Mörderisch gut - Jule Heck - E-Book

Mörderisch gut E-Book

Jule Heck

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Beschreibung

Jule Heck schreibt seit ihrer frühesten Jugend. Im Laufe ihrer schriftstellerischen Entwicklung hat sich die Autorin auf Kriminalromane spezialisiert, die unter dem Titel „Tod im Schatten der Burg“ erscheinen. Mit dem Roman „Die blaue Stunde“ hat die Autorin unlängst auch einen Gesellschaftsroman vorgelegt. Für ein Monatsmagazin schreibt sie zudem Kurzgeschichten, in denen sie sich mit den Begebenheiten des Alltags beschäftigt. Der Schwerpunkt liegt hier auf Kriminal-Kurzgeschichten, die sie in diesem Band zusammengefasst hat. Sie sind ebenso humorvoll wie gruselig, blutrünstig, gemein, aber auch von ausgeprägter Hintergründigkeit. Kurz gesagt: „Mörderisch gut.“

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Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung. 

 

 

 

Impressum 

 

Jule Heck 

»Mörderisch gut – Kurzkrimis« 

 

www.edition-winterwork.de 

© 2023 edition winterwork 

Alle Rechte vorbehalten. 

Satz: edition winterwork 

Umschlag: edition winterwork 

Umschlagfoto: Hof-Apotheke zum Mohren, Friedberg  

Lektorat: Gernot Heck 

 

Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf 

ISBN Print 978-3-96014-939-2 

ISBN E-BOOK 978-3-96014-947-7

Mörderisch gut 

 

Kurzkrimis 

 

 

Jule Heck 

 

 

 

edition winterwork

Eiskalt ist der Tod 

In wenigen Minuten begann ein neues Jahr. Hoffentlich bringt dieses Jahr etwas Besseres, als das vergangene, dachte Katrin. Seit einem Jahr war sie nun allein, musste sich um ihre Kinder, die Firma und die Eltern kümmern. Sie hatte nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre beste Freundin verloren. Dass man sie so hintergangen hatte, erfüllte sie nicht nur mit Wut, sondern mit tiefer Traurigkeit, aber auch mit einer gewissen Genugtuung.  

Immer wieder kehrten die Bilder der Party in der Silvesternacht vor einem Jahr in ihr Gedächtnis zurück, verfolgten sie sogar in ihren Träumen. Die Feier, die ein befreundeter Gastwirt in seinem Lokal außerhalb der Stadt in einem abgelegenen Waldgebiet für seine Freunde organisiert hatte, war in vollem Gange. Die Stimmung war gut. In einer halben Stunde würde das neue Jahr beginnen. Die Sektgläser standen schon aufgereiht auf der Bar. Das Mitternachtsbuffet wurde gerade aufgetragen. Katrin verspürte tatsächlich Hunger und einen leichten Druck auf der Blase.  

Sie verließ die gemütliche Gaststube, die durch ein Feuer in dem großen Kamin beheizt wurde und begab sich in den Sanitärbereich. Aus der großen Toilette, die Menschen mit Behinderungen zur Verfügung stand und zudem über einen Wickeltisch verfügte, hörte sie lautes Stöhnen. Hier vergnügten sich ganz offensichtlich zwei der Partygäste miteinander. Ein langgezogenes Ja ließ sie vermuten, dass der Liebesakt an dem ungewöhnlichen Ort sein befriedigendes Ende gefunden hatte.  

Schnell verschwand Katrin in einer der offenstehenden Türen, ließ sie aber unverschlossen, da sie durch das Geräusch des Schließmechanismus nicht auf sich aufmerksam machen wollte und verhielt sich ganz still. Sie wagte kaum zu atmen. Sie war neugierig, wer sich da miteinander vergnügt hatte. 

Es war nur noch leises Gemurmel, das Rascheln von Stoff und ein Reißverschluss, der nach oben gezogen wurde, zu hören. Dann öffnete sich die Tür der Behindertentoilette. Schwere Tritte und klappernde Absätze drangen an ihr Ohr. Wasser rauschte. 

„Es ist niemand da“, sagte eine männliche Stimme, die Katrin nur zu gut kannte. 

„Ich dachte schon, ich hätte jemanden gehört“, antwortete eine weibliche Stimme, die ihr alles andere als fremd war.  

„Wann sagst du es nun endlich deiner Frau?“ 

„Du musst noch etwas Geduld haben. Mitte Januar sind die zehn Jahre abgelaufen. Dann können Katrins Eltern die Schenkung nicht mehr rückgängig machen. Dann wird es ein Kinderspiel sein, alles an mich zu bringen.“ Ein hässliches Lachen folgte dieser Aussage. 

„Seit Jahren versprichst du mir, dich von Katrin zu trennen. Ich verlasse mich darauf, dass du nun endlich dein Versprechen einlöst“, kam es vorwurfsvoll von der Frau. Die Stimme gehörte zu ihrer besten Freundin, der sie immer alles anvertraut hatte. Was sollte das heißen, seit Jahren? Hatten die beiden etwa die ganze Zeit ein Verhältnis? Hatten die zwei sie die ganzen Jahre hintergangen und sie hatte es nicht bemerkt? 

„Glaube mir, ich kann es doch auch kaum erwarten, diese einfältige Kuh endlich loszuwerden. Ich hätte sie doch nie geheiratet, wenn sie nicht schwanger geworden wäre“, erklärte Katrins Mann ihrer besten Freundin Stefanie.  

So eine Unverschämtheit, dachte Katrin. Sie hatte Ralf doch gar nicht heiraten wollen. Er hatte doch bei ihren Eltern um ihre Hand angehalten. Aber jetzt war ihr klar, warum er es so eilig gehabt hatte, eine Ehe mit ihr einzugehen. Es war die Firma seiner Eltern, die er sich unter den Nagel reißen wollte, in der er damals noch eine untergeordnete Stelle innehatte. Innerhalb kürzester Zeit war er nach der Hochzeit zum kaufmännischen Leiter und dann zum Geschäftsführer aufgestiegen. Ihre Eltern hatten ihm vertraut und sich gefreut, ja sogar erleichtert gezeigt, dass sie einen würdigen Nachfolger für ihr Unternehmen gefunden hatten. Sie hatten ihm freiwillig alles übertragen. 

Stefanies Stimme drang erneut an ihr Ohr. „Warum musstest du dich auch mit ihr einlassen? Du wusstest doch, was ich für dich empfinde“, kam der nächste Vorwurf.  

„Du warst ja nicht da in dieser Silvesternacht. Ich wollte mich nur etwas mit Katrin vergnügen. Dass diese blöde Kuh gleich bei diesem einen Mal schwanger werden würde, konnte ich doch wirklich nicht ahnen. Ich bin davon ausgegangen, dass sie die Pille nimmt“, entschuldigte sich Ralf. 

Am liebsten hätte Katrin die Tür aufgerissen und den beiden ihre ganze Wut entgegengeschleudert. Doch ihr war klar, dass sie dadurch nichts erreichen würde. Sie musste jetzt ganz geschickt vorgehen, damit der Plan der beiden nicht aufgehen und sie nicht mittellos und blamiert zurückbleiben würde. 

„Wir müssen jetzt reingehen. Gleich ist Mitternacht. Halte bitte noch die letzten Wochen durch“, sprach Ralf eindringlich auf seine Geliebte ein. 

Katrin war froh, als die beiden endlich den Waschraum verließen. Nachdem sie sich erleichtert hatte, kehrte sie in den Gastraum zurück, wünschte ihrem Mann und ihrer besten Freundin und allen Anwesenden honigsüß ein gutes neues Jahr und amüsierte sich noch ein Weilchen, bevor sie ihren Mann bat, mit ihr nach Hause zu fahren. Sie hatte nur ein Glas Sekt getrunken, denn es war ausgemacht, dass sie fuhr, wie nach jeder Party.  

Und wie üblich, musste sie unterwegs anhalten, damit ihr Mann, der wie immer zu viel getrunken hatte, seine Blase entleeren konnte. Denn wie hatte er immer so schön gesagt: „Soll ich etwa ins Auto pinkeln?“  

Wie bereits erwartet, hielt Katrin das Auto an und ließ ihren Mann aussteigen. Doch dieses Mal wartete sie nicht auf ihn. Sie fuhr einfach davon und ließ ihn allein auf dem Waldweg in der Dunkelheit und der Kälte zurück. 

Katrin änderte unterdessen den Zugangscode an der Haustür und den anderen Eingängen. Wie gut, dass ihr Mann ihr, der einfältigen Kuh, diese Aufgabe überlassen hatte. Ohne Code kein Zugang zum Haus. 

Morgen früh, wenn sie ihre Eltern aufsuchte, um ihnen ein schönes neues Jahr zu wünschen, würde sie ihnen unter Tränen beichten, dass ihr Mann sie in der Nacht wegen ihrer besten Freundin verlassen hatte. Ihr Vater würde bereits am 2. Januar alles in die Wege leiten, um die Übertragung rückgängig zu machen und Ralf aus der Firma schmeißen. 

Am 1. Januar, sie war gerade auf dem Weg zu ihren Eltern, meldete sich Stefanie, ihre vermeintlich beste Freundin auf dem Handy. 

„Ich wollte euch nur noch mal ein schönes neues Jahr wünschen und fragen, ob ihr gut nach Hause gekommen seid“, flötete ihre Freundin ins Telefon. 

„Du verlogene Tussi. Dass du es wagst, mich anzurufen. Ralf hat mich heute Nacht wegen dir verlassen. Er hat mir gebeichtet, dass ihr ein Paar seid.“ Damit beendete Katrin das Gespräch. 

Ralf blieb verschwunden.  

Am fünften Januar kam die Kripo. Sie teilte der völlig verblüfften Katrin mit, dass Spaziergänger die Leiche ihres Mannes im Wald gefunden hätten. Ganz offensichtlich war er erfroren. 

Die Frage der Polizei, warum sie ihren Mann nicht als vermisst gemeldet habe, beantwortete sie unter Schluchzen: „Mein Mann hat mir auf dem Rückweg von der Silvesterparty mitgeteilt, dass er mich verlassen will. Er liebt eine andere Frau, hat er gesagt. Sie heißt Stefanie und ist meine beste Freundin. Er bat mich anzuhalten, weil er auf sie warten und mit ihr heimkehren wollte. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich bin davon ausgegangen, dass er bei Stefanie oder bei einem Freund ist.“ Die Lügen kamen ihr wie selbstverständlich über die Lippen. 

Dass ihre Aussage zutraf, bewies der Kripo die Tatsache, dass Katrins Eltern bereits von der Trennung wussten und den Rückgang der Schenkung veranlasst hatten. Auf dem Schreibtisch des Schwiegersohns fanden die ermittelnden Beamten ein Kündigungsschreiben. Als weiterer Beweis galt der geänderte Zugangscode an den Eingangstüren des gemeinsamen Hauses. 

Ralf hatte seine Frau unterschätzt. In seinem betrunkenen Zustand hatte er nicht bemerkt, dass Katrin einen anderen Weg zurückgefahren war. Ihre Vermutung, dass ihn niemand in dem dunklen Waldstück finden und er in seinem betrunkenen Zustand hilflos zurückbleiben würde, hatte sich bestätigt. 

Beinahe wäre es schiefgegangen 

In ihren Träumen sah Renate wieder den roten Kleinwagen auf sich zurasen. Kurz vor dem Aufprall erblickte sie das angstverzerrte Gesicht der Unfallgegnerin. Dann spürte sie einen Ruck, der sie in den Gurt presste. Der Airbag schlug ihr entgegen. Die Frontscheibe zerbrach, Glasteile flogen durch das Innere ihres Fords. Instinktiv schloss sie die Augen. Die Geräusche der zusammenkrachenden Fahrzeuge, kreischendem Metall, dröhnten in ihren Ohren. Ihr Wagen schleuderte über die Straße und kam an der Leitplanke zum Stehen. Sie verlor kurz das Bewusstsein.  

Als Renate wieder zu sich kam, sah sie ein Gesicht vor sich. Ein Mann mit einem Vollbart starrte sie durch die zerstörte Frontscheibe an, sagte aber keinen Ton. Wäre es nicht normal, sie zu fragen, wie es ihr geht? Ohne sie anzusprechen, entfernte sich der Mann, ging zu einem großen, schwarzen Wagen, stieg ein und brauste davon, ohne Hilfe geholt zu haben.  

Jetzt sah sie auch den Kleinwagen der Unfallgegnerin, der mit eingedrückter Motorhaube einige Meter entfernt stand. Es dauerte nicht lange, bis ein weiteres Fahrzeug anhielt und Personen ausstiegen. Wie durch einen Nebel erkannte sie, dass sich einer der Personen um ihre Unfallgegnerin kümmerte, eine weitere auf sie zukam. Der Mann telefonierte. Laute Stimmen signalisierten ihr, dass er um Hilfe bat. Der Mann sprach sie an, fragte sie, ob sie in Ordnung sei oder Schmerzen habe. In dem Moment, als er die Frage an sie richtete, spürte sie das erste Mal wieder bewusst ihren Körper. Sie bekam kaum Luft. 

Der Ersthelfer bat sie, einfach sitzen zu bleiben, ein Rettungswagen sei gleich da. Weitere Autos hielten an der Unfallstelle. Aufgeregte Stimmen drangen zu ihr. Sie hatte kein Gespür für die Zeit. Irgendwann vernahm sie die Sondersignale der Rettungsfahrzeuge. Sanitäter kümmerten sich um sie und befreiten sie behutsam aus ihrem Sitz, brachten sie in den Sanitätswagen, untersuchten sie kurz und brausten mit eingeschaltetem Blaulicht und Sondersignal ins Krankenhaus. 

In der Klinik wurde sie auf den Kopf gestellt, geröntgt, mit schmerzstillenden Mitteln versorgt und auf ein Zimmer gebracht. Zehn Tage lag sie nun hier auf dem Rücken, wie ein großer Käfer, der sich nicht aus seiner misslichen Lage befreien konnte. Sie hatte ihre Arme und das Becken gebrochen. Ihre Lage war nur durch die Schmerz- und Schlafmittel zu ertragen. Es würde noch lange dauern, bis sie wieder richtig fit wäre. Sie war immer sehr sportlich gewesen. Doch Radfahren, Joggen und Schwimmen konnte sie vorerst vergessen.  

Da tröstete sie auch nicht das Gespräch mit der Polizei, in dem sie erfuhr, dass sie nach der Auswertung der Spuren keinerlei Schuld an dem Unfall traf. Dennoch hatte man mit ihr über den Unfallhergang sprechen wollen. Sie hatte von dem merkwürdigen Mann berichtet, der durch die offene Frontscheibe in das Innere ihres Fahrzeuges geschaut, sie aber nicht angesprochen hatte. Von den Polizisten hatte sie auch erfahren, dass es sich bei ihrer Unfallgegnerin um eine Studentin aus Gießen handelte, die offensichtlich die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren hatte. Sie war wohl zu schnell gefahren, denn an diesem Tag war die Straße weder nass noch glatt gewesen. 

Zum wiederholten Male schreckte Renate aus ihren Träumen hoch. Dieses Mal hatte sie ein merkwürdiges Geräusch geweckt. Es kam nicht von Beate, ihrer Bettnachbarin, die laut schnarchte. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte sie die Umrisse einer großen Gestalt, die sich auf sie zu bewegte. Das konnte weder ein Arzt, noch eine Krankenschwester sein, dachte sie. Instinktiv witterte sie Gefahr. Sie konnte sich nicht bewegen, sich also auch nicht wehren. Hier half nur lautes Schreien, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Beate wurde von ihrem Geschrei geweckt und betätigte den Lichtschalter. Eine vollkommen schwarz gekleidete Person, die sich unberechtigt Zugang zu dem Patientenzimmer verschafft hatte, machte auf dem Absatz kehrt, um zu fliehen. An der Tür stieß sie mit der Krankenschwester zusammen, die durch das laute Schreien alarmiert worden war. Die zierliche Person war jedoch nicht in der Lage, den Flüchtenden aufzuhalten.  

Am nächsten Morgen erschienen wieder die Polizisten und befragten Renate zu dem nächtlichen Ereignis. Sie konnte sich den seltsamen Besucher nicht erklären, war sich aber sicher, dass es sich bei der Person um den Mann mit dem Vollbart handelte, der am Unfallort in ihr Auto geschaut und einfach wieder verschwunden war. Aber sie kannte den Mann nicht. Sie überlegte angestrengt, wer ihr etwas antun wollte, kam aber zu keinem Ergebnis. Sie hatte mit niemandem Streit, war keinem etwas schuldig geblieben.  

Sie fand es auch sehr merkwürdig, dass ein Unbekannter in der aktuellen Corona-Lage, in der jeder mehrfach kontrolliert wurde, einfach so ins Krankenhaus bzw. auf die Station gelangen konnte. Und warum war die zweite Nachtschwester ihrer Kollegin nicht zur Hilfe geeilt?  

Die Polizei stellte ihr einen Beamten zur Seite, der nach ihren Angaben ein Phantombild von dem Unbekannten machte. Schnell war dieser Mann in der Datenbank der Polizei gefunden. Er war ein mehrfach vorbestrafter Drogendealer. Mit Drogen hatte Renate noch nie etwas zu tun gehabt. Was also wollte dieser Mann von ihr? 

Beate, mit der sie sich seit zehn Tagen das Zimmer teilte, die ihr immer half und sie aufmunterte, bekam es mit der Angst zu tun. Sie verlangte, verlegt zu werden. Ein anderes Zimmer fand sich im zweiten Stock. Beate wechselte von der 302 zur 203. Dort lag die junge Frau, die den Zusammenstoß herbeigeführt hatte. Als sie erfuhr, warum sie eine neue Zimmernachbarin bekam, erschrak sie merklich. Diese Reaktion blieb Beate nicht verborgen. Sie machte sich so ihre Gedanken, versuchte, ganz behutsam die junge Frau auszuhorchen. Doch die blockierte und ließ sich keine Angaben zum Unfall oder ihrem Umfeld entlocken. 

Als die Polizei nun auch die Unfallverursacherin noch einmal aufsuchte, um ihr das Phantombild zu zeigen, erschrak die junge Frau wieder sehr heftig. Ihr war deutlich anzumerken, dass sie Angst hatte. 

Beate bat die Polizeibeamten um ein vertrauliches Gespräch. Auf dem Flur hörten sich die Männer an, was sie zu sagen hatte. 

„Könnte es nicht sein, dass der Mann mit dem Vollbart gar nicht Renate, sondern die junge Frau in meinem Zimmer umbringen wollte? Vielleicht liegt hier einfach nur eine Verwechslung vor. Irgendjemand muss dem Mörder ja mitgeteilt haben, wo die junge Frau liegt. Es wäre doch möglich, dass es einfach nur ein Zahlendreher war, anstatt 302 wurde ihm die 203 mitgeteilt. Womöglich hat der Mörder die Zahlen verwechselt, sie falsch niedergeschrieben und die beiden Frauen sehen sich ja auch noch ähnlich“, gab Beate ihre Gedanken preis. 

„Das ist gar nicht so dumm, was sie da sagen“, meinte einer der Beamten. 

Die Polizisten baten Beate, auf dem Flur zu warten und befragten die junge Frau auf der 203 erneut. Es dauerte eine Weile, bis sie sich endlich ihnen anvertraute. Sie hatte von dem Bärtigen Drogen bezogen, die sie ihren Kommilitonen an der Uni, aber auch in mehreren Bars verkaufte. Mit dem Drogenhandel finanzierte sie nicht nur ihr Studium, sondern auch ihre Tauchurlaube und ihren Kleinwagen. 

Aber wie und warum war nun dieser Unfall zustande gekommen? Die Beamten ließen nicht locker und erfuhren schließlich, dass ihr die letzten Einnahmen für eine größere Drogenlieferung gestohlen wurden und sie ihre Schulden nicht zum vereinbarten Zeitpunkt begleichen konnte. Der Bärtige verstand jedoch keinen Spaß und bedrohte sie. In Panik war sie vor ihm geflohen und viel zu schnell gefahren. So war der Unfall zustande gekommen. 

Die weiteren Nachforschungen ergaben, dass eine der Schwestern, die der Mann bedroht und massiv unter Druck gesetzt und hatte, dem Mann die Zimmernummer verraten hatte. Warum er die Zahlen vertauscht hatte, blieb zunächst unklar. 

Renate und Beate, die das Zimmer wieder teilten, waren total erleichtert. Den Polizeischutz erhielt von da an die junge Frau, die nach ihrer Rekonvaleszenz eine schwere Strafe erwarten würde. Der Bärtige wurde einige Zeit später festgesetzt, als er erneut versuchte, sich der jungen Drogenhändlerin im Krankenhaus zu nähern. 

Das Jahr fängt ja gut an 

Vera stand mit einem Glas Sekt auf dem Balkon ihres Elternhauses und schaute in den dunklen Nachthimmel, der von einer einzelnen Rakete kurz erleuchtet wurde. Es war an diesem Sylvester verboten, das neue Jahr mit Böllern und Raketen zu empfangen. Wegen der Pandemie sollte man darauf verzichten, der Verkauf von Feuerwerk war untersagt worden. Trotzdem hatten es einige Personen geschafft, sich über alle Vorsichtsmaßnahmen und Verbote hinwegzusetzen und Kracher und bunte Raketen besorgt. Von Veras Standpunkt aus konnte sie jedoch nicht sehen, wer die Rakete zündete.  

Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt, wie zu Beginn des neuen Jahres, auf das sie nun ganz alleine anstoßen musste. Ihre Eltern waren schon Anfang Dezember nach Südafrika gereist und ihre Freunde hatten es vorgezogen, mit ihren Familien alleine zu Hause zu bleiben.  

Sie hatte gehofft, dass sie wenigsten mit Jan skypen könnte, doch die Verbindung war ständig zusammengebrochen. Nun wartete sie vergebens auf einen Anruf von ihm. Aber anscheinend waren die Leitungen überlastet. Schon an Weihnachten war es ihr nicht gelungen, sich mit dem Geliebten per Skype zu unterhalten. 

Nun stand sie hier ganz allein und ließ das vergangene Jahr Revue passieren, ein Jahr, das einen neuen Lebensabschnitt einleiten und alles verändern sollte. Sie hatten am letzten Sylvester den Plan gefasst, nach Mallorca auszuwandern und ihren IT-Service von dort aus zu betreiben. Ihr Plan war perfekt und hätte wunderbar funktionieren können, wenn nicht das Virus dazwischengekommen wäre. 

Jan hatte den Plan noch vor dem ersten Lock Down umgesetzt und sein Geschäft nach Palma de Mallorca verlegt. Vera war zurückgeblieben, hatte die gemeinsame Wohnung verkauft und geräumt und alles für den endgültigen Umzug vorbereitet. Im Sommer hatte sie die Möbel und ihre persönlichen Sachen mit einem Umzugsunternehmen auf die Reise in den Süden geschickt, das Geld aus dem Wohnungsverkauf auf eine spanische Bank transferiert. Der Termin für ihre Abreise stand fest, das Ticket war gebucht. 

Doch kurz bevor sie ihre Zelte in Deutschland endgültig abbrechen wollte, hatte sie sich mit dem Virus infiziert und musste sich im Krankenhaus behandeln lassen. Es hatte sie richtig schwer erwischt und sie war wochenlang von der Außenwelt abgeschirmt. Sie durfte niemanden sehen und niemanden sprechen, war völlig isoliert. 

Nachdem sie genesen und aus dem Krankenhaus entlassen worden war, blieb sie zunächst bei ihren Eltern, um sich richtig zu erholen. Ihre Eltern verwöhnten sie, um sie über die räumliche Trennung von Jan zu trösten. In dieser Zeit hatte sie wieder Kontakt mit Jan, telefonierte oder skypte mit ihm. Er hatte sich auf Mallorca gut eingelebt und trotz Corona war sein Geschäft gut angelaufen, da viele zu Hause arbeiten mussten und auf seinen IT-Service angewiesen waren.  

Er versicherte ihr, dass er es kaum erwarten konnte, sie bei sich in Mallorca zu haben, bat sie aber, sich erst richtig zu erholen. Der Plan war, dass Vera kurz vor Weihnachten nach Mallorca reisen wollte. Doch dann kam der zweite Lock Down und Jan bat sie, noch mit der Übersiedlung in die neue Heimat zu warten. Seine Anrufe wurden weniger und auf ihre WhatsApp antwortete er mit viel Verspätung. Er entschuldigte sein Verhalten mit seiner Arbeit. Aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass da etwas nicht stimmte. So lange sie hier in Deutschland festsaß, konnte sie nichts an der Situation ändern. Sie nahm sich vor, in den nächsten Tagen ein Ticket zu buchen und Jan mit ihrer Ankunft zu überraschen. Dieser Gedanke heiterte sie etwas auf. Noch so ein Jahr, ohne Arbeit und ohne Zusammensein mit Jan, könnte sie nicht ertragen.