Besänftigend, vielleicht ein Engelschor. Mein Körper schwebt, sinkt zurück in den Schlaf … und in warmes dunkles Vergessen …

Eine Kreissäge von Gitarre bricht kreischend in das Wiegenlied hinein und holt mich zurück. (Ich habe diesen Song aus gutem Grund zum Wecken ausgesucht.) Obwohl ich eigentlich die Augen lieber immer noch nicht aufschlagen würde, kann ich die innere Alarmglocke, die mich schrillend auf etwas hinweist, nicht ignorieren. Es ist dringend und benötigt meine Aufmerksamkeit.

Es geht um die Toilette.

Ich taumle aus dem Bett quer durchs Zimmer und fluche, weil mein Schädel so furchtbar wehtut und mir mein aufgewühlter Mageninhalt hochkommt.

«Wo zum Teufel kam das denn her?»

Meine Stimme hallt durch die Kloschüssel.

So muss sich der weltschlimmste Kater anfühlen.

Abgesehen davon, dass ich nichts trinke.

Seit dem letzten Mal.

Es sei denn …

Doch in dem Moment, wo ich mich an letzte Nacht erinnern will, fühlt es sich an, als hätte mir jemand eine Axt in den Schädel gerammt und würde versuchen, sie wieder herauszuziehen. Ganz schlecht. Glaubt mir.

Ich wanke zum Waschbecken und lege meinen feuchten Kopf einen Augenblick lang auf meine zitternden Arme. Als ich aufschaue, blickt mir ein totes Mädchen aus dem Spiegel entgegen, mit blutunterlaufenen Augen in tiefen Höhlen, die Haut so blass, fast durchsichtig – ein Geist. Die hohläugige verwesende Leiche meines früheren Ichs. Offenbar werde ich krank.

Aber was kann ich nur haben, dass ich so furchtbar aussehe und mich genauso fühle?

Sofort türmen sich unliebsame Vorschläge wie schmutziges Geschirr in mir auf: Gehirntumor, Herzinfarkt oder irgendeine bisher unentdeckte Krankheit, bei der man sich fühlt, als hätte jemand einem einen Holzpflock durchs Auge gestoßen und das Gehirn rausgetrieben.

Das passt. Ich werde an einem seltenen Fall von Gehirnablösung krepieren. Damit werde ich berühmt.

Tot, aber berühmt.

Auf jeden Fall schaffe ich es auf die Titelseite der Hardacre Gazette: STADT TRAUERT UM TOTE SCHÜLERIN. Mein Gesicht wird in unserem Viertel auf Katzenstreusäcken abgebildet, und anerkannte Ärzte schreiben Artikel oder geben Vorlesungen über mich. Vielleicht benennen sie das Leiden nach mir – zum Beispiel die «Ernst-Erkrankung» oder das «Alexandra-Syndrom» oder «Morbus Alexis»? Das klingt gut, finde ich, wenn man davon absieht, dass ich vorher daran sterben muss.

Meine Kopfschmerzen treiben den Holzpflock eine Umdrehung weiter.

Es könnte natürlich auch am Schlafmangel liegen. Um halb zwölf war ich noch wach – ich erinnere mich daran, weil ich in Tashs Küche auf die Wanduhr geschaut habe.