Tod im Schatten der Burg - Der tote Wolf - Jule Heck - E-Book

Tod im Schatten der Burg - Der tote Wolf E-Book

Jule Heck

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Beschreibung

Mariechen, ein 6 Wochen altes Baby verschwindet vom Grundstück ihrer Großtante Leonie Wolf in Gambach. Gleichzeitig wird Hasso, der weiße Schäferhund der Familie, vermisst. Eine Nachbarin will einen Wolf gesehen haben, der das Kind mit sich trug. Erster Kriminalhauptkommissar Alexander Henneberg vom K 10 in Friedberg setzt sofort alle Hebel in Bewegung, das Kind zu finden. Trotz einer unverzüglich eingeleiteten Suchaktion bleibt das Baby verschwunden. Henneberg und die einberufene Sonderkommission ermitteln in alle Richtungen. Tagelang tappen sie im Dunkeln. Das Verschwinden des Kindes löst innerhalb der Familie Wolf eine Welle von gegenseitigen Anschuldigungen und Verdächtigungen aus. Jahrelang gehütete dunkle Geheimnisse werden aufgedeckt, die letztendlich zur Aufklärung mehrerer Verbrechen führen. Nicht nur die Eltern des verschwundenen Babys leiden unter der Situation, auch die Ermittler stoßen an die Grenzen des Erträglichen. Erdmann, der Rauhaardackel von Kommissar Henneberg kann diesmal bei der Aufklärung des Falles nur wenig beitragen. Auch in ihrem achten Roman, der wieder in dem historisch geprägten Münzenberg sowie in Butzbach, der Perle der landschaftlich wunderschönen Wetterau spielt, versteht es Jule Heck, eine spannende Geschichte über Lügen, Intrigen, Tod und Verderben zu erzählen, die den Leser von Anfang an in seinen Bann zieht. Alles dreht sich am Ende um zwei Fragen: Wo ist Mariechen? Und lebt sie noch?

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Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung. 

Impressum 

Jule Heck 

»Tod im Schatten der Burg – Der tote Wolf« 

www.edition-winterwork.de 

© 2020 edition winterwork 

Alle Rechte vorbehalten. 

Satz: edition winterwork 

Umschlag: edition winterwork 

Titelfoto (Wolf) 123rf - 36132280 - anolis01

EBV und Covergestaltung: Atelier am Markt,

Wolf Becker, Münzenberg

Lektorat: Jens Willaschek, Münzenberg-Gambach 

Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf 

ISBN Print 978-3-96014-747-3 

Tod im Schatten der Burg 

Der tote Wolf

Vorwort 

Dieses Buch ist ein Kriminalroman. Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt. 

Bedanken möchte ich mich bei meiner Familie und bei meinen Freunden, die mich durch Anregungen, Hinweise, Tipps und kritische Anmerkungen unterstützen, mich zu meinen Lesungen begleiten, ganz besonders auch bei den Lesern, die mich immer wieder ermuntern, weiter zu schreiben. 

Prolog 

Anfang März 2010 

 

Armin trat aus der Berghütte und blickte über die schneebedeckte Landschaft, die in der Sonne wie ein Meer aus Diamanten funkelte. Über Nacht hatte es noch einmal geschneit, so dass er heute endlich die neuen Skier mit einer schwungvollen Fahrt durch den Neuschnee hinab ins Tal ausprobieren konnte. 

Die Müdigkeit, die einer langen, durchzechten Nacht mit seinem Bruder auf der Berghütte geschuldet war, verflog bei dem Anblick der atemberaubenden Berglandschaft und dem vor ihm liegenden Hang.  

Sein Bruder Joachim stand auf der Holzveranda der Almhütte, zündete sich eine Zigarette an und hielt sein Gesicht in die warme Sonne.  

„Was ist? Kommst du mit?“, rief ihm Armin zu. 

„Gleich, ich will nur zu Ende rauchen. Ich hole dich eh gleich wieder ein“, antwortete Joachim selbstbewusst und nahm einen neuen tiefen Zug aus der Zigarette. Der angespannte Gesichtsausdruck des Bruders blieb Armin verborgen. 

Armin stieß sich mit den Stöcken ab, bereit für die Abfahrt, die ihn mit Freude und einem Gefühl der Freiheit erfüllen würde. Elegant glitt er über die geschlossene Schneedecke. Ein Freudenschrei entrang sich seiner Kehle. Mit leicht gebeugten Knien und vorgeneigtem Oberkörper wedelte er in kurzen Schwüngen durch den tiefen Schnee.  

Er war ein guter Skifahrer und die Neigung des Südhanges stellte für ihn kein Problem dar. Das Schneebrett, das sich plötzlich unter seinen Füßen löste, brachte ihn zu Fall. Durch das Gewicht seines Körpers hatte er selbst den Abgang einer Lawine ausgelöst. Massen von Schnee stürzten ins Tal und rissen ihn und alles, was im Weg stand, mit. 

Joachim betrachtete von seinem sicheren Standpunkt auf der Veranda vor der Berghütte das tragische Schauspiel. Die Schneemassen verschluckten im Nu den Körper seines Bruders. Mit donnerndem Getöse suchten sich die ins Rutschen geratenen Schneeschichten einen Weg. 

Der Wirt der Berghütte stürzte auf die Veranda. „So ein Idiot“, schrie er, „ich habe euch doch gewarnt. Warum ist er trotzdem gefahren?“ 

Joachim antwortete ihm nicht. Gebannt beobachtete er die abgehende Lawine, die nach wenigen Minuten endete. Der aufgewirbelte Schnee hing noch einige Zeit wie eine Staubschicht in der Luft. Als er sich endlich am Boden abgesetzt hatte, lag der Hang wieder still und friedlich vor ihm, so als ob nichts geschehen sei. Joachim hatte instinktiv die Luft angehalten. Jetzt, wo es endlich vorbei war, atmete er erleichtert aus. 

Die alarmierte Bergrettung suchte in den Schneemassen nach Armin. Die mitgeführten Rettungshunde entdeckten nur die Mütze des verunglückten Skifahrers. Sein Leichnam wurde nicht gefunden. Man hoffte, dass die Schneeschmelze im Frühjahr seinen Körper freigeben würde. 

Kapitel 1 

Ende Juli 2015 

 

Endlich trat sie aus der Tür und kam auf sein Auto zu. Ihr Anblick ließ sein Herz einen Moment höherschlagen, seinen Unmut über ihre Verspätung dennoch nicht vergessen. Dafür war die Sache zu wichtig und erlaubte keine Fehler. 

„Warum hast du denn so lange gebraucht?“, fragte er sie in einem vorwurfsvollen Ton, als sie endlich auf dem Beifahrersitz Platz nahm.  

„Sorry, musste erst noch meine Mutter beruhigen“, erklärte sie bereitwillig, ohne sich an seinem Vorwurf zu stören, „sie kann nicht verstehen, warum ich ausgerechnet jetzt für eine Weile verschwinden will. Sie befürchtet, dass das einem Schuldeingeständnis gleichkommt.“ 

„Du kannst doch im Moment sowieso nichts machen“, erwiderte er. 

„Das habe ich ihr ja auch gesagt. Aber sie hat immer noch die Hoffnung, dass die ganze Angelegenheit ohne Gerichtsverhandlung geklärt wird.“ 

„Das glaubt sie doch selbst nicht. Dieses miese Schwein wird seinen Fehler nicht zugeben.“ Seine Stimme troff vor Hohn. 

„Das sehe ich auch so. Aber sie denkt, sie könnte meinen Chef umstimmen. Sie kennt ihn ja recht gut. Er schätzt ihre Meinung sehr. Aber sie rechnet nicht mit Felix Verlogen- und Durchtriebenheit.“ 

„Na, umso besser. Dann wird dir das Geld, das du demnächst bekommst, nützen. Du kannst dir den besten Anwalt leisten, den es gibt.“ 

Er war froh, Alina für das Projekt gewonnen zu haben. Auch wenn das bedeutete, dass es eine Mitwisserin gab und er einen Teil des Geldes an sie abgeben musste. Aber das war ihm die Sache wert. Er war so besessen davon, die Idee in die Wirklichkeit umzusetzen, dass ihm jedes Mittel recht war. Danach musste alles schnell organisiert werden. Hier entpuppten sich die Schwierigkeiten, in denen die Hebamme steckte, als glücklicher Zufall und große Hilfe. Sie war sofort auf sein Angebot eingegangen. Seit dem Zeitpunkt, als er von dem Besuch erfuhr, hatte er in der ihm üblichen Umtriebigkeit alles bestens vorbereitet. Der Plan war genial. Da kam keiner so schnell drauf. 

„Weiß noch jemand von der Sache?“ 

„Nein. Wichtig ist vor allem, dass du dicht hältst. Du musst dein Handy abschalten und darfst in der nächsten Zeit absolut keinen Kontakt zu deiner Umwelt aufnehmen. Im Handschuhfach findest du ein Prepaid-Handy, über das wir kommunizieren können. Ansonsten bleibst du, wo du bist. Du hast eine Menge Möglichkeiten, dich dort abzulenken. Alles was du für das Vorhaben brauchst, habe ich besorgt.“ 

„Kommt da auch keiner hin?“ 

„Das Grundstück liegt abseits der Straße. Das Haus ist von dort aus nicht zu sehen. Außer der Familie weiß niemand davon. Dort findet dich kein Mensch.“ 

„Du hast mir doch erzählt, dass das Anwesen verpachtet ist. Kann der Pächter nicht auftauchen?“ 

„Keine Bange. Der ist beruflich ins Ausland gegangen und hat seine Familie mitgenommen. Der wird nicht mehr dorthin zurückkehren.“ 

„Und der Besitzer? Interessiert sich der nicht für das Anwesen?“ 

„Nein. Der Pachtvertrag läuft bis Ende des Jahres. Also passiert auch nichts in den nächsten Wochen und Monaten.“ 

„Ein bisschen Bammel habe ich aber schon“, gab sie zu bedenken. 

„Du musst keine Angst haben. Wenn irgendwas ist, rufst du mich auf dem Handy an. Falls ich nicht gleich antworte, melde ich mich schnellstmöglich. Ab und zu kann ich auch mal vorbeikommen. Wenn alles glatt läuft, wird das Kind morgen um drei Uhr bei dir sein. Danach bist du allerdings erstmal auf dich allein gestellt.“ 

Sie nickte stumm. 

„Und noch was“, sein strenger Ton verriet die Ernsthaftigkeit seiner Worte, „glaube nicht alles, was du in den nächsten Tagen in den Medien siehst und hörst.“ 

Kapitel 2 

„Schön, dass ihr da seid“, begrüßte Leonie ihre Schwägerin Birte und deren Schwiegertochter Carola. Sie umarmte die beiden Frauen überschwänglich. 

„Und da ist ja auch Marie. Mein Gott, ist die süß.“ Sie betrachtete das schlafende Baby. „Komm, wir schieben sie mit dem Kinderwagen in den Durchgang zwischen Haus und Garage. Da ist es schön schattig. Da stört auch niemand. Da kann die kleine Maus noch ein bisschen schlafen.“ 

„Ich will ihr erst noch ein Fläschchen geben. Es ist jetzt ihre Zeit“, entgegnete Carola. 

„Klappt es nicht mit dem Stillen?“, fragte Leonie. 

„Leider nicht“, bedauerte Carola aufrichtig. „Aber ansonsten ist sie sehr pflegeleicht, schläft viel.“ 

„Setzt euch schon mal auf die Terrasse. Ich hole nur den Kaffee und den Kuchen“, bot Leonie ihren Gästen an. 

„Ich helfe dir“, sagte Birte in ihrem unverwechselbaren holländischen Akzent an, den sie, obwohl sie seit fast dreißig Jahren in der Wetterau lebte, nicht abgelegt hatte. Sie folgte ihrer Schwägerin ins Haus. Der in Weiß gehaltene Wohnraum machte einen sauberen, fast sterilen Eindruck. Das konnten auch die bunten Bilder, die Leonie selbst gemalt hatte, nicht ändern. Auch die Küchenschränke waren weiß und ließen keine Spuren von Fingerabdrücken erkennen. Auf der Arbeitsfläche stand nur die Kaffeemaschine und der selbstgebackene Kuchen. 

„Was ist mit Gregor? Hatte der keine Lust mitzukommen? Oder ist er mit seinem Vater unterwegs?“, wollte Leonie wissen. 

„Gregor ist mit dem Motorrad on tour. Und Joachim vergnügt sich wahrscheinlich mal wieder mit seiner Geliebten“, sagte Birte so, als ob es das Normalste von der Welt sei, dass ihr Mann sie mit anderen Frauen betrog. 

„Stört dich das denn gar nicht?“, fragte Leonie verwundert. 

„Warum sollte es? So kann ich ebenfalls machen, was ich will.“ 

„Ja, aber du gehst nicht fremd“, stellte Leonie fest. 

„Wieso denn nicht? Was Joachim kann, kann ich schon lange“, Birte lachte süffisant. 

Leonie sah die Schwägerin entsetzt an. „Heißt das, du hast einen Lover?“ 

„Nee“, kam es knapp zurück. 

„Da bin ich ja beruhigt.“ 

„Da hast du was falsch verstanden, meine Liebe. Ich habe keinen Lover. Mein Verhältnis trägt einen BH.“ 

Leonie schaute verständnislos. „Das verstehe ich nicht.“ 

„Stehst du auf dem Schlauch? Wer trägt einen BH?“ 

„Na, eine Frau.“ Plötzlich hieb sich Leonie vor die Stirn. „Du meinst, du hast eine Geliebte?“, fragte sie nach Fassung ringend. 

„Genau, ich habe eine Geliebte.“ 

„Ich wusste gar nicht, dass du lesbisch bist.“ 

„Bin ich auch nicht. Sei bi und die Welt steht dir offen. Ich probiere es jetzt mal mit einer Frau.“ 

„Du spinnst“, rief Leonie empört. 

„Du glaubst gar nicht, wie aufregend es ist, mit einer Frau zu schlafen“, erklärte Birte. 

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, entgegnete Leonie immer noch empört. 

„Was ist eigentlich mit deinem Liebesleben? Gibt es da wieder jemanden?“, versuchte Birte abzulenken. 

„Nein, mich interessiert kein Mann mehr. Ich kann Armin nicht vergessen. Für mich lebt er immer noch“, antwortete Leonie leise. 

„Meine Liebe, jetzt musst du aber langsam mal loslassen“, riet Birte. „Auch wenn man bis heute seine Leiche nicht gefunden hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er noch lebt, gleich Null.“ 

„Mein Verstand sagt, er kann nicht mehr leben. Aber mein Herz sagt, ich kann ihn nicht vergessen.“ 

„Du sollst ihn ja auch nicht vergessen. Das verlangt kein Mensch. Wir denken alle gern an ihn und sind traurig über seinen Tod.“ 

„Wenn man seine Leiche gefunden und ihn begraben hätte, dann könnte ich endlich Abschied nehmen. Aber diese Ungewissheit, ob er nicht doch noch irgendwo existiert, lässt mich nicht zur Ruhe kommen.“ Eine Träne löste sich und zog eine Spur über ihre Wange. 

„Aber du musst doch irgendwann mal wieder an etwas anderes denken, dein Leben ein bisschen genießen“, riet ihr Birte. 

„Du machst mir Spaß. Wie soll ich denn an etwas anderes denken? Und wie soll ich etwas genießen? Dazu benötigt man Geld. Und Geld habe ich keins.“ Leonie war regelrecht aufgebracht. 

„Aber wieso, das verstehe ich nicht. Joachim hat dich doch nach Armins Tod abgefunden. Das waren doch sicher ein paar Millionen.“ 

„Mensch Birte, wie naiv bist du denn?“, Leonie sah ihre Schwägerin böse an. „So lange Armin nicht für tot erklärt wurde, habe ich jeden Monat einen festen Betrag von der Firma erhalten. Damit konnte ich ganz gut leben. Doch vielleicht erinnerst du dich daran, dass mich dein Mann immer wieder gedrängt hat, Armin endlich für tot erklären zu lassen.“ 

„Ja und?“ 

„Nachdem diese traurige Angelegenheit endlich geklärt war, hat mir dein Mann mitgeteilt, dass er nicht in der Lage ist, mich auszuzahlen und hat mich mit diesem Haus und dem Anwesen im Vogelsberg abgespeist. Durch die Einnahmen aus der Verpachtung bin ich gerade so über die Runden gekommen.“ 

„Aber das kann doch gar nicht sein. Die Firma steht doch hervorragend da“, beteuerte Birte. 

„Dann hat Joachim mich belogen und die Bilanzen waren gefälscht“, schluchzte Leonie. Birte schüttelte ungläubig den Kopf. 

„Hallo, wo seid ihr?“, hörten sie Carola rufen. „Marie schläft und ich habe Appetit auf Kuchen.“ Birtes Schwiegertochter erschien in der Küche, bemerkte sofort, dass die Stimmung nicht besonders gut war. Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, wurde sie vom Klingeln des Telefons aufgehalten. 

„Entschuldigt mich bitte einen Moment.“ Leonie verließ die Küche und meldete sich auf dem Festnetzapparat, der sich auf einer großen weiß gestrichenen Kommode befand. „Wolf“, sagte sie kurz in die Muschel. 

„Hallo Mama, ich bin es. Wollte mich nur mal kurz melden und dir mitteilen, dass alles in Ordnung ist bei uns. Aber wir werden in den nächsten Wochen kaum Zeit haben. Also sorge dich nicht, wenn du von uns nichts hörst.“ Pauls Stimme war so laut, dass auch Birte und Carola, die ins Wohnzimmer getreten waren, die Mitteilung hören konnten. 

„Das ist schön, mein Schatz. Passt gut auf euch und die Kinder auf“, sagte Leonie warmherzig zu ihrem Sohn. 

„Sind Birte und Carola bei dir?“, kam es zurück. 

„Ja, wir trinken gleich Kaffee. Das Baby ist unglaublich süß. Schade, dass ihr nicht da seid, um es zu sehen“, bedauerte Leonie. 

„Wir werden Marie bestimmt noch öfter sehen. Aber sperr Hasso in den Zwinger. Nicht, dass er die Kleine ansabbert. Du weißt doch, wie sehr er Kinder mag“, bat Paul. 

„Das mache ich gleich. Mach´s gut und grüß Peter. Wo steckt der eigentlich?“ 

„Der ist draußen. Er begrüßt die Kinder. Die treffen jetzt nach und nach ein.“  

„Dann viel Spaß.“ Birte und Carola wünschten ihm ebenfalls lauthals viel Spaß. 

„Gruß zurück an euch drei.“ Dann wurde aufgelegt. 

Mit Kaffee und Kuchen traten sie in den Garten hinaus.  

„Hasso, wo bist du?“ Der weiße Schäferhund aus einer Schweizer Aufzucht war nirgendwo auf dem weitläufigen Gelände zu sehen. „Hasso“, rief sie erneut, „komm sofort hierher.“ Es dauerte eine Weile, bis der weiße, ausnehmend schöne und gepflegte Hund um die Ecke geschossen kam. „Brav, mein Guter. Aber du gehst jetzt in den Zwinger.“ Sie griff in sein flauschiges Fell und führte ihn dort hin, schloss die Gittertür. Hasso sah ihr traurig hinterher. Er ließ sich knurrend auf dem Boden nieder. 

Kapitel 3 

Er stellte den Motor aus, ließ den Wagen im Leerlauf den Hang hinunterrollen. Es hatte seit Tagen nicht geregnet. Der Boden des Feldweges war trocken. Die Reifen wirbelten Staub auf. 

Neben der Garage stoppte er das Fahrzeug, öffnete leise den Schlag und stieg aus, bemüht, kein Geräusch zu verursachen. In gebückter Haltung schlich er die wenigen Meter zu dem Törchen, das sich zwischen dem Haus und der Garage befand. Niemand war auf der Straße zu sehen. Auch auf dem gegenüberliegenden Grundstück war alles still.  

Er drückte die Klinke und ging zu dem Kinderwagen, der wenige Meter entfernt stand. Das Baby schlief tief und fest, atmete ruhig. Er nahm es auf und drückte es an seine Brust. Die Zudecke blieb an dem Verdeck hängen. Er zog daran. Der Kinderwagen neigte sich zur Seite. Mit dem Fuß gelang es ihm, den Aufprall abzubremsen. Es blieb jedoch keine Zeit, ihn wiederaufzurichten. 

Der Hund schlug an, donnerte mit seinen Vorderpfoten gegen das Gitter des Zwingers. „Hasso“, hörte er eine weibliche Stimme rufen, „sei still. Du weckst das Kind auf.“ Für einen Moment blieb es ruhig. Dann fing der Hund erneut an zu bellen. Er musste sich beeilen, bevor jemand auf ihn aufmerksam wurde.  

Aufgeregt und schwitzend entfernte er sich, ließ das Tor offen zurück, legte das Kind vorsichtig in die Tragetasche auf der Rückbank. Für einen kurzen Moment empfand er so etwas wie Zuneigung für das kleine Wesen. Doch die Angst entdeckt zu werden, verhinderte weitere zärtliche Gefühle.  

Er zog die Fahrertür heran, ohne sie zu schließen, löste die Handbremse. Der Wagen rollte weiter den Weg hinab. Am Ende des Hangs zog er die Tür ins Schloss und startete den Motor. Durch einen kurzen Blick nach links und rechts überzeugte er sich, dass er freie Fahrt hatte. Er gab Gas und fuhr auf die Bundesstraße. Das Auto schlingerte. Er nahm den Fuß vom Pedal, reduzierte die Geschwindigkeit.  

Im Rückspiegel sah er plötzlich ein Motorrad gefährlich nah auf sich zukommen. Es befand sich direkt hinter seinem Wagen. Erschrocken gab er Gas, vergrößerte den Abstand zwischen sich und dem Bike. Als er die leichte Linkskurve vor Ober-Hörgern erreichte, verschwand das Motorrad aus seinem Blickfeld. 

Kapitel 4 

Das Wetter war bestens geeignet für den ersten Ausflug mit ihrem neuen Motorrad. Die Strecke von Butzbach nach Lich musste sie alleine zurücklegen. Dort wollte sie sich mit einer Frauengruppe treffen, die gemeinsame Fahrten mit ihren Bikes unternahmen. Sie war froh, dort Anschluss gefunden zu haben. Mit mehreren Fahrern machte die Sache viel mehr Spaß und man fühlte sich sicherer. Außerdem konnte sie von den Frauen noch etwas lernen. Das hatte sie ganz schnell bei dem Biker-Stammtisch, den sie letzte Woche erstmalig besucht hatte, gemerkt.  

Die B 488 war frei, nur wenige Autos begegneten ihr. Die Maschine lief gut. Hinter dem Kreisel in Gambach drehte sie die Maschine auf. Sie liebte dieses Geräusch, das man weithin hören konnte. Endlich konnte sie die Maschine richtig ausfahren, ohne die ständige Ermahnung ihres Fahrlehrers.  

In Höhe des Autohauses schoss plötzlich ein dunkler Kleinwagen von links aus einem Feldweg auf die Bundesstraße direkt vor ihre Maschine. Obwohl der Fahrer sofort beschleunigte, kam sie ganz dicht an den Wagen heran. Vor Schreck riss sie den Lenker nach links, um das Fahrzeug zu überholen. Doch der Wagen entfernte sich schnell. Das Überholmanöver misslang. Beim Einscheren auf ihre Fahrspur verlor sie die Kontrolle über die Maschine. Sie hatte ihr Fahrvermögen vollkommen falsch eingeschätzt und konnte das schlingernde Bike nicht halten. Die Maschine kippte. Ihr Körper rutschte auf dem heißen Asphalt entlang.  

Kapitel 5 

Hasso hörte nicht auf zu bellen, sprang ständig gegen die Einzäunung des Zwingers. 

„Was ist denn nur mit dem Hund los? Ich verstehe das gar nicht. Er ist doch sonst so lieb und geduldig“, gab Leonie zu bedenken. 

„Der will halt nicht eingesperrt sein“, gab Carola zu verstehen, „lass ihn doch raus.“ 

„Ich habe nur Angst, dass er Marie weckt.“ 

„Durch sein Gekläffe wird er das bestimmt erreichen“, mischte sich Birte nun ein. 

Leonie stand auf und befreite den Schäferhund aus seiner Behausung. „Du benimmst dich, Hasso. Du bleibst schön bei mir sitzen.“ Der Hund folgte aufs Wort und ließ sich neben ihrem Sessel nieder, eine weiße Fellmasse, die ihr Frauchen aufmerksam beobachtete. 

Von der Bundesstraße war das Aufheulen eines Motorrades zu hören. 

„Wieder ein Selbstmörder auf zwei Rädern unterwegs“, Birte schüttelte den Kopf, „ich hoffe nur, dass Gregor nicht so rast.“ 

„Das hoffe ich auch“, stimmte Carola ihr zu, „mir gefällt es gar nicht, dass er ständig mit dieser Höllenmaschine unterwegs ist. 

Warum habt ihr ihm das nicht verboten?“, wandte sie sich an ihre Schwiegermutter. 

„Einem Wolf kann man nichts verbieten. Das müsstest du doch nun auch schon gemerkt haben“, antwortete ihre Schwiegermutter lakonisch. 

Hasso hatte sich zu Leonies Füßen niedergelassen. Aber er war seltsam unruhig. Während die Frauen sich unterhielten, winselte er ununterbrochen, stieß sein Frauchen ständig mit der nassen Schnauze an. Leonie tätschelte seinen Kopf. „Hasso, was ist denn heute nur mit dir los?“ 

Die Sondersignale eines Polizeiautos unterbrachen das Gespräch der Frauen. Es war von der Bundesstraße aus zu vernehmen. Wenig später folgte das Martinshorn eines Rettungsfahrzeuges. Jetzt war Hasso nicht mehr zu halten. Er rannte zur Hecke, die am unteren Ende das Grundstück begrenzte.  

„Auweia, da hat es wohl einen Unfall gegeben“, stellte Leonie fest, „deshalb ist Hasso auch so unruhig.“ 

„Das war bestimmt der Organspender auf zwei Rädern, der seine Maschine so hochgezogen hat“, behauptete Birte. 

„Du hast wirklich eine beruhigende Art, liebe Schwiegermama.“ Carola verdrehte die Augen, stand auf und ging zur Hausecke, lauschte einen Moment und kehrte auf die Terrasse zurück. „Von Marie ist nichts zu hören.“  

Doch das Gespräch kam nicht mehr richtig in Gang. Weitere Sondersignale von Feuerwehr und Rettungsfahrzeugen versetzten die Frauen in Aufregung. Auf Hasso achteten sie nicht mehr.  

Kapitel 6 

„Wo kommt denn der Hund plötzlich her?“, Hauptkommissar Schön von der Dienststelle in Butzbach betrachtete das ungewöhnliche Tier, das aufgeregt zwischen den Rettungsfahrzeugen hin und her lief. Weiße Schäferhunde waren äußerst selten. 

„Weiß jemand, wem der Hund gehört?“, fragte der Einsatzleiter der Feuerwehr. 

„Könnte der Hund der Familie Wolf sein. Die haben einen weißen Schäferhund. Die wohnen da oben“, antwortete einer der Feuerwehrleute. Er zeigte auf ein mit hohen Hecken umgebenes Haus in ca. 500 Meter Entfernung oberhalb der Bundesstraße. 

„Ruf die mal an. Die sollen hierherkommen und das Tier einfangen“, befahl der Einsatzleiter. Er versuchte, den Schäferhund, der sich wie wild gebärdete, am Halsband festzuhalten. Doch es gelang ihm nicht, das Tier zu bändigen. Es riss sich los und rannte in Richtung Ober-Hörgern davon.  

„So ein Mist. Der Hund wird gleich den nächsten Unfall verursachen“, fluchte der Mann. 

„Meinst du, er ist für den Tod der jungen Frau verantwortlich?“, fragte Schön. 

„Könnte sein, dass er vor dem Motorrad auf die Fahrbahn gelaufen ist. Die Frau wollte ausweichen, hat dabei den Lenker verrissen und ist gestürzt“, mutmaßte der Einsatzleiter, das würde auch erklären, warum es keine weiteren Unfallbeteiligten gibt.“ 

„Das muss der Gutachter anhand der Spuren klären. Wir müssen jetzt erst mal das Tier einfangen. Die Bundesstraße ist ab der Abzweigung nach Münzenberg gesperrt, aber wenn er weiterläuft, besteht die Gefahr, dass er auf die Autobahn gerät. Nicht auszudenken, was dann passieren kann“, erklärte Schön. 

„Ich habe Frau Wolf erreicht“, der junge Feuerwehrmann trat zu den beiden Männern, „es ist tatsächlich ihr Hund. Er ist seit ein paar Minuten verschwunden. Sie kommt sofort“, aufgeregt sprach der junge Feuerwehrmann zu dem Einsatzleiter. 

„Einer muss mit ihr dem Hund hinterherfahren. Könnt ihr das veranlassen?“ Der Einsatzleiter der Feuerwehr hatte die Situation im Griff. 

„Ich werde die Verfolgung mit ihr aufnehmen, sobald sie hier ist“, erklärte sich Hauptkommissar Schön bereit, „inzwischen informiere ich die Kollegen aus Lich, damit sie die A 45 ab der Anschlussstelle Münzenberg in beide Richtungen befahren und die Radiosender über den freilaufenden Hund rund um Münzenberg informieren.“  

Kapitel 7 

Das weiße Tier lief immer weiter die Straße entlang, wechselte am Ortsausgang von Ober-Hörgern auf den Radweg. Mehrere Radfahrer wichen ihm staunend und fluchend aus. Weiße Schäferhunde waren äußerst selten und der ungeübte Blick könnte durchaus einen Wolf in dem Tier vermuten lassen. Auf einer abschüssigen Strecke hinter Eberstadt kam eine Frau mit dem Rad ins Straucheln, als der Hund in großen Sprüngen direkt auf sie zulief. Sie bremste so abrupt, dass sie über den Lenker flog und zu Boden fiel. Im Fallen versuchte sie instinktiv sich mit den Händen abzustützen. Ihr hinterherfahrender Mann sah aus sicherer Entfernung, wie seine Frau zu Boden stürzte. Um dem herannahenden Tier auszuweichen, hielt er an und blieb am Rand des Radweges stehen. Ängstlich sah er zu, wie die weiße Muskelmasse, wie von einem unsichtbaren Verfolger gejagt, an ihm vorbeiflitzte.  

Ungläubig schaute er dem fliehenden Tier hinterher, zweifelnd, ob es sich hierbei um einen Wolf gehandelt haben könnte. Schließlich eilte er zu seiner Frau, die stöhnend am Boden lag. Er informierte die 112 über das Unfallgeschehen und die seltsame Erscheinung und forderte umgehend einen Rettungswagen an. 

Kapitel 8 

„Die Feuerwehr hat gerade angerufen. Hasso läuft auf der Bundesstraße herum. Ich muss sofort da runter“, rief Leonie ihrer Schwägerin zu, als sie mit dem Handy in der Hand aus dem Haus gerannt kam, „bleibt ihr hier. Falls Hasso wiederauftaucht, ruft mich sofort an.“ Sie verschwand durch das Loch in der Hecke, durch das Hasso vermutlich ausgebüxt war und rannte den Grasweg hinunter zur Bundesstraße. Sie musste noch mehrere hundert Meter laufen, bis sie die Unfallstelle erreichte. Sie nahm einen Körper, der unter einer weißen Decke lag, wahr.  

Polizeioberkommissar Schön kam auf sie zu. „Frau Wolf?“, Leonie nickte ihm schweratmend zu. „Kommen Sie!“ Mehr war nicht nötig, damit Leonie dem Streifenbeamten, vorbei an mehreren Einsatzfahrzeugen, folgte. Sie hatte kaum auf dem Beifahrersitz Platz genommen, als Schön mit quietschenden Reifen startete.  

„Wir haben die Kollegen aus Lich informiert, ebenso die Radiosender“, erklärte Schön seiner Beifahrerin, die immer noch um Luft rang. „Haben Sie eine Ahnung, wo der Hund hinläuft?“, er sah die Frau von der Seite an. 

„Keine Ahnung“, prustete sie, „ich kann mir das gar nicht erklären.  

„Kommen Sie erst mal wieder zu Atem. Nicht, dass Sie mir noch kollabieren.“ An der Abbiegung nach Münzenberg hielt er und sprach mit dem Streifenbeamten, der die Durchfahrt nach Ober-Hörgern sicherte. Ein zweiter Beamter sprach mit den Fahrern der Autos, die sich von Lich aus der Abzweigung näherten. 

„Hast du einen weißen Schäferhund gesehen?“, rief ihm Schön zu.  

„Nee, weder einen weißen noch einen braunen, nur eine Menge wütender Autofahrer, die jetzt alle einen Umweg fahren müssen“, war die Antwort. Schön gab Gas und fuhr weiter vorbei an der Auffahrt der A 45 in Richtung Hanau, unterquerte die Autobahnbrücke, und ließ auch die Auffahrt in Richtung Gießen hinter sich. Hinter Eberstadt sah er auf dem Radweg mehrere Personen, die um eine auf dem Boden liegende Frau herumstanden. In diesem Moment meldete sich eine Stimme über den Polizeifunk: „Der entlaufene Hund wurde auf dem Radweg in Richtung Lich gesehen. Er hat dort einen Unfall mit einer Radfahrerin verursacht.“ 

Schön reagierte prompt: „Ich bin mit der Besitzerin des Hundes auf dem Weg nach Lich.“ 

„Ok, dann kann ich Entwarnung für die A 45 geben“, antwortete die Stimme. 

„Ist der Hund schon öfter weggelaufen?“, wollte Schön wissen. 

Leonie antwortete kopfschüttelnd: „Nein, noch nie. Ich verstehe das gar nicht.“ 

„Hört der Hund auf Sie bzw. wer ist denn seine Bezugsperson?“ 

„Nach dem Tod meines Mannes hat sich Hasso meinem Sohn Paul angeschlossen. Aber wenn der nicht da ist, nimmt er auch mit mir Vorlieb. Er ist eigentlich ein sehr liebes, zutrauliches Tier und hat noch nie Probleme gemacht.“ 

„Wie kommt es, dass Sie gerade einen weißen Schäferhund besitzen? Die sind doch äußerst rar“, versuchte Schön herauszufinden. 

„Das Tier wurde als Begleithund für einen behinderten Menschen ausgebildet. Es gehörte einem guten Freund meines Mannes. Leider starb der ganz plötzlich an Herzversagen. Mein Mann war untröstlich über den plötzlichen Tod seines Freundes und nahm deshalb den Hund zu sich.“ 

„Das ist eine nette Geste, aber die ganze Sache kommt Sie auf jeden Fall teuer zu stehen. Wenn sich herausstellt, dass er auch für den Unfall mit der Motorradfahrerin verantwortlich ist, dann kriegen Sie richtig Ärger.“ 

„Das kann gar nicht sein“, empörte sich Leonie, „wir haben das Aufheulen des Motorrades gehört. Kurz danach muss der Unfall passiert sein. Da war Hasso noch auf dem Grundstück.“ 

„Können Sie das beweisen?“ 

„Das kann ich. Meine Schwägerin und ihre Schwiegertochter können das bestätigen.“ Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Er war heute allerdings seltsam unruhig, so als ob er das Unglück vorausgesehen hätte. Ich kann mir nur erklären, dass er wegen der vielen Geräusche, die die Einsatzfahrzeuge gemacht haben, Angst bekommen hat und davongelaufen ist.“ 

„Das wäre eine Erklärung. Hoffen wir jetzt mal, dass wir den Ausreißer bald finden, damit nicht noch mehr passiert.“ 

„Ich muss meinen Sohn Paul anrufen“, sagte Leonie etwas eingeschüchtert. Unter seiner Mobilfunknummer meldete sich Peter. 

„Peter, wo ist denn Paul? Warum geht er nicht an sein Handy?“, Leonies Stimme klang ärgerlich. 

„Paul ist draußen bei den Kindern. Die werden gerade eingewiesen. Was willst du denn von ihm?“, antwortete der Zwilling. 

„Hasso ist weggelaufen. Ich bin gerade mit der Polizei unterwegs. Wir suchen ihn. Bitte ruf Paul ans Telefon. Ich muss ihn dringend sprechen“, insistierte die Mutter. 

„Mama, das geht jetzt nicht. Paul hat alle Hände voll zu tun. Sobald er fertig ist, meldet er sich bei dir. Er kann doch im Moment auch nichts tun“, versuchte Peter seine Mutter zu beruhigen. 

Schön drosselte die Geschwindigkeit. Kurz vor dem Ende des Waldes waren nur 80 km/h erlaubt. Als sich der Wald lichtete, konnten sie in einiger Entfernung einen anthrazitfarbenen Sportwagen sehen. Er stand mitten auf der Kreuzung, die zum Licher Golfplatz führte. Vor dem Kühler des Wagens lag etwas Großes, Weißes. 

Hinter dem Wagen hatten mehrere Autos angehalten. Die Fahrer waren ausgestiegen. 

Schön fuhr langsam auf das Hindernis zu. Der Sportwagen entpuppte sich als ein 911er Porsche Targa. Das weiße Etwas auf dem Boden war Hasso, der Schweizer Schäferhund der Familie Wolf. 

Neben dem Wagen stand eine junge, blonde Frau. Sie wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. „Ich habe den Wolf nicht gesehen. Er ist mir einfach vor das Auto gelaufen“, schluchzte sie. Einer der anderen Fahrer versuchte, sie zu trösten. „Das ist kein Wolf, sondern ein Schäferhund. Sicher ist er davongelaufen. Aber er ist nicht schwer verletzt.“ Ein zweiter Fahrer eilte zu seinem Auto, um Verbandszeug zu holen. 

Leonie rannte auf den Hund zu und sank neben ihm auf die Knie. „Hasso, was machst du denn für Sachen?“ Sie streichelte ihm liebevoll über den Kopf. Hasso winselte und wedelte leicht mit dem Schwanz. Er sah sie ängstlich an, so als ob er sagen wollte, bitte schimpfe nicht mit mir, Frauchen. Blut tropfte aus seinem linken Hinterlauf. Die rote Spur des Blutes auf dem weißen Fell sah beängstigend aus. 

Schön war um den Porsche herumgegangen und hatte den Wagen auf Unfallspuren untersucht. Nur der Spoiler war eingedellt, ansonsten war der Sportwagen unversehrt. „Wollen Sie Anzeige erstatten?“, fragte er die junge Frau dienstbeflissen. 

„Nein“, sie schüttelte heftig mit dem Kopf und begann erneut zu schluchzen, ich will nur, dass es dem Tier gut geht.“ Nach einer Weile fragte sie schüchtern: „Ist das wirklich ein Hund?“ 

Kapitel 9 

Das Baby weinte schon eine Weile. Er hatte gehofft, dass das Kind bis zum Zielort schlafen würde. Auf der engen, kurvenreichen Straße konnte er nicht halten. Was hätte er auch machen sollen? Mit so kleinen Wesen kannte er sich nicht aus. Er musste sich auf die Straße konzentrieren und aufpassen, dass er die Abbiegung zu dem Grundstück an dem kleinen See nicht verpasste. Er drosselte die Geschwindigkeit und beobachtete genau den Fahrbahnrand. Jetzt musste bald eine Leitplanke auftauchen, danach musste der Weg rechts vor ihm liegen.  

Im Rückspiegel tauchte plötzlich ein weiteres Fahrzeug auf. Mist, dachte er. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er konnte keine Zeugen gebrauchen, die sahen, wie er von der Straße abbog. Langsam fuhr er an die Seite, um den Wagen vorbeizulassen. Doch der Fahrer bremste ab und blieb hinter ihm stehen, stieg aus und kam auf ihn zu. 

Er öffnete das Seitenfenster. Der Autofahrer beugte sich zu ihm herab. „Haben Sie Probleme? Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er freundlich. 

„Nein, nein“, stotterte er, „ich suche nur nach einer Haltebucht, damit ich mal nach der Kleinen sehen und sie beruhigen kann. Fahren Sie ruhig weiter.“ 

„Verstehe, da hat jemand Hunger. Wenn Sie die Straße ca. einen Kilometer weiterfahren, erreichen Sie einen Parkplatz.“  

Kapitel 10 

Die Tierärztin in Münzenberg hatte Hasso entgegengenommen und versprochen, ihn bestens zu versorgen. Sie bot an, ihn bei sich zu behalten, bis sich Leonies Situation geklärt hätte.  

Die beiden Männer am Unfallort hatten geholfen, das verletzte Tier in den Kofferraum des Streifenwagens zu legen. Schön hatte angeboten, den Hund nach Münzenberg in die Tierarztpraxis im Steinweg zu bringen, obwohl das nicht unbedingt zu seinen Aufgaben gehörte. Da Frau Wolf momentan aber keine andere Möglichkeit sah vom Unfallort wegzukommen und Schön sowieso nach Gambach zurückfahren musste, nahm er den kleinen Umweg in Kauf.  

Als sie gerade die Falkensteiner Straße hochfuhren, machte sich Leonies Handy durch einen Summton bemerkbar. Das Display zeigte die Nummer von Birte. Sie wollte die rote Austaste drücken. Ihrer Schwägerin konnte sie auch noch später berichten, was sich zugetragen hatte. Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund nahm sie das Gespräch entgegen. 

„Leonie, wo bist du?“, hörte sie Birte schreien. 

„Warum schreist du denn so? Ich bin doch nicht taub.“ Weiter kam Leonie nicht. 

„Marie ist weg.“ Leonie hörte zwar was Birte sagte, konnte aber die Tragweite der Aussage nicht erfassen.  

Kapitel 11 

Er hatte dem Wagen noch hinterher gesehen, bis er um die nächste Kurve verschwand. Dann setzte er seine Fahrt langsam fort. Ein weiteres Auto war nicht in Sicht. Schließlich tauchte die Leitplanke an seiner rechten Seite auf, kurz danach sah er den Weg. Vorsichtig lenkte er den Wagen auf den schmalen Pfad und fuhr im Schritttempo den Berg hinab. Er wollte nicht auf den Bodenunebenheiten aufsetzen. 

Er wurde schon erwartet. Das schmiedeeiserne Tor zu dem Anwesen war geöffnet. Alina stand vor dem Gebäude mit seinen roten Ziegelsteinen, die in quadratische Gefache, umrahmt von schweren Eichenbalken, eingeteilt waren.  

„Da bist du ja endlich“, empfing sie ihn vorwurfsvoll, „wo bleibst du denn so lange?“ 

„Ich musste oben auf der Landstraße anhalten, um einen neugierigen Fahrer loszuwerden“, erklärte er, „aber jetzt bin ich ja da. Ich habe allerdings nicht viel Zeit. Kannst du mich mal von diesem Schreihals befreien?“  

Alina nahm das Kind entgegen und drückte es an ihre Brust. Sofort beruhigte es sich. 

„Ist ja schon gut, meine Kleine. Du hast sicher Hunger.“ Ohne auf ihn zu achten, ging sie ins Haus. Er folgte ihr widerwillig in die Küche. Auf der langen Anrichte standen Babynahrung und Fläschchen.  

„Ich muss wieder fahren. Du hast ja alles. Wenn was ist, ruf mich auf dem Prepaid-Handy an.“ 

„Da kann ich ja nicht mal in Facebook nachschauen. Das ist doch blöd, zumal sich in Gambach ein Motorradunfall ereignet hat. Du solltest mal die Bilder sehen.“ 

„Hast du dich etwa hier eingeloggt? Bist du wahnsinnig? Ich habe dir doch gesagt, dass du das auf keinen Fall tun darfst“, wütend funkelte er sie an. 

„Wer soll sich denn dafür interessieren?“ Sie zog die Schultern hoch. 

„Zum Beispiel die Polizei“, antwortete er schroff. „Gib mir sofort dein Handy.“ Er streckte die Hand in ihre Richtung. 

„Ich denk ja nicht dran. Ich muss mich ja auch ab und zu bei meiner Mutter melden.“ 

„Den Teufel wirst du tun. In den nächsten Wochen hast du Sendepause. Lass sie in dem Glauben, dass du auf Mallorca Urlaub machst.“ 

„Ist ja schon gut. Beruhige dich wieder.“ 

„Du musst es mir versprechen, sonst ist der ganze gute Plan null und nichtig. Du darfst auch mit mir nur im äußersten Notfall über das Handy, das ich dir gegeben habe, Kontakt aufnehmen.“ 

„Ok“, sie verdrehte die Augen. Das Baby war in ihren Armen wieder eingeschlafen. 

„Pass gut auf die Kleine auf. Ich muss jetzt dringend telefonieren.“ 

Kapitel 12 

Der Schrotthändler sah, wie der alte Wagen langsam durch das große Tor rollte. Neben ihm hielt er an. Obwohl es Sonntag war, hatte er sich bereit erklärt, das Tor zu öffnen und auf den Mann zu warten. 

Der Fahrer stieg aus und grüßte ihn knapp. Er reichte ihm einen 500-Euro-Schein. „Hier, wie abgemacht. Und kein Wort zu irgendjemandem.“ 

„Ich bin doch nicht blöd. So schnell verdiene ich mein Geld sonst nicht.“ 

„Das sehe ich auch so. Ich muss jetzt wieder.“ 

„Wenn du mal wieder was brauchst, stehe ich gern zur Verfügung“, rief er dem Mann hinterher, der zu einem SUV ging, der etwas weiter entfernt stand. 

Der Fremde drehte sich noch einmal um. „Lass ihn so schnell wie möglich in der Schrottpresse verschwinden. Auch die Nummernschilder.“ 

„Logo“, der Schrotthändler tippte sich an die Stirn, steckte das Geld in seine Hosentasche und verschloss das Tor. Er entfernte die abgefahrenen Reifen und die Kennzeichen. Die konnte man vielleicht nochmal gebrauchen. Die würde er behalten. Der dunkelrote Escort hatte viele Jahre auf dem Buckel und sein Geld mehr als verdient.  

Sobald er das Auto ausgeschlachtet hatte, würde er es in die Schrottpresse schmeißen. 

Was der wohl mit dieser alten Kiste angestellt hatte, überlegte der Mann. Aber das konnte ihm auch egal sein. Ein Banküberfall wird es wohl kaum gewesen sein, dachte er. 

Kapitel 13 

Die Bundesstraße war mittlerweile wieder geräumt. Nur die Kreidespuren auf dem Asphalt zeugten noch von dem tödlichen Unfall. 

Polizeioberkommissar Schön setzte Leonie vor ihrem Haus ab und kehrte zu seiner Dienststelle in Butzbach zurück. 

Vor dem Haus standen Joachims Panamera und Gregors Motorrad. Leonie schloss die Haustür auf. „Hallo, wo seid ihr alle?“, rief sie. 

„Wir sind auf der Terrasse“, erhielt sie die Antwort von ihrer Schwägerin. Auf der Hollywoodschaukel saßen Carola und Gregor. Die junge Frau hatte den Kopf an die Brust ihres Mannes gelegt. Sie schluchzte heftig. Gregors Arme umfingen sie. Er sprach leise auf sie ein. Birte saß auf der anderen Seite des Tisches. In ihrem Blick lag pure Verzweiflung. Joachim stand neben ihr. Sein Gesicht wirkte grau. 

„Was ist denn hier los?“, ratlos sah Leonie von einem zum anderen. 

„Marie ist verschwunden“, schrie ihre Schwägerin sie an, „dein blöder Schäferhund hat sie verschleppt.“ 

Leonie sah Birte fassungslos an. „Du spinnst doch. Hasso verschleppt doch keine kleinen Kinder. Wie kommst du denn auf so eine absurde Idee?“ 

„Hasso ist doch ein Begleithund. Der ist doch dafür ausgebildet, u.a. Dinge zu transportieren“, keifte Joachim. 

„Also jetzt mal der Reihe nach. Könnt ihr mir mal genau erklären, was passiert ist.“ 

„Als du durch die Hecke verschwunden bist, ist Carola zum Kinderwagen gegangen. Sie wollte nach Marie schauen. Der Kinderwagen lag auf der Seite, ihre Decke daneben und das Gartentürchen stand offen“, Birte funkelte Leonie böse an, „der Kinderwagen war leer.“ 

„Das gibt es doch nicht. Und nun glaubt ihr, Hasso hätte das Kind verschleppt?“ 

„Wir glauben gar nix, wir wissen es“, konterte Joachim aufgebracht, „die Nachbarin hat den Hund gesehen.“ 

„Das ist unmöglich“, Leonies Gesicht nahm eine blasse Farbe an, „die Frau ist doch dement. Wer weiß, was sie gesehen hat.“ 

„Sie hat ganz klar und deutlich gesagt, dass ein Wolf Leonie geholt hat“, erklärte Gregor, „damit kann sie doch nur Hasso gemeint haben. Hier gibt es doch gar keine Wölfe.“ 

Leonie lachte. „Sie hat Hasso schon immer für einen Wolf gehalten. Aber die hat irgendwie eine Wolfsphobie“, Leonie wedelte sich mit der Hand vor der Stirn, „die redet ständig von Wölfen. Macht manchmal sogar das Heulen eines Wolfes nach. Wie gesagt, die ist dement.“  

„Aber wie soll Mariechen denn sonst verschwunden sein?“, schluchzte Carola, die sich nun umdrehte und Leonie ihr tränenüberströmtes Gesicht zuwandte. 

„Wie sollte das denn gehen? Und warum sollte Hasso das Kind wegtragen? Außerdem bin ich sicher, dass er durch die Hecke verschwunden und nicht zum Türchen raus ist“, nahm Leonie ihren Hund in Schutz. 

„Wo ist er überhaupt? Hast du ihn nicht gefunden?“, wollte ihr Schwager wissen. 

„Wir haben ihn an der Kreuzung zum Licher Golfclub entdeckt. Eine Autofahrerin hat ihn angefahren. So schnell wie der dort hingekommen ist, kann er nicht mit einem Baby unterwegs gewesen sein. Er ist verletzt. Wir haben ihn nach Münzenberg in die Tierarztpraxis gebracht“, berichtete Leonie. 

„Wer ist wir?“, hakte Joachim nach. 

„Polizeioberkommissar Schön aus Butzbach und ich“, Leonie überlegte einen Moment, „außerdem hätten doch die Männer von der Feuerwehr oder die Polizisten Marie sehen müssen.“ Nach einer Weile setzte sie hinzu, „ich halte es für ausgeschlossen, dass Hasso das Kind weggetragen hat.“ 

„Vielleicht war es tatsächlich ein Wolf. So was soll es doch schon gegeben haben“, überlegte Gregor laut. 

„So ein Quatsch. Hier gibt es doch gar keine Wölfe“, erwiderte sein Vater. 

„Sag das nicht. Im April ist ein Wolf auf der A 66 totgefahren worden. Außerdem gibt es Wolfsgehege im Taunus. Vielleicht ist einer abgehauen“, wusste nun Birte. 

„Hört doch mit dieser gequirlten Scheiße auf“, fauchte nun Leonie, „was habt ihr denn bisher überhaupt unternommen? Habt ihr die Polizei schon angerufen?“ 

„Gregor und ich haben die Felder hinterm Haus abgesucht“, sagte Joachim. 

„Und ich bin bis zur Bundesstraße gelaufen“, schluchzte Carola. 

„Ich bin die Straße auf der anderen Seite eures Hauses entlanggegangen. Da habe ich dann die Alte getroffen und die hat gesagt, ein Wolf hätte das Kind geholt.“ Birte sah vor ihrem geistigen Auge noch einmal die alte, abgemagerte Frau, die verwirrt auf der Straße herumgelaufen war. Mit aufgerissenen Augen und einem weit geöffneten, zahnlosen Mund war sie auf Birte losgerannt, hatte mit ihren knochigen Fäusten auf sie eingeschlagen und irgendetwas Unverständliches geschrien. Der Sohn der alten Frau, der schon auf der Suche nach seiner Mutter gewesen war, verstand schließlich, was sie schrie.  

„Jetzt habe ich aber genug. Ich rufe jetzt die Polizei an“, sprach Leonie und zog ihr Handy aus der Hosentasche hervor. 

Kapitel 14 

„Hallo“, schrie Leonie ins Telefon, „was ist denn jetzt los? Wer ist denn da? Spreche ich mit der Polizei?“ 

„Hallo Mama, hier ist Paul. Ich sollte mich doch melden“, erhielt sie zur Antwort. 

„Hallo Paul. Wieso bist du jetzt in der Leitung? Ich habe doch gerade die 110 gewählt.“ 

„Es hat bei dir gar nicht getutet. Du hast dich einfach nur gemeldet. Wieso denn Polizei? Was ist denn passiert?“, fragte Paul vollkommen ahnungslos. 

„Marie ist verschwunden. Außerdem war Hasso ausgebüxt. Eine junge Frau hat ihn angefahren. Jetzt ist er beim Tierarzt.“ 

„Ist er schlimm verletzt?“, Pauls Sorge war eindeutig. 

„Nein, nein. Sein linker Hinterlauf musste genäht werden. Die Tierärztin behält ihn jetzt erst einmal bei sich.“ 

„Und was ist mit Marie? Wieso ist sie verschwunden?“ 

„Sie lag in ihrem Kinderwagen und der stand im Durchgang zwischen Haus und Garage. Da ist es doch immer so schön kühl“, Leonie rang um Fassung, „ja und jetzt ist Marie weg. Die alte Frau von gegenüber behauptet, ein Wolf habe sie geholt. Jetzt glauben hier alle, dass sie Hasso mit einem Wolf verwechselt und der sie davongetragen hätte.“ 

„Was ist denn das für ein Quatsch? So etwas würde Hasso nie tun“, echauffierte sich Paul. „Wer ist denn noch bei dir?“ 

„Die Familie deines Onkels“, Leonies Stimme klang bitter. 

„Gib mir mal Joachim“, bat Paul. Leonie reichte ihrem Schwager das Mobiltelefon. „Paul will dich sprechen.“ 

„Hallo Paul“, grüßte Joachim seinen Neffen. 

„Joachim, was ist das für ein Blödsinn? Hasso hat bestimmt nichts mit der Sache zu tun. Und die Alte von gegenüber ist doch verrückt. Wer weiß, was die gesehen hat?“ 

„Tatsache ist, dass Mariechen verschwunden ist.“ 

„Ihr müsst die Polizei verständigen. Die müssen die Umgebung absuchen.“ 

„Wir haben doch schon überall geschaut.“ 

„Egal, die Polizei weiß bestimmt besser, was in dieser Situation zu tun ist.“ 

Kapitel 15 

„Du machst gar nichts, Leonie“, herrschte Joachim seine Schwägerin an. „Ich rufe einen Bekannten an. Der ist Kriminalkommissar. Der weiß bestimmt, was zu tun ist.“ 

„Ist ja schon gut“, wehrte Leonie mit erhobenen Händen ab. 

Sie setzte sich hin, verhielt sich still und schaute zu, wie ihr Schwager telefonierte. Joachim hatte den Lautsprecher seines Handys auf laut gestellt, so dass alle mithören konnten. 

„Henneberg“, meldete sich nach dem zweiten Rufton der Kommissar. 

„Wolf hier. Guten Tag, Herr Kommissar. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie am Sonntag störe. Aber ich habe da ein Problem.“ 

„Wolf?“, fragte Henneberg zweifelnd. 

„Ja, Wolf. Vom Architekturbüro Wolf in Butzbach. Wir haben vor einigen Jahren die Renovierung Ihrer Villa in der Mainzer Toranlage in Friedberg betreut. Erinnern Sie sich?“ 

Es dauerte einen kleinen Moment, dann kam es freundlich zurück, „Ja natürlich, Herr Wolf. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe. Was haben Sie denn für ein Problem?“ 

Joachim erklärte ihm knapp, aber prägnant, was vorgefallen war.  

„Ok. Ich kümmere mich darum. Bleiben Sie bitte ganz ruhig. Unternehmen Sie bitte nichts. Wir kommen schnellstmöglich.“ 

Henneberg legte auf. 

„Seht ihr, man muss nur wissen, an wen man sich wenden muss“, sagte Joachim von sich selbst überzeugt. Carola schluchzte fürchterlich. Birte verzog verächtlich die Mundwinkel. Leonie schüttelte den Kopf. 

So saßen sie schweigend beieinander, bis sie ein Auto vorfahren hörten. Joachim rannte zur Tür. Polizeiobermeister Schön war gerade im Begriff, die Klingel zu betätigen. „Wo ist denn Kommissar Henneberg?“, fragte Joachim enttäuscht. 

„Der kommt auch gleich. Dürfen mein Kollege und ich inzwischen eintreten und den Tatort sichern?“ Hinter Schön erschien nun ein zweiter Streifenbeamter. „Guten Tag, ich bin Polizeioberkommissar König von der Dienststelle in Butzbach.“ 

„Wieso denn Tatort? Hier wurde doch keiner ermordet. Mein Enkelkind ist verschwunden“, empörte sich Joachim. 

„Das wissen wir bereits. Aber dennoch handelt es sich um einen Tatort“, antwortete Schön arrogant. „Zeigen Sie uns doch bitte, wo das Kind zum Zeitpunkt seines Verschwindens war.“ Schön schubste Joachim zur Seite und ging ins Haus. König folgte ihm. Joachim sah den beiden Polizisten verdattert hinterher. 

Leonie war aufgesprungen und begrüßte Schön wie einen alten Bekannten. „Hallo, Herr Schön, ich dachte nicht, dass ich Sie so schnell wiedersehen würde.“ 

„Hallo, Frau Wolf, ich ehrlich gesagt auch nicht. Haben Sie schon was von Ihrem Hund gehört?“ 

„Nein, bis jetzt noch nicht. Aber das ist im Moment auch nicht so wichtig. Es geht um Mariechen, meine Großnichte. Sie ist verschwunden.“ 

„Das haben wir schon gehört“, antwortete Schön und begrüßte die Anwesenden auf der Terrasse. „Wer sind Sie?“, fragte er und zückte sein Notizbuch. 

„Das ist Carola Wolf“, kam Leonie den anderen zuvor. „Ihr Mann Gregor und das ist Birte Wolf, die Großmutter“, Leonie wies auf ihre Schwägerin. „Meinen Schwager Joachim Wolf haben Sie ja schon kennengelernt.“  

„Können Sie mir bitte zeigen, wo sich das Kind aufhielt?“ Leonie ging ihm voraus zu dem Durchgang zwischen Haus und Garage. Der Kinderwagen stand an der Hauswand. Das Gartentürchen war geschlossen.  

„Das ist aber ein etwas ungewöhnlicher Schlafplatz für ein Kind. Wie alt ist es denn?“ Schön kritzelte etwas in sein Notizbuch. 

„Mariechen ist sechs Wochen alt. Hier ist es im Sommer immer schön kühl und ruhig“, erklärte Leonie. 

„Stand der Kinderwagen dort an der Wand?“ 

„Nein, hier in der Mitte“, Leonie schob den Kinderwagen an den Platz. 

„Und wann haben Sie festgestellt, dass das Kind verschwunden ist?“ Mittlerweile waren auch die anderen Familienmitglieder hinzugekommen. König stand still daneben und beobachtete die Szene. 

Birte begann langsam, um Fassung bemüht, zu sprechen. „Nachdem meine Schwägerin wegen des Hundes zur Bundesstraße gelaufen ist, wollte meine Schwiegertochter mal nach Mariechen sehen. Da lag der Kinderwagen auf der Seite. Die Decke lag auf dem Boden daneben und das Türchen stand offen. Mariechen war weg.“ 

„Und um wieviel Uhr war das?“, wollte nun König wissen. 

„Gegen halb vier.“ 

„Geht das auch noch etwas genauer?“, kam die nächste Frage von König. 

„Das kann ich Ihnen gleich sagen“, mischte sich nun Leonie ein. „Mein Telefon verzeichnet die Anrufe und die Uhrzeit.“ Sie verschwand ins Haus und kehrte wenig später mit einem Telefon zurück. Sie tippte auf die Tastatur. „Der Anruf kam um 15.32 Uhr. Ich bin dann sofort weg.“ 

„Und Sie sind dann gleich zum Kinderwagen?“ 

„Naja“, druckste Birte, „nicht gleich. Wir haben uns noch eine Weile unterhalten. Es gab ja keinen Grund. Wenn Mariechen schläft, kann sie nichts so leicht aufwecken. Deshalb haben wir uns auch keine Sorgen gemacht.“ Carolas Schluchzen wurde lauter. 

„Ja und, wie lange danach haben Sie denn nun nachgeschaut?“, Schön wurde nun ungeduldig. 

„Vielleicht eine Viertelstunde danach“, Birte machte ein verlegenes Gesicht. 

„Und was haben Sie dann gemacht?“ Schön blickte zu Carola. Aber die junge Frau war nicht in der Lage zu antworten. Stattdessen sprach Birte. „Als ich Carola schreien hörte, bin ich zu ihr gelaufen. Wir haben den Kinderwagen aufgerichtet. Wir sind rausgerannt. Carola ist in Richtung Bundesstraße gelaufen und ich bin auf die Straße vor das Haus getreten. Nach einer Weile kam die Nachbarin. Sie hat immer nur gesagt, der Wolf hat sie geholt.“ 

„Sie hat gesagt, der Wolf hat sie geholt? Was hat sie damit gemeint?“, fragte König ungläubig. 

„Die alte Frau ist dement. Ich vermute, sie hat im Feld Hasso gesehen und ihn mit einem Wolf verwechselt“, erklärte Leonie. 

„Hasso ist Ihr Schäferhund, der auf der Bundesstraße herumgerannt ist, richtig?“, hakte Schön nach. 

„Ja, aber der ist nicht durch das Türchen abgehauen. Ich bin sicher, dass er durch das Loch dort in der Hecke verschwunden ist. Außerdem würde er Mariechen nie etwas tun. Hasso liebt Kinder.“ 

„Aber wie kommt sie denn auf einen Wolf? Hier gibt es doch gar keine Wölfe. Und Wölfe holen auch keine Kinder“, wollte König nun wissen. 

„Wie schon gesagt, die alte Frau ist dement. Ihr Sohn kam dann dazu und hat sie beruhigt. Er hat gesagt, wir sollen nicht ernstnehmen was sie sagt. Sie lebt in der Vergangenheit“, berichtete nun Birte. 

„Gut, Sie setzen sich jetzt bitte alle wieder auf die Terrasse. Wir verständigen nun die Spurensicherung“, forderte Schön die Familie auf. 

„Ja, wollen Sie denn nichts unternehmen? Sie müssen nach dem Kind suchen“, sprach Joachim aufgebracht. 

„Das haben wir doch schon, Vater“, meldete sich nun Gregor das erste Mal zu Wort. 

„Kommissar Henneberg wird gleich hier sein. Dann sehen wir weiter“, antwortete Schön.  

Kapitel 16 

Alexander und Judith hatten auf der Terrasse gesessen und die Sonne genossen. Erdmann lag zu ihren Füßen. Er schlief tief und fest, musste seinen Rausch ausschlafen. Nach der Midlife-Crisis-Party am Samstagabend, zu der Judith eingeladen hatte, waren alle noch etwas müde, vor allem der Rauhaardackel, der unbemerkt die Tropfschale unter dem Bierfass ausgeschlabbert hatte. Alle gemeinsamen Freunde und Kollegen waren gekommen, um endlich mal wieder bei Bier und Bratwürstchen vom Grill entspannt zusammen zu sitzen. Das Motto der Party fand großen Zuspruch und das Bier aus dem 50 Liter-Fass erst recht. Erst lange nach Mitternacht hatten die letzten Gäste die Party verlassen. 

Als Alexanders Handy klingelte, hätte er am liebsten nicht reagiert. Er hatte ja keinen Bereitschaftsdienst und auf das Gespräch mit einem Freund hatte er eigentlich auch keine Lust. Er hatte gerade an die schöne Party gedacht und an seine Kollegin Cosima, die auch wieder im Lande war und von allen freudig empfangen wurde. Alle hatten ihr gespannt zugehört, als sie von ihren Erlebnissen in Shanghai erzählte. Sie versicherte immer wieder den Anwesenden, dass sie froh ist, wieder hier in der Wetterau zu sein. 

Alexander nahm schließlich doch das Gespräch entgegen. 

Erstaunt hörte er zu, was der Anrufer ihm mitteilte. Der Kommissar versprach, sich sofort um die Angelegenheit zu kümmern. „Judith, tut mir leid. Aber es gibt Arbeit.“ Alexander verließ seinen bequemen Liegestuhl. 

„Och, müssen wir wirklich? Was ist denn mit Jüngling und dem Kölner?“ 

„Hör bloß auf. Da wellen sich mir die Zehennägel, wenn ich an den Jeck denke.“ Alexander machte ein ärgerliches Gesicht. 

Nachdem Cosima im vergangenen Juli für ein Sabbatical (Sabbatjahr) zu ihrem Mann nach Shanghai gereist war, hatte man dem K 10 Harald Froitzheim zugeteilt. Der Kommissar kam aus Köln, was an seinem unverwechselbaren Akzent und seiner Ausdrucksweise leicht zu erkennen war. Mit seiner rheinischen Frohnatur brachte er seine Kollegen manchmal zur Verzweiflung. 

„Die muss ich sowieso verständigen. Ich befürchte, wir haben es hier mit einer Kindesentführung zu tun“, erklärte Alexander seiner Partnerin. 

„Ach du große Neune.“ Judith hatte, genau wie ihr Kollege Harald, immer einen passenden Spruch zur Hand. Im Gegensatz zu dem Jeck, wie ihn alle heimlich nannten, entsprachen die aber eher dem normalen Sprachgebrauch.