Die blaue Stunde - Jule Heck - E-Book

Die blaue Stunde E-Book

Jule Heck

0,0

Beschreibung

Hanna ist siebzehn, als sie ungewollt schwanger wird. Ihre Mutter bestimmt, dass sie den Vater des Kindes heiratet und durchkreuzt damit Hannas Zukunftspläne. Stefan, Hannas acht Jahre älterer Mann, entstammt einer wohlhabenden Unternehmerfamilie und arbeitet im Baugeschäft seines Vaters als Architekt. Von Hanna, die in kleinbürgerlichen Verhältnissen in einem beschaulichen Städtchen am Chiemsee aufgewachsen ist, wird erwartet, dass sie sich den drei großen K`s Kinder, Küche, Kirche widmet und ihre eigenen Wünsche hintenanstellt. Sie bekommt zwei weitere Kinder mit Stefan, der es mit der ehelichen Treue nicht so genau nimmt. Obwohl sie finanziell abgesichert ist, versucht sie, sich beruflich auf eigene Füße zu stellen und unabhängig von ihrem Mann zu werden. Plötzlich gerät Hanna in eine Situation, durch die sich ihr ganzes Leben ändert. Endlich kann sie ihren Traum, als Innenarchitektin zu arbeiten, verwirklichen. Auf dem Höhepunkt ihrer beruflichen Karriere nimmt sie eine Auszeit, die sie an der Ostsee verbringt. Bald stellt sie fest, dass sie das ruhige Leben an der Flensburger Förde nicht ausfüllt. Sie stürzt sich in ein neues Betätigungsfeld und lernt dabei einen interessanten, aber geheimnisvollen Mann kennen. Wird sie ein spätes Glück finden? Jule Heck, die sich mit der Krimiromanreihe „Tod im Schatten der Burg“ einen Namen gemacht hat, legt mit ihrem ersten Gesellschaftsroman ein Werk vor, in dem sie ein Stück Zeitgeschichte ihrer Lebensjahre reflektiert. Treffend beschreibt die Autorin das Leben der Frauen, die sich nach und nach aus dem teilweise engen Korsett der von der Gesellschaft vorgegebenen Rolle befreien.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 394

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung. 

Impressum 

Jule Heck 

»Die blaue Stunde – Wenn der Tag geht« 

www.edition-winterwork.de 

© 2021 edition winterwork 

Alle Rechte vorbehalten. 

Satz: edition winterwork 

Umschlag: edition winterwork 

Umschlaggestaltung: Wolf Becker, Atelier am Markt, Münzenberg, Fotomontage auf der Basis des Bildes Nr. 143043307 bei 123rf, Urheber: victorgrow_ 

Lektorat: Jens Willaschek, Münzenberg-Gambach 

Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf 

ISBN Print

Die blaue Stunde 

Wenn der Tag geht

Vorwort 

Dieses Buch ist ein Gesellschaftsroman. Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt. 

Bedanken möchte ich mich bei meiner Familie und bei meinen Freunden, die mich durch Anregungen, Hinweise, Tipps und kritische Anmerkungen unterstützen, mich zu meinen Lesungen begleiten, ganz besonders auch bei den Lesern, die mich immer wieder ermuntern, weiter zu schreiben. 

 

 

 

Mein altes Leben 

 

Kapitel 1 

Ich werde Großmutter. Nicht zu fassen. Mit 48 Jahren macht mich meine Tochter zur Oma. Wie herrlich! Ein schöneres Geburtstagsgeschenk hätte man mir nicht machen können. 

Lisa Marie, meine älteste Tochter, hatte mich beim gemeinsamen Frühstück auf der Seeterrasse mit dieser fantastischen Neuigkeit überrascht. Eigentlich hatte sie das freudige Ereignis erst am Abend auf meiner Geburtstagsparty verkünden wollen. Doch ich hatte sofort bemerkt, dass da was im Busch war, da sie den sonst üblichen Sekt ablehnte. Ich sagte ihr auf den Kopf zu, dass sie schwanger ist. Einer Mutter kann man eben nichts vormachen. 

 

Hier wiederholte sich gerade mein Schicksal, denn meine Mutter hatte auch mir meine Schwangerschaft schon angesehen, bevor ich sie selbst so richtig realisiert hatte.  

Ein Kind zu bekommen, war für mich damals mit gerade 18 Jahren genauso weit weg wie eine Reise zum Mond. Ich stand kurz vor dem Abitur, wollte danach eigentlich studieren, vielleicht auch als Au-Pair-Mädchen ein Jahr ins Ausland gehen, bevor ich mal an die Familienplanung denken würde.  

Doch meine Mutter bestand darauf, dass ich Stefan heiraten müsse. Es ginge ja wohl nicht an, dass ich das Kind alleine großziehe. Außerdem war es gesellschaftlich in Oberbayern immer noch nicht en vogue, wie sie sich auszudrücken pflegte, dass man ein uneheliches Kind in die Welt setzte. 

Sie selbst hatte es als Kind 1944 mit meiner Großmutter in den Chiemgau geschafft. Als Flüchtlinge aus Böhmen waren sie damals bei einer entfernten Verwandten in Prien untergekommen. 

 

Eine Hochzeit mit Stefan kam meiner Mutter, dem Sohn aus einem reichen, urbayrischen Elternhaus, gerade recht. Auf der einen Seite kämen meine Eltern um die Finanzierung eines langjährigen Studiums herum, auf der anderen Seite würde das ihre eigene gesellschaftliche Stellung enorm aufwerten, wenn ich, Tochter eines Finanzbeamten und einer Hausfrau, die sich nebenbei mit Näharbeiten etwas hinzuverdiente, in eine Familie einheiratete, die bei den oberen Zehntausend in der Stadt mitmischte.  

Meine Mutter hatte schon immer ein enormes Geltungsbedürfnis und einen mächtigen Standesdünkel. Als Flüchtlingskind, ohne Vater aufgewachsen, er blieb auf einem der Schlachtfelder im 2. Weltkrieg verschollen, hatte sie es anfangs in der neuen Heimat schwer gehabt. Durch die Heirat mit Ludwig Seidl aus einer Beamtenfamilie, die schon seit Generationen hier im Chiemgau beheimatet war, hatte sie den erhofften Respekt ebenso wenig erreicht, wie das Gefühl der Zugehörigkeit in der Kleinstadt am Chiemsee. Auch nach über 30 Jahren, die sie hier jetzt lebte, hörte man immer noch den böhmischen Dialekt heraus.  

Meine Mutter nahm sofort Kontakt zu Auguste Burger, Stefans Mutter, auf und machte ihr klar, dass ihr Sohn, der mich geschwängert hatte, nun auch Verantwortung übernehmen und mich heiraten müsste.  

Frau Burger, eine strenge Katholikin, gab meiner Mutter recht, wenn auch ungern. Sie hätte sicherlich eine Schwiegertochter rein bayrischen Ursprungs aus ihren eigenen Kreisen lieber gesehen, aber sie war sich der Verantwortung bewusst und stimmte einer Hochzeit zu. 

 

Stefan und ich wurden gar nicht gefragt, ob wir überhaupt heiraten wollten. Die Mütter legten einfach einen Hochzeitstermin fest und begannen mit der Planung. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Denn wenn ich im Juni 76, da wäre mein Babybauch ja schon deutlich zu sehen, an einer katholischen Mädchenschule das Abitur ablegen wollte, könnte ich dies in meinem Zustand nur als verheiratete Frau tun. Die Nonnen erklärten sich auch nur deshalb damit einverstanden, weil Stefans Vater, ein Bauunternehmer, der Schule eine großzügige finanzielle Spende versprach. 

Stefan wurde ebenso vor vollendete Tatsachen gestellt wie ich. Ihn lernte ich im Reitstall kennen. Adelgunde, meine Freundin aus Kindertagen, hatte dort ihr Pferd stehen. Ich half ihr beim Füttern und ausmisten und durfte auch auf Jupiter, einem braunen Wallach, reiten.  

Die Mädels aus dem Reitstall waren alle in Stefan verknallt. Er machte eine tolle Figur auf seinem schwarzen Hengst und jede von ihnen hätte sich sofort mit ihm eingelassen. Er war unglaublich gutaussehend und erinnerte mich immer an ein Bildnis, das König Ludwig II, den imposanten Bayernkönig zeigte. Seine Wahl fiel ausgerechnet auf mich, als ich ihn 1975 in Rosenheim beim Herbstfest traf. Ich hielt mich für ein unscheinbares, schüchternes Wesen. Doch die Blicke der Jungs verrieten mir, dass ich mit meinen dunklen Locken, den großen braunen Augen und dem leicht getönten Teint nicht so hässlich sein konnte. 

Vor dem Zelt stieß ich mit Stefan zusammen. Er nahm mich einfach bei der Hand und führte mich zur Tanzfläche. Vor lauter Aufregung trat ich auf den langen Rock meines Dirndls, was einen Riss im Stoff zur Folge hatte. Meine Mutter hatte es mir eigens für diesen Anlass genäht. Das Tanzen konnten wir vergessen.  

Stefan lachte und bot mir an, mich nach Hause zu fahren. Unterwegs hielt er in einem Waldweg an. Mir war etwas mulmig zumute, als er mich an sich drückte und mir feuchte Küsse auf den Hals und mein Dekolleté drückte. Natürlich hatte ich schon mal einen Jungen geküsst, war also nicht ganz unerfahren, aber mir war nicht klar, was der acht Jahre ältere Stefan ausgerechnet von mir wollte.  

Naja, das stellte sich schnell heraus. Er wollte Sex. Und ich wollte es auch. Der Sex mit ihm war gut, leidenschaftlich, wild, ekstatisch. Von Liebe war keine Rede und ehrlich gesagt, ich war auch nicht wirklich verliebt in ihn, fühlte keine Schmetterlinge im Bauch. 

Kapitel 2 

Ich fühlte mich durchaus stark zu Stefan hingezogen. Er beherrschte mich, machte mich gefügig. Ich war ihm verfallen und genoss die leidenschaftlichen Stunden mit ihm. Wir trafen uns oft und taten es überall, wo sich eine Möglichkeit bot. Nicht nur im Reitstall oder in seinem Auto, nein, wir fuhren auch oft in die Berge, wo seine Familie eine Hütte besaß, die man beheizen konnte. Von hier aus hatte man einen herrlichen Ausblick auf die bergige Landschaft, in deren Mitte das Blau des Chiemsees schimmerte. Den herrlichen Ausblick genossen wir jedoch selten. 

Stefan versicherte mir immer wieder, dass er ganz verrückt sei nach meinen Brüsten. Er könne gar nicht genug davon kriegen, sie zu berühren und sein Gesicht zwischen meinen Rundungen zu versenken. Für meine damals 17 Jahre hatte ich tatsächlich eine sehr frauliche Figur, an der ich mich störte. Mein zwei Jahre älterer Bruder Harald zog mich immer damit auf. 

Ich besorgte mir heimlich die Pille. Meine Mutter hätte mir das nie erlaubt. Für sie galt Jungfräulichkeit bis zum Eintritt in die Ehe.  

Eine Magen- und Darmgrippe wurde mir schließlich zum Verhängnis. Die ganze Familie litt daran, einschließlich meiner Wenigkeit. Mir war nicht klar, dass sich dadurch die Wirkung des Verhütungsmittels verflüchtigen würde. Das war es dann. Ich wurde schwanger. Zunächst merkte ich es nicht einmal. Ich dachte, dass meine anschwellenden Brüste und meine Gewichtszunahme von der Einnahme der Pille kämen. Meiner Mutter fiel meine plötzliche Blässe und ständige Übelkeit auf. Die Frauenärztin, zu der sie mich brachte, bestätigte die Vermutung meiner Mutter.  

Bevor ich Stefan von dem Kind erzählen konnte, hatte meine Mutter bereits alles in die Wege geleitet. In einer überwiegend katholischen Gegend kam es nicht in Frage, dass ich ein uneheliches Kind zur Welt bringen würde. Das sah nicht nur meine Mutter so, sondern auch Stefans Mutter. 

Stefan war genauso wenig begeistert wie ich, aber er sagte nur, es hätte ja auch schlimmer kommen können.  

 

Stefan hatte mittlerweile sein Studium beendet und konnte sich als angehender Architekt durchaus eine Familie leisten. An Ostern wurden wir quasi verlobt und Ende Mai, genau an meinem 18.Geburtstag, wurden wir verheiratet. Ich konzentrierte mich auf die Schule und die bevorstehenden Abiturprüfungen, während unsere Mütter munter drauflos planten. Adelgunde war mein einziger Trost in dieser Zeit. Sie schaffte es immer wieder, mich aufzumuntern. Aber das Reiten wurde mir strengstens untersagt. Das könnte die Schwangerschaft gefährden, sagte meine Mutter, deren einzige Sorge darin bestand, dass irgendetwas meine Vermählung mit Stefan verhindern könnte. 

Zum Polterabend erschienen zweihundert Gäste. Davon kannte ich, abgesehen von meinen Schulfreundinnen, nur die wenigsten. Auch an der Hochzeit am übernächsten Tag kamen Leute, mit denen ich noch nie etwas zu tun gehabt hatte.  

Ich fragte mich, wie sich meine Eltern das finanziell leisten sollten, doch meine Mutter beruhigte mich. Stefans Eltern würden für alles aufkommen. Es war ihnen wichtig, ihre Geschäftspartner und Honoratioren aus dem öffentlichen Leben einzuladen. Unter den vielen Gesichtern, immerhin waren 100 Gäste zugegen, entdeckte ich sogar den Bürgermeister der Stadt, den ich bisher nur von Wahlplakaten kannte. 

Von meiner Familie waren meine Eltern, mein Bruder Harald und meine zwei Jahre jüngere Schwester Ulla sowie meine Patentante Helene, die Schwester meines Vaters und deren Tochter, meine Cousine Anneliese anwesend. Meine böhmische Großmutter und die Eltern meines Vaters waren bereits verstorben. Außer ein paar Cousins meines Vaters hatten wir keine Verwandten. Der Krieg und seine Folgen hatte viele Opfer gefordert und ganze Familien vernichtet.  

Das Brautkleid und die ganze Ausstattung, einschließlich der Unterwäsche und der Schuhe wurde von den künftigen Schwiegereltern bezahlt. Zur standesamtlichen Trauung musste ich ein Dirndl tragen, das meine Mutter genäht hatte. Zugegeben, es war wunderschön. Ich gefiel mir darin. Das Brautkleid durfte ich selbst wählen. Es war ein Traum aus cremefarbener Spitze, die den kleinen Babybauch geschickt verdeckte. Bei der Anprobe des Kleides bekam ich einen Vorgeschmack von der Bekanntheit und dem Reichtum meiner neuen Familie.  

Die Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt, mitten in Prien, war wunderschön geschmückt. Kleine Sträuße aus Maiglöckchen, zierten den Eingang jeder Kirchenbankreihe und verströmten einen herrlichen Duft. Als mein Vater mich zum Hochzeitsmarsch zum Altar führte, war ich aufgeregt wie ein kleines Kind. Stefan sah in seinem extra angefertigten Anzug aus feinstem Lodenstoff äußerst stattlich aus und reichte mir lächelnd den Arm. 

 

So weit so gut. Nach den Feierlichkeiten traten Stefan und ich die Flitterwochen an. Die Schule hatte mich für eine Woche vom Unterricht befreit. Bis dahin hatten wir beide eigentlich gar keine Möglichkeit mehr gehabt, alleine zu sein. Bis zur Trauung drehte sich alles um die Einladung der Gäste, die Kleiderauswahl und die Tischordnung. 

Eigentlich hätten wir froh sein können, dem ganzen Trubel zu entkommen. Erst jetzt würden wir uns richtig kennenlernen. Aber wenn wir ehrlich waren, hatten wir uns gar nicht viel zu sagen, und mit dem Sex war es auch nicht mehr so toll. Stefan störte sich an meinem Babybauch, erklärte mir, er wolle dem Kind nicht schaden. 

Wir waren in eine Ehe hineingedrängt worden, die wir beide nie angestrebt hatten. Nun mussten wir sehen, wie wir das Beste daraus machen konnten, zwei Fremde, die nichts anderes kannten als Sex. 

Stefan versprach mir, dass er mich nicht im Stich lassen würde, erklärte, dass wir das Beste aus der Situation machen sollten. Wir nutzten diese eine gemeinsame Woche in den Tiroler Bergen, um uns besser kennenzulernen, unsere Ideen auszutauschen, über unsere Wünsche zu sprechen und uns kleine Geheimnisse anzuvertrauen. Eigentlich war es eine ganz angenehme Woche, aber auch danach empfand ich nicht mehr als Freundschaft für ihn.  

Kapitel 3 

Stefan machte es mir leicht. Er behandelte mich wie eine gute Freundin. Das Schlimme war nur, dass ich mir ein Studium nach dem Abitur abschminken konnte. Meine Mutter weigerte sich, mein Kind zu beaufsichtigen, während ich an der Uni wäre. Aus und vorbei war es mit Partys oder unbeschwerten Stunden mit meinen Freundinnen und erst recht mit einem Auslandsaufenthalt. Das Reiten musste ich ganz an den Nagel hängen. Ich war verheiratet und gebunden an einen Mann, den ich nicht liebte.  

Das konnte ich nur meiner besten Freundin Adelgunde anvertrauen. Denn alle anderen beneideten mich um den schwarz gelockten Stefan, der nicht nur umwerfend gut aussah, sondern mittlerweile auch einen tollen Job in der Firma seines Vaters hatte, dazu das nötige Kleingeld, um mir in Zukunft ein schönes Leben zu ermöglichen. 

 

Wir bezogen eine Dreizimmerwohnung, die sich in einem der vielen Mietshäuser meiner Schwiegereltern befand. Unsere Eltern hatten das so entschieden. Meine Schwiegermutter hatte mir eine Zugehfrau besorgt, die sich um den Haushalt kümmerte, damit ich mich in Ruhe auf mein Abitur vorbereiten konnte.  

Ich bestand es trotz der Umstände recht gut. Die Direktorin der katholischen Mädchenschule überreichte mir im Juli mein Zeugnis mit spitzen Fingern und meinte konsterniert, dass es schade um so ein begabtes Mädchen wie mich sei. Sie sah mich immer noch als Mädchen an und ihre Aussage machte mir nicht gerade Mut. Es klang fast wie ein Urteil: Lebenslang an einen Mann gekettet. 

Ich konnte nicht einmal mit meinen Mitschülerinnen feiern. Obwohl es noch vier Monate bis zur Geburt meines Kindes waren, trug ich bereits jetzt meinen Bauch wie einen Ballon vor mir her. Alkohol durfte ich nicht trinken, geschweige denn auf einem Anhänger sitzend von einem Traktor durchs Feld gezogen zu werden, wie das damals üblich war. 

Traurig ging ich nach Hause und war ratlos, was ich mit meiner Zukunft anfangen sollte, außer mich um mein Kind zu kümmern und Windeln zu wechseln. Zu Hause wartete eine Überraschung auf mich. Meine Schwiegereltern hatten eine kleine Feier im Kreis der Familie für mich vorbereitet. Meine Familie war dabei, auch Stefans Bruder Paul, den ich sehr mochte.  

Die Großeltern meines Mannes überreichten uns den Schlüssel ihres Häuschens. Sie selbst wollten auf den Hof ihres zweiten Sohnes Gustav ziehen, dem Bruder meines Schwiegervaters Leopold.  

 

Der Aufenthalt in der Dreizimmerwohnung war also nur vorübergehend und bevor ich es mich versah, war ich damit beschäftigt, unser neues Heim zu renovieren und einzurichten. Ich sah eine große Chance in dieser Beschäftigung. Schon immer hatte es mir Freude gemacht, Räume zu gestalten, ich suchte also in den nächsten Monaten sämtliche Möbelhäuser in der Umgebung auf, wälzte Magazine für Einrichtungen, machte Pläne für ein perfektes, gemütliches und kindgerechtes Heim.  

Zunächst begleitete mich Adelgunde. Ende September verabschiedete sie sich nach Bamberg, wo sie sich für ihr Psychologie-Studium immatrikuliert hatte.  

Daraufhin bot meine Schwiegermutter Auguste mir ihre Hilfe an. Sie begleitete mich und unterstützte mich finanziell und zwar überaus großzügig. Sie schlug mir keinen Wunsch ab. Sie war mir eine große Hilfe. Vor allem besaß sie ein Auto, mit dem sie mich überall hinfuhr und wenn wir die Geschäfte verließen, füllte sich ganz schnell der Kofferraum und die hintere Sitzbank ihres Golfs. 

Den Standesunterschied ließ sie mich nie spüren. Sie behandelte mich wie eine Tochter, obwohl ich sie nicht mit Mutter ansprechen sollte, sondern mit Gustl, wie alle anderen das auch taten. Einmal sagte sie zu mir: „Ich habe nicht einen Sohn verloren, sondern eine Tochter dazu bekommen.“ Ich war total gerührt. 

Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie selbst zwar aus einem reichen Elternhaus stammte, mein Schwiegervater Leopold aber eher aus kleinen Verhältnissen kam. Sein Vater war Maurermeister gewesen und hatte sich 1946 nach dem Krieg getraut, ein eigenes Bauunternehmen aufzubauen, was den Grundstock für den heutigen Reichtum der Familie Burger legte. Er hatte es gewagt, sich zu einer Zeit selbständig zu machen, als Deutschland nach der vernichtenden Weltkriegsniederlage in Schutt und Asche lag. Anfangs ging es nur langsam voran. Es fehlten gesunde, junge Männer, denen die Maurerarbeit nicht zu schwerfiel, und vor allem mangelte es an Material. Aber Leopolds Vater gab nicht auf. Er hatte früh begriffen, dass er mit der Stadt Prien zusammenarbeiten musste, um bezahlbaren Wohnraum für die vielen Flüchtlinge zu schaffen.  

Auguste, die von ihrem Mann liebevoll Gustl genannt wurde, hatte 1947 gegen den Willen ihrer Eltern ihren Leopold geheiratet. Er stand damals kurz vor der Beendigung seines Studiums als Bauingenieur. 1948 wurde Paul geboren und 1950 erblickte Stefan das Licht der Welt. 

Leopold und sein Vater waren mit ihrem Baugeschäft aktiv am Wiederaufbau der Bundesrepublik beteiligt. Beide Söhne stiegen nach einem erfolgreichen Architekturstudium in das Baugeschäft Burger ein, das mittlerweile zu einem beachtlichen Unternehmen herangewachsen war und schließlich als Burger und Söhne firmierte.  

Kapitel 4 

Es gelang mir tatsächlich, unser neues Heim schön und modern zu gestalten. Stefan war begeistert und sparte nicht mit Lob. Kurz vor der Geburt unseres ersten Kindes zogen wir aus der Dreizimmerwohnung in ein komfortables Haus mit fünf Zimmern, einer Küche, zwei Bädern und einem großen Garten.  

Mitte Oktober kam Lisa Marie zwei Woche zu früh auf die Welt. Stefan war bei einem wichtigen Kunden und konnte mich nicht ins Krankenhaus begleiten. Wieder war es Gustl, die mir zur Seite stand.  

Lisa Marie war ein hübsches Baby und vollkommen unkompliziert. Sie schlief viel und entwickelte sich prächtig. Als mich meine Freundinnen nach der Geburt von Lisa Marie besuchten, staunten sie nicht schlecht, was ich aus dem alten Kasten der Großeltern gemacht hatte. Sie versprachen mir, mich auf alle Fälle bei der Einrichtung ihrer Wohnungen oder Häuser in ferner Zukunft um Rat zu bitten. Doch das würde noch dauern, denn die meisten machten erst einmal eine Ausbildung oder studierten. 

 

Meine Schwiegermutter schleppte ihre sämtlichen Freundinnen an, um ihnen das wunderschöne Haus und meine Tochter zu präsentieren. Ich war in ihrer Achtung enorm gestiegen. Zum einen, weil ich Leopolds Elternhaus so geschmackvoll umgestaltet hatte und zum anderen, weil ich unsere Erstgeborene den Namen ihrer Mutter Lisa und den Namen ihrer Großmutter Marie gegeben hatte. Ich verstand mich mit ihr mittlerweile besser als mit meiner eigenen Mutter, die es sich nicht nehmen ließ, ebenfalls mit ihren Freundinnen, meistens unangemeldet, aufzutauchen und mit unserem Häuschen im Grünen anzugeben.  

Alle waren so angetan von meinen Gestaltungsideen, dass mich die eine oder andere fragte, ob ich bei der Einrichtung ihrer eigenen Räume behilflich sein könnte. Ich nahm die Angebote an und kniete mich in die Arbeit. Dabei half mir, dass ich mir das Nähen bei meiner Mutter abgeschaut hatte. Gustl schenkte mir eine elektrische Nähmaschine und so konnte ich selbst Gardinen und Kissenhüllen, Tagesdecken und Tischdecken nähen. 

Kapitel 5 

Lisa Maria wuchs und gedieh. Meine Schwiegermutter war ganz vernarrt in sie und nahm sie mir oft ab, wenn ich mit meinen Auftraggeberinnen zusammentraf und neue Möbel, Tapeten und Wohnaccessoires mit ihnen aussuchte oder Näharbeiten erledigte.  

Die Einrichtungsmagazine, Tapetenbücher und Kataloge von Einrichtungshäusern stapelten sich in meinem Arbeitszimmer, das ich mir unter dem Dach eingerichtet hatte. Die Arbeit machte mir richtig Spaß und ich trauerte nicht länger meinem entgangenen Studium nach.  

Ich nahm mir vor, eine Lehre als Dekorateurin zu machen, sobald Lisa Marie den Kindergarten besuchen würde. Die Idee behielt ich jedoch zunächst für mich. Denn ich merkte alsbald, dass mein Mann von meiner neuen Tätigkeit nicht so angetan war, auch wenn sie nicht mehr als ein schönes Hobby war.  

Ihm wäre es lieber, ich würde mich mehr um unser Kind und die Küche kümmern. Denn meine Kochkünste ließen immer noch zu wünschen übrig, trotz der vielen Kochbücher, die ich nach und nach geschenkt bekam. Mal war es der Spargel, den ich ungeschält ins kochende Wasser warf, mal war es der Schnellkochtopf, der auf dem Herd explodierte und das Sauerkraut an der Küchendecke verteilte.  

 

Meine Mutter jammerte ständig, dass ich noch nicht einmal kochen könnte, geschweige denn in der Lage war, ein Hemd zu bügeln. Ich rief sie öfter an und bat um ihren Rat.  

Schließlich besuchte ich einen Kochkurs und eignete mir ein paar Grundkenntnisse an. So langsam fand ich Spaß am Kochen und probierte alle möglichen Gerichte aus. Leider kam Stefan nur am Wochenende in den Genuss meiner neuen, abwechslungsreichen Kochkünste, da er unter der Woche immer erst sehr spät heimkehrte.  

Mein Schwager Paul, der mich oft besuchte, ließ sich gern bekochen. Er spielte auch geduldig mit Lisa Marie und kümmerte sich so um das Kind, wie ihr Vater das eigentlich hätte tun sollen. 

Stefan bemerkte meine Ausgeglichenheit und fand mich abends glücklich und zufrieden vor. Als er dahinterkam, dass oft sein Bruder Paul zu Besuch kam, verspürte er sogar etwas wie Eifersucht und plötzlich interessierte er sich wieder für mich. Wir hatten wieder Sex, stürmisch und leidenschaftlich wie in unserer ersten Zeit. Im Sommer saßen wir abends gemeinsam auf der Terrasse, ich trank ein Glas Wein, Stefan eine Maß Bier von seiner Lieblingsbrauerei und wir genossen die blaue Stunde, die Zeit, wenn sich das Tageslicht langsam verabschiedet und die Nacht hereinbricht. 

Kapitel 6  

Nun schien ich doch noch in meiner Ehe angekommen zu sein. Lisa Marie machte mir großen Spaß. Mein Mann hatte Erfolg im Beruf und ich hatte Spaß an meinem Hobby. Meine Kochkünste wurden immer besser und gemeinsam streiften wir samstags über den Markt, um die benötigten Zutaten frisch einzukaufen. 

Gern besuchten wir eines der großen Volksfeste in der Umgebung und trafen uns dort mit Freunden. Stefan war ein guter Tänzer. Es machte Spaß, mit ihm über die Holzböden der Tanzdielen zu schweben und ich genoss die neidischen Blicke der anderen Frauen.  

Gustl passte indessen gern auf unsere Tochter auf, die mein Schwiegervater seine Prinzessin nannte. Leopold hatte mir erst zur Taufe von Lisa Marie das Du angeboten. Ab sofort durfte ich ihn Poldi nennen. Eigentlich passte der Name nicht wirklich zu ihm, denn er war ein großer, stattlicher Mann. Der Name Poldi erinnerte mich eher an einen kleinen Jungen. Aber wenn er es so wollte, sollte es so sein. Ich fühlte mich wohl in meiner neuen Familie.  

 

So langsam empfand ich so etwas wie Liebe für meinen Mann. Ich freute mich, wenn er nach Hause kam und wir gemeinsam den Tag Revue passieren ließen. Stefan hatte zwar immer noch nicht von Liebe gesprochen, aber ich spürte, dass er für mich mehr als freundschaftliche Gefühle hegte. 

Das war wohl die schönste Zeit in unserer Ehe. Ich vertraute ihm meinen Wunsch an, eine Ausbildung als Dekorateurin zu machen, doch davon wollte er nichts wissen.  

„Du bist doch noch so jung, du hast noch jede Menge Zeit. Vor allem musst du doch gar kein Geld verdienen. Uns geht es so gut.“ Das waren seine Worte. Mit einem Mal holte er mich aus meinen Träumen wieder auf den Boden der Tatsachen. Ich hatte keine Lust, mit ihm zu streiten, denn ohne seine Einwilligung wollte ich die Ausbildung nicht machen. Ich hätte seine Erlaubnis nicht mehr gebraucht, seit 1977 durften Frauen auch ohne Billigung ihres Ehemannes oder Erziehungsberechtigten eine Ausbildung machen oder einen Beruf ausüben.  

Immerhin bemühte sich Stefan mehr um mich. Er schlug mir vor, in den örtlichen Segelverein einzutreten. Dass er damit auch die Absicht verfolgte, Geschäftskontakte zu wohlhabenden Personen aus der Umgebung zu pflegen, war mir damals nicht klar.  

Das Segeln machte mir Spaß, mehr als das Reiten, das ich nicht nur wegen meiner Schwangerschaft aufgab, sondern auch weil Adelgunde ihr Pferd mit nach Bamberg genommen hatte.  

So lernte ich neue Leute kennen und knüpfte ebenfalls Kontakte zu wohlhabenden Ehefrauen, die sich von mir gern bei der Ausstattung ihrer Häuser im Landesstil beraten ließen, die zu dieser Zeit an den Hängen rund um den See aus dem Boden schossen. 

Kapitel 7 

Während die Firma Burger weiter expandierte und unsere Familie sich so langsam zusammenraufte, gab es im September und Oktober 1977 eine Reihe von Anschlägen der 1970 gegründeten Rote-Armee-Fraktion. Diese als „Offensive 77“ bezeichnete Serie von Anschlägen sollte dazu dienen, inhaftierte RAF-Mitglieder der ersten Generation freizupressen und führte in eine als – Deutscher Herbst – bezeichnete innenpolitische Krise.  

Vor allem Politiker und Personen aus der Deutschen Wirtschaft fielen der RAF zum Opfer und die Familie Burger, war wie viele Großunternehmer nicht nur entsetzt, sondern fürchtete sich ebenfalls vor Angriffen der linksradikalen Gruppierung. Mein Schwiegervater Leopold, der schon früh in die CSU eingetreten war, nahm dies zum Anlass, sich noch mehr für die Politik zu interessieren und Verbindungen zu knüpfen. Die Aktionen der RAF wurden immer mehr zum Mittelpunkt der Gespräche an den Familienfeiern und belasteten damit die Stimmung, bis meine Schwiegermutter die Männer aufforderte, in Gesellschaft darüber zu schweigen oder fernzubleiben. Das half, die Männer der Burgers sprachen ab sofort nur noch sonntags nach der Messe am Stammtisch darüber. 

 

Ich hatte eigentlich ein sehr angenehmes Leben. Meine beste Freundin Adelgunde, die ich nur in den Semesterferien zu sehen bekam, beneidete mich immer noch um mein Glück. Ich wiederum beneidete sie, weil sie durch ihr Studium wahrscheinlich finanziell nie auf einen Mann angewiesen sein würde. Mir ging es gar nicht mal ums Geld. Ich konnte immer so viel ausgeben, wie ich wollte. Stefan hatte mir zu meinem 21. Geburtstag ein Auto geschenkt. Ich konnte mir schöne Kleider kaufen und mir auch sonst jeden Wunsch erfüllen. 

Natürlich machte mir Stefan offen keine Vorschriften, was ich tun sollte, doch unterschwellig bedeutete er mir, wie ich mich zu verhalten habe. Meine Mutter unterstützte ihn in dem Wunsch nach dem angepasst braven Hausmütterchen, das vor allem für die drei großen K`s, Kinder, Küche und Kirche, zu sorgen hatte.  

Sie war ganz in ihrem Element und lag mir ständig in den Ohren, wie gut es mir doch ging. Mit dem größten Vergnügen nahm sie an Gesellschaften teil, die meine Schwiegermutter arrangierte. Sie verkehrte mit den wichtigsten Leuten aus der Stadt, wie sie zu sagen pflegte und kam sich selbst dabei sehr wichtig vor. Ihre blasierte Art war unerträglich und ihr Ausspruch, ihr Mann habe am Finanzamt eine leitende Stellung war einfach nur abstoßend. Ich hegte den Verdacht, dass mein Schwiegervater hier seine Finger im Spiel hatte. Denn mein Vater war im Finanzamt auf einmal vom Sachbearbeiter zum Sachgebietsleiter befördert worden. 

Ich bedauerte sehr, dass meine Mutter plötzlich die langjährigen Freunde immer mehr vernachlässigte und sich mit lauter neuen, anscheinend wichtigeren Leuten umgab. 

Ich beschäftigte mich unterdessen damit, den Garten neu anzulegen, eine Sitzfläche mit Grillmöglichkeit und eine Spielfläche für Kinder zu gestalten und fand plötzlich Spaß am Stricken. 

Zur Freude meiner Schwiegereltern besuchte ich immer noch regelmäßig die Messe, denn wir waren ja immerhin katholisch vermählt worden und es gehörte einfach dazu, sich sonntags im Gottesdienst zu zeigen. Die Männer trafen sich nach wie vor anschließend zum Frühschoppen in einem benachbarten Gasthaus und kehrten erst zum Mittagessen heim. Wir waren eine typisch bayrische Familie. 

Kapitel 8 

Auf einmal war ich wieder schwanger und hatte es wieder nicht bemerkt. Wie konnte das sein? Ich nahm die Pille und ich war mir sicher, dass ich sie nie vergessen hatte oder es an einer Magen- und Darmgrippe gelegen haben könnte. Ich musste an all die blöden Witze denken, die über Kinder gemacht wurden, die trotz Pille entstanden waren. 

Stefan und ich hatten nie über ein zweites Kind gesprochen. Ich war mir nicht sicher, wie er dazu stand und hatte Angst, es ihm zu sagen. Aber da ich schon in der 14. Woche war, musste ich mich ihm offenbaren.  

Ich bat ihn also, früher nach Hause zu kommen. Ich müsste dringend mit ihm reden, deutete ich an, bereitete ein leckeres Menu vor, deckte den Tisch schön und zündete Kerzen an. Als er zur vereinbarten Zeit eintraf, überreichte er mir einen Strauß roter Rosen.  

„Wird aber auch Zeit, dass du endlich mit der Sprache rausrückst.“ Mich beschlich ein mulmiges Gefühl. Was meinte er denn? War er dahintergekommen, dass ich Kontakt mit einem Dekorateur in der Stadt aufgenommen und mich um einen Praktikumsplatz beworben hatte? Ich war total baff, als er mir, bevor ich ihm überhaupt etwas gestehen konnte, auf den Kopf zusagte, dass ich schwanger sei. „In der wievielten Woche bist du denn?“  

Zu meiner Überraschung schien Stefan über die erneute Schwangerschaft nicht ungehalten, im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass er sich freute. Aber irgendwie hatte ich auch den Verdacht, dass ihm die Umstände gelegen kamen, weil er interessanterweise gerade einen neuen Kindergarten für die Stadt plante. Die Bauausführung übernahm die Baufirma meines Schwiegervaters. Beziehungen muss man haben, sagte Stefan immer.  

 

Auch die zweite Schwangerschaft verlief problemlos, abgesehen von meinem voluminösen Bauch, den ich wie eine Trommel vor mir hertrug. Ich fühlte mich wohl und richtete das zweite Kinderzimmer ein. Dafür musste ich allerdings mein Arbeitszimmer unter dem Dach räumen. Ich suchte mir einen Raum im Keller aus, der bisher noch ungenutzt war. Dort stellte ich meine Nähmaschine auf. In den Regalen fanden die Fachzeit-schriften und Schnittpläne Platz. Mein Strickzeug lag im Wohnzimmer in einem Körbchen neben der Couch, so hatte ich beim Fernsehen immer etwas zur Hand. 

Lisa Marie freute sich auf ihr Geschwisterchen. Seit kurzem besuchte sie den Kindergarten. Sie ging gern dorthin, konnte es aber kaum erwarten, endlich ein Geschwisterchen zu bekommen.  

Kapitel 9 

Stefan kümmerte sich plötzlich immer weniger um unsere kleine Familie. Er kam jeden Abend spät nach Hause und hatte angeblich auch am Wochenende Gespräche mit Kunden zu führen. Ich saß die meiste Zeit allein in unserem gemütlichen Heim.  

Als die Wehen losgingen, war er wieder nicht da und verpasste die Geburt wie auch schon beim ersten Mal.  

Den Anruf aus dem Kreißsaal nahm seine Sekretärin entgegen, er selbst kam erst Stunden später ins Krankenhaus. Der Blumenstrauß war in eine Plastikfolie eingeschweißt und ganz offensichtlich von einer Tankstelle. Er entschuldigte sich noch nicht einmal für sein Zuspätkommen. Seiner neugeborenen Tochter schenkte er nur einen kurzen Blick. Ziemlich bald verließ er das Krankenhaus und ließ sich die ganze Woche, die ich in der Klinik bleiben musste, nicht mehr sehen. Ich entschied allein, wie unsere zweite Tochter heißen sollte und wählte die Kurzform von Anna Katarina, dem Namen meiner böhmischen Großmutter, Ann Katrin. 

Gustl war begeistert von der Namensgebung und holte mich gemeinsam mit Lisa Marie, um die sie sich in der Zwischenzeit gekümmert hatte, ab. Meine Mutter äußerte sich nicht zu Ann Katrin. Sie kam erst eine Woche später zu uns nach Hause, um mir die Glückwünsche zur Geburt zu überbringen.  

Ich hatte eine Stinkwut auf Stefan und schlief ab sofort bei Ann Katrin im Zimmer. Ich wartete auch nicht mehr mit dem Essen auf ihn und ging abends beizeiten ins Bett. Nur am Wochenende fand Familienleben statt, wenn auch eingeschränkt. 

 

Lisa Marie merkte sehr schnell, dass in unserer Beziehung etwas nicht stimmte. Sie war weinerlich, wollte nicht in den Kindergarten gehen und nässte sich auf einmal nachts wieder ein. 

Ich beschwerte mich bei meiner Mutter. Aber sie meinte nur, ich solle doch deswegen nicht so ein Aufstand machen. Stefan sei eben ein erfolgreicher Architekt und arbeite viel. Ich sollte ihm lieber den Rücken freihalten, anstatt mich zu beklagen.  

Also bekam ich von ihrer Seite weder Verständnis noch sonst eine Hilfe, denn meine Mutter sah gar nicht ein, dass sie sich bei all ihren neuen Aktivitäten und Treffen mit ihren ach so wichtigen Freunden auch mal um mich oder ihre Enkel kümmern könnte.  

Mein Vater hielt sich wie immer zurück und meine beiden Geschwister Harald und Ulla traf ich nur zu Geburtstagen oder Weihnachten. Harald war beim Finanzamt untergekommen. Ulla ließ sich in der Hoffnung, einen feschen Arzt kennenzulernen, zur Kinderkrankenschwester ausbilden, wie sie mir anvertraute.  

Meine Schwiegermutter fand das Benehmen ihres Sohnes auch nicht in Ordnung, war aber der Meinung, dass sie sich nicht in unsere Angelegenheiten einmischen durfte. Komisch, dachte ich, genau das hatte sie doch bei der Hochzeit von Stefan und mir getan. Was bewog sie, sich jetzt nicht einzumischen? 

Kapitel 10 

Mein Schwager Paul kam nach wie vor zu Besuch und half mir, so viel er konnte. Er verhielt sich aufmerksam und ausgesprochen zuvorkommend mir gegenüber und war als guter Onkel sehr lieb mit Lisa Marie und Ann Katrin. Aber er kam mir nie zu nah und vermittelte auch nicht den Eindruck, als ob er etwas von mir wollte. Er brachte aber auch nie eine Frau mit. Dabei war er ein gutaussehender, junger Mann, erfolgreich im Beruf. Er war immer schick angezogen und hatte ausgesprochen gute Manieren.  

Adelgunde schwärmte für ihn. Sie baggerte ihn auf jeder Party an, doch leider immer ohne Erfolg. Dabei hätte sie mir als Frau meines Schwagers gut gefallen. Sie war es dann auch, die mir die Augen öffnete.  

„Hast du es immer noch nicht kapiert“, sagte sie eines Tages zu mir, „Paul ist schwul. Er steht auf Männer.“  

Selbst Anfang der 80-iger Jahre war es immer noch nicht selbstverständlich, dass sich Menschen mit homosexuellen Neigungen outeten. Der Paragraph 175, der Homosexualität bis 1977 unter Strafe stellte, war gerade mal vor ein paar Jahren gestrichen worden. Aber viele Schwule und Lesben trauten sich immer noch nicht, ihren Familien, Freunden oder Arbeitgebern die Wahrheit zu sagen, einfach aus Angst, sie könnten entlassen oder abgewiesen werden. Erst recht war das im katholischen Bayern undenkbar. 

Ich war echt baff. Aber was soll es, dachte ich mir. Paul war ein netter Typ. Wen ging es etwas an, ob er sich zu Männern hingezogen fühlte? Doch ich konnte mir denken, dass weder seine Eltern noch sein Bruder Stefan es begrüßen würden, wenn er auf einmal mit einem Mann an seiner Seite auftauchen würde.  

Die blöden Bemerkungen und vor allem diese dämlichen Witze, die oft über Homosexuelle gemacht wurden, fand ich schon immer doof und ausgesprochen unfair. Ich konnte noch nie darüber lachen, aber ich traute mich auch nicht, Paul darauf anzusprechen. Jetzt erst recht, dachte ich und lud Paul so oft wie möglich ein. Ich unterhielt mich gern mit ihm und mit der Zeit wurde er mir ein richtig guter Freund. 

Kapitel 11 

Lisa Marie liebte ihr Schwesterchen. Sie küsste und streichelte Ann Katrin, wenn sie aus dem Kindergarten kam und wartete ungeduldig darauf, dass sie mit ihr spielen konnte. Ann Katrin war immer am Lachen, ein goldiges Kind. Stefan verpasste leider die Entwicklung seiner beiden Töchter, da er nur selten zu Hause war.  

Sobald ich Ann Katrin abgestillt hatte, bemühte ich mich um einen Praktikumsplatz bei einem Einrichtungshaus in Rosenheim. Der Inhaber war von meinen Ideen begeistert und band mich immer mehr in die Einrichtungsplanungen ein.  

Gustl nahm mir die Kinder so oft wie möglich ab, behielt das Wissen über meine Tätigkeit aber für sich. Stefan wäre nicht begeistert, das war klar. Aber das war mir egal, die Arbeit machte mir Spaß und nach einiger Zeit bot mir mein Chef eine feste Anstellung an. 

Nun musste ich Farbe bekennen und Stefan informieren. Er war, wie ich mir schon dachte, nicht angetan von meiner Idee. Aber er versuchte auch nicht, mir mein Vorhaben auszureden. Im Gegenteil, er stellte eine Haushälterin ein, die sich um Haus, Garten und Küche kümmerte.  

Da mir diese Last abgenommen wurde, erhöhte ich meine Stundenzahl im Einrichtungshaus. Oft konnte ich von zu Hause arbeiten oder aber Ann Katrin mitnehmen, wenn ich mit den Auftraggebern sprach. Da ich es meistens mit Frauen zu tun hatte, stieß ich fast immer auf Verständnis, wenn ich das Kind mitbrachte. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie es heute so schön heißt, war Anfang der 80-iger Jahre keineswegs selbstverständlich. 

Schnell sprach sich unter den Kunden herum, dass ich ein glückliches Händchen in Sachen Einrichtungen hatte. Die Kunden schwärmten von meinen Plänen und so wurde mein Chef bzw. ich mit Aufträgen überhäuft. Das Einrichtungshaus wurde immer bekannter. Jeder, der etwas auf sich hielt, kam zu uns. Mein Chef profitierte enorm von mir und bezahlte mich entsprechend gut. Wir verstanden uns prima. 

Kapitel 12 

Wieder schien in Stefan die Eifersucht zu erwachen, denn plötzlich zeigte er wieder Interesse an mir. Er bat mich, wieder zu ihm ins Schlafzimmer zu ziehen und suchte erneut meine körperliche Nähe. Nun gut, dachte ich mir, warum nicht. Beim Sex hatten wir uns schon immer gut verstanden. Er kam auch wieder früher nach Hause und wir saßen wieder gemeinsam auf der Terrasse, ich mit meiner Vorliebe für Weißwein, er mit einer zünftigen Maß seines bevorzugten Biers aus Rosenheim. Wir unterhielten uns über unsere Arbeit, gingen erst ins Bett, wenn die blaue Stunde schon längst vorüber war. 

Nur mit den Kindern konnte er immer noch nicht allzu viel anfangen. Er begründete es damit, dass sie noch zu klein seien und er Angst habe, ihnen weh zu tun. Zudem fand er es total unmännlich, einen Kinderwagen vor sich herzuschieben, geschweige denn Windeln zu wechseln. Sobald sich der unverkennbare Geruch bemerkbar machte, suchte er das Weite. Ich gab die Hoffnung nicht auf, dass sich seine Zugneigung mit der Zeit ändern und er den Kindern mehr Aufmerksamkeit schenken würde.  

 

Stefan wurde immer besser in seinem Beruf und erhielt mittlerweile auch Aufträge für Großprojekte, die ihn teilweise ins Ausland führten. Mehrfach bot er mir an, ihn auf seine Reisen zu begleiten. Weil die Kinder noch so klein waren, wollte ich sie nicht ständig mehrere Tage bei meiner Schwiegermutter lassen. Außerdem konnte ich mir ja auch nicht andauernd Urlaub nehmen und meiner eigenen Arbeit fernbleiben. 

Da schlug mir Stefan die Anstellung eines Kindermädchens vor. Er wünschte sich, so sagte er mir, dass ich ihn auf seine Reisen begleite. Er habe keine Lust, abends in ein leeres Hotelzimmer zu kommen oder die Stunden allein an der Bar zu verbringen. Wir könnten uns die schönsten Städte der Welt ansehen, versuchte er mich für seine Idee zu begeistern.  

 

Ich gab also nach und machte mich auf die Suche nach einem geeigneten Kindermädchen, das bei uns wohnen und unsere Töchter betreuen sollte. Doch da ergab sich schon das erste Problem. Wo in unserem Haus sollte die Frau denn schlafen? Alle Räume waren besetzt.  

Stefan machte sich wieder Gedanken. Warum sollten die beiden Mädchen sich nicht ein Zimmer teilen? Dann könnte das Kindermädchen doch in Ann Katrins Zimmer schlafen. Natürlich nur so lange, bis er eine andere Lösung gefunden hätte.  

Ich ließ mir allerdings Zeit, eine geeignete Person zu finden. So etwas war inzwischen kaum noch üblich. Während vor hundert Jahren vor allem die Reichen und Adeligen über solche Angestellten verfügten, war es in unserer Zeit nicht mehr angesagt. Wir Frauen stillten unsere Kinder selbst und kümmerten uns um ihre Erziehung. 

Nachdem sich einige Bewerberinnen bei mir vorgestellt hatten, fand ich endlich eine, die einen ganz guten Eindruck auf mich machte. Sie war jung, unkompliziert und hielt nichts von strengen Erziehungsmaßnahmen. Sie wollte viel mit den Kindern spielen, ihnen vorlesen, ihnen vor allem zuhören und mit ihnen kuscheln. Sie hatte ihre Ausbildung als Erzieherin gerade abgeschlossen und noch keine umfangreiche Erfahrung in ihrem Beruf, dafür aber hatte sie vier kleine Geschwister, die sie, nachdem ihre Mutter früh gestorben war, alleine aufgezogen hatte. Ihr Vater musste arbeiten und sie ersetzte ihren Geschwistern die Mutter. 

Stefan verheimlichte ich, dass die junge Frau keine Berufserfahrung hatte. Aber das interessierte ihn auch nicht weiter. Ihm war wichtig, dass ich nun mit ihm verreisen konnte. 

Lisa Marie und Ann Katrin zogen gemeinsam in ein Zimmer und Siglinde, das neue Kindermädchen, zog bei uns ein und zwar in Ann Katrins Zimmer. Unsere Töchter akzeptierten sie vom ersten Tag an. 

Kapitel 13 

Wir gingen nun öfter auf Reisen, Städte wie Paris, Barcelona, Lissabon und Wien wechselten sich in rascher Folge ab. Wir wohnten in vornehmen Hotels, tagsüber hatte ich Zeit, die Städte zu erkunden, Museen zu besuchen und in den Boutiquen schicke Kleider zu kaufen. Abends gingen wir mit potentiellen Kunden aus, besuchten die besten Restaurants, genossen besonders leckere einheimische Speisen und erlesene Weine.  

Ich lernte sehr interessante Menschen kennen, wenn mir auch nicht alle sympathisch waren. Besonders die Frauen der Kunden fand ich oft zu exaltiert. Aber das durfte mich nicht interessieren.  

Stefan und ich saßen nach den opulenten Menus dann noch auf einen Absacker an der jeweiligen Hotelbar. Mitunter wurde es ziemlich spät und vor allem ziemlich feucht. Wir genossen die gemeinsame Zeit, vor allem die Nächte. 

Meinem Chef war meine Abwesenheit nicht so recht. Die Kunden erwarteten, dass ich sie betreute und waren unzufrieden. Doch ich überzeugte ihn mit schönen Stoffen und Wohnaccessoires, die ich bei ausländischen Herstellern fand. Vor allem sammelte ich jede Menge neue Ideen, die ich bei den Kunden umsetzen konnte. Aber mir wurde auch klar, dass ich es war, die die guten Ideen hatte und Kunden begeistern konnte. Mein Chef schrieb die Rechnungen und ich bekam nur ein Gehalt. Meine Kolleginnen leisteten weit weniger als ich und wurden nur geringfügig weniger bezahlt. Das fand ich zwar ungerecht, musste aber vorerst damit zufrieden sein, so lange der Chef meine Reisen mit Stefan nicht blockierte. 

 

Siglinde war ein Schatz. Sie kam sehr gut mit den Kindern aus und machte den Mädchen unsere Abwesenheit leicht. Das einzige Problem war die Enge, die sich in unserem Haus einstellte. Zwei Bäder für drei Erwachsene und zwei kleine Kinder waren einfach zu wenig. 

Stefan überraschte mich prompt mit seinem Plan, einen Anbau an unserem Haus zu errichten. Seine Idee überzeugte mich und sobald der Anbau von der Stadt und dem zuständigen Kreisbauamt genehmigt wurde, kümmerte sich Stefan um die Umsetzung. Die Baufirma seines Vaters schickte schon in der Woche darauf einen Trupp Männer, der den Anbau im Handumdrehen hochzog. Durch seine guten Kontakte hatte Stefan problemlos eine Fensterbaufirma, einen Heizungs- und Elektroinstallateur und ein Unternehmen für den Sanitärbereich gefunden.  

Alles wurde so weit fertiggestellt, doch Stefan bestand darauf, dass der Anbau, der im Erdgeschoss einen Wintergarten und im Obergeschoss einen großen Wohn-Schlafraum sowie einem weiteren Bad Platz bot, über Winter ausdünsten müsse. Bis zum Frühjahr lebten wir weiter etwas beengt, was manchmal zu Spannungen führte. 

Ich hatte auf jeden Fall genügend Zeit, mich mit den Bodenbelägen, Tapeten und Möbeln zu beschäftigen. Anfang März wurde die Fußbodenheizung verlegt, was damals in Neubauten noch nicht selbstverständlich war. Dann ging es Schritt für Schritt weiter. Im Mai war der Anbau endlich bezugsfertig. Alles war wunderschön geworden und ausgerechnet jetzt kündigte Sieglinde. Allerdings hatte das nichts mit ihrem Umzug in das neue Zimmer zu tun, sondern mit ihrem zukünftigen Ehemann, dem eine Dozentenstelle in Amerika angeboten wurde und den sie selbstverständlich begleiten wollte. Als Erzieherin würde sie überall eine Stelle finden, sagte sie.  

Ohne Kindermädchen wäre es nicht möglich, Stefan weiterhin auf seinen Reisen zu begleiten. Gustl sprang oft ein, aber ich wollte sie nicht ständig damit belasten. Meine Mutter machte nach wie vor keinen Versuch, sich mit ihren Enkelkindern zu beschäftigen. Sie ließ sich außer an Familienfeiern und Feiertagen, wo sie die Kinder mit Geschenken überhäufte, nicht sehen.  

 

Kapitel 14 

Mein Vater beklagte sich eines Tages bei mir. Meine Mutter würde ständig Leute einladen, mit denen er nichts anfangen könnte. Die ausschweifenden Partys würden viel Geld kosten. All das würde sein Gehalt sprengen und was noch schlimmer war, die alten Freunde blieben immer öfter fern. 

Als ich meine Mutter darauf ansprach, jammerte sie, dass sie gar nicht verstehen könnte, warum ihre alten Freunde sie im Stich ließen. Teilweise würden sie nicht einmal mehr mit ihr sprechen, ihr in der Stadt aus dem Weg gehen. Dass sie selbst diese Situation auslöste, wollte sie nicht einsehen. Ihre Tür stände doch jedem offen, meinte sie.  

Ihr war einfach nicht zu helfen, aber mein Vater tat mir leid. Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass, wann immer wir uns zufällig trafen, sein Atem nach Alkohol roch. Es dauerte nicht lange, da beschwerte sich meine Mutter bei mir, mein Vater würde zu viel trinken, er käme betrunken von der Arbeit nach Hause und würde nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Aber auch jetzt sah sie nicht ein, dass sie die Schuld an dieser Misere trug. Ich bot meinem Vater an, mich zu besuchen, wann immer er die Nase voll hatte. Das hätte ich besser nicht gesagt, denn auf einmal saß er fast jeden Tag bei mir im Wintergarten. Auf einmal hatte ich drei Kinder, meine beiden Mädels und meinen todunglücklichen Vater.  

 

Dazu kam noch Paul, der auch eine Freundin brauchte, bei der er sein Herz ausschütten konnte. Er hatte sich mir gegenüber geoutet, hatte mir aber das Versprechen abgenommen, meinem Mann oder seinen Eltern nichts über seine Neigung zu Männern zu sagen. Er war in einen neuen Mitarbeiter in der Baufirma seines Vaters verliebt, ein Architekt wie er selbst, der seine Gefühle erwiderte. Doch beide hatten Angst, dass die Kunden und vor allem die Mitarbeiter das nicht verstehen würden.  

Ich dachte verzweifelt, dass mir langsam alles über den Kopf wuchs. Meine Arbeit, mein ewig durstiger Vater und mein schwuler Schwager. Ich konnte nachts nicht mehr schlafen und schlich mich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer, um im Wintergarten vor mich hin zu dösen. Das war auf Dauer keine Lösung. Stefan konnte ich mich nicht anvertrauen, der war ohnehin schon sauer auf mich, weil ich ihn nicht mehr auf seinen Reisen begleitete. Die Sorgen zerrten an meiner Gesundheit und meinem Gewicht. Ich war regelrecht abgemagert und meine schönen langen Locken wurden stumpf. Ich gefiel mir überhaupt nicht.  

Kapitel 15 

Stefan arbeitete wieder mehr und kam oft spät abends nach Hause. So konnte es nicht weitergehen. Ich sah unser Ehe- und Familienleben gefährdet, denn auch unsere beiden Mädchen litten unter der Situation. Vor meinem Vater hatten sie Angst, weil er ständig schimpfte, ihr Onkel Paul machte sie traurig, weil er oft weinte. Er war genau so unglücklich wie mein Vater.  

Stefan bekamen die Kinder kaum noch zu Gesicht. Wenn er abends nach Hause kam, schliefen sie bereits und am Wochenende gab er meistens vor, zu arbeiten. Ich war nur noch genervt und ging bei jeder Kleinigkeit in die Luft. Darunter litt auch meine Arbeit. Mir war einfach alles zu viel. Ich vereinbarte mit meinem Chef, die Arbeitsstunden zu reduzieren, bis ich eine Lösung gefunden hätte. 

 

Doch es kam noch schlimmer. Stefan betrog mich. Zunächst merkte ich gar nicht, was da lief. An die einsamen Abende war ich ja bereits seit längerem gewöhnt, doch als er nun die Wochenenden tagsüber gar nicht mehr zu Hause war, wunderte ich mich schon. Angeblich traf er sich mit Kunden, um lukrative Angebote an Land zu ziehen. Der Tourismus boomte in unserer Gegend. Immer mehr Menschen aus den großen Städten suchten eine Zweitwohnung rund um den Chiemsee. Stefan war viel beschäftigt und ich dachte zunächst, dass der Bauboom mit seiner ständigen Abwesenheit zu tun hätte.  

Ich ging mit meinen Mädels zum Segeln. Sie liebten es, auf dem Wasser zu sein. Wir hatten eine kleine Jolle gekauft, mit der wir auf dem See herumschipperten oder setzten mit dem Schiff zur Fraueninsel über, wo wir gern zum Mittagessen einkehrten. 

Paul klärte mich auf. Er erzählte mir, dass Stefan seine Arbeit vernachlässigen würde. Er käme oft erst spät oder gar nicht in die Firma, sei unkonzentriert und liefere schlechte Pläne ab. Mehr wollte er nicht sagen.  

Ich sprach Stefan darauf an. Er wurde wütend, wollte mir aber nicht erklären, was los war.  

Wieder war es Adelgunde, die mir die Augen öffnete.  

„Mensch Hella, denk doch mal nach. Der hat ein Gspusi, ganz klar.“  

Ich fragte Stefan, ob das der Grund für sein Verhalten sei. Aber er leugnete es. Ich bohrte weiter.