Tod im Sommerhaus - Schweden-Krimi - Åke Smedberg - E-Book

Tod im Sommerhaus - Schweden-Krimi E-Book

Åke Smedberg

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Beschreibung

Der Fund eines ermordeten Ehepaares in ihrem Sommerhaus wirft Rätsel auf: Während die Polizei schnell einen Kleinkriminellen unter Mordverdacht nimmt, dessen Brieftasche am Tatort gefunden wurde, glaubt der Journalist John Nielsen nicht, dass der Fall so einfach ist. Bei seinen eigenen Recherchen stößt er auf die kriminelle Vergangenheit des ermordeten Paares und untersucht einen möglichen Zusammenhang. Doch dann werden zwei weitere Leichen in einem anderen Sommerhaus gefunden und neue Fragen treten auf...Åke Smedbergs drei Kriminalromane, in deren Mittelpunkt der Journalist John Nielsen als Ermittler steht erfreuen sich großer Beliebtheit bei allen Freunden des skandinavischen Krimi-Genres.

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Åke Smedberg

Tod im Sommerhaus - Schweden-Krimi

Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt-Rüegger

Saga

Tod im Sommerhaus - Schweden-Krimi ÜbersetztHolger Wolandt, Lotta Rüegger Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2003, 2020 Åke Smedberg und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444995

1. Ebook‒Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga‒books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Ein sinnloses Verbrechen

Blutverschmiert bis zu den Ellbogen, als hätte er die Arme in einen Eimer mit Blut getaucht. Was war passiert? Er starrte auf seine Hände. Plötzlich fiel es ihm ein. Es wurde geschlachtet. Er rührte Blut. Nicht freiwillig, aber irgendetwas fesselte ihn. Eine Mischung aus Spannung und Ekel darüber, in dem warmen Blut zu rühren, damit es nicht gerann, und zuzusehen, wie es aus der durchtrennten Kehle in den Eimer tropfte ...

Er war sich bewusst, dass er träumte, und versuchte, den Traum zu verscheuchen, jedoch ohne Erfolg. Vor ihm lag der Schweinekadaver auf einer alten Tür, die von zwei Böcken gestützt wurde. Der Kopf ... irgendwie verblüffend menschlich ... ja, ganz einfach wie ein Gesicht! Er starrte es an. Da schlug das Schwein plötzlich die Augen auf. »Hilf mir!«, sagte es mit gurgelnder Stimme. Er ließ den Schneebesen fallen und versuchte wegzulaufen, aber es ging nicht...

Er fuhr ruckartig aus dem Schlaf hoch. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er atmete tief ein. Er zählte seine Atemzüge, bis er wieder ruhig wurde und sich endlich entspannen konnte.

Er blieb noch eine Weile mit geschlossenen Augen liegen und versuchte sich zu konzentrieren. Er wusste jetzt wieder, wer er war. Aber irgendetwas fehlte. Der Funke. Er kam nicht an den Funken heran! Der, der aus einem Menschen eine Persönlichkeit machte. Der Zugang war versperrt. Er kam einfach nicht an ihn ran. Kam nicht rein ...

Die Gruppe saß wie üblich auf den Bänken im Mittelgang des Einkaufszentrums. Hauptsächlich Männer fortgeschrittenen Alters. Verquollene Gesichter, stumpfe Blicke, wild gestikulierend.

Zwei Frauen. Die eine Anfang fünfzig. Groß, einen Kopf größer als die meisten Männer. Ihr üppiger Körper steckte in einem Trainingsanzug, der mindestens eine Nummer zu klein war. Die andere Frau war bedeutend jünger, um die dreißig. Stark geschminkt, das kurze Haar kohlrabenschwarz gefärbt. Hohe Stiefel. Sehr knapper Rock.

»Hast du dich in deine Nuttenuniform geworfen, Li? Kann man einen Termin vereinbaren?«

Einer der Alten baute sich vor ihr auf, breitete die Arme aus, schwankte und hätte fast das Gleichgewicht verloren.

»Termin vereinbaren? Für dieses Elend, das du zwischen den Beinen hast? Das würde man nicht mal merken.«

Die Ältere hatte geantwortet. Der Mann drehte sich rasch zu ihr um.

»Sogar du würdest das noch merken, Mama! Da kannst du Gift drauf nehmen ...«, begann er, aber sie unterbrach ihn.

»Du meinst wohl, ich merk’s am Gestank?«

Er blieb vor ihnen stehen, kaute auf seiner Unterlippe, verzog das Gesicht und suchte nach einer vernichtenden Antwort. Vergebens.

»Verdammte Fotze!«, murmelte er schließlich und entfernte sich.

Die Frau stand auf.

»Weißt du überhaupt, wie so eine aussieht?«, rief sie ihm hinterher. »Du bist doch noch nie auch nur in die Nähe von einer gekommen! Abgesehen von der von deiner Mama vielleicht. Falls du nicht den anderen Weg genommen hast, durch den Arsch?«

Die Jüngere hatte während des Wortwechsels geschwiegen. Jetzt schüttelte sie den Kopf.

»Du hättest dich da nicht einzumischen brauchen«, meinte sie. »Ich komm schon zurecht.«

»Entschuldige bitte vielmals«, sagte die Ältere und schnitt eine Grimasse. »Sollen wir ihn zurückrufen und noch mal von vorn anfangen? Dann kannst du zeigen, was du kannst.«

Die Jüngere schwieg und setzte sich auf die Bank.

»Hast du Bosse gesehen?«, fragte sie nach einer Weile.

Die Ältere schüttelte den Kopf.

»Kannst du nicht ein Auge auf ihn haben?«, fragte sie, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an, obwohl im Einkaufszentrum zu rauchen verboten war. »Vielleicht solltest du ihn an die Leine legen?«

Der Tag vor dem 1. Mai. Es war kurz vor zwei. Das Gedränge vor dem Spirituosengeschäft wurde größer. Einer der Wachmänner hatte bereits die Gruppe auf den Bänken aufgefordert, weiterzugehen. Jetzt kam er mit Verstärkung zurück. Einige pflaumten die Wachleute an, aber die ältere Frau stand wortlos auf, worauf sich alle Richtung Ausgang begaben.

Li folgte ihnen zögernd. Sie musterte die Passanten, die hereinströmten oder das Einkaufszentrum verließen. Sie konnte ihn nirgends entdecken, überquerte den Parkplatz und ging auf das kleine Wäldchen auf der anderen Seite zu.

»Willst du einen Schluck?«

Bella tauchte neben ihr auf und hielt ihr eine Flasche hin. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Vielleicht was anderes? Du weißt, ich kann alles besorgen ...«

Sie blieb stehen und starrte ihn an.

»Nein, habe ich doch gesagt! Hörst du schlecht?«

Bei seinem Anblick lief es ihr unweigerlich kalt den Rücken hinunter. Sie beschleunigte ihren Schritt und erreichte das Wäldchen, wo sich die Ältere, mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt, hingesetzt hatte. Li kniete sich neben sie. Die Ältere sah sie wütend an.

»Musst du mir immer so auf den Pelz rücken?«, sagte sie schroff. »Ich dachte, du kommst allein zurecht?«

Li versetzte ihr einen Stoß.

»Sei nicht so verdammt nachtragend«, erwiderte sie. »Hast du eine Kippe?«

Die andere reichte ihr die halb gerauchte Zigarette, die sie zwischen den Fingern hielt.

»Meine letzte«, sagte sie. »Dann musst du bei jemand anderm schnorren. Du kannst es ja bei deinem Freund da drüben versuchen.«

Sie nickte in Richtung Bella, der am Rand der Gruppe stehen geblieben war. Li verzog das Gesicht.

»Dieses Ekel!«

Sie merkte, dass er in regelmäßigen Abständen in ihre Richtung blickte, worauf sie ihn demonstrativ fixierte.

»Was bildet sich der Idiot eigentlich ein? Ich würde ihn nicht mal mit einer Zange anfassen!«

Die Ältere lachte.

»Vielleicht ist er ja gar nicht an dir interessiert? Was weiß man schon. Schau mal.«

Als Li ihren Blick hob, entdeckte sie ihn. Er schlängelte sich zwischen Autos und Familien mit übervollen Einkaufswagen hindurch, die für den Feiertag eingekauft hatten, und kam auf sie zu. Bella ging dicht neben ihm und schien ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Bosse hörte zu, legte Bella eine Hand auf die Schulter und schob ihn beiseite. Bosse warf einen Blick in die Runde. Dann sah er Li in die Augen, lächelte plötzlich und schlenderte auf sie zu.

Sie stand rasch auf und musste sich regelrecht beherrschen, nicht auf ihn zuzurennen. Dieses idiotische Glücksgefühl sprudelte in ihr hoch, sobald sie ihn sah!

Auch die ältere Frau hatte sich erhoben.

»Sieh mal an, du hast also hergefunden«, stellte sie fest.

Er nickte.

»Ich habe verschlafen«, sagte er. »Bin nochmal eingeschlafen und habe geträumt.«

»Ich vermute, von mir?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, ein Albtraum.«

»Das meinte ich«, sagte sie mit einem trockenen Lachen und nahm Li die Zigarette aus der Hand.

Er schüttelte erneut den Kopf und lächelte sie an.

»Wenn ich von dir geträumt hätte, Katja, dann hätte ich gar nicht aufwachen wollen.«

Er war fast der Einzige, der sie bei ihrem richtigen Namen nannte. Es war schwer zu sagen, ob ihr das gefiel oder nicht. Jetzt spitzte sie den Mund und blies den Zigarettenrauch in seine Richtung.

»Versuchst du, dich einzuschleimen, Bosse? Komm doch heute Abend einfach zu mir, dann sehen wir, ob das wirklich wahr ist.«

Sie wandte sich an Li.

»Oder was meinst du, Kleine? Du leihst ihn mir doch aus, wenn ich dich ganz lieb bitte?«

Li lachte gezwungen und glitt etwas näher an Bosse heran. Eifersucht, dachte sie. Das war lächerlich, aber sie konnte sich dagegen nicht wehren. Sie spürte einen Stich im Herzen, und sie wusste, dass sie alles tun würde, um ihn zu behalten.

Sie lag neben ihm auf der Matratze. Durch das Fenster konnte sie in den fast sternenlosen, dunklen Nachthimmel sehen. Man muss eine Weile draußen im Dunkeln stehen, erst dann werden die Sterne allmählich sichtbar. Die Kinder des Himmels. Tote Kinder, die auf uns herabblicken. Oder ungeborene? Sie erinnerte sich nicht mehr genau. Hatte Großmutter ihr das erzählt?

»Du«, sagte sie. »Du willst doch keine Kinder, oder?«

Bosse wandte sich ihr zu.

»Ich meine, es macht doch nichts, dass ich keine bekommen kann?«

Sie spürte, wie er sie im Dunkeln ansah.

»Aber nein«, sagte er schließlich. »Das macht nichts.«

Sie nickte schweigend.

»Und du hast auch noch nie welche haben wollen? Ich meine, früher?«

»Warum fragst du?«

Seine Stimme klang auf einmal wachsam.

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie rasch. »Einfach so, ich meinte nur ... Ja, du weißt schon. Bloß Gerede ...«

Scheiße! dachte sie verärgert. Sie verfluchte sich. Warum musste ich das nur sagen? Sie wusste doch, dass er es nicht mochte, wenn man Fragen stellte und in seinem Leben herumschnüffelte. Eine Kleinigkeit reichte, dann zog er sich in sein Schneckenhaus zurück und schwieg.

»Ich habe mir nie sonderlich viele Gedanken darüber gemacht«, meinte er schließlich entspannter, »soweit ich mich erinnern kann.«

Meist trafen sie sich in seiner Wohnung. Die war größer. Jedenfalls wirkte sie so. Fast kahl. Im Schlafzimmer lag nur eine Matratze auf dem Boden. In der Küche standen ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Das Wohnzimmer war so gut wie leer, abgesehen vom Teppich in der Mitte mit einem orientalischen Muster. Er nannte ihn immer seinen Gebetsteppich und lächelte dabei kurz.

Bei ihr zu Hause konnte man sich kaum umdrehen, Möbel, Nippes und Krimskrams überall. Das meiste war billiger Plunder. Sie wusste, dass es ihm eigentlich nicht gefiel. Er schüttelte immer den Kopf, wenn er ihre Wohnung betrat. Aber sie wollte es nicht anders. Ihr gefielen Wände voller Bilder, Stickereien und andere Dinge, die sie auf dem Flohmarkt ergatterte. Es gab Plüschtiere im Bett und auf dem Sofa und Plastik‒ und Seidenblumen überall, wo sie ein freies Plätzchen fand. Es war ihr egal, ob das Bosse oder den anderen gefiel!

Vor allen Dingen wollte sie die Wohnung behalten. Sie hatte eine Heidenangst davor, dass etwas passierte und sie wieder auf der Straße landete. Sie konnte schnell wieder in Ungnade fallen und wusste, dass die Nachbarn, der Vermieter und das Sozialamt ein Auge auf sie hatten.

Wenn es unerwartet bei ihr klingelte, machte sie am liebsten nicht auf. Sie verhielt sich mucksmäuschenstill, hielt den Atem an und wartete. Voller Entsetzen überlegte sie jedes Mal, wer das sein könnte. Ein Freier von früher, der ihre Adresse rausgekriegt hatte, sich aber nicht damit zufrieden geben würde, wenn sie ihn abwies, und sie dadurch in Schwierigkeiten bringen konnte. Oder jemand aus ihrer Vergangenheit, der ihr Stoff verkaufen oder schenken wollte. Das würde ihr den winzigen Stoß versetzen, der genügte, um sie wieder auf die Straße zu befördern.

Aber jetzt hatte sie Bosse. Hatte sie ihn wirklich? Eigentlich wusste sie es nicht. Wusste weder, wie lange ihr Verhältnis dauern würde, noch, was es für ihn bedeutete. Was sah er in ihr? Vielleicht nur ein Loch, in das er seinen Schwanz verschwinden lassen konnte, genau wie alle anderen. Vielleicht war es bei ihm genauso.

Sie schüttelte den Kopf. Nein, so war es nicht. Zwischen ihnen war es anders. Und er war anders. Nicht so wie die anderen. Er war wie kein anderer.

Sie lag ganz still und versuchte zu schätzen, wie spät es war. Auf jeden Fall nach zwölf. Nach einer Weile drehte sich Bosse zur Seite, erhob sich und ging in die Küche. Sie blieb liegen und hörte ihn rumoren.

»Ich geh jetzt vielleicht nach Hause«, sagte sie halblaut in seine Richtung.

Sie blieb nie über Nacht, wenn er sie nicht darum bat. Jetzt wartete sie gespannt.

»Möchtest du noch etwas, bevor du gehst?«, erwiderte er nach einer kurzen Pause.

Sie stand auf und zog sich an.

»Nein«, antwortete sie mit belegter Stimme. Sie versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie wollte nicht, dass er sie heulen sah. »Nein, das ist nicht nötig.«

Diese verdammte Enttäuschung! Obwohl sie eigentlich keinen Grund hatte und kein Recht dazu, dachte sie. Er hatte ihr nie etwas versprochen. Warum konnte sie nicht einfach zufrieden sein und es einfach annehmen?

Sie hörte weiter unten auf der Straße Gegröle und verlangsamte ihren Schritt. Ein paar Jugendliche torkelten sturzbetrunken über die Straße. Besäufnis zum 1. Mai, dachte sie und spürte, dass sie ihnen nicht begegnen wollte. Sie fluchte innerlich. Warum war sie so ängstlich? War es das Alter? Vor Rotznasen, die sich voll laufen ließen, hätte sie sich früher keine Sekunde lang gefürchtet! Und jetzt geriet sie fast in Panik, als sie näher kamen.

Sie überquerte die Straße, doch dort war sie genauso bedroht. Der Trupp hatte sich über die ganze Straße verteilt. Sie machte kehrt und ging eilig, ohne sich umzusehen, zurück. Sie schielte auf die Haustüren und suchte nach der Nummer 53. Als sie die Nummer entdeckte, bog sie abrupt ab. Wie immer war die Haustür angelehnt, jemand hatte die Fußmatte dazwischengeklemmt. Sie schlüpfte in den Flur, rannte bis zum ersten Treppenabsatz, hielt inne und lauschte atemlos. Niemand folgte ihr.

Die Jugendlichen gingen weiter. Das Gegröle hallte zwischen den Häusern wider. Wahrscheinlich hatten sie sie gar nicht bemerkt.

Sie nahm den muffigen, säuerlichen Geruch im Treppenhaus wahr. Dann ging sie in den dritten Stock und klingelte. Es dauerte, bis sie das Rasseln der Sicherheitskette hörte und die Tür geöffnet wurde.

Die Frau, die Mama genannt wurde, musterte sie wortlos. Sie trug immer noch den Trainingsanzug. Sie schien in ihm geschlafen zu haben.

»Darf ich reinkommen?«, fragte Li.

Mama schnitt eine Grimasse.

»Jetzt?«

Dann zuckte sie mit den Achseln und trat beiseite.

»Wenn’s denn unbedingt sein muss ...«

Das Haus lag etwa fünfzig Meter von dem ehemaligen Waldrand entfernt. Jetzt begrenzte ein ungepflegter, einige Jahre alter Kahlschlag den eigentlichen Wald. Keine Höfe lagen in Sichtweite. Der andauernde Nieselregen vermittelte ein Gefühl von Isolation und Abgeschiedenheit.

Peter Larsson ließ seinen Blick schweifen. Der größte Teil der früheren Weiden war mit Tannen bepflanzt worden, die nun mannshoch waren. Links lag die Zufahrt zu einer Pferdekoppel, die schon seit Jahren nicht mehr benutzt wurde. Der Stall auf der anderen Seite des Hofplatzes stand leer. Vor dem Wohnhaus wuchsen zwischen Findlingen ein paar Beerensträucher. Larsson wischte sich über den Mund und spuckte aus. Er ging zum nächsten Busch, riss eine Hand voll der kleinen Blätter ab, zerrieb sie zwischen den Händen, hielt seine Handfläche unter die Nase und atmete den durchdringenden Duft schwarzer Johannisbeeren ein.

Inzwischen hatte auch Magnusson das Haus verlassen und trat neben ihn.

»Du hattest es auf einmal so eilig«, sagte er.

Peter Larsson verzog das Gesicht. Er hatte in der Tür kehrtmachen müssen und sich direkt neben der Treppe übergeben.

»Hast du so was schon mal gesehen?«, fragte er.

Magnusson betrachtete ihn.

»Ja«, erwiderte er lakonisch, »allerdings nicht oft. Das muss ich zugeben.«

Er wartete eine Weile.

»Bist du es los?«

Peter Larsson nickte. Der andere wandte sich ab.

»Wir müssen uns einen ersten Überblick verschaffen«, sagte er über die Schulter, »bevor die Spurensicherung kommt. Es ist immer schwieriger, sich alles vorzustellen, wenn überall die Kollegen herumgetrampelt sind. Der erste Eindruck ist wichtig ...«

Larsson atmete tief ein und folgte ihm ins Haus.

Der Mann lag mit dem Gesicht auf dem Tisch, der unter seinem Gewicht zusammengebrochen war. Sein Oberkörper war von der Taille aufwärts äußerst brutal malträtiert worden. Der Kopf bestand nur noch aus einer blutigen Masse und war fast platt geschlagen. Eine Axt, aller Wahrscheinlichkeit nach die Mordwaffe, lag neben der Leiche.

Die Frau schien von einem einzigen, brutalen Schlag auf den Kopf getötet worden zu sein. Sie saß aufrecht in einer Ecke auf der Küchenbank. Peter Larsson warf einen raschen Blick auf ihr Gesicht. Ein Auge war durch die Kraft des Hiebs in die Augenhöhle gedrückt worden.

»Glaubst du, dass sie selbst so sitzen geblieben ist?«

Magnusson schüttelte den Kopf.

»Wohl kaum.«

Er trat in die Küche und betrachtete die Frau.

»Schau dir die Hand an«, meinte er.

Die Hände der Frau lagen übereinander in ihrem Schoß. Die Rechte war zwischen Zeige‒ und Mittelfinger gespalten.

»Sie muss versucht haben, sich zur Wehr zu setzen.«

Er ließ den Blick über den Boden gleiten.

»Möglicherweise lag sie da drüben. Das könnte Gehirnsubstanz und Blut sein«, sagte er und deutete auf einen klebrigen Fleck neben der Tür. Schleifspuren führten von dort zur Bank.

Der auffallend blasse Peter Larsson stand immer noch auf der Schwelle.

»Sie haben sie auf die Bank gesetzt«, sagte er leise. »Wie bei einem Kaffeekränzchen.«

Magnusson ging auf ihn zu. Er gab Acht, wo er hintrat.

»Sie, sagst du? Warum glaubst du, dass es mehrere waren? «

Peter Larsson hob die Schultern.

»Ich weiß nicht. Es wirkt einfach so, als wären mehrere am Werk gewesen. Zumindest zwei Personen. Kein einsamer Irrer.«

»Hast du eine Vorstellung, was sich hier drin abgespielt haben könnte?«, fragte Magnusson nach einer Weile.

Peter Larsson starrte vor sich hin.

»Wut«, meinte er schließlich. »Die muss irgendeine Rolle gespielt haben, eine besinnungslose Wut. Nein, das reicht vermutlich nicht. Da ist noch mehr, etwas Verrückteres, ich weiß nicht ... Als sei dies alles ein einziger, schlechter Scherz! Sie so auf die Bank zu setzen mit ihm davor auf dem zerbrochenen Tisch. Das tut man nicht, wenn es sich nur um einen Ausbruch von Wahnsinn handelt. Da baut man nachher nicht noch was auf.«

Magnusson nickte nachdenklich.

»Ja, das ist eigenartig.«

Er drehte sich um und schaute durch die offene Haustür. Ein Auto fuhr auf den Hofplatz.

»Dann warten wir mal ab, was die Wissenschaft dazu sagt.«

Sie traten durch den schmalen Windfang wieder in den Nieselregen hinaus. Reyes war gerade aus seinem Wagen gestiegen. Er nickte ihnen zu.

»Nicht gerade hübsch da drin, oder?«

Magnusson schüttelte den Kopf.

»Nein, das kann man wirklich nicht behaupten.«

»Aber vielleicht interessant«, fuhr Reyes fort und begann, seine Ausrüstung auszuladen. »Etwas Abwechslung. Nicht die Durchschnittsleichen, wenn ich das mal so sagen darf ...«

Er legte den Kopf schief.

»Seid ihr da drin jetzt überall rumgetrampelt?«

Peter Larsson trat einen Schritt zur Seite, um ihn vorbeizulassen.

»Kaum. Ein Blick hat genügt. Mir jedenfalls.«

Reyes lachte.

»Marica!«

Er wartete.

»Dummes Frauenzimmer«, übersetzte er dann mit einem überdeutlichen Akzent.

Der Regen hatte zugenommen. Sie saßen wieder im Auto. Peter Larsson warf einen Blick auf Magnusson.

»Nehmen wir uns jetzt die Nachbarn vor?«

Magnusson hob die Hand.

»Einen Moment noch. Ich will nur abwarten, ob sie etwas über Reifenspuren oder Ähnliches zu sagen haben. Wie der ‒ oder die ‒ Täter überhaupt hierher gekommen sind.«

Er deutete mit dem Kopf zum Hofplatz. Reyes und sein Kollege Nyhlén hatten sich nach einer kurzen Diskussion darauf geeinigt, erst einmal den Tatort in Augenschein zu nehmen, den sie in der Küche vermuteten, um dann eventuelle Spuren im Freien zu sichern, bevor sie vom Regen weggespült wurden.

»Was die Nachbarn angeht«, fuhr er fort, »gibt es in der Nähe nur ein Haus, das das ganze Jahr über bewohnt ist, ein paar Kilometer weiter die Straße entlang. Alles andere sind Sommerhäuser, und dort werden wir heute kaum jemanden antreffen ...

Er schwieg einen Augenblick und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe.

»Viele waren natürlich über die Feiertage hier, und wahrscheinlich herrschte reger Verkehr. Es wird nicht so leicht sein, die brauchbaren Informationen herauszufiltern.«

»Wann wurde deiner Meinung nach die Tat verübt?«, fragte Larsson.

»Sie sind seit mindestens vierundzwanzig Stunden tot«, antwortete Magnusson. »Die Leichenstarre hat sich bereits wieder gelöst. Wahrscheinlich haben sie recht lange hier gelegen. Meine Schätzung beläuft sich auf zwei bis drei Tage, eher drei als zwei. Dir ist doch der Geruch sicherlich aufgefallen? Man kann es recht gut am Geruch abschätzen, nicht wahr?«

Peter Larsson verzog das Gesicht, und Magnusson warf ihm einen Blick zu.

»Du musst noch üben«, sagte er. »Es ist von Vorteil, solche Dinge zu können. Das spart Zeit.«

Peter Larsson musterte ihn mit gerunzelter Stirn.

»Machst du Witze?«

»Kann sein. Ich weiß nicht. Ich habe keinen Humor.«

Dann zwinkerte er ihm zu und lachte leise.

»Am Vorabend des 1. Mai lebten sie jedenfalls noch«, fuhr er fort, »zumindest meint die Tochter das. Sie hat nachmittags bei ihnen angerufen. Sie und ihr Mann haben ein Wochenendhaus an der Küste und verbrachten die Feiertage dort. Sie hat ihre Eltern erst wieder am Sonntagabend angerufen, nachdem sie nach Hause gekommen war. Niemand ging ans Telefon, und sie nahm an, dass sie schon im Bett waren. Sie unternahm am nächsten Morgen einen weiteren Versuch, und als dann wieder niemand abhob, wurde sie unruhig. Sie fuhr hierher und fand die beiden.«

Magnusson sah in den Regen.

»Sie hatte ihr Handy dabei. Trotzdem setzte sie sich ins Auto und fuhr den ganzen Weg wieder nach Hause, bevor sie uns alarmierte. Es war übrigens ihr Mann, der anrief, als er begriffen hatte, was sie ihm erzählt hatte.«

»War sie ansprechbar?«, fragte Peter Larsson.

»Etwas. Sie stand natürlich unter Schock. Ich riet ihrem Mann, einen Arzt zu konsultieren. Wir müssen sie später eingehender vernehmen.«

Larsson nickte.

»Was hältst du von der ganzen Sache?«, fragte er schließlich. »Hast du eine Theorie?«

»Dafür ist es noch zu früh. Es ist besser, für alles offen zu sein, solange wir nichts Konkreteres haben.«

Magnusson rieb sich die Augen und gähnte. Seit dem Anruf gegen sieben Uhr morgens waren sie ununterbrochen im Einsatz gewesen.

»Vielleicht ging es ja doch um Geld. Irgendwelche durchgeknallten, zugedröhnten Idioten, die geglaubt haben, dass hier was zu holen ist.«

»Und wo hätten die herkommen sollen?«

»Da gibt es viele Möglichkeiten. Bis Sandviken ist es nicht weit. Nach Gävle auch nicht. Und schaut man in die andere Richtung, kommt man auch recht schnell nach Falun und Borlänge.«

»Der oder die Täter müssen sich in dieser Gegend gut ausgekannt haben, sonst hätten sie das Haus kaum gefunden.«

Magnusson zuckte mit den Achseln.

»Tja, vielleicht. Andererseits könnte es auch ein Zufall sein. Vielleicht sind sie ziellos rumgefahren und haben etwas gesucht, was einsam genug lag und trotzdem viel versprechend aussah. Laut seiner Tochter war Haglund kränklich. Er konnte sich nur mühsam bewegen. Unter dem Vordach steht ein Rollator, den wird der Täter auch gesehen haben ...«

Er unterbrach sich und starrte zu Reyes hinüber, der auf die Vortreppe getreten war und sie hereinwinkte.

Sie standen vor dem Einkaufszentrum. Es regnete. Die Luft war grau und kalt, und die Temperatur lag knapp über null.

Nervös kaute Li an ihren Nägeln, hielt inne und schaute auf ihre Hände. Sie musste damit aufhören, dachte sie. Sie wusste, dass ihm das nicht gefiel.

»Du hast ihn also nicht gesehen?«

Mama schüttelte den Kopf.

»Nein, keine Spur.«

»Weißt du, ob sonst jemand ihn gesehen hat?«

Mama schnaubte.

»Ich hatte wirklich keinen Grund, herumzurennen und nach ihm zu fragen.«

Sie betrachtete Li eine Weile.

»Bist du dir sicher, dass er nicht zu Hause ist?«

Li zuckte leicht mit den Achseln.

»Jedenfalls macht niemand auf.«

»Und du hast keinen Schlüssel, heh?«

Mama schnaubte erneut verächtlich.

»Nein, natürlich nicht. Er ist ja so was wahnsinnig Besonderes! Klar, dass er niemandem einen Schlüssel gibt, nicht einmal dir. Und Telefon hat er auch nicht, oder? Könnte sein, dass er gar nicht will, dass man ihn erreichen kann?«

Sie grinste anzüglich.

»Vielleicht hat er ja was Interessanteres aufgetan? Junges Gemüse? So eine kleine frühreife Schlampe, mit der er sich eingeschlossen hat ...«

Dann unterbrach sie sich.

»Ja, ich weiß! Ich bin ein alter Drachen! Du machst dir Sorgen, dass ihm was zugestoßen ist. Glaub mir, aller Wahrscheinlichkeit nach kann ihm nicht viel zustoßen.«

Sie deutete mit dem Kopf auf das Einkaufszentrum. Durch die Glastüren war der so gut wie vollzählige Trupp vor dem Spirituosenladen zu erkennen.

»Es wäre nicht verwunderlich, wenn eine von diesen Schießbudenfiguren den Löffel abgeben würde. Und wenn ich ins Gras beißen würde, wäre das auch nicht gerade eine Sensation. Aber Lindberg ist doch vollkommen gesund? Das müsstest du doch wissen, oder?«

Li sah sie verärgert an.

»Es könnte ihm trotzdem was zugestoßen sein! Irgendwas. Seit Donnerstag, dem 30. April, als ich nachts zu dir kam, habe ich ihn weder gesehen noch von ihm gehört. Niemand scheint ihn seither gesehen zu haben. Das heißt, dass er jetzt schon vier Tage weg ist. Findest du das nicht etwas sonderbar?«

»Nicht im Geringsten«, erwiderte die Ältere trocken. »Bei ihm nicht. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass er abtaucht, oder? Dann kannst du ja davon halten, was du willst...«

Sie schüttelte sich.

»Wie auch immer, ich habe jedenfalls nicht vor, hier draußen stehen zu bleiben und mir den Arsch abzufrieren. Kommst du mit rein, oder willst du die allgemeine Suchaktion fortsetzen?«

Li biss die Zähne zusammen.

»Ich gehe nach Hause«, meinte sie. »Wenn du was erfährst, meldest du dich doch, oder?«

Sie machte kehrt und war ein paar Schritte gegangen, als sie jemanden rufen hörte:

»Li!«

Sie erkannte die helle, etwas heisere Stimme sofort. Bella. Sie drehte sich um und sah ihn auf sich zukommen. Ein paar Meter entfernt blieb er stehen und lächelte sie an.

»Ich habe gehört, dass du nach Bosse gefragt hast?«

»Ach, was du nicht sagst.«

»Und? Was willst du? Hast du ihn getroffen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nicht direkt. Aber Lycken hat ihn gesehen. Du weißt schon ... Svante Lyck ...«

»Sein richtiger Name ist mir scheißegal, sag schon, was er gesagt hat!«, unterbrach sie ihn unwirsch.

Bellas Blick glitt zur Seite.

»Er hat gesehen, wie sie ihn abgeholt haben, also Bosse. Irgendwann gestern Abend ...«

»Wovon redest du eigentlich?«, unterbrach Li ihn erneut. »Welche sie? Wer hat ihn angeblich abgeholt?«

Bella machte eine ausholende Handbewegung.

»Die Cops. Die waren da ...«

Li starrte ihn an, dann lachte sie laut.

»Die Cops!«, äffte sie ihn nach. »Wo hast du denn das aufgeschnappt? Hast du mit den großen Jungs spielen dürfen? «

Bella schluckte und errötete.

»Die Bullen haben ihn gestern abgeholt«, beharrte er verbissen. »Aus seiner Wohnung.«

Li hatte aufgehört zu lachen.

»Was hätten die für einen Grund gehabt, Bosse abzuholen? Dass ich nicht lache! Das hast du geträumt!«

»Ich erzähle nur, was Lycken gesagt hat, das wolltest du doch, oder?«

Bellas Blick wurde wieder unsicher.

»Aber ich war schließlich nicht dabei. Ich sage nur ...«

»Du sagst nur, was er gesagt hat, ich weiß! Und ich sage, dass er vermutlich im Delirium war und zwar kräftig! Was hat er denn sonst noch gesehen, vielleicht einen ganzen Zoo oder was?«

Li starrte ihn an. Dann richtete sie ihren Blick auf Mama, die noch am Eingang stand.

»Hast du das gehört? Was für ein saudummes Gerede!«

Sie begann wieder zu lachen, hemmungslos, fast hysterisch. Die Ältere betrachtete sie eine Weile schweigend.

»Wir gehen zu mir«, sagte sie schließlich.

»Was soll denn das? Ich habe wirklich nicht vor, irgendwohin ...«

Ein neuer Lachanfall schüttelte sie, sie beugte sich vornüber und rang keuchend nach Luft.

»Komm, jetzt gehen wir zu mir, habe ich gesagt!«

Mama trat an sie heran, packte sie am Arm, schleifte sie mit sich fort und ignorierte ihre Proteste.

Sie versuchte, sich auf der Couch aufzusetzen. Ihre Zunge klebte am Gaumen, als hätte sie seit Tagen nichts mehr getrunken. Sie hatte so starke Kopfschmerzen, dass sie sich fast übergeben musste. Sie wusste nicht, wo sie war. Erst langsam begann es ihr zu dämmern. Sie drehte vorsichtig ihren Kopf zur Seite und entdeckte Mama, die in dem gegenüberliegenden Sessel hing.

»Gut geschlafen?«

Li verzog das Gesicht.

»Was hast du mir für einen Scheißdreck gegeben? Dasselbe wie letztes Mal? Eine ganze Apotheke oder was? So fühle ich mich jedenfalls.«

»Du hast etwas zur Beruhigung gebraucht.«

Li schnaubte.

»Ruhig wird man davon wirklich. Es fühlt sich an, als hätte mich jemand mit dem Kopf an die Wand genagelt!«

Mama zuckte mit den Achseln.

»Das geht vorbei.«

Li sah sie an.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte sie.

»Seit zehn, halb elf ...«

Li warf einen Blick auf die Uhr und holte tief Luft.

»Verdammt! Jetzt ist fast schon Nachmittag! Ich muss los ...«

»Du gehst nirgendwohin«, fiel ihr die andere ins Wort, »und jetzt hörst du mir mal ganz genau zu.«

Li rieb sich das Gesicht und erhob sich schwankend.

»Ich muss rauskriegen, was los ist! Mit Bosse. Begreifst du das nicht?«

Mama zündete sich eine Zigarette an und blickte aus dem Fenster.

»Ich habe rumtelefoniert, während du geschlafen hast, und einige Erkundigungen eingezogen.«

Sie inhalierte tief und begann zu husten.

»Dass man mit diesem Laster nicht aufhören kann«, meinte sie seufzend. »Merkwürdig, nicht wahr? Obwohl man sich die Lunge aus dem Hals hustet.«

»Was jetzt?«, fauchte Li. »Wen hast du gefragt? Und was?«

»Die da habe ich auch gekauft.«

Sie deutete auf ein Aftonbladet, das auf dem Couchtisch lag. Li starrte Mama an, dann riss sie die Zeitung an sich und überflog die Titelseite. Sie holte tief Luft.

»Warum zeigst du mir das hier? Was hat das mit Bosse zu tun?«

Sie wartete.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er was damit zu tun hat? Das ist doch vollkommen gestört! Wie kannst du nur behaupten ...«

»Deswegen haben sie ihn jedenfalls abgeholt«, unterbrach die Ältere sie. »Die Person, mit der ich mich unterhalten habe, konnte mir diese Auskunft erteilen.«

»Wer war das?«, kreischte Li. »Wen kennst du, der so was weiß ...«

»Das brauche ich dir nicht zu sagen«, erwiderte die andere knapp.

Sie deutete auf die Zeitung.

»So ist das nun mal«, fuhr sie fort. »Deswegen haben sie ihn eingebuchtet.«

Li starrte auf den Artikel und las weiter. Nach einer Weile begann sie, am ganzen Körper zu zittern, ließ die Zeitung sinken, krümmte sich zusammen und wiegte den Oberkörper hin und her.

»Vielleicht wollen sie ihm ja nur ein paar Fragen stellen«, meinte die Ältere beschwichtigend. »Vielleicht ist alles auch nur ein verdammter Irrtum.«

Li sah auf.

»Dann müsste er schon zurück sein, und zwar seit langem. Glaubst du etwa, dass ich das nicht begreife?«

Sie holte tief Luft und las erneut den Text auf der ersten Seite.

»Hier steht, dass es irgendwann am Freitag passiert sein soll.«

»Da war ich mit ihm zusammen.«

Mama schob das Kinn vor.

»Ach? Wirklich?«

Li begegnete ihrem Blick ohne zu blinzeln.

»Die ganze Zeit. Jede beschissene Minute. Das weißt du doch?«

Mama kniff die Augen zusammen.

»Nein, das weiß ich nicht.«

Dann zuckte sie mit den Schultern, wandte sich zum Fenster und tat erneut einen Lungenzug.

»Tja, das ist dein Leben. Mach, was du willst, aber zieh mich da nicht mit rein.«

Magnusson wandte sich dem Jüngeren zu.

»Was meinst du?«

Peter Larsson saß zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen auf seinem Stuhl. Nach einer Weile öffnete er die Augen, reckte sich seufzend und sah Magnusson an.

»Du bist an Feinheiten interessiert?«

Diese Rolle war ihm bei ihrer Zusammenarbeit zugefallen: Er war derjenige, der Nuancen und Misstönen nachspürte. Er stellte nur selten Fragen, das war Magnussons Zuständigkeit. Stattdessen beobachtete er und lauschte. Nahm Dinge wahr, die nicht stimmten oder zu gut stimmten.

»Er war anders als erwartet«, meinte er zögernd.

»Wie meinst du das?«, fragte Magnusson.

»Dir ist das doch sicher auch aufgefallen? Er besaß eine gewisse Ausstrahlung, nicht wahr? Selbstbewusst, aber nicht draufgängerisch. Natürliche Autorität könnte man das vielleicht nennen. Und ... tja, das Aussehen ... die Art ... nicht direkt, was man in diesem Milieu erwartet, meinst du nicht auch?«

Magnusson machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Jaja. Sonst nichts? Nichts Konkreteres?«

Larsson lehnte sich wieder zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Er wirkte nicht sonderlich aufgebracht, als wir bei ihm geklingelt und uns vorgestellt haben. Eher verdutzt, aber weder nervös noch beunruhigt. Ohne längere Diskussionen hat er eingewilligt, uns zu begleiten. Als er erfuhr, weshalb wir ihn vernehmen wollten, hat er ziemlich mitgenommen gewirkt, nicht wahr? Seine Miene war einen Moment lang ausdruckslos. Und blass war er. Als hätte ihn das Gehörte schockiert. Ist dir aufgefallen, wie er deine Fragen beantwortet hat? Er hat nicht versucht, sich rauszuwinden. Es schien ihm gleichgültig, was für einen Eindruck er auf uns machte. Anfangs dachte ich, er ist vielleicht einfach etwas dumm, zurückgeblieben. Aber das scheint nicht so zu sein.«

Er verstummte. Magnusson betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn.

»Lügt er, oder sagt er die Wahrheit? Ist er in diese Sache verwickelt oder nicht?«

Larsson wippte auf seinem Stuhl vor und zurück und verzog das Gesicht.

»Tja. Das ist die Frage. Wenn er lügt, dann verdammt gut. Und wenn er die Wahrheit sagt, macht er das ebenfalls verdammt gut, falls du verstehst, was ich meine. Er wirkt einfach sehr überzeugend.«

Magnusson seufzte.

»Ja, das entspricht auch meinem Eindruck. Obwohl er für meinen Geschmack etwas zu gelassen wirkt.«

Er erhob sich.

»Wir müssen wohl einen weiteren Versuch unternehmen«, meinte er, zwängte sich an seinem Kollegen vorbei und öffnete die Tür zum Gang. »Vielleicht erfahren wir ja dieses Mal mehr von Herrn Lindberg und können beurteilen, ob es Sinn macht, ihn noch länger hier zu behalten.«

Peter Larsson erhob sich und folgte ihm. Er warf einen Blick auf die Uhr. Bald zwei. Er hatte nur ein paar Stunden geschlafen. Allmählich breitete sich Müdigkeit aus. Alles lief auf Sparflamme. Oder passierte wie in einem Albtraum: Man konnte noch so schnell rennen, kam aber trotzdem nicht vom Fleck. Eigentlich arbeiteten sie jetzt schon zu lange, dachte er, um noch so etwas wie wirkliche Konzentration aufbringen zu können. Aber Lindberg erging es wohl ebenso, was möglicherweise zu einem Ausrutscher führte. Dazu, dass er sich eine Blöße gab.

»Wir fassen noch einmal zusammen, worüber wir gestern Abend und heute Morgen gesprochen haben«, schlug Magnusson vor. »Dann sehen wir, ob wir damit weiterkommen.«

Er runzelte die Stirn und starrte ins Leere.

»Es war also Ihre Brieftasche, die am Tatort gefunden wurde?«

Sein Gegenüber nickte.

»Es hat ganz den Anschein.«

Magnusson warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Schließlich war Ihr Personalausweis darin, oder? Bo Erik Lindberg. Und das Geld. Außerdem haben Sie auch zu Protokoll gegeben, dass Sie sie wiedererkannt haben.«

»Stimmt.«

»Dann können wir doch davon ausgehen, dass sie Ihnen gehört, nicht wahr?«

Lindberg nickte und holte Luft.

»Sicher, sie gehört mir, das streite ich gar nicht ab, wozu auch.«

Er schwieg. Peter Larsson, der einen halben Meter links von Magnusson saß, sah ihn an. Er setzte sich oft so hin, damit sich der Befragte die ganze Zeit seiner Anwesenheit bewusst war, aber gleichzeitig den Kopf zur Seite drehen musste, wenn er ihm direkt in die Augen sehen wollte. Viele machte das nervös, aber Lindberg ließ sich dadurch nicht stören und sah kaum in seine Richtung.

»Aber Sie können nicht erklären, wie sie an den Fundort gelangt ist?«, fuhr Magnusson fort. »Ihnen war noch gar nicht aufgefallen, dass sie fehlte?«

Lindberg schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Das macht immer noch keinen Sinn. Dass Sie das nicht gemerkt haben. Schließlich waren fast dreitausend in der Brieftasche. Mir wäre es jedenfalls aufgefallen, wenn mir so viel abhanden gekommen wäre, aber Ihnen nicht, Bo?«

Der Mann verharrte eine Weile zurückgelehnt auf seinem Stuhl. Dann richtete er sich auf und sah Magnusson in die Augen.

»Ja, ich weiß, das ist viel Geld, um es so mit sich herumzutragen. Das war alles, was ich übrig hatte, nachdem die Miete bezahlt war. Aber ich habe das Geld immer bei mir in der Brieftasche. Bankgeschäfte waren nie meine starke Seite. Aber ich habe nicht gemerkt, dass mir die Brieftasche abhanden gekommen war.«

Sollte er müde sein, ist ihm das jedenfalls nicht anzumerken, dachte Peter Larsson. Er wirkte eher konzentriert. Als läge ihm die ganze Sache ebenso am Herzen wie den Polizeibeamten.

Magnusson fuhr fort.

»Sie haben die Miete bezahlt, da hatten Sie Ihre Brieftasche noch. Das war letzten Donnerstag. Wir haben uns das bestätigen lassen, die Transaktion wurde am Donnerstag verbucht. Morgens früh am dreißigsten April.«

Er machte eine kurze Pause und betrachtete zweifelnd den Mann vor sich.

»Das ergibt also fünf Tage, die verstrichen sind, ohne dass Sie bemerkt haben, dass Ihre Brieftasche fehlt. Fast eine Woche. Haben Sie in dieser Zeit kein Geld gebraucht? Nichts zu essen gekauft? Überhaupt nichts?«

Bosse Lindberg sah ihm nach wie vor direkt in die Augen.

»Ich habe es schon mehrmals wiederholt, aber ich sage es trotzdem noch einmal. Vielleicht kann es ja dazu beitragen, das Ganze aufzuklären.«

Er sprach ruhig und ohne den leisesten Ärger.