Vom selben Blut - Schweden-Krimi - Åke Smedberg - E-Book

Vom selben Blut - Schweden-Krimi E-Book

Åke Smedberg

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Beschreibung

Ein Rätsel um eine geheimnisvolle Frau auf einem Foto zieht weite Kreise: Als eine Witwe den Journalisten John Nielsen darum bittet, eine junge Frau ausfindig zu machen, die auf einem Foto neben ihrem verstorbenen Mann posiert, muss Nielsen schnell feststellen, dass die Gesuchte nicht auffindbar ist. Doch dann erhält er einen wichtigen Hinweis, der schnell klar macht, dass es auch um ein schreckliches Verbrechen geht...Åke Smedbergs drei Kriminalromane, in deren Mittelpunkt der Journalist John Nielsen als Ermittler steht, erfreuen sich großer Beliebtheit bei allen Freunden des skandinavischen Krimi-Genres.

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Åke Smedberg

Vom selben Blut - Schweden-Krimi

Deutsch von Christine Heinzius

Saga

Vom selben Blut - Schweden-Krimi ÜbersetztChristine Heinzius Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2007, 2020 Åke Smedberg und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444872

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Kind des Todes

Er wusste plötzlich, dass es wieder passieren würde und dass er nichts dagegen tun konnte. Es war zu stark, und er konnte nicht widerstehen. Es war vorherbestimmt, dachte er, nichts, das er verändern konnte, wie sehr er es auch versuchte.

Er schüttelte den Kopf, holte tief Luft und begann, leise und ohne Melodie zu summen. Er wusste nicht, warum, aber es beruhigte ihn.

Der jüngere Mann blickte zur Seite und sah ihn an. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Angespanntes.

»Halt an. Ich steige aus.«

»Hier?«

»Ja, hier.«

»Du kommst also nicht mit?«

»Nein, ich habe meine Meinung geändert.«

»Ich glaube, es wäre das Beste, wenn du es tätest.«

»Nein, ich steige aus.«

Der Mann nickte.

»Wie du willst. Soll ich dich nicht zurückfahren?«

Der Jüngere beugte sich plötzlich vor und griff ins Lenkrad.

»Halt an, habe ich gesagt. Hier!«

»Ja, ja! Mache ich doch. Aber lass das Lenkrad los, bevor ich einen Unfall baue.«

Der Jüngere ließ das Steuer los, und der Fahrer schaltete einen Gang runter, wurde langsamer und tat, als würde er an den Straßenrand fahren. Dann lehnte er sich plötzlich zur Seite, packte den Jüngeren im Nacken und trat gleichzeitig das Gaspedal durch. Er wartete ein paar Sekunden, während er den Griff beibehielt und spürte, wie der Körper des anderen durch die Beschleunigung nach hinten katapultiert wurde. Dann machte er eine Vollbremsung und drückte den Kopf des anderen nach vorn auf die Konsole.

Man hörte ein knirschendes Geräusch, der andere zitterte und sackte zusammen, den Kopf auf der Konsole. Der Fahrer sah ihn einen Augenblick an. Dann lenkte er das Auto auf die Fahrbahn, beschleunigte wieder und hörte die Reifen auf dem regennassen Asphalt quietschen.

In einer Kurve geriet er ins Schleudern, konnte den Wagen aber noch knapp auf der Straße halten. Er warf einen Blick auf den Tacho, der auf hundert absank und hörte den Motor gequält aufheulen. Ihm wurde klar, dass er auf der schmalen, gewundenen Straße wie ein Wahnsinniger gefahren sein musste. Doch er erinnerte sich nicht daran, er erinnerte sich nicht mal daran, wie er überhaupt hierhergekommen war.

Er wandte den Kopf und sah die zusammengesunkene Gestalt neben sich. Er lauschte und hörte Atemgeräusche, jedoch keuchend und schwach. Der Kopf ruhte noch immer auf dem blutverschmierten Armaturenbrett. Der Körper war noch reglos und schlaff. Er sah wieder nach vorn, fuhr mit einer Hand über sein Gesicht und versuchte nachzudenken. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, er könne seine Meinung noch ändern. Bremsen, wenden, in die Stadt fahren, zum nächsten Krankenhaus. In die Notaufnahme einbiegen, ihn dort abliefern und sich unbemerkt wieder davonmachen . . .

Dann sah er ein, dass bereits alles entschieden war. Es gab keinen Weg zurück. Und plötzlich lächelte er, mit diesem Gefühl der Erleichterung, das ihn immer überkam, wenn die Verwandlung geschah, wenn er diesen letzten Schritt tat und alles mechanisch zu passieren schien, ohne dass er denken musste. Wenn er einfach nur nachgab und sich mitreißen ließ, wie von einer Flutwelle. Und gleichzeitig beobachtete er das alles von außen, von einem Punkt außerhalb seiner selbst. Entfernt, erhöht. Unerreichbar. Wie eine Art Gott, dachte er. Ja. Wie Gott.

Ende März, der Himmel war bleigrau und hing tief. Ein trostloser Nieselregen trieb über die aufgeweichten Lehmböden, die hinter der Friedhofsmauer begannen.

John Nielsen blieb auf dem Weg vom Parkplatz stehen, fischte eine Zigarette aus der Schachtel. Er kam bereits zu spät, trotzdem blieb er stehen, zündete die Zigarette an, sog den Rauch gierig ein und ließ ihn die Lungen füllen. Er hustete, als er spürte, wie sich die alte, wohlbekannte Mischung aus kitzelnder Atemnot und Wohlbefinden im Körper ausbreitete. Er hatte vor fast einem halben Jahr aufgehört und wusste nicht mehr, zum wievielten Mal.

Und nun bot sich die Möglichkeit, das ein weiteres Mal zu tun, dachte er, während er auf den Rauch starrte, der in den Regenböen verschwand.

Der Regen war stärker geworden und peitschte in sein Gesicht. Aber er blieb stehen, rauchte weiter, starrte auf die vorbeiziehenden Regenböen, spürte, wie die Nässe unter den Hemdkragen kroch. Er spielte einen Augenblick mit dem Gedanken umzukehren, zurückzugehen, sich ins Auto zu setzen und davonzufahren. Sich zu drücken.

Dann zuckte er die Schultern, warf die Kippe auf den Weg und trat sie im Kies aus. Er ging auf die Kapelle zu, holte tief Luft, öffnete die Tür und trat ein.

Eva und die beiden Söhne saßen ganz vorn, einen knappen Meter hinter dem Sarg. Er hatte sie und Eva seit Jahren nicht mehr gesehen. Der ältere der Jungen, Erik, hatte anscheinend Lasses Körperbau geerbt. Stiernacken und breite Schultern, einen halben Kopf größer als alle, die in seiner Nähe saßen. Als er den Kopf umwandte, sah Nielsen, dass auch die Gesichtszüge die seines Vaters waren.

Auch Eva drehte den Kopf und sah ihn an. Einen Augenblick lang schien es, als würde sie ihn nicht wiedererkennen, dann nickte sie. Er nickte zurück und musterte die Frau rechts neben ihr. Das war Gisela. Sie saßen Seite an Seite.

Einen Moment blieb er in der Tür stehen, dann setzte er sich auf eine der hinteren Bänke. Er erkannte Lindståhls Rücken, während seiner Zeit bei der Polizei in Söderort war er Lasses Chef gewesen. Jetzt war er über siebzig. Neben ihm saß jemand, den er nicht zuordnen konnte, der aber wahrscheinlich ebenfalls ein alter Kollege von Lasse war.

Er zählte durch. Sieben Personen, inklusive seiner selbst. Nicht gerade eine beeindruckende Versammlung. Als hätte Lasse kaum Freunde gehabt, dachte er.

Der Priester, der kurz innegehalten hatte, als er durch die Tür getreten war, fuhr mit seiner Predigt fort. Nielsen hörte zu Anfang nur mit halbem Ohr zu, bis eine Formulierung ihn aufhorchen ließ.

»Lasse und ich . . .«

Er betrachtete die breitschultrige, etwas untersetzte Gestalt vorne am Altar, hörte nun aufmerksam zu. Nach einer Weile begriff er, dass dieser Mann und Lasse Freunde aus Kindertagen waren, beide waren hier an der Küste aufgewachsen und anscheinend während der Schulzeit und in ihrer Jugend unzertrennlich gewesen.

In seiner Erzählung ging es darum, wie sie heimlich einen alten Motorkahn ausgeliehen hatten, den auf Grund fuhren und an Land zurückschwammen, halbtot vor Erschöpfung und Kälte retteten sie sich schließlich auf eine Brücke. Dann erzählte er von einem Einbruch in einem Ferienhaus, bei dem der Besitzer sie ertappt hatte. Es war im Spätherbst und schon dunkel gewesen, und sie waren davongekommen, weil sie in den Wald hineingelaufen waren, von den wenigen Schlucken Likör und Branntwein war ihnen so schwindelig, dass sie keine Ahnung von der Gegend oder der Himmelsrichtung hatten. Sie verbrachten die Nacht im Wald, wo sie herumirrten, orientierungslos über Windbruch und Baumstümpfe stolperten, immer mehr blaue Flecken bekamen und sich zerschlagen fühlten. Und immer nüchterner wurden.

Dann schwieg er, sah sich die kleine Versammlung an und schüttelte leicht den Kopf.

»Ja, Sie fragen sich wohl, warum ich diese alten Geschichten ausgrabe, die eigentlich keine richtige Pointe haben? Außer vielleicht, dass wir nie erwischt wurden. Aber wenn Lasse und ich uns trafen, endete es meist damit, dass wir zusammensaßen und solche Erinnerungen austauschten. Es gibt noch viel mehr Beispiele als die von mir genannten, und schlimmer noch, ich muss zugeben, auch solche, die ich nicht gern mit der Allgemeinheit teilen möchte. Und wir waren beide der Meinung, dass es mit uns auf die eine oder andere Weise böser hätte enden können und dass wir wohl vor allem dem Zufall danken müssen, weil nichts Schlimmeres passiert ist. Oder der Vorsehung. Und dass wir auch etwas davon gehabt haben, menschlich gesehen. Dass uns diese Erlebnisse hoffentlich weniger selbstgefällig, weniger schnell urteilend gemacht haben und gleichzeitig weniger naiv. Charakterzüge, die einem nutzen, sowohl als Priester als auch als Polizist. Und Lasse, ja, er verkörperte wohl auf gewisse Weise viel von dem Guten, das sich aus unseren Streichen ergab, das habe ich immer gedacht.«

Er schwieg wieder, blickte kurz zur Seite, bevor er fortfuhr.

»Lasse war groß, rein körperlich. Das wissen wir alle.« Er machte eine Geste, um das anzudeuten.

»Aber nicht nur. Nicht nur äußerlich. Sein Herz war ebenso groß. Ja, das war wohl das Größte an ihm.«

Nielsen sah zum ersten Mal direkt auf den Sarg, bisher hatte er das vermieden. Ja, Lasse war groß gewesen. Es war schwer, sich vorzustellen, dass sein Körper in diesem weißen Sarg da vorne lag, dass er dort überhaupt Platz fand. Es war noch schwerer, ihn sich tot vorzustellen. Es gelang ihm einfach nicht.

Danach trugen sie den Sarg aus der Kapelle zum Auto, das während der Zeremonie vorgefahren war. Die Söhne am Kopfende, Nielsen in der Mitte zusammen mit dem Priester, die beiden alten Kollegen hinten. Als sie den Sarg ins Auto geschoben hatten, hielt er einen Augenblick inne, die Hände auf dem glatten Holz. Dann war er gezwungen, sich zu bewegen, da der Fahrer die Türen schloss. Er drehte sich um und stand direkt vor Lindståhl, der ihn aufmerksam musterte.

»Ein guter Junge«, sagte er nachdrücklich und nickte, als wollte er das bestätigen.

Nielsen nickte ebenfalls, ein bisschen überrascht.

»Ja, sicher. Das war er. Das kann man sagen.«

Der alte Polizeichef betrachtete ihn weiterhin, fast auffordernd, und Nielsen wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich müde. Leer, ausgelaugt. Er hatte keine Lust, ein paar mechanische Sätze über Lasses Qualitäten oder die Leere, die er hinterließ, zu stottern, und hatte ebenfalls keine Lust, Anekdoten über ihn zu erzählen. Keine Lust, überhaupt irgendwas zu sagen, mit jemandem zu sprechen.

Eva winkte ihm zu, er verließ Lindståhl mit einem kurzen Nicken und ging zu ihr.

»Wir essen im Svanberga«, sagte sie. »Nur wir. Die nächsten Angehörigen.«

Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der Söhne und, nach einem fast unmerklichen Zögern, in Richtung von Gisela.

»Kennst du den Weg?«, fuhr sie fort. »Sonst kannst du hinter uns herfahren.«

Er nickte ein wenig geistesabwesend und sah sie an.

»Wird er hier beerdigt?«, fragte er.

»Ja«, antwortete sie. »Das Grab seiner Eltern liegt hier. Und hier draußen ist es ja auch schöner. Naja, jetzt nicht, bei diesem Wetter, aber im Sommer. Wir setzen die Urne irgendwann nächste Woche bei . . .«

Sie schwieg.

»Er hat immer gesagt, dass er will, dass seine Asche irgendwo weiter draußen in den Schären verstreut wird«, sagte Nielsen nach einer Weile. »Am liebsten bei Sturm.«

Eva sah ihn an.

»So was sagt man«, entgegnete sie kurz, »wenn man nicht daran denkt, dass man sterben wird, oder nicht?«

Sie schüttelte mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf.

»Ich möchte einen Ort haben, an den die Jungs, wenn sie das möchten, gehen können, um sich an ihn zu erinnern. Sie haben ihn in den letzten Jahren ja nicht so oft gesehen.«

Nielsen starrte dem Auto hinterher, das sich langsam entfernte, auf die Landstraße bog und beschleunigte.

»Es waren nicht viele hier«, sagte er. »Ich hätte gedacht, dass die Kirche mehr oder weniger voll sein würde.«

Eva sah ihn rasch an.

»So wollte er es eben haben. Nur die nächsten Angehörigen. Keine Umstände. Keine Anzeigen. Das weißt du wahrscheinlich?«

Nielsen zuckte mit den Schultern.

»Ja, vielleicht«, sagte er.

Eva stand einen Augenblick schweigend da.

»Er wollte es so«, wiederholte sie knapp.

Sie drehte sich um.

»Wir sehen uns dort«, sagte sie und ging zum Auto, wo die Söhne warteten.

Nielsen sah ihr nach. Sicher hatte sie Recht. Lasse hatte nie viel für Zeremonien übrig gehabt. Gleichzeitig wurde er den Verdacht nicht los, dass es eine Art war, es ihm heimzuzahlen, für alte Kränkungen, alte Enttäuschungen. Und er fragte sich, warum Gisela es offensichtlich Eva überlassen hatte, die Beerdigung zu organisieren. Hatte sie trotz all der Jahre, die vergangen waren, ein schlechtes Gewissen?

Er wartete, bis die Autos vom Parkplatz und auf die Landstraße gefahren waren. Dann ging er mit seinem leicht schaukelnden Gang zu dem weiter unten gelegenen Parkplatz.

Es regnete nicht mehr, klarte schnell auf. Er verfolgte mit den Augen ein paar zerrissene, große Wolkenstücke, die rasend schnell über den fast farblosen Himmel jagten.

Er war nicht ins Restaurant, sondern stattdessen an die Küste gefahren, nach Väddö. Er war langsam durch kleine Straßen gefahren, durch winterleere Ferienregionen, bis er am Strand angekommen war. Er hielt an, stieg aus und betrachtete die schwere, stahlgraue See. Das monotone Schauspiel der Wellen, das unterbrochen wurde, wieder begann, erneut unterbrochen wurde. Er war stehen geblieben, bis die Feuchtigkeit ihm die Kleider an den Körper klebte, dann war er zum Auto zurückgekehrt. Er war durch den stärker werdenden Regen zurückgefahren, hinter der Älmstabrücke war er nach Norden, Richtung Östhammar, abgebogen. Dann war er wieder abgebogen, fuhr durch Gimo und Harg, kehrte zurück zum Ausgangspunkt.

Jetzt stand er auf einem Rastplatz einen knappen Kilometer von der Kirche entfernt, würde er um die nächste Kurve biegen, sähe er sie wieder. Der Ort lag direkt hinter ihm. Lasses Heimatort. Von dem er nie viel erzählt hatte. Und die Ereignisse, von denen der Priester und Freund aus Kindertagen erzählt hatte, hatte er überhaupt nie erwähnt, dachte Nielsen.

Er blieb eine Weile. Jetzt wurde es rasch dämmrig, der Waldrand auf der anderen Seite des Feldes war kaum noch zu erkennen. Schließlich fuhr er los, sah, wie die Scheinwerfer kurz das dunkle Feld beleuchteten, bevor er die Straße erreichte und Gas gab.

Es war Gisela gewesen, die ihn angerufen und es ihm erzählt hatte. Sofort als er ihre Stimme hörte, wusste er, dass etwas nicht in Ordnung war.

»Es ist . . . Lasse . . . er . . .«

Dann schwieg sie, und er wartete.

»Er ist tot!«, brach es aus ihr heraus.

Er erstarrte und hörte, wie sie das nach einer Pause laut hinausschrie.

»Er ist tot, zum Teufel! Begreifst du das nicht! Er ist tot!«

Er schnappte nach Luft. Fühlte sich schwindelig, musste sich an der Wand abstützen.

»Erzähl, was geschehen ist«, sagte er heiser.

Es war am Abend vorher passiert. Gisela hatte ihn auf dem Boden im Wohnzimmer gefunden, als sie nach Hause gekommen war. Er zeigte keine Lebenszeichen, aber sie war noch zu ihm gestürzt und hatte es mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage versucht, hatte weitergemacht, bis der Krankenwagen eingetroffen war.

»Ich wusste ja«, sagte sie schluchzend, »dass es sinnlos war. Er war so kalt. Steif. Aber ich konnte nicht aufhören. Sie mussten mich von ihm losreißen. Ich konnte es nicht begreifen. Es ist nicht zu begreifen . . .«

»Kennst du die Ursache?«, unterbrach er sie.

»Das Herz. Herzinfarkt.«

»Du hast vorher nichts an ihm bemerkt?«

»Nein! Glaubst du nicht, dass ich in dem Fall etwas unternommen hätte?«

»Das war kein Vorwurf«, sagte Nielsen, »nur eine Frage.«

»Er war genau wie immer! Es gab nichts Ungewöhnliches. Und es muss plötzlich gekommen sein. Er lag mitten auf dem Fußboden, als wäre er dort niedergesunken . . .«

Er hörte, wie sie wieder regelmäßiger atmete.

»Was soll ich tun? Was soll ich nur tun!«

»Hast du mit Eva gesprochen?«, fragte er.

Sie holte tief Luft.

»Das kann ich doch nicht!«

Es war ein verzweifeltes Klagen.

»Ich kann es einfach nicht! Das musst du doch begreifen!«

»Ich glaube trotzdem, dass du es ihr erzählen solltest«, sagte Nielsen nach einer Weile.

Sie schwieg lange. Ihre Stimme bebte, war aber kontrolliert, als sie wieder sprach.

»Du hast natürlich Recht. Ich werde mit ihr reden. Ich muss es tun, niemand sonst.«

Lasse Henning und Eva waren seit fünfzehn Jahren verheiratet gewesen, als er Gisela traf. Die Scheidung war eine schlimme Geschichte gewesen, genau wie die Zeit danach. Und obwohl seitdem zehn Jahre vergangen waren, war es nicht zu etwas Ähnlichem wie einer Versöhnung zwischen Lasse und Eva gekommen. Gisela und Eva hatten eigentlich nie miteinander gesprochen.

Jetzt war es richtig dunkel. Die Scheinwerfer beleuchteten den nassen Asphalt. Er war auf die Autobahn gefahren, warf einen Blick auf die Überholspur und sah ein Auto nach dem anderen vorbeirasen. Trotz der Dunkelheit und des Regens sehr schnell. Mit minimalem Abstand. Nicht, dass es ihm zustand, das zu kritisieren, dachte er und erinnerte sich an Wahnsinnsfahrten, die er selbst gemacht hatte, auf dieser Strecke und vielen anderen. Kaum ein Tugendheld im Straßenverkehr. Oder auch sonst. Aber das war damals, zu einer anderen Zeit, vor zwanzig Jahren. Während der Zeit, als er und Lasse sich kennen gelernt hatten. Auch er war damals ein anderer gewesen.

Die Ausfahrt nach Märsta und Sigtuna tauchte auf, er blinkte und bog ab. Einen Augenblick lang erschien Lasses Gesicht auf der Netzhaut, das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, war vor über einem Monat. Die müden Falten im runden Gesicht, die leicht geschwollenen Augen. Eigentlich hätte das, was geschehen war, für niemanden völlig überraschend kommen dürfen. Ein Schock, aber keine Überraschung. Lasse war über fünfzig, wog zu viel, hatte zu viel Stress, bewegte sich zu wenig. Sein Blutdruck war zu hoch, und das ging schon lange so. Zu sagen, dass er sich in einer Gefahrenzone befand, war keine Übertreibung, eher umgekehrt.

Nielsen starrte in die Dunkelheit. Keine Überraschung. Und ihm wurde klar, dass es auch nicht sein erstes Gefühl gewesen war, bei der Nachricht von Lasses Tod. Er hatte sich eher reingelegt gefühlt. Wie wenn jemand plötzlich verschwindet, ohne Bescheid zu sagen oder eine Nachricht zu hinterlassen. Reingelegt und enttäuscht. Und verlassen.

Sie ging direkt durch die Haupthalle zur Vasagatan hinaus. Ungefähr zwanzig Meter entfernt bremste ein Bus an der Haltestelle, und sie ging schneller. Lief an dem Springbrunnen vorbei, an dem ein erschöpftes Paar in den Vierzigern stand und einander anschrie. Alte Fixer, dachte sie. High oder betrunken oder beides.

»Ja, was zum Teufel . . . Bist du das? Komm her und rede! Ja, hörst du denn nicht? Komm her! Was ist mit dir los? . . .«

Sie spürte einen Ruck durch den Körper gehen, gleichzeitig erhöhte sich ihr Puls. Aber sie verzog keine Miene und sah sich nicht um. Erst als sie an der Bushaltestelle angekommen war, warf sie einen raschen Blick über die Schulter zu den beiden am Springbrunnen. Sie standen immer noch da und brüllten sich an, bis die Frau den Mann von sich wegstieß, sich umdrehte und fortging.

Sie atmete aus. Nichts. Niemand hatte ihr hinterhergeschrien. Sie hatte sich das eingebildet, sich verhört. Durch die Erleichterung fühlte sie sich im ganzen Körper schwach. Ihre Beine zitterten, als sie in den Bus einstieg.

Sie versuchte stets, Orte zu vermeiden, an denen jemand sie wiedererkennen könnte. In die Nähe des Hauptbahnhofs und des Platzes Platta wollte sie am liebsten gar nicht kommen. Nicht, weil das Risiko dort größer war, dachte sie. Eher im Gegenteil. Die Jugendlichen, die sich heute dort herumtrieben, könnten ihre Kinder sein. Aber es spielte keine Rolle, sie hielt sich trotzdem davon fern. Es wäre einfach nur dumm, dieses Risiko einzugehen.

An der Haltestelle Slussen stieg sie aus, stand fröstelnd im schneidenden Wind und wählte seine Handynummer, sie wusste nicht mehr zum wievielten Mal. Es war immer noch ausgeschaltet. Sie ließ das Telefon sinken und starrte ins Leere. Warum antwortete er nicht? Wo trieb er sich herum? Sie musste ihn erreichen. Jetzt. Sofort. Sie schloss die Augen, biss sich fest auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. Dann holte sie tief Luft, schlug die Augen auf und entschloss sich.

»Für irgendeine Art von Notsituation«, hatte er gesagt, als er ihr die Adresse gegeben hatte. »Und wenn du dich sonst nirgendwohin wenden kannst.« Sie hatte sarkastisch das Gesicht verzogen. »Was sagt denn die kleine Frau dazu, was meinst du? Wenn jemand wie ich auftaucht?« Er hatte mit den Schultern gezuckt. »Tja, du sagst es. Aber was kann sie schon tun? Außer mich umbringen.«

Sie lächelte ein wenig bei dieser Erinnerung, wurde aber schnell wieder ernst. Sie stand eine Weile unruhig vor der Tür, atmete hektisch. Von Slussen aus hatte sie einen Bus genommen, war einmal umgestiegen und das letzte Stück zu Fuß gegangen. Sie sah auf die Uhr. Ein paar Minuten nach eins. Dann ging sie vor und drückte auf die Klingel. Nichts passierte, sie wartete, drückte noch einmal, wartete wieder.

Erst beim dritten Versuch knisterte es in der Sprechanlage. Sie spürte, wie ihr Herz einen Satz machte, und lehnte sich an die Wand.

»Lasse?«, sagte sie leise.

Keine Antwort. Sie wartete noch eine Weile, mit angehaltenem Atem.

»Bist du das, Lasse? Bist du da?«

Sie machte unwillkürlich einen Schritt zurück, als das Geräusch aus dem Lautsprecher drang. Ein wahnsinniges, gebrochenes Geheul. Langgezogen, das scheinbar nie aufhören würde. Sie hielt sich die Ohren zu, drehte sich abrupt um und zwang sich loszulaufen. Am Ende der Häuserzeile bog sie nach links, kürzte über eine Grasfläche ab, fiel fast hin, als die hohen Absätze in die weiche Erde sanken, erreichte wieder eine Straße, ging zwanzig Meter, bog in die nächste Querstraße ein, ging schräg durch ein neues Wohnviertel.

So ging sie weiter, im Zickzack voran, Straße für Straße. Sie ging jetzt ruhiger, versuchte unbekümmert zu wirken. Ab und zu warf sie einen Blick über die Schulter, sah aber niemanden. Sie dachte wieder an den Schrei. Angsterfüllt und gleichzeitig wütend.

Sie blieb stehen, schloss die Augen, biss die Zähne zusammen. Zwang sich, ruhig zu werden, die Panik, die in ihr aufwallte, zu ersticken. Aber es war etwas passiert, das wusste sie. Etwas Furchtbares.

Es war ein älteres Paar, das die Leiche entdeckte. Die beiden waren auf der Regionalstraße 280 in Richtung Edsbro gefahren und hatten nach einem Platz gesucht, wo sie eine Pause machen und Kaffee trinken konnten. Sie waren auf einen kleinen Waldweg abgebogen, der jedoch nur zu einem Müllplatz eineinhalb Kilometer im Wald führte. Alte Kühlschränke, Fernsehgeräte, Kanister mit Öl, Bauschutt, Metallschrott und Haushaltsmüll, alles durcheinander. Der Mann stieg aus, betrachtete die Müllhalde und wollte gerade wieder ins Auto steigen, als er etwas sah, das ihn stutzen ließ.

Zunächst wollte er seinen Augen nicht trauen. Dann verließ er den Wagen und ging langsam ein paar Schritte näher, blieb abrupt stehen, schlug die Hand vor den Mund und machte einen Schritt zurück.

»Ruf die Polizei!«, stieß er hervor, eilte zum Auto und sank leichenblass auf dem Fahrersitz zusammen.

»Da liegt jemand . . . jemand ist dort . . .«

Ihm versagte die Stimme, und er nickte in Richtung Müllplatz. Die Ehefrau starrte in die Richtung, in die er zeigte, stieg aus, um besser zu sehen, machte auf dem Absatz kehrt, dann holte sie das Handy aus der Handtasche.

Anschließend fuhren sie wieder auf die Regionalstraße und warteten dort. Am Straßenrand wuchs noch grünes Gras vom Vorjahr, die grünen Flecken würden sich rasch ausbreiten und weiterwachsen. Sie saßen schweigend da. Die Hände des Mannes auf dem Lenkrad zitterten, als fröre er.

Es war schon Nachmittag, als Leif Ahrén und Rydalen von der Kriminalpolizei eintrafen. Sie hatten zunächst in Rimbo angehalten und dort mit den Kollegen gesprochen, bevor sie sich auf den Weg zum Fundort gemacht hatten.

Ahrén hockte sich neben die nackte Leiche und betrachtete sie. Dann blickte er zum Kriminaltechniker auf, der ihr gegenüberstand.

»Sie heißen Modin? Peter? Stimmt das nicht?«

»Nordin«, antwortete der andere mit einem schiefen Lächeln. »Und Stefan. Ansonsten stimmt es.«

Aber Ahrén schien ihn kaum gehört zu haben.

»Können Sie etwas hierüber erzählen?«, fuhr er stattdessen fort.

»Ja, Sie sehen ja selbst die Kopfverletzungen«, sagte der Kriminaltechniker. »Wir können wohl annehmen, dass sie die Todesursache sind.«

Er nickte in Richtung des Kopfes des Opfers. Die Gesichtszüge waren aufgrund der Verletzungen fast völlig unkenntlich.

Ahrén saß eine Weile schweigend da und musterte die Leiche.

»Was glauben Sie? Wurde er woanders erschlagen und dann hierhergebracht?«, fragte er.

Der Kollege von der Spurensicherung schüttelte den Kopf.

»Das habe ich am Anfang angenommen, aber es scheint nicht so zu sein. Vieles deutet darauf hin, dass das hier tatsächlich der Tatort ist. Wir glauben nämlich, dass wir die Waffe gefunden haben. Oder wie man das nun nennen soll. Diesen Betonklumpen dort. Wir haben Blutspuren gesichert.«

Er zeigte auf ein Stück Beton ein paar Meter entfernt.

»Ich glaube, dass es zu dem Bauschutt gehört, den irgendjemand dort weggeworfen hat«, fuhr er fort und machte eine Kopfbewegung in die Richtung. »Jemand hat ihn hierhergeschleppt und auf ihn eingeschlagen, als er am Boden lag. Jedenfalls denke ich, dass das wahrscheinliche Szenario so aussieht. Dann haben sie die Leiche ein paar Meter fortgeschleift und Müll darüber gekippt, in dem Versuch, sie zu verstecken. Aber das haben sie nicht besonders gut hingekriegt. Kopf und Oberkörper liegen frei. Vielleicht waren sie schlampig oder irgendein Tier war hier und hat an ihm gerissen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Die Alten, die ihn gefunden haben, haben einen ganz schönen Schreck bekommen.«

Ahrén hockte immer noch da.

»Er ist nackt«, sagte er.

»Ja, aber er scheint nicht misshandelt worden zu sein, falls Sie daran denken. Und auch nicht verstümmelt. Das sehen Sie ja selbst.«

Der Kriminaltechniker deutete wieder auf die Leiche.

»Obwohl er gefesselt gewesen ist«, fuhr er fort. »Das können Sie auch sehen, an den Spuren an seinen Handgelenken und seinen Knöcheln.«

»Was meinen Sie, wie lange hat er hier gelegen?«

Der Andere machte eine Handbewegung.

»Ein bis zwei Wochen, würde ich sagen. Aber es war in letzter Zeit kalt, und das wirkt sich sicherlich auch aus. Es kann also auch länger sein, aber nicht viel.«

Ahrén richtete sich auf, blieb stehen und betrachtete immer noch die Leiche.

»Er ist fast noch ein Kind«, sagte er nach einer Weile und schüttelte den Kopf. »Zwanzig, zweiundzwanzig?«

Der Kriminaltechniker nickte.

»Ja, so ungefähr.«

Ahrén warf Rydalen einen Blick zu, der etwas weiter entfernt stand.

»Na, was hältst du davon, Knut?«

Rydalen wandte ihm sein hageres Gesicht zu.

»Nichts«, antwortete er. »Noch.«

Ahrén nickte.

»Also, ungefähr so viel wie ich.«

Nielsen sah auf die Uhr. Vier. Die Schmerzen in der Hüfte und das linke Bein hinab weckten ihn immer früher. Eine Weile blieb er noch liegen, vor allem aus Sturheit, dann setzte er sich auf, verließ das Bett, drehte hüpfend ein paar Runden im Zimmer. Meistens half das für den Augenblick, die Schmerzen ließen nach, und er konnte noch eine Stunde schlafen. Aber dieses Mal nicht. Der Schmerz führte ein Eigenleben, kroch nach unten, sandte schreiende Signale von Nervenbahnen aus, die es nicht mehr gab.

Er setzte sich auf den Fußboden. Dehnte, massierte und begann, das Trainingsprogramm durchzugehen, das ihm sein letzter Krankengymnast zusammengestellt hatte. Das Programm war für ungefähr zwanzig Minuten gedacht, aber er hatte es bereits geschafft, die Zeit auf kaum mehr als fünf Minuten zu senken. Körperliches Training war nie eine seiner großen Leidenschaften gewesen. Er stand wieder auf, hüpfte in die Dusche. Stand eine Viertelstunde dort, bis er wieder ins Schlafzimmer ging, die Prothese nahm, sie befestigte und sich anzog. Die Zeitung war gekommen, er nahm sie und ging in die Küche. Er sah hinein, während der Kaffee kochte.

Draußen wurde es schon hell. Frostiges Weiß lag auf der Erde zwischen den fünfstöckigen Häusern, der Himmel darüber blassblau. Er hob den Blick zu einem Flugzeugrumpf, der dort oben aufblitzte. Wie immer vermittelte ihm der Anblick das Gefühl, dass er eigentlich irgendwohin unterwegs sein sollte, etwas tun sollte, ja, dass er etwas versäumt hatte . . .

Als das Telefon klingelte und die wohlbekannte Nummer auftauchte, reagierte er zuerst mit dem Rückenmark, wartete für einen Sekundenbruchteil darauf, Lasses Stimme zu hören, als er den Hörer abhob.

»Ich muss mit dir reden«, sagte Gisela. »Wir müssen uns treffen.«

Es war bereits zehn Uhr, als er klingelte, ihm geöffnet wurde und er ihr in die Wohnung folgte. Die Luft darin war stickig. Ein unverkennbarer Geruch von altem Müll drang aus der Küche. Er blieb einen Augenblick stehen, dann ging er zur Terrassentür und machte sie auf. Er ging an Gisela vorbei in die Küche, zur Spüle und kümmerte sich um Berge ungespülten Geschirrs. Spülte es ab und stellte es in die Spülmaschine.

Gisela war ihm gefolgt und schaute ihn eine Weile an.

»Was machst du da eigentlich?«, sagte sie, ihre Stimme klang plötzlich wütend.

Er ordnete schweigend das Geschirr in die Maschine.

»Versuchst du irgendwie, tüchtig zu sein?«

Er wandte den Kopf, sah sie an.

»Das steht hier, seit Lasse gestorben ist, oder? Und du warst seit der Beerdigung auch nicht mehr vor der Tür, nehme ich an?«

Sie starrte ihn an, dann zuckte sie mit den Schultern.

»Ich musste nachdenken, allein sein. Ich musste versuchen, das hier zu begreifen, was passiert ist. Ist das so seltsam?«

»Und du hast hier drin geschlafen?«, fuhr er fort und nickte in Richtung des Zimmers zwischen Wohnzimmer und Küche.

Durch die halb offene Tür sah er eine Matratze und verstreute Bettwäsche.

Gisela sagte nichts und nickte nur.

»Ja. Ich konnte einfach nicht da oben bleiben. Im Bett schlafen. Das ging einfach nicht . . .«

Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der oberen Etage, wo sich das Schlafzimmer befand.

»Ich konnte auch kaum hier unten bleiben«, fuhr sie fort. »Nicht in der Wohnung. Ich habe ihn die ganze Zeit gesehen. Dachte immer nur daran, wie er dort gelegen hat, als ich nach Hause kam. Und wie kalt er war . . .«

Sie schlang die Arme um den Brustkorb, atmete ein paar Mal tief ein.

»Ich habe eine Matratze runtergetragen. Habe mich da drinnen eingerichtet. Im Arbeitszimmer. Ich habe auch den Fernseher dahin geschleppt. Ich weiß nicht, wie lange ich darauf gestarrt habe. Das war wohl das Einzige, was ich gemacht habe. Ich habe kaum mit jemandem gesprochen. Bin nicht ans Telefon gegangen.«

Sie schwieg wieder.

»Hier sieht es schrecklich aus, ich weiß«, fuhr sie fort. »In der Küche. Ja, in der ganzen Wohnung.«

Nielsen stellte die letzten Teller hinein und richtete sich auf.

»Ich habe schon Schlimmeres gesehen.«

Er blickte ins Leere, dachte daran, wie er nach einer unbestimmten Zeit aufgewacht und gezwungen war, sich durch Berge von Müll und Leergut zu kämpfen, die Spüle war unter all dem Geschirr gar nicht mehr zu sehen gewesen. Das lag zwar schon eine Weile zurück, aber er hatte es nicht vergessen.

»Hast du es deswegen Eva überlassen, sich um die Beerdigung zu kümmern? Weil du es nicht geschafft hast? Du hättest mich fragen können . . .«

Aber sie schüttelte den Kopf und unterbrach ihn.

»Es war nicht nur deswegen. Ich dachte auch an die Jungs. Dass es sich für sie sicher besser anfühlen würde, wenn Eva alles entschied.«

Sie machte ein paar Schritte zur Seite.

»Du musst dir keine Sorgen machen. Ich komme schon klar. Am Montag gehe ich wieder zur Arbeit. Danach muss ich sehen, wie ich alles regeln werde. Ob ich überhaupt hier wohnen bleibe . . .«

Sie begann zu nuscheln.

»Aber ich habe dich nicht angerufen, weil ich Gesellschaft brauche oder Hilfe beim Spülen. Es gibt da ein paar Sachen, die ich dich fragen wollte.«

Einen Augenblick lang starrte sie vor sich.

»Erinnerst du dich daran, dass du gefragt hast, ob mir vorher irgendetwas an Lasse aufgefallen war? Und ich habe gesagt, dass er genau wie immer gewesen ist? Das stimmte nicht, selbst wenn er nicht direkt krank gewirkt hat. Aber er war auch nicht so wie sonst, seit einem Monat. Er stand irgendwie unter Druck. Er hat nie etwas davon erzählt. Aber ich habe es natürlich gespürt. Es war einfach so, dass irgendetwas nicht stimmte.«

Sie verzog das Gesicht.

»Und später . . . Ja, da habe ich mir Vorwürfe gemacht, habe mich schuldig gefühlt. Dachte, dass ich etwas hätte tun sollen, etwas hätte sagen sollen, ihn wenigstens dazu hätte bringen sollen, sich untersuchen zu lassen. Bin das so oft durchgegangen, bis ich fast verrückt geworden bin. Schließlich habe ich seinen direkten Vorgesetzten angerufen und ihn nach Lasse gefragt. Ja, ich wollte einfach, dass er mir sagt, dass er ihm nichts angemerkt hat, dass alles normal schien, dass er mich sozusagen freisprechen sollte . . .«

Sie holte tief Luft, sah Nielsen direkt an.

»Was er gesagt hat, war, dass Lasse die Wochen vor seinem Tod gar nicht richtig bei der Arbeit gewesen ist, nur sporadisch. Zuerst hatte er ein paar Tage frei genommen und Überstunden abgefeiert. Dann ist er nicht mehr zurückgekommen, hat gesagt, dass er noch eine Woche Ferien brauchte, für Familienangelegenheiten.«

Gisela verstummte.

»Ich wusste nicht, was ich sagen sollte oder tun. Ich habe angefangen, seine Sachen zu durchsuchen. Ja, ich habe mich wie eine hysterische, blöde Kuh gefühlt, aber ich musste etwas tun! Versuchen, eine Erklärung zu finden, sonst wäre ich wahnsinnig geworden. Ich habe seine Schubladen durchsucht, seine Kleider. Alles. Und dann habe ich sein Handy abgehört.«

Sie ging zum Küchentisch, holte das Handy, das dort lag, und gab es Nielsen.

»Hier. Hör dir die Nachrichten an.«

Er nahm es und blätterte bis zur Mailbox. Fünf Nachrichten, alle von derselben Person, einer Frau. Die ersten drei waren nur kurze Aufforderungen, sich zu melden, während die späteren eindringlicher waren. Die letzte klang wie ein Notruf. »Lasse, wir müssen reden! Jetzt sofort. Wo zum Teufel bist du?«

Er schaute auf die Zeit. Alle waren nach Lasses Tod eingegangen.

»Und das hier befand sich in der Innentasche seines Jacketts.«

Gisela hob ein Foto auf, das ebenfalls auf dem Küchentisch lag. Nielsen nahm es und betrachtete es. Darauf sah man Lasse und eine Frau, die sich umarmten. Aber ein junger Lasse Henning, zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Die Frau war noch jünger, fast ein Teenager. Er drehte das Foto um, las den Text auf der Rückseite. »Für den süßesten Bullen der Welt! Von Chrissy.«

Gisela sah ihn forschend an.

»Du hast Lasse von allen am besten gekannt, glaube ich. Und ihr habt euch lange gekannt. Ich dachte, dass du wissen müsstest, wer sie ist.«

Nielsen sah sich das Foto noch eine Weile an, dann schüttelte er den Kopf.

»Ich erkenne sie nicht wieder. Und es ist ein altes Bild. Es muss zwanzig Jahre her sein, als es gemacht wurde.«

Gisela schwieg, die Augen halb geschlossen.

»Gestern beim Mittagessen«, sagte sie schließlich, »da klingelte es an der Tür. Ich wollte zuerst nicht antworten. Aber dann habe ich es doch getan. Jemand fragte nach Lasse. Eine Frau . . .«

Sie schloss die Augen.

»Ich habe nur geschrien. Einfach so. Ich konnte nicht anders. Ich stand da und schrie wie eine Verrückte. Habe nicht geöffnet. Habe nicht nachgesehen, wer es war.«

Sie schwieg.

»Und du glaubst, es war dieselbe Frau?«, sagte Nielsen nach einer Weile. »Diejenige, die die Nachrichten hinterlassen hat? Und die auf dem Foto?«

»Ja, warum nicht? Oder sollte das alles nur ein Zufall sein, meinst du?«

Nielsen zuckte mit den Schultern.

»Es gibt wahrscheinlich eine ganz einfache Erklärung. Das ist meistens so.«

Gisela ging ans Fenster, blieb dort stehen und sah hinaus.

»Vielleicht kannst du hierfür auch eine ganz einfache Erklärung finden?«, sagte sie nachdem sie einen Augenblick lang geschwiegen hatte. »Nach dem Klingeln bin ich zu unserer Nachbarin von gegenüber gegangen. Eine alte Dame, fast achtzig. Sie achtet immer darauf, was im Haus passiert. Und sie steht wohl am Spion, sobald jemand das Haus betritt, nehme ich an. Ich wollte fragen, ob sie etwas weiß. Ob Lasse tagsüber hier Besuch gehabt hatte . . . was ich eigentlich wissen wollte, war natürlich, ob eine Frau hier gewesen ist . . .«

Sie seufzte.