TOD IN DER HÖHLE - Francisco J. Jacob - E-Book

TOD IN DER HÖHLE E-Book

Francisco J. Jacob

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

OFT IST ES BLOßE GIER, DIE DEN MENSCHEN ZUM MÖRDER WERDEN LÄSST Dies muss der Privatier Diego Lesemann bei der gemeinsamen Aufklärung eines Falles mit Comisario Fernando de Vega feststellen. Es geht um vier Todesopfer an der Costa Verde, der grünen Küste Nordspaniens ... Diego Lesemann reist mit seiner Frau Hellen nach Asturien, weil er in seiner wunderschönen Kindheitsheimat ehemalige Schulfreunde aufspüren will. In einer prähistorischen Höhle entdeckt er zwei Leichen und wird daraufhin in einen komplexen Kriminalfall verstrickt. Comisario de Vega, der sich als einstiger Schulfreund entpuppt, kann den vertrackten Fall nur noch mit der Hilfe Lesemanns lösen.

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Seitenzahl: 323

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FRANCISCO J. JACOB

TOD IN DER HÖHLE

Roman

Foto: Manuel Jacob

Francisco J. Jacob ist in Spanien geboren. Der Diplomingenieur war für langer Zeit in der Automobilindustrie leitend tätig. Nach insgesamt vierzig Jahren Technik zog er sich aus dieser Branche zurück.

Mit dem Erstlingswerk ›TOD IN DER HÖHLE‹ folgt er jetzt seiner Leidenschaft Bücher zu schreiben. Er liebt es, sich komplexe Kriminalgeschichten auszudenken, die unverwechselbar mit Spannung, Humor und mit viel Lokalkolorit versehen sind.

Francisco J. Jacob lebt mit seiner Familie in München.

Entdecken Sie

FRANCISCO J. JACOB

im Internet

Website:

www.franciscojjacob.com

Facebook:

www.facebook.com/franciscoj.jacob.Autor

3. überarbeitete Auflage

Taschenbuchausgabe Oktober 2019

© Copyright der Originalausgabe 2016 Francisco J. Jacob

Umschlaggestaltung: Manuel Jacob www.manueljacob.net

Druck und Verlag: epubli

[email protected]

ISBN 978-3-7418-1870-7

Für meine Familie

Vor ewig langer Zeit verließ ich mein Geburtsland. Mit den Jahren wuchs die Sehnsucht nach der Heimat meiner Kindheit. Ein brennendes Bedürfnis ließ mich nach vier Jahrzehnten zurückkehren - zurück in die nordspanische Kleinstadt Ribadés, welche zwischen dem Kantabrischen Gebirge und dem Atlantischen Ozean eingebettet liegt.

Ich lade Sie ein, auf eine malerische sowie faszinierende Reise in meine Vergangenheit an die Costa Verde. Dort, wo ich einige meiner einstigen Schulfreunde finden und mit ihnen Wiedersehen feiern konnte, hatten wir gesellige Erlebnisse. Als ich unverhofft in einen komplexen Mordfall verstrickt wurde, begann es aufregend zu werden.

Seien Sie gespannt auf die eindrucksvolle Umgebung, in der ermittelt wird, auf die regionalen Bräuche Asturiens und auf etwas Spanisch, das humorvoll aufgenommen werden sollte.

Diego Lesemann

1

Die Ankunft

Nicht eine einzige Wolke trübte die klare, weit reichende Sicht. In der Ferne war zu sehen, wie Teile des Atlantischen Ozeans am Golfo de Vizcaya, beziehungsweise am Mar Cantábrico - wie die See an der Nordküste Spaniens genannt wird - schäumend an der Küste verenden.

Zutiefst genoss ich den Augenblick, der allmählich an mir vorüberzog. Es war einer dieser Momente, bei denen man in Spanien sagt ›La vida se vive en momentos‹, was übersetzt so viel bedeutet wie ›Das Leben lebt man durch die Augenblicke‹, oder besser ›Den Moment erleben‹.

Die Wellen schlugen entschlossen gegen die schroffen Felsen und bildeten diesen weißen Schaum, der sich überallhin verteilte, um sich letzten Endes wieder aufzulösen. Ich sah den idyllischen Strand mit lang gestreckten Sandflächen. Urplötzlich, mittendrin, standen einzelne Felsen unterschiedlicher Größe, welche wohltuenden Schatten spendeten. Vereinzelt waren bunte Sonnenschirme sowie Badetücher platziert, die dem romantischen Naturbild farbige Tupfer verliehen. Landeinwärts folgten saftige Wiesen, reife Felder und begrünte Hügel. Derart erlebte ich wieder die Costa Verde, die Grüne Küste Spaniens.

Im Hintergrund erschienen gleichzeitig die Berge. Davor erhob sich allmählich die große Stadt, die von einem Fluss geteilt wird, der sich nach Norden fließend ins Meer ergießt. Dort lagen die Fähren vor Anker, die in Richtung Portsmouth in England fuhren. Und letztlich sah ich das Glitzern der silbernen Fassaden und Dächer, die vom Sonnenlicht angestrahlt wurden - das war das Guggenheim-Museum, das war Bilbao.

Zehn Jahre war es her, seit unserer letzten Reise nach Spanien. Gemeinsam mit unseren Kindern hatte es uns in den Süden geführt.

Zweiundfünfzig Jahre waren jedoch vergangen, seitdem ich in Gijón geboren war. Und vor vierzig Jahren siedelte ich mit meiner Familie nach Deutschland um.

Ein krachendes Geräusch holte mich aus meinem Tagtraum heraus. Das Fahrwerk des Flugzeugs war ausgefahren worden. Wir setzten zur Landung an.

Während ich weiterhin die Sicht aus dem Kabinenfenster genoss, drückte mir Hellen zärtlich die Hand. Sie saß entspannt neben mir und hatte ihre Augen noch vom Schlaf geschlossen.

»Sind wir schon da?«, fragte sie etwas benommen.

»Wir werden gleich in Bilbao landen.«

»Freust du dich, nach dieser langen Zeit wieder nach Ribadés zu kommen?«

»Oh ja!«, sagte ich voller Überzeugung.

Nach vierzig Jahren wieder in die Kleinstadt zu reisen, in der ich meine Kindheit bis zum zwölften Lebensjahr verbracht hatte, war mehr als aufregend für mich. Ja, ich freute mich. Diese Reise hatte im Grunde Jubiläumscharakter. Vierzig Jahre! Es war allerhöchste Zeit! Bei dieser Gelegenheit wollte ich einige meiner ehemaligen Schulkameraden suchen. Der eine oder andere müsste doch noch in Ribadés wohnen.

»Wann werden wir in Ribadés ankommen?«, fragte Hellen.

»Ich schätze in zwei bis drei Stunden. Es kommt darauf an, wie lang die Schlangen sind.«

»Welche Schlangen?«, fragte sie überrascht.

»Du weißt schon, die vor der Passkontrolle, vor der Gepäckabholung und vor dem Counter der Leihwagenfirma.«

Hellen nickte gelassen, drückte sich sanft an mich und schaute mit mir aus dem Kabinenfenster.

Ebenso war ich daran interessiert zu erfahren, was aus den ehemaligen Schulfreunden geworden war. Ob sie sich verändert hatten? Ich wollte wissen, wie sie lebten, welche Berufe sie ergriffen hatten, ob sie verheiratet waren, und wenn ja, mit wem. Es hing sicher mit dem Alter zusammen, dass mich das nun interessierte, denn früher hatte es das überhaupt nicht. Früher hatte ich wegen der 70-Stunden-Wochen schlicht keine Zeit dazu gehabt.

»Ich hoffe, dass du einige deiner ehemaligen Schulfreunde findest. Ich würde sie gerne kennenlernen«, sagte Hellen liebevoll.

»Wir gehen am besten ins Rathaus. Im Einwohnermeldeamt kann man uns mit Bestimmtheit weiterhelfen.«

»Hast du irgendwelche Namen?«

»Ja, sicher! An zwei kann ich mich noch gut erinnern und die anderen werden sich daraus ergeben. Nach dem Motto ›Einer kennt den anderen‹ und so weiter«, erklärte ich.

Hellen ist meine Ehefrau. Wir haben oft gemeinsame Reisen unternommen und dabei viel Spannendes und Interessantes erlebt. Bei dieser Reise aber stand ein gewisses Vorhaben im Mittelpunkt: Ich wollte in meine Vergangenheit Reisen und alte Erinnerungen aufleben lassen. Hellen hoffte wiederum, etwas Bemerkenswertes zu entdecken, um es zu fotografieren, da sie eine ausgebildete und leidenschaftliche Fotografin ist.

Hellen ist mittelgroß, sehr attraktiv, hat kurzes, braunes Haar, ist klug, sympathisch und in meinem Alter. Sie liebt genau wie ich eine modische Eleganz, die für sie von jeher ganz natürlich war. Und sie treibt gern Sport. Sich um die Familie zu kümmern, liebt sie allerdings am meisten.

Das Flugzeug landete, wir stiegen aus und bereits nach kurzer Zeit standen wir in der ersten Schlange, vor der Passkontrolle. Vor uns stand eine kleine, ganz in Schwarz gekleidete, in etwa siebzig Jahre alte Frau, die zitternd ihre Dokumente in der Hand hielt. Hellen und ich waren im Gespräch vertieft, als jemand laut durch die Halle schrie.

»¡Alto!« (Halt!)

Überrascht drehten wir uns alle in die Richtung, aus der die Stimme kam. Zwei Polizisten der Guardia Civil, der spanischen paramilitärischen Polizei, verfolgten einen Mann mit einen Rucksack in der Hand. Sie rannten quer durch das Gebäude.

»Stehenbleiben!«, schrie erbost einer der Beamten wiederholt.

Am Ende der Halle kamen zwei weitere Polizisten dazu. So wurde der Flüchtende gestellt. Einer der Beamten keuchte fürchterlich und fluchte laut, bevor er den Delinquenten abführte.

Die alte Dame vor uns drehte sich prompt um und sagte nervös zu uns:

»Seguramente es uno de la ETA«, und meinte, dass es sicher einer von der ETA sei, der baskischen Untergrundorganisation.

Hellen sah mich verwundert an.

»Glauben Sie wirklich?«, fragte sie die alte Dame.

Die kleine Frau stampfte mit einem Fuß energisch auf den Boden.

»¡Naturalmente!«, sagte sie aus voller Überzeugung.

»Passiert das oft hier?«, fragte ich.

»Síííí«, erwiderte sie mit einem lang andauernden Kopfnicken und einer schrecklich ernsten Mimik.

Dann drehte sie sich prompt wieder um.

»Das fängt ja gut an!«, flüsterte Hellen leise mir zu.

»Hast du Fotos geschossen?«, fragte ich sie.

»Nein! Das ging alles so schnell«, sagte sie enttäuscht.

»Schade.«

Die Warteschlange setzte sich langsam wieder in Bewegung. Als die alte Dame vor uns zu einem freigewordenen Schalter der Passkontrolle abbog, sprach uns ein kleiner stämmiger Mann mit Baskenmütze an. Er war sicher über sechzig und hatte ein mit Falten zerfurchtes Gesicht. Mit seiner verschlissenen Cordjacke und weiten Hosen, die enormes Hochwasser aufwiesen, war er recht rustikal gekleidet.

»¡La vieja está loca!«, sagte er griesgrämig und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Die Alte spinnt! Die ETA gibt´s doch gar nicht mehr«.

»Wirklich?«, fragte ich.

»¡Naturalmente! Das war ganz bestimmt nur ein kleiner Taschendieb. Machen Sie sich da keine Sorgen.« Sagte er und winkte ab.

»Und der Rucksack?«, wollte ich wissen.

»Was ist mit dem Rucksack? Glauben Sie, da war ’ne Bombe drin?«

»Wieso nicht?«, fragte ihn Hellen beunruhigt.

Er sah sie mit seinen großen braunen Augen an, die unter den buschigen Augenbrauen hervortraten.

»’Ne Bombe kann man ja auch in eine Handtasche stecken«, sagte er aufgeregt und zeigte auf die Ihre.

Hellen und ich sahen uns an und verstanden seine Logik.

»Lass uns weitergehen«, sagte ich und zog sie an der Hand zum frei gewordenen Schalter der Passkontrolle.

Ein äußerst eitel aussehender Beamter mit Oberlippenbärtchen erwartete uns. Sitzend stützte er beide Ellbogen auf den Tisch ab und hielt einen Bleistift waagerecht zwischen beiden Händen. Den drehte er mit den Fingern einmal linksherum und einmal rechtsherum.

»Hast du gesehen, wie arrogant mich dieser Mensch bemustert hat?«, sagte ich missgelaunt zu Hellen, nachdem wir die Passkontrolle hinter uns gelassen hatten.

»Du weißt, wie ich dieses Autoritätsgetue hasse!«

»Hast du ihm das eventuell gezeigt?«

»Ja, schon möglich!«, entgegnete ich verärgert. »Wieso fragt er mich, ob ich in Gijón geboren bin? Das steht doch in meinem Pass!«

»Er hat bestimmt nicht verstanden, dass du in Spanien geboren bist, wie ein Spanier sprichst, wie ein Spanier wirkst und trotzdem einen deutschen Pass hast - und auch noch besser aussiehst als er.«

Hellen lächelte mich an und ich wusste sofort, dass meine Verärgerung völlig unnötig gewesen war.

Als Nächstes standen wir in der Schlange der Leihwagenfirma, die zum Glück nicht allzu lang war.

»Was für ein Auto wollen Sie?«, fragte uns der Herr am Schalter mit tiefer Stimme.

Der Mann war um die vierzig, hatte einen kahl rasierten Kopf und die Statur eines Wrestlers. Seine Anzugjacke spannte gehörig um den Bauch. Außerdem schwitzte er beträchtlich und atmete schwer.

»Am besten einen wie ich ihn reserviert habe«, antwortete ich respektvoll.

Ich zeigte zugleich auf die Dokumente, die ich ihm auf den Tresen gelegt hatte. Er las träge und führte seinen Zeigefinger langsam über die Zeilen. Der Schmutz unter dem Fingernagel kam dabei zur Geltung.

»¡No!«, sagte er kopfschüttelnd. »So ein Auto haben wir nicht mehr!«

»Was bieten Sie uns dann an?«

»Was wollen Sie haben?«, fragte er schwerfällig zurück.

Ich schaute Hellen an und dachte, warum solch ein einfältiger Mensch hinter dem Counter einer Leihwagenfirma stehen konnte, an dem täglich beschäftigte Leute ihre Fahrzeuge abholten und mit Sicherheit keine Zeit hatten, mit ihm Auto-Quartett zu spielen. Er mochte gewiss die Fahrzeuge hin- und herfahren oder sie volltanken. Er konnte mit Sicherheit auch einen Wagen mit leerem Tank allein an die Tankstelle schieben, aber hinter einem Counter war er definitiv fehl am Platz.

Die Antwort auf meine Fragen kam sogleich sprichwörtlich durch die Tür geschwebt. Sie war um die dreißig, schlank und sehr sympathisch. Sie trug eines dieser figurbetonten roten Kostüme, wie sie von Stewardessen getragen werden, mit einem kleinen Namensschild auf Höhe der linken Brust. Sie hieß Tamara. Sie sprach kurz mit ihrem Kollegen oder was auch immer dieser Bursche war, dann übernahm sie die Papiere.

»¡Buenos días!«, sagte sie mit charmanter Stimme. »Das Auto, das Sie gebucht haben, haben wir leider nicht mehr. Auch nichts anderes in der Klasse. Darf ich Ihnen ein Upgrade anbieten?«

Da ich von ihrem Anblick entzückt war, brauchte ich etwas Zeit zum Reagieren.

»Ja, natürlich!«, antwortete Hellen spontan, da sie meine Reaktion, besser gesagt, meine Untätigkeit bemerkt hatte.

»Selbstverständlich tragen wir die Mehrkosten«, ergänzte Tamara charmant.

»Ja …, welchen Wagen können Sie uns anbieten?«, fragte ich dann engagiert und lächelte Hellen zu.

»Wir haben einen BMW 535i Automatik mit Navigation oder einen …«

»Das ist sehr entgegenkommend von Ihnen, den nehmen wir«, unterbrach ich sie und dachte sofort an den 6-Zylinder Turbo Motor mit circa dreihundert PS.

Draußen brütete die Septemberhitze. Ich setzte meinen Panamahut auf. Wir gingen mit unserem Gepäck zur Fahrzeugabholung auf den großen Parkplatz. Da er nur teilweise überdacht war, suchten wir schnell Schutz vor der heißen Sonne.

»Die junge Dame hat aber großen Eindruck auf dich gemacht«, sagte Hellen grinsend.

»Was meinst du?«, mimte ich den Ahnungslosen.

Ich wusste, dass sie früher oder später eine derartige Bemerkung fallen lassen würde. Wir kannten uns glückliche dreißig Jahre.

»Ich meine Tamara!«

»Ach, die Dame am Counter«, sagte ich mit gleichgültiger Mine.

Liebe Güte! Der Kontrast hinter dem Ladentisch hätte wahrlich nicht auffallender sein können: Zuerst der einfältige Gorilla und dann solch ein Engel.

Die heiße Luft flimmerte wellenartig über den Asphalt. Unser Wagen wurde vorgefahren. Den Fahrer in der schwarzen Limousine erkannte ich sofort wieder.

»Das ist ja der Gorilla vom Counter«, entfuhr es mir.

»Wieso nennst du ihn Gorilla?«

»Ist mir soeben eingefallen. Komm, lass uns die Koffer einladen«, sagte ich, um das Thema zu wechseln. »Ich bin froh, wenn wir die Klimaanlage einschalten und endlich losfahren können.«

»Aber fahre bitte langsam!«, bat sie mich vorsorglich, wie immer.

»Ich werde mir Mühe geben«, erwiderte ich, wie immer.

Hellen kannte meinen Fahrstil. Als ehemaliger Diplomingenieur in der Automobilentwicklung war ich in den Genuss gekommen, diverse Fahrertrainings auf Teststrecken zu absolvieren.

Zunächst fuhren wir zum Guggenheim-Museum. Wir rollten langsam daran vorbei, um so viel wie möglich aufzusaugen. Während der Fahrt bewegten sich unsere Köpfe mit Blick zu dem imposanten Bauwerk hin und her sowie auf und ab.

»Es ist schon fantastisch, was Frank Gehry hier hingestellt hat«, sagte ich und war von dem Anblick äußerst imponiert.

Wir fuhren langsam weiter. Hinter uns fing ein Wagen an zu hupen. Im Rückspiegel sah ich den Fahrer, der wild mit den Händen gestikulierend schimpfte.

»Ja, das stimmt«, sagte Hellen unbeeindruckt von den Hupgeräuschen. »Und neben diesen genialen Architekten hat Bilbao ebenso andere Künstler für sich gewinnen können.«

»So?«

»Jaaa!«, antwortete sie. »Für das Metro-System ist Norman Foster verantwortlich.«

»Du meinst Sir Norman Foster«, bemerkte ich mit erhobenem Zeigefinger und zwinkerte ihr zu.

»Oh, selbstverständlich! Sir Norman Foster.«

»Da! Siehst du? Da ist ein Fosterito!«, sagte ich und zeigte auf den breiten Bürgersteig.

»Was ist denn das?«

»Die muschelförmigen, aus Glas bestehenden Eingänge der Metrostationen werden nach dem eben genannten Fosteritos benannt.«

Es gefiel uns, durch Bilbao zu fahren und uns über die architektonischen Perlen lustig zu unterhalten.

Wir verließen diese großartige Stadt und fuhren auf die Autovía del Cantábrico, der Autobahn, die nach Ribadés führt. Neben uns verlief die alte Landstraße in dieselbe Richtung.

»Wir sind auf dem Jakobsweg«, sagte Hellen erfreut.

»Ja, der Jakobsweg verläuft neben uns«, erklärte ich und zeigte auf die alte Landstraße. »Im Übrigen bezeichnet der Jakobsweg mehrere Pilgerwege, die aus den unterschiedlichsten Richtungen Europas kommen und allesamt nach Santiago de Compostela führen. Dieser Weg heißt El Camino de la Costa«, sagte ich und zeigte auf den Weg neben uns.

Hellen warf mir einen kritischen Blick zu.

»Vielen Dank für deinen Vortrag!«

»Nun, ich dachte …«

»Schon gut«, sagte sie. »Auf jeden Fall führt der Pilgerweg durch Ribadés!«

Sie winkte mit dem Reiseführer.

»Hast du das gewusst?«, fragte sie.

»Ja, sicher.«

Hellen holte ihre Kamera aus der Tasche und fing an Fotos zu schießen. Zur Linken lagen die Picos de Europa mit etwa zweihundert Bergen, die über zweitausend Meter hoch sind. Zur Rechten lag der weite Atlantik, in dem sich das Sonnenlicht schimmernd spiegelte.

»Hast du gewusst, dass das Kantabrische Gebirge über fünfhundert Kilometer lang ist?«, fragte mich Hellen.

»Ja.«, nickte ich ihr zu. »Eine äußerst lange Bergkette. Und in diesem Gebiet befindet sich auch der Nationalpark Picos de Europa.«

»Ich weiß«, sagte sie und winkte wieder mit dem Reiseführer.

»Diese Gegend ist auch historisch bedeutend.«

»Warum?«

»In diesem Gebirge begann um 720 nach Christus die so genannte Reconquista. Diese hat die Rückeroberung Spaniens, was überwiegend von den Mauren besetzt war, eingeleitet. Die so genannte Schlacht von Covadonga wurde von Don Pelayo angeführt, der von den Spaniern dafür zum Nationalhelden ernannt wurde. Steht das in dem Reiseführer?«

»Nein!«, sagte sie und warf mir wieder einen kritischen Blick zu. »Es steht auch nicht drin, ob hier die Wikinger durchmarschiert sind.«

»Ich glaube, die Nordmänner waren um 850 nach Christus in Asturien«, sagte ich grinsend.

»Jetzt reicht’s«, gab sie lächelnd zurück und schlug mir mit dem Reiseführer auf den Oberschenkel.

Wir sahen uns weiterhin die wunderbare Landschaft an. Plötzlich überholte uns ein kleiner, alter Seat und drängte uns beim Einfädeln ab. Das konnte ich mir freilich nicht gefallen lassen. Geistesgegenwärtig betätigte ich die Lichthupe. Ich trat das Gaspedal durch, um die dreihundert PS zu mobilisieren. Die Achtgang-Automatik schaltete blitzschnell herunter. Dann setzte ich zum Überholen an, um zu sehen, wer uns derart respektlos geschnitten hatte.

»Was hast du vor?«, fragte Hellen kritisch.

»Ich will diesen rücksichtslosen Fahrer sehen!«

»Muss das wieder sein?«

Im Nu waren wir auf gleicher Höhe mit dem Seat. Am Steuer saß eine kleine hagere Frau mit einer übergroßen Brille. Sie konnte kaum über die Instrumententafel sehen und starrte nach vorne auf die Straße. Hellen sah mich daraufhin fragend an. Mir war klar, dass jeder Kommentar unnötig war. Ich überholte den Seat und ließ es dabei bewenden.

Das war einer der seltenen Momente, in denen ich mich verrennen konnte. Es war wohl mein spanisches Temperament, wie Hellen es nannte.

Für eine kurze Zeit herrschte stilles Schweigen. Hellen schoss weitere Fotos.

»Die Picos de Europa sind atemberaubend schön«, sagte ich dann, um das Schweigen zu brechen. »Weißt du, woher dieser Name kommt?«, fragte ich sie.

»Nein, aber du wirst es mir sicher gleich sagen«, antwortete sie.

»Na gut«, gab ich großzügig zurück. »Er stammt von den Seefahrern, die von Nordwesten kommend als erstes diese hohen Gipfel des Kontinents sahen und deswegen nannten sie sie die Gipfel Europas.«

2

Freunde suchen

»An der nächsten Kreuzung rechts!«, sagte die nette weibliche Stimme des Navigationssystems.

»Ja, die Straße kenne ich«, bemerkte ich gespannt.

»Das Ziel ist auf der rechten Seite!«, lautete die letzte Information, dann standen wir vor der Calle de la Fuente dreiundzwanzig.

Das Hotel Aurora war neu errichtet worden, wie auch andere Gebäude in Ribadés. Ich kannte es nicht, deswegen war ich erstaunt und gleichzeitig enttäuscht.

»Hier stand früher ein Wohnhaus mit einem Gemüsegeschäft im Erdgeschoss«, sagte ich und beklagte damit die Tatsache, dass man ein Stück meiner Vergangenheit demontiert hatte.

»Das Hotel sieht besser aus als auf den Fotos im Internet«, sagte Hellen, um mich aufzuheitern.

Als wir aus dem klimatisierten Wagen stiegen, merkten wir, wie heiß es doch draußen war.

An der Hotelrezeption wurden wir sofort vom Concierge aufs Freundlichste begrüßt. Der drahtige Mann mit kurz geschnittenem pechschwarzem Haar steckte in einem dunklen Anzug mit hellgrauer Weste und hatte eine dunkelgraue Krawatte umgebunden. Er sah ohne Übertreibung wie ein Concierge aus einem Fünf Sterne Hotel aus. Das hatte ich nicht erwartet!

»¡Buenos días!«, begrüßte er uns höflich und elegant.

»¡Buenos días!«, entgegneten wir.

»Unser Name ist Lesemann. Wir haben ein Doppelzimmer reserviert«, sagte ich.

Wir legten ihm unsere Pässe auf den Tresen. Er sah in sie hinein, dann auf den Bildschirm des PCs und nach ein paar eleganten, fast schon virtuosen Tastaturanschlägen vermeldete er:

»¡Muy bien!«

Hellen und ich verkneiften uns das Grinsen.

»¡Señora y Señor Lessemaan por diez días!«, sagte er dann, wobei er unseren Nachnamen besonders spanisch wiedergab.

»Korrekt«, quittierte ich. »Für zehn Tage.«

Er bemusterte Hellen von unten nach oben, dann sah er sie mit großen Augen an.

»Sie bekommen unser bestes Zimmer!«, vermeldete er mit schmeichelnder Stimme, hielt ihr den Zimmerschlüssel mit gespreizten Fingern hin und verbeugte sich.

»Das ist aber nett von Ihnen«, schmeichelte Hellen zurück.

»Oooh, nicht doch! Wir tun alles für unsere Gäste!«

Dann wechselte er den Blick zu mir, reichte mir ein Formular und sagte lässig:

»Die oberen drei Zeilen und Ihre Unterschrift genügen, den Rest mach ich schon.«

Das kühle Hotelzimmer hatte einen geräumigen Zuschnitt und war modern eingerichtet. Ich stellte unsere Koffer ab, während Hellen sofort zur Balkontür ging. Sie zog die schweren Vorhänge zur Seite, öffnete die Flügeltüren und genoss als erstes die Aussicht vom Balkon mit schmiedeeisernem Geländer. Ich folgte ihr.

»Ist das nicht wunderschön?«, sagte Sie begeistert und umarmte mich. »Wir können aufs Meer sehen.«

Die Aussicht war traumhaft. Weiß getünchte Häuser, enge Gassen und kunstgeschmiedete Straßenlaternen harmonierten zu einem romantischen Bild. Eine kleine alte Frau, mit einer schwarzen Schürze gekleidet, fegte vor einem kleinen Gemüseladen, der seine frische Ware auf simplen Holzkisten auf dem Bürgersteig anbot. Und über den roten Dächern hinweg sah man auf das Meer, in dem sich die Sonne schillernd spiegelte. So hatte ich diese kleine Stadt in Erinnerung.

Wir zogen unsere Reisekleidung aus. Während sich Hellen im Bad umsah, räumte ich, in Boxershorts, meine Kleidung in den Schrank. Dann stand sie im knappen Slip und im hautfarbenen kurzen Spagettitop vor mir. Sie trug nie einen BH. Ich sah sie bewundernd an.

»Der Concierge hat dir große Augen gemacht«, sagte ich im Spaß zu ihr.

»Sei nicht albern. Du weißt doch, dass nur du …«

Sie sah mich mit einem neckischen Blick an, kam näher, legte ihre Arme auf meine Schultern und zog mich sanft zu sich, um mich ihre üppigen Brüste spüren zu lassen. Danach kam sie mit ihren Lippen näher und drückte sie weich an die Meinen.

Ich umfasste ihre schlanke Taille und streichelte sie. Plötzlich zog sie sich langsam zurück.

»Was ist?«, fragte ich überrascht.

»Lass uns das verschieben. Wir sollten jetzt lieber deine ehemaligen Schulfreunde suchen.«

»Das hat doch Zeit«, sagte ich großzügig.

»Ich möchte erst Ribadés sehen und ein paar Fotos schießen.«

»Hellen! Willst du mich ärgern?«, fragte ich erregt.

»Wie kommst du darauf?«, gab sie schelmisch zurück.

Zum Rathaus war es nicht weit. Wie sollte es das auch. Die Stadt hatte gerade einmal 6500 Einwohner und das hatte sich seit vierzig Jahren kaum geändert. Wir gingen durch die Calle Santa María. Zur Linken lag die Plaza, auf der Kinder spielten und direkt am Ende derselben, stand das bekannte Café Carmen.

»In dieses Café gingen wir an manchen Sonntagen Kuchen essen«, sagte ich freudig. »Hier haben wir den Sonntag gefeiert.«

»Ich weiß, dass du schon früher gern Kuchen gegessen hast.«

»Ja. Insbesondere die Pasteles de merengue. Wir müssen uns nachher unbedingt diese köstlichen Stücke und Torten ansehen. Es gibt viele Sorten davon«, schwärmte ich. »Sie haben einen schaumig geschlagenen Inhalt und sind sehr lecker.«

Hellen lächelte mich an, dann gab sie mir einen Kuss.

Wir gingen weiter und bogen in die Calle del Progreso (Straße des Fortschritts) ein, in der das Rathaus stand.

Vor uns stand ein aus Sandstein gebautes kleines, quadratisches Gebäude mit winzigen Fenstern. Sehr massiv, aber schmucklos, unauffällig und furchtbar klein für ein Rathaus.

»Ein bescheidenes Gemeindehaus«, bemerkte Hellen enttäuscht.

»Tja, was soll ich sagen?«

»Sah das immer so aus?«

»Ich fürchte, ja. Das ist dasselbe Rathaus wie vor vierzig Jahren. Es gibt wohl kein Neues.«

»Dann sollte man den Straßennamen ändern.«

»Wieso?«

»Weil dieses Rathaus mit Fortschritt wenig zu tun hat«, sagte sie grinsend.

Der Eingang war von zwei großen Pflanzenkübeln eingesäumt. Ich öffnete die schwere Eingangstür, dann gingen wir hinein. Im dunklen und angenehm kühlen Flur roch es muffig. Eine streng wirkende Dame über sechzig mit grauem, hochgestecktem Haar begrüßte uns. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine schwarze Mantilla, ein gesticktes Kopftuch. Sie erinnerte mich sofort an meine ehemalige Religionslehrerin in Ribadés, die jeden nicht auswendig gelernten Religionstext unverzeihlich bestrafte.

»¡Buenos días! Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie uns.

»¡Buenos días!«, erwiderte ich. »Nun, ich bin auf der Suche nach ehemaligen Mitschülern, die mit mir vor vierzig Jahren hier zur Schule gegangen sind«, sagte ich mit einem gewissen Zweifel auf Hilfe.

Sicher lag es daran, dass ich an meine Religionslehrerin dachte. Andererseits bemusterte mich die alte Dame mit einer missbilligenden Mine.

»Wissen Sie, vierzig Jahre sind eine sehr lange Zeit. Wie wollen Sie da noch jemanden finden?«, fragte sie verständnislos.

»Ich kenne zwei Namen. Könnte man nicht aus dem Einwohnermelderegister feststellen, wo …«

»… wo sie wohnen?«, vollendete sie meinen Satz in einem höhnischen Ton.

»Ja?«, fragte ich zweifelnd.

»Das tut mir sehr Leid, aber die Daten sind zu vertraulich, um sie jedem auszuhändigen. Stellen Sie sich vor, Ihre Daten würden ohne Weiteres an Fremde weitergegeben werden«, entgegnete sie patzig.

»Ich würde mich freuen, wenn es zu diesem Zweck geschieht.«

Sie sah mich erneut missbilligend an.

»Nein, das kommt nicht in Frage!«, und winkte ab. »Außerdem hatten wir vor sechs Jahren ein Feuer im Haus, durch das viele Akten vernichtet wurden.«, gab sie rechtfertigend hinzu.

Hellen schaute mich an und schüttelte mit dem Kopf.

»Tatsächlich?«, fragte ich staunend.

»Ja! Ich habe Ihnen ohnehin schon mehr gesagt, als ich darf«, sagte sie überheblich.

Die Eingangstür öffnete sich und ein Priester in schwarzer Soutane kam herein. Er kam langsam näher.

»Buenos días, Señora Jiménez«, sagte er, während er sich leicht verbeugte und seine Hände in Gebetshaltung hielt.

»Buenos días, Euer Hochwürden«, antwortete sie ehrfürchtig, verbeugte sich und hielt ihre Hände ebenfalls in Gebetshaltung.

»Kann ich helfen?«, fragte er sie mit gütiger Stimme.

Sie war vom plötzlichen Erscheinen des Priesters derart überrascht, dass Sie ihren Oberkörper in gebeugter Haltung behielt, um ihr Gesicht nicht zu zeigen.

»Entschuldigen Sie«, sprach ich den Geistlichen an und nahm die Gelegenheit wahr.

Er wandte sich zu mir und sah mich gütig an.

»Ich bin als Kind in Ribadés zur Schule gegangen und nun suche ich nach ehemaligen Mitschülern.«

Er begrüßte uns ebenfalls mit einer leichten Verbeugung und brachte die Hände wieder in Gebetshaltung.

»¡Buenos días! Das ist interessant.«

»Buenos días«, entgegnete ich. »Leider konnte ich bisher keine Auskunft bekommen«, gab ich enttäuscht von mir.

Er sah zu der alten Dame.

»Konnte Ihnen Señora Jiménez nicht helfen?«

»Erinnern Sie sich noch, Hochwürden?«, warf sie schnell und aufgeregt ein. »Der Brand vor sechs Jahren? Da sind viele Akten vernichtet worden.«

»Ja, das stimmt!«, bestätigte er ruhig. »Hmm, ich bin selbst hier zur Schule gegangen und kenne einige meiner ehemaligen Mitschüler«, ergänzte er nach kurzem Nachdenken. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

»Das ist wunderbar«, sagte ich erfreut.

»Am besten Sie kommen zu mir in die Kirche. Passt Ihnen heute Nachmittag, gegen vier?«

»Ja, natürlich. Vielen Dank.«

Das war vortrefflich! In einer kleinen katholischen Stadt wie Ribadés kannte ein Priester mit Sicherheit sehr viele Menschen.

»¡Hasta luego!«, sagte er und ging die Treppe hinauf.

»¡Hasta luego!«, wiederholte ich seinen Gruß.

»Du bist ein Glückspilz«, meinte Hellen zu mir, als wir hinausgingen. »Der Priester kann dir bestimmt weiterhelfen.«

Ich nickte erfreut und zog sie wortlos an mich.

Ohne Umwege gingen wir dann ins Café Carmen. Dort angekommen, rochen wir den aromatischen Kaffeeduft und spürten die angenehme Kühle der Klimaanlage. Das Café war mit roten Tischen und Stühlen, sowie großen Pop Art Bildern an den Wänden, sehr modern eingerichtet. Selbst das Geschirr bestand aus rotglänzender Keramik. Im Hintergrund war leise Lounge Musik zu hören, die das angenehme Ambiente untermalte. Beim Blick auf die Kuchenvitrine, ging mir das Herz auf. Sie war gefüllt mit allerlei Pasteles de merengue.

Wir setzten uns ans Fenster, mit Blick auf die Plaza.

»Hier ist es aber sehr schick«, sagte Hellen begeistert.

»Ja, ein wunderbares Ambiente«, pflichtete ich ihr freudig bei.

Ich winkte der Bedienung zu, die daraufhin Kaugummi kauend und etwas lustlos zu uns kam.

»¡Hola! Was möchten Sie?«, fragte sie in einem gelangweilten Ton. Sie war ungefähr fünfundzwanzig, spindeldürr und hatte strohige blonde, kurze Haare.

»¡Hola! Wir hätten gern zwei Kaffee«, erwiderte ich und schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Noch was?«

»Elsa, du musst netter zu den Gästen sein«, sagte eine elegante, untersetzte Dame mit hochtoupiertem Haar über sechzig, die unverhofft hinter ihr stand.

»Entschuldigen Sie, aber sie meint es nicht so«, sagte die schick gekleidete Dame freundlich zu uns.

»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte ich sie.

»Ich heiße Carmen und bin die Besitzerin des Cafés. Sind Sie zu Besuch in Ribadés?«

Da erkannte ich eine weitere Gelegenheit. In einem Café gingen Leute ein und aus und wegen der sympathischen Art der Dame, musste sie über einen großen Bekanntenkreis verfügen.

»Ja!«, antwortete ich ohne Umwege. »Sie können uns vielleicht helfen, die Leute zu finden, die wir besuchen möchten.«

Natürlich verstand sie meine Aussage nicht.

»¿Cómo?« (Bitte?), fragte sie.

»Ich erkläre es Ihnen.«

Und so erzählte ich ihr den Grund unserer Reise nach Ribadés.

»Sí, comprendo«, sagte sie daraufhin, wenn auch etwas zögerlich.

»Kennen Sie denn Leute, die vor vierzig Jahren hier zur Schule gegangen sind?«, fragte Hellen sie.

»Ich kenne jemanden«, mischte sich Elsa vorlaut ein.

Carmen sah sie mit ernster Mine an.

»¡Caramba! Zu der Zeit warst du nicht ’mal geboren. Wie willst du da jemanden kennen?«

»Ich kenne aber jemanden und sein Vater ist aus dieser Gegend«, sagte Elsa und grinste.

Carmen wurde ungeduldig.

»¡Pues dínoslo!«, forderte sie sie stürmisch auf, es uns zu sagen.

»Du kennst doch Ramón.«

»Welcher Ramón denn?«, fragte sie mit ausgestreckten Armen.

»Na, Ramón Verono!«

»Was? Der, von der Modefirma?«

»Ja, stell dir vor, der!«, sagte Elsa stolz. »Und sein Vater könnte ja auch hier zur Schule gegangen sein.«

»Unsinn! Wie kommst du überhaupt darauf? (…) Sag‘ mal, hast du was mit Ramón?«, fragte Carmen streng und stemmte ihre Hände in die Hüften.

»Nein! Was du schon wieder denkst«, entgegnete Elsa empört. »Ramón ist manchmal in Ribadés, um seinen Großvater zu besuchen. Und wenn er hier im Café ist, redet er mit mir.«

Carmen setzte sich.

»Stimmt, er ist manchmal hier.«

»Kommt er regelmäßig her?«, wollte ich wissen.

»Nein! Ab und zu«, antwortete Elsa.

»Wann war er das letzte Mal hier?«

Elsa dachte nach.

»Ich glaube am Montag.«

»Können Sie mich bitte anrufen, wenn Ramón Verono das nächste Mal hier ist? Ich würde ihn gern fragen, ob sein Vater hier zur Schule gegangen ist? Ich gebe Ihnen meine Karte mit meiner Mobiltelefonnummer.«

Nachdem Elsa uns den Kaffee gebracht hatte, genossen wir noch eine Zeit lang die angenehme Atmosphäre und unterhielten uns über das frühere Ribadés.

»Du hast Glück, das wir Elsa getroffen haben«, sagte Hellen, als wir anschließend über die Plaza bummelten. »Vielleicht ist Ramóns Vater tatsächlich einer deiner ehemaligen Schulfreunde.«

»Wer weiß?«, erwiderte ich. »Obwohl ich Elsa für etwas redselig halte, könnte sie uns weiterhelfen.«

Wir setzten uns auf eine Bank. Ich legte meinen Arm um ihre Schulter und dachte erneut an meine Kindheit.

»Sonntags kam ich immer hierher und las meine Comics. Capitán Trueno hieß der edelmütige Held aus dem Mittelalter, der gegen die Bösen kämpfte und selbstverständlich immer im Namen der Gerechtigkeit siegte. Es ist gut möglich, dass ich die Heftchen auf dieser Bank gelesen habe, auf der wir gerade sitzen.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Hellen begeistert. »Ich bin sogar sicher, dass es diese Bank war.«

Sie holte ihre Kamera aus der Tasche und gab mir ihren Reiseführer in die Hand.

»Das ist dein Comic-Heftchen und jetzt lies.«

Hellen machte mehrere gestellte Fotos von mir, wie ich auf der Bank saß und so tat, als würde ich ein Capitán Trueno Comic lesen. Sie hatte oft solch äußerst spontane Ideen.

»Es ist gleich vier!«, sagte sie, als sie auf ihre Uhr sah. »Wir sollten zur Kirche gehen.«

»Sicher«, bestätigte ich, noch in Gedanken an meine Kindheit.

»Ist es denn weit?«

»Nein. Ribadés ist eine kleine Stadt.«

Hellen machte Fotos von der Plaza, dann gingen wir los. Auf dem Weg durch die engen, schönen Gassen, die mit Wäscheleinen von Balkon zu Balkon bespannt waren, erkannte ich vieles wieder. Ich erzählte Hellen von meinen Erinnerungen. Schließlich bogen wir um eine Hausecke und schauten auf die stattliche Kirche mit zwei hohen Glockentürmen und dem dahinter liegenden Kirchenschiff.

»Das ist aber eine große Kirche!«, sagte Hellen staunend und schoss sofort Fotos.

»Nicht wahr?«, erwiderte ich. »Und im Inneren ist sie besonders schön. Die Fresken an der Kuppeldecke sind bewundernswert.«

Wir gingen durch ein großes Tor in die Kirche und der Geruch von Weihrauch begegnete uns. Hellen war von der inneren Schönheit hingerissen.

»Wie hell und großzügig es hier drinnen ist. Und die Fresken sind wirklich faszinierend«, bemerkte sie.

»Das freut mich aber sehr«, sagte der Priester, der uns von der Sakristei aus entgegenkam.

Er kam gelassen auf uns zu und grüßte uns wieder mit einer leichten Verbeugung, während er seine Hände in Gebetshaltung hielt.

»Hier habe ich meine erste heilige Kommunion empfangen«, sagte ich stolz und sah mich um, weil ich die gesamte Schönheit erfassen wollte.

»Das freut mich besonders«, erwiderte er. »Wann genau sind Sie in die hiesige Schule gegangen?«, fragte er mich und sah mich an.

»Es ist über vierzig Jahre her. Die ersten Klassen hatte ich bei Señor Ramos, so hieß der Klassenlehrer. Mit zwölf Jahren, also genau vor vierzig Jahren, bin ich mit meiner Familie nach Deutschland gezogen.«

Der Priester zögerte.

»Aber … bei Señor Ramos war ich doch auch. Und in derselben Zeit. Vor circa vierzig Jahren. Wie heißen Sie?«, fragte er mich erwartungsvoll.

»Diego Lesemann, und Sie?«

»Ángel Montés!«

»Aber sicher«, sagte ich zögernd, »Ich erinnere mich an einen Ángel, der eine Brille trug und etwas untersetzt war.«

»Das ist richtig! Das bin ich gewesen. Die Brille brauche ich nicht mehr und mein Körperbau hat sich mit meiner Lebensweise verändert. Umgekehrt kann ich mich auch an Sie erinnern. Ja, ich glaube mich an einen Diego mit einem deutschen Nachnamen erinnern zu können. Der Vater war, wenn ich nicht irre, Deutscher.«

»Richtig.«

»Ich muss gestehen, dass ich Sie nicht gleich wiedererkannt habe«, sagte er erfreut.

Er breitete seine Arme aus.

»Lieber Diego, lass uns duzen, das verringert die Distanz«, dann umarmte er mich wie einen Bruder. »Du musst mir alles über dich erzählen«, sagte er begeistert.

»Darf ich dir meine Frau Hellen vorstellen?«

Er sah sie gütig an und nahm ihre Hände.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Dann schaute er zu mir. »Wenn ich euch beide ansehe, so weiß ich, dass ihr euch gefunden habt.«

Hellen gefiel diese Aussage ganz besonders.

»Oh, vielen Dank«, erwiderte sie in einem glücklichen Ton. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Ihr Spanisch ist sehr gut«, lobte er Hellen.

»Vielen Dank«, gab sie zurück und wurde etwas verlegen.

»Mir scheint, als hättest du deinen Weg als Priester gefunden«, bemerkte ich.

»Ja, dem Herrn sei Dank.«

Während er das sagte, hob er den Kopf, sah nach oben und bekreuzigte sich.

»Ángel, ich habe noch zwei Schulkameraden in Erinnerung«, führte ich an. »Mateo Rey und Fernando de Vega. Weißt du, ob sie hier wohnen?«

»Aber sicher«, sagte er erfreut. »Beide haben Ribadés nicht den Rücken gekehrt.«

»Wirklich? Und was machen sie? Ich meine, sind sie verheiratet, welchen Beruf haben sie?«

»Mateo ist verheiratet und ist Beamter. Fernando ist ledig und ist Comisario bei der Kriminalpolizei.«

Bei dem Wort Comisario sahen Hellen und ich uns erstaunt an.

»Oh, Fernando ist bei der Kriminalpolizei? Interessant! Passiert hier denn viel?«

»Wenn du wissen willst, ob in Ribadés viele Kriminaltaten begangen werden, solltest du ihn besser fragen«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln.

»Natürlich.«

Ich wechselte daraufhin das Thema.

»Wie verbringst du deine Zeit?«, fragte ich. »Ich meine, du hast gewiss viel zu tun.«

»Ich bin mit meiner Gemeinde den ganzen Tag über beschäftigt. Das erfüllt mich. Aber, welchen Dingen gehst du nach?«

»Ich verbringe meine Zeit hauptsächlich mit meiner Familie. Wir reisen gern, gehen oft ins Theater, ich lese sehr viel und ich spiele leidenschaftlich gern Golf mit Hellen.«

»Interessant! Und wo wohnt ihr?«

»In München.«

»Das ist schön. Leider war ich noch nie dort, aber es muss eine prächtige Stadt sein.«

»Ja, wir lieben diese Stadt«, sagte Hellen.

Ich nickte zustimmend.

»Und was arbeitest du?«, fuhr er fort.

»Ich arbeite nicht mehr. Ich bin Privatier.«

»Wirklich?«, fragte er überrascht.

»Ja! Ich habe nach meinem Ingenieurstudium viele aufregende Jahre in der Automobilindustrie verlebt und zeitig aufgehört.«

»Du bist Ingeniero?«, fragte er erstaunt.

»Ja«, antwortete ich nickend.

»Aber, was bedeutet das, dass du aufgehört hast?«, fragte er verwundert. »Mit zweiundfünfzig Jahren bist du doch im besten Alter und hast einen großen Erfahrungsschatz.«

»Weißt du, meine Arbeit hat mir sehr gefallen, sie hat mich sogar mitgerissen, aber sie hat viel von mir gefordert, so dass ich und meine Familie vieles entbehren mussten. Ich hatte einfach zu wenig Zeit für sie. Deshalb habe ich es frühzeitig beendet. Jetzt verbringe ich die meiste Zeit mit ihr.«

»Du hast die Sache sozusagen umgedreht. Eine weise Entscheidung.«

»Danke.«

Er sah mich freudestrahlend an.

»Mein Freund Diego. Es freut mich sehr, dass es dir nach so langer Zeit gut geht! Du bist groß, attraktiv und hast dunkelbraunes Haar wie ein Spanier.«

Dabei sah er Hellen freundlich an, die ihm das Gesagte nickend bestätigte.

»Und er ist intelligent und sympathisch dazu«, ergänzte sie.

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte der Priester.

Dann sah er auf seine Uhr.

»Oh! Es tut mir leid, ich habe noch einiges vorzubereiten«.

»Es gibt so viel zu erzählen, Ángel. Ich würde zu gern Mateo und Fernando wiedersehen. Was meinst du, können wir uns mit ihnen treffen? Alle vier? Wir sind für zehn Tage in Ribadés.«

»Ja, natürlich! Ich werde das arrangieren«, erwiderte er.

»Können wir uns eventuell im Café Carmen treffen? Es scheint ein sehr nettes Café zu sein.«

»Warum nicht? Ich kenne Señora Carmen gut. Sie ist ein treuer Mensch in meiner Gemeinde.«

»Umso besser. Darf ich dir meine Mobiltelefonnummer geben?«

Dann fiel mir die vorlaute Bemerkung von Elsa aus dem Café bezüglich Verono ein.

»Ach, noch etwas: Kannst du dich an einen Mitschüler mit dem Namen Verono erinnern?«

»Verono? Nein, der Name sagt mir zwar etwas, aber nicht im Zusammenhang mit unserer Schule.«

Nachdem wir die Kirche verlassen hatten und einige Schritte gegangen waren, machte Hellen einen beseelten Eindruck.

»Dein Freund Ángel scheint das Herz eines Heiligen zu haben«, sagte sie mit einem Lächeln im Gesicht.

3

Eine grauenhafte Entdeckung

Auf unserem Frühstückstisch sammelten sich Obstabfälle anstelle der üblichen Wurst- oder Schinkenabfälle. Wir schätzten schon damals eine vegetarische Ernährung. Mit der Zeit hatte ich die Vorzüge dieser gesunden Ernährungsweise entdeckt, wobei ich mir kleine Ausnahmen genehmigte.

»Das Frühstücksbuffet ist genauso, wie ich es mag«, schwärmte Hellen. »Vollkornbrot, Avocados und frisches Obst.«

»Und nicht zu vergessen, Café con leche«, hob ich den Milchkaffee hervor, welcher in Spanien traditionell ist.

»Wir haben ein schönes Hotel ausgesucht«, meinte sie und reckte sich genüsslich in ihrem Stuhl.

»Das kann ich bestätigen«, sagte ich lächelnd. »Ganz besonders gefällt mir die große Badewanne, in der wir gestern Abend zusammen …«

»O ja!«, unterbrach sie mich. »Das hat mir sehr gefallen«, und streifte mit ihrem Zeigefinger sanft über meine Hand.

Wir genossen etwas länger die milde Morgensonne auf der Terrasse.

Etwas später waren wir mit dem Wagen auf den Weg zur Cueva de Ribadés, einer prähistorischen Höhle und gleichzeitig die archäologische Attraktion in Ribadés.

»Wie mag die Höhle heute aussehen?«, fragte ich mit einer gewissen Erwartung.

»Ich bin auch gespannt«, sagte sie.