Tod Steine Scherben (eBook) - Veit Bronnenmeyer - E-Book

Tod Steine Scherben (eBook) E-Book

Veit Bronnenmeyer

4,8

Beschreibung

Der Bau- und Sanierungsboom der letzten Jahre hat im Szeneviertel Konradshof zur Bildung einer Aktionsfront geführt. Junge Menschen, die sich nicht aus ihren günstigen Wohnungen vertreiben lassen wollen, leisten Widerstand, indem sie Wände besprühen, Farbbeutel auf Reihenhäuser werfen und Fahrzeuge anzünden. Als einer der Aktivisten in einem Auto verbrennt, beginnt ein neuer Fall für Albach und Müller. Hausbesitzer, Bauunternehmer und Kollegen des Toten stehen unter Verdacht. Bald darauf stürzt der Starverkäufer einer Wohnbaufirma vom Dach einer Penthouse-Baustelle. Für das Ermittlerduo ergeben sich brisante Hinweise, aber auch neue Fragen: Gelingt es, weitere Morde zu verhindern und den Kripo-Chef von unsauberen Methoden abzuhalten? Der lang erwartete neue Roman vom Gewinner des Agatha-Christie-Krimipreises. Realitätsnah, sozialkritisch, hoch spannend: Ermittlerduo Albach und Müller in ihrem fünften Fall. Brandaktuelles Thema: Gentrifizierung in fränkischen Städten – über mörderische Verstrickungen zwischen Bauunternehmern, Hausbesitzern und Aktivisten.

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Veit Bronnenmeyer

 

Tod Steine Scherben

 

Albach und Müller: der fünfte Fall

 

Kriminalroman

 

 

ars vivendi

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Dezember 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © suze / photocase.de

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-751-3

 

 

Inhalt

I. Wenn die Nacht am tiefsten ist

II. Das ist unser Haus

III. Warum geht es mir so dreckig?

IV. Was euch kaputt macht

V. Mein Name ist Mensch

VI. Denn die Zeit ist reif

VII. Was kann ich allein dagegen tun?

VIII. Hätt’ste bloß diesen Tag verpennt

IX. Nicht sagen, was ich denke

X. Keine Macht für Niemand

Nachwort und Dank

Der Autor

 

 

I. Wenn die Nacht am tiefsten ist

»Wie kannst du denn heute schon wissen, dass du morgen krank bist?« Alfred unterbrach die Arbeit an seiner Zigarette und lehnte sich in den Schreibtischsessel zurück.

»Wenn die glaubt, dass ich bis auf Weiteres hier Akten fresse, hat sie sich geschnitten.« Renan hatte einen leeren Kopierpapier-Karton auf ihren Tisch gestellt und räumte hektisch einige teil-private Gegenstände ein. »Und bei dem Lärm ist an Arbeit sowieso nicht zu denken«, ergänzte sie schreiend.

Das Präsidium befand sich seit zwei Monaten im Umbau, was nicht nur Lärm-, sondern oft genug auch Geruchsbelästigungen und zeitweise sogar kleinere Erdbeben mit sich brachte. Einige Dezernate waren ausgelagert worden, nicht so das Dezernat 1, unter anderem zuständig für Straftaten wider Leib und Leben. Soeben hatte sich wieder ein Bohrhammer lautstark bemerkbar gemacht.

»Die Frau Kriminalrätin hält sich doch bloß an die Vorschriften …«

»Jaja, verteidige sie nur, deine Freundin«, rief Renan. »… Teetasse bitte!«

»Sie ist nicht meine …« Alfred seufzte und reichte seiner Kollegin das gewünschte Gefäß. Weder er noch Karla Neumann konnten etwas dafür, dass Renans Bauch mittlerweile beim besten Willen nicht mehr ignoriert werden konnte. Da durfte sie eben nicht mehr zu möglicherweise gefährlichen Außendiensten eingeteilt werden. Alfred hätte genauso reagiert.

»Die körperliche Unversehrtheit von Mutter und Kind gefährdende Einsätze …«, äffte Renan ihre ­Dezernatsleiterin nach. »Wie oft hatten wir das in den letzten Jahren?«

»Einmal.« Alfred hob die mittlerweile fertiggestellte Kippe hoch. »Also je einmal – ich und du.«

»Ach«, Renan winkte ärgerlich ab. »Ich gebe ihr gerne eine Unterlassungserklärung, dass ich nicht mehr alleine in dunklen Lagerhäusern Mordverdächtigen nachschleiche …«

»Die kann nicht anders, Renan.« Alfred versuchte es nun mit väterlicher Strenge. »Stell dir mal vor, da passiert wirklich was. Muss dir ja nur irgendein Irrer in den Bauch schlagen!«

»Wo ist denn die Mustafa-Sandal-CD?«

»Ja, die solltest du wirklich mitnehmen!«

»Mach nur so weiter«, Renan warf sich in ihren Stuhl und machte sich an den Schubladen zu schaffen, »dann werde ich dich ganz sicher nicht vermissen!«

»Ich dich schon.« Alfred sah aus dem Fenster auf die sich langsam belebende Fußgängerzone.

»Ich bin ja nicht aus der Welt.« Der Bohrhammer machte kurz Pause, und Renans Ton wurde nun etwas milder. »Aber ich lasse mich hier nicht einsperren! Da mache ich lieber von meinen Rückenschmerzen Gebrauch, dann sind die wenigstens auch mal für was gut.«

»Na ja, wenn ihr wirklich vor der Geburt noch umziehen wollt, dann kannst du die freie Zeit sicher ganz gut gebrauchen.«

»Pff«, tönte es nun aus dem Off, da Renan mittlerweile beim untersten Schub angekommen war. »Hast du in letzter Zeit mal die Mietpreise angeschaut?«

»Nein, warum sollte ich?«

»Dann brauchen wir ja an dieser Stelle nicht weiterzudiskutieren.« Ächzend kam sie wieder hoch und rieb sich das Kreuz. Gleichzeitig klingelte Alfreds Telefon.

»Ja, Albach …«, er deutete mit einem Lineal auf einen Papierhaufen, unter dem er eine CD-Box ausgemacht hatte, »Brandstiftung am Hermann-Richter-Platz? Ja, habe ich beim Reingehen mitgekriegt, aber das hat ja nichts mit uns … Was? Eine verbrannte Leiche? Okay, bin schon unterwegs.«

»Ich komme mit«, beschied Renan, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte.

»Aber … worüber haben wir denn die letzten zehn Minuten geredet?« Alfred konnte nicht verhindern, dass sich seine Stimme etwas erhob.

»Ich habe noch nichts Schriftliches!« Renan zuckte mit den Schultern, während der Krach wieder einsetzte. »Und außerdem ist es hier drin viel gesundheitsgefährdender!«

 

*

 

Das Merkwürdigste war der Geruch. Renan kannte diesen Kiez ganz gut, hatte selbst vier Jahre hier gelebt. Manchmal roch es nach Abgasen von der nahen Ausfallstraße, manchmal zog der Mief von der Kläranlage der anderen Flussseite rüber, und manchmal, wie jetzt im Herbst, roch es auch nach Holzfeuer. Aber dieses Feuer hatte eine andere Duftmarke hinterlassen. Beißender, salziger und zugleich irgendwie kälter. Das war nicht der Duft, den sie kannte. Das war aber auch nicht mehr das Konradshof, das sie kannte.

In den letzten Jahren waren viele der alten Wohnungen saniert und teuer verkauft worden. Auf einigen Brachflächen, wie hier am Hermann-Richter-Platz, waren moderne Reihenhäuser hingestellt worden. Eines dieser Eigenheime, eine ehemals weiße, schachtelige Doppelhaushälfte, war letzte Nacht in Brand geraten. Wobei das Feuer ­offensichtlich von einem darunter geparkten Auto auf den Carport des Hauses übergegriffen hatte. Das Haus selber hatte wohl nicht gebrannt, nur die Fassade war verkohlt, und eine Plastikbank, die an der Wand gestanden hatte, war geschmolzen und sah auf den ersten Blick wie ein Skelett aus.

Außer der Kriminaltechnik waren auch noch die Feuerwehr da und die Kollegen vom Branddezernat. Der Tatort war abgesperrt, auf der anderen Seite der rot-weißen Bänder hatten sich zahlreiche Schaulustige versammelt.

Der Stadtteil Konradshof war jahrzehntelang die Heimat von Arbeitern, Arbeitslosen, Künstlern, Linken und Ausländern gewesen, aber nun schien auch eine betuchtere Schicht Gefallen an dem Kiez zu finden. Dazu kam, dass seit der Finanzkrise die Immobilienpreise explodiert waren und sich mit neuen Häusern und Eigentumswohnungen gutes Geld verdienen ließ. Wobei Renan auch klar war, dass diejenigen, die hier ihre letzten Kröten für einen gesichtslosen Karnickelstall mit Handtuch-Garten zusammenkratzten, ganz sicher keine »Bonzen« waren, wie es an mehreren Hausfassaden aufgesprüht stand. Trotzdem schien es einigen der Alteingesessenen nicht zu behagen, was mit ihrem Viertel gerade geschah. Schon ein paar Mal hatten Autos gebrannt, aber dass nun auch noch ein Mensch dabei getötet wurde, hatte eine neue Qualität – das würde heftige Wellen schlagen.

 

»Was machst denn du noch da?«, fragte Pit von der Spurensicherung, als er mit Renan und Alfred am Tatort zusammentraf.

»Solltest du dich nicht anderen Fragen widmen?«, gab Renan von oben herab zurück, sie überragte den guten Pit um mehr als einen halben Kopf.

»Ist ja schon gut.« Er hielt ein Klemmbrett in der Hand und kratzte sich mit seinem Bleistift am Hinterkopf. »Also, was die Brandstiftung betrifft, alles wie gehabt: Das Auto wurde mit Benzin übergossen und dann angezündet. Irgendwann griff das Feuer dann auf den Carport über …« Er deutete auf einen BMW, der ziemlich verkohlt aussah, aber im Großen und Ganzen seine Form bewahrt hatte.

»Und wo war das Opfer?« Alfred rümpfte die Nase und steckte die soeben gedrehte Zigarette wieder weg.

»Im Fahrzeug«, Pit deutete auf das Wrack.

»Die haben ein Auto angezündet, wo einer drin war?«, rief Renan fassungslos.

»Ob absichtlich oder nicht, können wir natürlich nicht feststellen.«

»Wenn es nicht absichtlich war, warum ist er dann nicht ausgestiegen, als das Fahrzeug in Brand geriet?«, fragte Renan.

»Vorher müsste man erst mal wissen, warum er überhaupt da drin war«, gab Alfred zu bedenken.

»Vielleicht war er besoffen oder betäubt«, Pit zuckte die Achseln, »aber das sollen die von der Rechtsmedizin rausfinden. Wir sind mit den Spuren noch nicht ganz durch, und die Analyse wird auch noch etwas Zeit brauchen. So lange werdet ihr euch noch gedulden müssen!«

»Verbrannt ist er jedenfalls nicht.« Renan hatte Pit die Digitalkamera entwunden und die Bilder der Leiche begutachtet.

»Nein, das kann ich auch als Nicht-Mediziner feststellen.« Pit versuchte, die Kamera zurückzukriegen, scheiterte aber an Renans festem Griff. »Höchstwahrscheinlich ist er an einer Rauchvergiftung gestorben oder erstickt – wie auch immer. Zum Verbrennen hat’s nicht gereicht, weil die Feuerwehr halt doch irgendwann da war und den Brand gelöscht hat, bevor alles verkohlt ist.«

»Habt ihr schon Hinweise auf die Identität?«, fragte Al­fred stirnrunzelnd.

»Bis jetzt nicht, aber das ist ja auch nicht mein Job, gell?« Pit hatte seine Kamera zurückerobert und wandte sich einem Feuerwehrmann zu, der nach ihm gerufen hatte. »Alles Weitere dann im Bericht!«

»Wo sind denn die Hausbewohner?«, rief ihm Renan noch nach.

»Sind drinnen, warten auf euch!«

 

»Erst diese Schmierereien, und jetzt zünden sie uns auch noch das Haus an«, schluchzte die Mutter, während der Vater auf der einen Seite seine Frau und auf der anderen die etwa zehnjährige Tochter zu trösten versuchte.

Wie sie nun erfahren hatten, hatte Familie Burgstätter sich den Traum vom Eigenheim erst vor einem Dreivierteljahr verwirklichen können; trotz der relativ hohen Preise hatten die Burgstätters mit einer kleinen Erbschaft, einer schnellen Kaufentscheidung und der Möglichkeit, einige Ausbauarbeiten selbst zu übernehmen, Glück gehabt. So schien es zumindest am Anfang. Doch dann stellte sich schnell heraus, dass einige im Viertel den neuen Mitbürgern ihr Glück nicht gönnen wollten. Und so war auch ihr Haus in den letzten Monaten schon einmal das Opfer einer Farbbeutelattacke geworden – nebst einer eindeutigen, gesprühten Aufforderung, das Viertel wieder zu verlassen.

»Bonzen raus!«, schimpfte nun auch der Vater, »das ist doch der blanke Hohn. Wie blöd müssen die sein, wenn sie nicht einmal zwischen einem Penthaus und einer Doppelhaushälfte unterscheiden können.«

»An die Penthäuser kommt man eben so schlecht ran.« Renan wusste nicht so recht, ob das an ihrer Schwangerschaft lag, aber irgendwie fiel es ihr gerade schwer, besonders empathisch zu sein.

»Was war denn mit den Autos?«, fragte Alfred schnell. »Da hatten Sie bislang aber noch keinen Schaden, oder?«

»Nein, unser alter Ford Kombi hat die nicht interessiert.« Herr Burgstätter stand auf und lief zwischen der Couch und der Terrassentür hin und her. »Aber irgendwann braucht man halt mal ein neues Auto … Und was kann ich dafür, wenn ich über die Firma bei BMW zwanzig Prozent kriege?!«

»Was haben die bisher so angezündet?«, fragte Alfred.

»Alles, was teurer aussah und nicht in einer Garage stand«, Burgstätter steigerte sich nun in eine sichtbare Wut hinein, »BMWs, Audis, solche SUVs … aber das haben Sie doch sicher alles in Ihren Akten.«

»Andere Feldpostnummer …«, begann Renan, wurde aber sofort wieder von ihrem Kollegen unterbrochen.

»… ja, sicher, haben wir. Wir fragen uns nur, ob Ihr Fahrzeug gezielt ausgesucht wurde. Es stehen ja noch einige mehr in der Straße.«

»So viele stehen da nachts nicht.« Burgstätter kaute auf seinen Lippen herum. »Wir haben nur das Pech, dass es bei uns nicht mehr für eine Garage gereicht hat. Dann wäre der Garten so klein geworden, dass kein Tisch mit vier Stühlen mehr auf die Terrasse gepasst hätte!«

»Mama, darf ich jetzt in mein Zimmer gehen?«, fragte die Tochter, die sich in der Situation offensichtlich nicht wohlfühlte.

»Ja, mein Schatz«, Frau Burgstätter versuchte ein Lächeln, »ich komme auch gleich …«

»Es wäre aber auch möglich, dass es den Tätern nicht um Sie ging.«

»Meinen Sie?« In der Stimme der Frau war eine Spur Erleichterung zu hören.

»Es spricht einiges dafür«, sagte Renan, »es könnte auch um den Toten gegangen sein.«

»Was für ein Toter?!« Um Frau Burgstätters Erleichterung war es mit einem Schlag wieder geschehen.

»Oh, haben die Kollegen Sie dazu noch gar nicht befragt?« Alfred blickte verunsichert zu Renan.

»Nein, wir sind ja nicht mal in die Nähe des Wagens gekommen, seitdem die Feuerwehr angerückt ist.« Die Mutter machte sich etwas zögerlich auf den Weg in den ersten Stock.

»Das muss dann der Kerl gewesen sein, der das schon öfter gemacht hat!« Burgstätter stellte sich vor die Terrassentür und blickte finster nach draußen.

»Das hat es schon öfter gegeben?«, hakte Alfred nach.

»Ja, der ist fast schon eine Berühmtheit, bei diesen Asozialen«, schimpfte der Hausherr. »Legt sich aus Protest in fremder Leute Autos und schläft darin … Da sieht man mal wieder, was diese ganzen elektronischen Schlösser wert sind!«

»Ist das in der Nachbarschaft schon mal passiert?«

»Direkt nicht, weiter hinten in der Schlossstraße, glaube ich … Diese Verbrecher machen mich krank!«

»Hat er die Fahrzeuge irgendwie beschädigt?« Die zunehmende Aggression in Burgstätters Stimme ließ Alfred aufhorchen.

»Keine Ahnung. Ist aber doch völlig egal. Der hat sich da nicht reinzulegen und anderer Leute Privatsphäre zu verletzen … Da muss er sich auch nicht wundern, wenn er einmal …«

»Einmal was?«, fragte Alfred.

»Ich muss jetzt mal raus!« Renan verließ schnellen Schrittes das Haus.

 

Draußen wurde sie auf einen kleinen Tumult aufmerksam, der sich rund um zwei VW-Busse der uniformierten Kollegen abspielte. Offenbar waren einige linksalternative Jugendliche gekommen, um ihre Interpretation der Vorgänge lauthals zu verkünden. Wie so oft hatten sie dabei nicht an sich halten können und einigen der anwesenden »Trachtler« mitgeteilt, was sie so von der Polizei im Allgemeinen und den Anwesenden im Besonderen hielten. Zwei der Demonstranten saßen schon zur Aufnahme der Personalien in einem der Busse, ein knappes Dutzend weiterer verhielt sich ruhig und stand hinter der Absperrung zusammen, während ein besonders aufsässiger offenbar mit Pfefferspray außer Gefecht gesetzt worden war und nun schimpfend unter dem Knie eines jungen, schrankgroßen Polizeimeisters auf dem Boden lag.

»Faschistenwichser seid ihr, alle miteinander!«, keuchte der Aktivist, dessen Kopf unter der abgewetzten, schwarzen Lederjacke kaum zu erkennen war.

»Nur weiter so«, sagte eine Kollegin, die mit einem Notizblock danebenstand. Renan kannte sie kaum, glaubte aber, dass sie Sophia oder Sophie mit Vornamen hieß. Sie war wohl ein paar Jahre älter als Renan und anscheinend noch nicht lange in der Stadt.

»Wenn ich ein Nazi wäre, hättet ihr mich nicht angefasst, ihr Drecksbullen!«, ergänzte die Lederjacke.

»Wird immer teurer.« Sophia schrieb fleißig mit.

»Haben die irgendwas mit der Sache da zu tun«, fragte Renan, nachdem sie sich kurz zugenickt hatten.

»Na ja, da würde ich keine Wette drauf abschließen, dass die nichts mit dem Feuer zu tun haben …« Sophia blickte abwartend nach unten.

»Arschlöcher …«

»Wer sagt’s denn, noch mal 1.500!«

»Sind die schon bekannt bei euch?«, fragte Renan.

»Die gehören wahrscheinlich alle zu so einer Organisation … AFK oder AFKO, je nachdem … Kommt noch was?«

»Hhhmpff«, sagte die Lederjacke.

»AFKO?«, fragte Renan und stupste den Kerl leicht mit der Fußspitze an.

»Aaahh … ihr Folterknechte!«

»Aktionsfront Konradshof, glaube ich«, sagte Sophia, »die meisten sind schon aktenkundig. Meistens wegen BtMG, ­zwei-, dreimal haben wir auch einen mit Farbbeuteln oder beim Anbringen von solchen Schmierereien erwischt.« Sie musterte Renans Bauch. »Herzlichen Glückwunsch, übrigens.«

»Danke«, sagte Renan schnell, »ich glaube, dann solltet ihr uns die Personalien auch mal mitteilen.«

»Ihr Schwachköpfe«, rief die Lederjacke, »wir zünden doch keine Karre an, wo einer von uns drin liegt!«

»Was heißt einer von uns?«, fragte Renan und stupste nochmals.

»Rocco«, schluchzte ein Mädchen, das gerade aus dem VW-Bus geklettert kam. Der Kleidung nach gehörte auch sie zur alternativen Szene.

»Wer ist das?«, fragte Renan.

»Die Personalien haben die Kollegen im Bus.«

»Ist die auch ausfällig geworden?«

»Nein, die ist zusammengebrochen …«

»Einen kleinen Moment bitte«, rief Renan und lief der jungen Frau nach.

 

*

 

»So«, Alfred kniff die Augen zusammen und näherte sich dem Bildschirm bis auf eine Nasenlänge, »da haben wir ihn ja. Rocco Baierlein …«

»Heißt, also hieß der wirklich so?« Renan hatte ihre Teetasse wieder aus dem Karton gezogen und sich einen Roibuschtee aufgebrüht. Ihren geliebten Darjeeling durfte sie gerade nicht zu sich nehmen.

»Offensichtlich«, Alfred klickte ein paar Mal mit der Maus, »22 Jahre. Ist bei uns aktenkundig wegen Besitz von Betäubungsmitteln … sieben Gramm Hasch, außerdem wegen gemeinschaftlich begangener Sachbeschädigung …«

»Was war das?« Renan blies heftig in ihre Tasse.

»Schmierereien an Hauswände. Da ist er aber nur verdächtigt worden, auf den Hinweis eines Anwohners hin. Zur Anklage kam es wohl nicht … Dann versuchter Diebstahl in zwei minderschweren Fällen … ach, da haben sie die Mülltonnen von Supermärkten ausgeräumt. Und dann … tatsächlich …«, er lehnte sich zurück.

»Was?«

»Na, schau selber.«

Renan stand ächzend von ihrem Stuhl auf und kam um den Schreibtisch herum.

»Der hat tatsächlich Autos geknackt und sich dann zum Schlafen reingelegt«, sie legte die Stirn in Falten, »und das schon fünf Mal?«

»Fünf Mal ist Anzeige erstattet worden«, präzisierte Al­fred, »wahrscheinlich hat er es noch öfter gemacht und wurde dabei aber entweder nicht erwischt oder nicht angezeigt.«

»Fünf Fälle von …«, Renan ließ sich wieder in ihren Sessel fallen, »ja, äh, was ist das eigentlich? Am Ende doch auch nur Sachbeschädigung, oder?«

»Selbst dafür scheint’s nicht gereicht zu haben«, Alfred schnüffelte wieder am Bildschirm, »der hat das anscheinend ganz gut gekonnt. Wenn ich das richtig sehe, war keines der Fahrzeuge wirklich beschädigt. Also kommst du mit Sachbeschädigung nicht weiter. In einem Fall befand sich der Pkw auf Privatgrund, da kam dann Hausfriedensbruch infrage, aber … der wird ja nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft verfolgt. Vielleicht hat der Hausbesitzer die Antragsfrist versäumt.«

»Also ist das Übernachten in einem fremden Auto nicht strafbar?« Sie kaute auf einem Bleistift herum.

»Wenn du es nicht beschädigst und es nicht auf privatem Grund steht …«, Alfred hob die Arme. »Das scheint kein Dummkopf gewesen zu sein, dieser Baierlein.«

»Na gut«, Renan schlürfte ihren Tee, »die Kollegin da am Richter-Platz hat ja gesagt, dass er auch zu dieser AFKO gehört hat. Wie es scheint, hat er auf seine Weise gegen die Neubauten protestiert, indem er sich in die Autos von den Leuten gelegt hat … Dann war da übrigens ein Mädel … Völlig aufgelöst, die Kleine. Muss vor den Trachtlern kollabiert sein, während ihre Freunde ihnen Freundlichkeiten zugerufen haben. Es scheint, dass sie in näherem Kontakt mit dem Toten stand. War leider nicht sehr gesprächig, ich habe sie für morgen Nachmittag aber mal herbestellt, die weiß vielleicht mehr …«

»Gentrifizierung«, sagte Alfred nach einer kurzen Denkpause.

»Was?«

»Der Fachbegriff für das, was da gerade in Konradshof passiert, heißt Gentrifizierung. Alter Baubestand wird saniert, Bäder rein, Fußbodenheizung, neue Fenster, Balkone dran, Parkettfußboden … und dann entweder teuer verkauft oder vermietet. Wo sich noch ein paar leere Quadratmeter finden, werden solche Häuser hingestellt wie das von heute Morgen.«

»Schon wieder was gelernt«, knurrte Renan abschätzig. Sie war in der Vergangenheit öfter mit Alfred aneinandergeraten, wenn sie sich belehrt gefühlt hatte. Mittlerweile konnte sie sich zumindest manchmal damit abfinden, dass dies wohl mehr an ihrer eigenen Wahrnehmung lag als an seinem Charakter.

»Jedenfalls hat unser Toter bisher entweder viel Glück gehabt, oder er war clever.« Alfred ignorierte den streitlustigen Ton seiner Kollegin. »Er ist, alles in allem, nur einmal verurteilt worden – und zwar wegen den Betäubungsmitteln.«

»Und, wie viel?«

»Neunzig Arbeitsstunden«, Alfred musste lächeln, »fiel damals noch unters Jugendstrafrecht.«

»Na gut.« Renan stand wieder auf und ging zu dem Flipchart, das verloren in der Ecke hinter der Tür stand. »Dann sehe ich fürs Erste zwei Möglichkeiten: Entweder es war ein saudummer Zufall, und er hat einfach zur falschen Zeit im falschen Auto geschlafen«, sie malte mit quietschendem Filzstift ein Rechteck in die linke obere Ecke.

»Oder?« Alfred lehnte sich zurück und hob das Kinn.

»Oder da hat einer von den geplagten Neu-Konradshofern sich gedacht, dass er’s diesen linken Revoluzzern mal so richtig zeigt und zurückschlägt.«

»Du meinst also …« Alfred kratzte sich am Kinn. »Na ja, dieser Burgstätter war nicht gerade mitfühlend. Bei dem wäre ich mir nicht sicher, ob der in so einem Fall nicht in Versuchung käme, die Gunst der Stunde zu nutzen …«

»Ist doch eine optimale Situation, wenn einer so denkt«, Renan malte ein zweites Rechteck rechts oben, »seit Monaten, wenn nicht Jahren, beschmieren diese Kerle Hauswände und zünden sogar Autos an. Wer käme denn drauf, dass einer aus einem Reihen- oder Penthaus so was macht. Und dass dieser Rocco öfter mal in fremden Fahrzeugen geschlafen hat, war ja auch nicht ganz unbekannt …«

»Im ersten Fall wäre es dann ein tragischer Unfall«, schloss Alfred, »im zweiten wäre es Mord.«

»Außer Acht lassen sollten wir das nicht.« Renan malte zwei Pfeile von den Rechtecken nach unten. »Hatte der Tote überhaupt eine Meldeadresse?«

 

*

 

»Frau Fäustel?« Alfred berührte die alte Dame leicht am Oberarm. »Frau Fäustel, verstehen Sie mich noch?«

»Die Medikamente machen sie immer so müde«, sagte die junge Frau in Weiß, »ich glaube nicht, dass Sie da heute Abend noch weiterkommen.«

Die alte Dame war Besitzerin eines Hinterhauses mit zwei Wohnungen in Konradshof. Wobei es eigentlich nur eine Wohnung im Erdgeschoss war. Dazu war im gleich anschließenden Dachgeschoss irgendwann nach dem Krieg eine Kammer als Zimmer ausgebaut worden. Außerdem gab es das alte Klo im Treppenhaus, wo man sich auch notdürftig mit kaltem Wasser waschen konnte. Die Dachkammer hatte sie vor knapp einem Jahr an einen jungen Mann vermietet, der sich nun in einem Kühlfach in der Gerichtsmedizin befand. Die alte Frau lag in ihrem Bett in einem Schlafzimmer, das original aus einem Einrichtungskatalog der Fünfzigerjahre hätte stammen können. Ein dunkelbraun furniertes Doppelbett mit hohem Kopf- und Fuß­ende, ein ebensolcher fünftüriger Kleiderschrank, der kaum höher war als Alfred, und eine Kommode mit einem dreiteiligen Spiegel darauf. Die beiden Seitenteile des Spiegels konnte man einklappen und so das Mittelteil schließen. Aus dem Schrank roch es stark nach Lavendel. Alfred fühlte sich fast in das Schlafzimmer seiner Eltern zurückversetzt, nur dass die es in den Siebzigerjahren ausgewechselt hatten.

Er schaffte es gerade noch, sich vorzustellen und auszuweisen, was die alte Dame zu der Frage veranlasste, ob er denn etwas von Herrn Baierlein wüsste. Doch während Alfred sich noch eine passende Antwort zurechtlegte, war sie schon eingeschlummert.

»Sie hat sich schon den ganzen Tag so aufgeregt, weil der Rocco nicht gekommen ist«, sagte die Schwester, während sie ihr Blutdruckmessgerät einpackte, »und die viele Aufregung hat sie jetzt müde gemacht. Die wacht sicher erst in den frühen Morgenstunden wieder auf – wie immer.«

»Und Sie sind …?«, fragte Alfred.

»Schwester Manuela, Manuela Bogner … Ich bin vom Pflegedienst.« Sie schloss ihren Koffer und blickte auf die Uhr.

»Sind Sie regelmäßig hier?«, fragte Alfred, während er den Namen in seinem Block notierte.

»Fast jeden Tag.« Frau Bogner löste ihren Haargummi und begann, ihre Frisur neu zu ordnen.

»Kannten Sie dann den Herrn Baierlein auch?«

»Wir sind uns hier ein paar Mal begegnet.« Der blonde Pferdeschwanz war nun wieder in Form gebracht. »Eigentlich ein ganz netter Kerl. Ein bisschen verhaut vielleicht, aber um die Frau Fäustel hat er sich wirklich lieb gekümmert. Hat er wohl was angestellt?«

»Nun ja, ähm …«

»Wahrscheinlich schon, sonst wären Sie ja nicht hier … Entschuldigung, ich muss noch kurz in die Küche schauen.«

»Herr Baierlein ist, ähm, also er wurde tot in einem abgebrannten Auto aufgefunden«, Alfred folgte der Pflegerin, »heute Morgen. Gar nicht weit weg von hier.«

»Jetzt sagen Sie nicht, das war dieser Auflauf da am Richter-Platz!« Frau Bogner blieb abrupt in der kleinen Küche stehen.

»Genau da.« Alfred konnte gerade noch rechtzeitig anhalten.

»Und das wollten Sie der Frau Fäustel jetzt sagen, oder wie?«

»Ja, und natürlich hatte ich gehofft, noch etwas über die näheren Lebensumstände von Herrn Baierlein zu erfahren.«

»Um Himmels willen, passen Sie da bloß auf«, sie drehte sich um und stupste Alfred mit dem Zeigefinder an die Brust. »Sie darf sich nicht aufregen, das macht ihr Herz nicht mehr mit.«

»Danke für den Hinweis«, Alfred rieb sich die Nase, »ich fürchte aber, dass ich ihr ein paar Fragen nicht ersparen kann. Wir konnten noch keine Eltern oder sonstige Verwandten ermitteln.«

»Kommen Sie morgen Abend«, Frau Bogner blickte noch einmal hektisch auf ihre Uhr, »um 5. Dann bin ich auch da und gebe ihr vorher noch ein Beruhigungsmittel.«

»Na gut, wenn Sie meinen …«

»Wollen Sie vielleicht schuld sein, wenn sie einen Schock kriegt? Oder Schlimmeres?!«

»Nein, nein. Natürlich nicht!«

»Wunderbar …«, sie sah sich hilfesuchend im Raum um, »und da Sie jetzt etwas Zeit gespart haben, könnten Sie vielleicht …«

»Was?«

»Es heißt doch immer: die Polizei, dein Freund und Helfer …«

 

Alfred hatte nie verstanden, wofür dieser Regler gut war. Links einer mit einem blauen Punkt – Kaltwasser, und rechts einer mit einem roten Punkt – Warmwasser. Aber wozu dieser dritte in der Mitte?

Er kannte die Boiler, die in früheren Zeiten oft über den Spülbecken von Altbauküchen angebracht waren. Das Wasser kam immer nur in einem dünnen Rinnsal heraus und war in kein vernünftiges Mischungsverhältnis zu bringen.

Nachdem die Schwester die Wohnung der alten Frau Fäustel verlassen hatte, sah sich Alfred mit zweierlei Per­spektiven konfrontiert. Er hätte die Dachkammer von Baierlein in Augenschein nehmen und nach Hinweisen suchen können, allerdings war die Spurensicherung noch gar nicht da gewesen. Oder sollte er der Bitte der resoluten Pflegekraft nachkommen und das Geschirr der alten Frau abspülen?

Alfred entschied sich für Letzteres, nachdem er die Eingangstür zur Dachkammer schnell noch versiegelt hatte. So groß war sein Eifer nach 35 Dienstjahren dann doch nicht mehr, außerdem war es schon nach 5 Uhr. Und viel war es ja nicht gerade. Zwei Teller, ein Glas, eine Tasse und eine kleine Schüssel.

Da gab es in der Spülküche des Präsidiums schon mehr zu tun, wenn mal wieder keiner Spülmaschinen-Tabs nachgekauft hatte. Im Laufe der Jahrzehnte war Alfred zum Hauptspüler der Etage avanciert, was weniger an seiner Unterwürfigkeit, sondern mehr daran lag, dass er nach einiger Zeit so etwas wie Gefallen daran gefunden hatte. Abspülen bescherte ihm immer ein schnelles, sichtbares Ergebnis, was sonst im Dienst eher selten war.

Er zog sein Tweed-Sakko aus, krempelte die Ärmel hoch und machte sich ans Werk, wobei er einmal mehr feststellte, dass diese alten Küchen offenbar allesamt für Zwerge eingerichtet worden waren. Er musste sich so weit hinunterbeugen, dass sein Kreuz mit einem heftigen Ziehen protestierte.

Als er fertig war, zog Alfred den Stöpsel raus und sein Jackett wieder an. Er trocknete sich die Hände ab und sah sich nochmals in dem kleinen Raum um.

Die Küche war bestenfalls sechs Quadratmeter groß, fensterlos und schummrig. Auf der einen Seite standen der Spülschrank, ein Gasherd und ein Kühlschrank. Gegenüber in der Ecke ein kleiner Tisch mit einer Wachstischdecke und zwei Stühlen, deren Beine aus verchromtem Metall bestanden und deren Sitze und Rückenlehnen mit dunkelrotem Kunstleder ausgestattet waren.

Auf dem Tisch lagen ein paar Werbeprospekte und zwei geöffnete Briefe. Der oberste erregte Alfreds Aufmerksamkeit, denn er trug den Briefkopf eines Wohnungsbauunternehmens, das ihm im Zusammenhang mit der regen Bautätigkeit in Konradshof bereits mehrmals aufgefallen war. Er nahm das Schreiben aus dem Umschlag, zögerte kurz und las schließlich:

 

Sehr geehrte Frau Fäustel,

 

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Zögern Sie daher nicht, mich zu kontaktieren. Sie können nur gewinnen.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Stefan Meßthaler

 

*

 

Die Bürgerversammlung war sehr kurzfristig organisiert worden und fand im großen Saal des Stadtteilzentrums statt. Wo normalerweise Off-Theater gespielt wurde oder Kindergartenkinder ihre Gesangskünste zum Besten gaben, entbrannte nun eine heftige Debatte über die letzten Vorkommnisse in Konradshof. Neben dem Feuer, das dem K11 Kopfzerbrechen bereitete, war in der vorigen Woche ein Zaun beschädigt worden. Ein Hausbesitzer hatte diesen um sein Grundstück gezogen und damit einen Durchgang von der Schlossstraße in die Meisenstraße so verengt, dass kaum noch ein Fahrrad oder Kinderwagen durchpasste. Mehrere Autonome hatten gegen diese Maßnahme demonstriert, und dabei war es zu einer Rempelei mit dem Hausbesitzer gekommen, der einige Prellungen davongetragen hatte.

Als Reaktion auf die schon länger herrschenden Spannungen hatten sich zwei verschiedene Initiativen gegründet. Die Gruppe Konradshof für Alle bemühte sich um einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen. Sie bestand überwiegend aus bessergestellten Alteingesessenen, die ehedem als Studenten hergezogen und mittlerweile Studienräte, Ingenieure oder Sozialarbeiter geworden waren. Die andere Gruppe hatte sich überwiegend aus den Neubürgern gebildet. Sie nannte sich AufRecht.

Konradshof für Alle war durch zwei Sprecher vertreten, einen Herrn Zinngiebel und eine Frau Malcher-Günzburg. AufRecht hatte den Vorsitzenden, Herrn Postler, entsandt, einen fast zwei Meter großen, dynamischen Enddreißiger mit Glatze und Brille, sowie ihren »Pressesprecher«, Herrn Otte, etwa im gleichen Alter, jedoch mit schütter werdendem blonden Haupthaar. Beide trugen Jeans, weiße Hemden und Jacketts. Sie saßen nun alle vorne auf dem Podium, gemeinsam mit einem Vertreter des Stadtplanungsamtes und zwei Stadträtinnen der größten Rathausfraktionen.

Von der Polizei waren keine Repräsentanten eingeladen – oder die Kollegen hatten die Einladung geflissentlich ignoriert. Renan verspürte jedenfalls wenig Lust, sich als Kriminalbeamtin zu erkennen zu geben. Das war auch nicht ihr Anliegen, sie besuchte die Veranstaltung nur, weil sie sich einige Hinweise auf den aktuellen Fall erhoffte. Das Publikum bestand wohl überwiegend aus Mitgliedern der zwei Gruppen. Dazu kamen noch einige Neugierige – ­unparteiisch oder nicht – sowie ein kleines Grüppchen eher alternativ wirkender Jugendlicher beziehungsweise Twens. Ein bekanntes Gesicht aus den Aktivistenkreisen suchte Renan vergeblich.

Nach einer anfänglichen Rekapitulation der jüngsten Vorkommnisse verlas die Stadträtin der CSU eine E-Mail des bedrängten Zaunbesitzers, der mitteilte, dass er sich bis auf Weiteres in seinem Haus nicht mehr sicher fühlte und daher vorübergehend zu seinem Bruder in die Nachbarstadt gezogen war.

»Soll das hier vielleicht so weitergehen?«, rief Postler, kaum dass die Stadträtin geendet hatte. »Sollen sich unbescholtene Bürger nicht mehr in ihren Häusern sicher fühlen?«

»Entschuldigung, Herr Postler«, Zinngiebel versuchte sich in der Rolle des Moderators, »aber wir sollten nach der Reihe der Wortmeldungen vorgehen. Hier hat sich eine Dame vorher gemeldet«, er deutete ins Publikum.

»Ich besitze zwei Häuser in der Meisenstraße«, sagte eine Frau von etwa fünfzig Jahren in der zweiten Reihe. »Und ich würde dafür plädieren, dass man diesen Randalierern mal klarmacht, dass wir viel Geld und Nerven in die Sanierung von Häusern stecken, die noch auf dem Vorkriegsstand sind. Als Dank dafür kriege ich dann Schmierereien und Farbbeutel an die Wand. Wenn es den Herrschaften lieber ist, verkaufe ich die Häuser an einen Bauträger, dann werden sie schon sehen, was sie davon haben.«

»Eine viertel Million haben wir investiert«, rief ein Herr von weiter hinten. »Und die Mieten gerade mal um zehn Prozent erhöht. Dafür darf man sich dann als Kapitalistenschwein beschimpfen lassen!«

»Genau das meine ich«, nickte Postler.

»Wir versuchen seit Jahren, den Dialog zwischen den verschiedenen Bürgerinnen und Bürgern hier zu organisieren«, sagte Frau Melcher-Günzburg.

»Wunderbar«, fuhr Postler dazwischen, »dann machen Sie doch Ihren Freunden einmal klar, was hier gerade gesagt wurde!«

»Erstens, Herr Postler, sind autonome Gruppen nicht unsere Freunde«, Frau Melcher-Günzburg wirkte pikiert, »und zweitens bin ich nicht Ihr Lautsprecher. Wenn Sie mit den jungen Leuten reden wollen, dann müssen Sie sich schon selbst darum bemühen. Ein Engagement beim Stadtteilfest wäre vielleicht ein erster Schritt.«

»Ach, und wenn ich mich da einen Tag lang an den Grill stelle, kommen die und reden mit mir?«

»Ich habe von einem ersten Schritt gesprochen!«

»Also, für meine Fraktion kann ich sagen, dass wir den Dialog mit Gewalttätern grundsätzlich ablehnen«, mischte sich die CSU-Stadträtin nun ein. «Wir reden mit allen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, aber nicht mit Autonomen, das wäre ein falsches Signal!«

»AufRecht fordert die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in diesem Viertel«, meldete sich nun Herr Otte, der Pressesprecher, zu Wort. »Mit Straftätern wird normalerweise nicht verhandelt, sondern sie werden vor Gericht gestellt.«

»Genau!«

»Sehr richtig«, kam aus den Reihen seiner Anhänger.

»Ich verstehe nicht, warum die Leute nicht aufhören, diesen Baufirmen haufenweise Geld in den Rachen zu schmeißen«, meldete sich eine junge Frau aus den Reihen der Alternativen. »Wenn keiner mehr diese Unsummen bezahlen würde und die auf ihren Wohnungen sitzen bleiben würden, wäre das Problem schnell erledigt!«

»Und wem hilft es, wenn dieses Viertel immer weiter verfällt?«, konterte Postler.

»Denen, die keine halbe Million für ein Penthaus haben«, rief ein anderer Alternativer.

»Bei den Neubürgern hier handelt es sich in der Regel nicht um Penthausbesitzer«, erwiderte Otte, »sondern um Familien, die ihr hart erspartes Geld in Eigenheime investieren. Und Sie können mir glauben, dass wir auch alle gerne weniger gezahlt hätten, aber die Marktlage ist gerade so und wird sich in absehbarer Zeit auch nicht ändern.«

»Dann müssen wir uns aber auch nicht wundern, wenn irgendwann Autos brennen.« Das Gesicht der SPD-Stadträtin war bei jeder Wortmeldung ihrer rechten Nachbarn röter geworden, sodass sie jetzt nicht mehr an sich halten konnte.

»Dann müssen wir uns aber auch nicht wundern, wenn von diesen Brandstiftern mal einer brennt«, rief Postler.

»Aha, da kommen wir Ihrer Geisteshaltung also langsam auf den Grund.« Die Stadträtin der SPD rückte mit ihrem Stuhl weiter nach links. »Ich muss sagen, dass mir Ihre Gruppe mehr Angst macht als die paar Autonomen …«

»Im Gegensatz zu denen lehnen wir Gewalt ab«, schaltete sich Otte wieder ein, den die letzte Wortmeldung seines Kollegen etwas in Verlegenheit gebracht hatte, »das ist völlig unstrittig!«

»Außer wenn es um Selbstverteidigung geht«, ergänzte Postler.

»Sie meinen wohl Selbstjustiz«, mischte sich Frau Malcher-Günzburg ein.

»Nennen Sie das, wie Sie wollen. Wir werden uns jedenfalls unsere Autos nicht länger anzünden lassen!«

»Faschist«, tönte es aus den hinteren Reihen. »Nazi!«

»Dir geb ich gleich einen Nazi.« Postler war dunkelrot im Gesicht angelaufen, sprang auf und machte Anstalten, sich in Richtung der Wortmeldung in das Publikum zu stürzen, woran er aber von seinem Mitstreiter Otte mühevoll gehindert wurde.

»Ich würde dafür plädieren, dass wir die Diskussion nun wieder versachlichen«, erhob nun Zinngiebel die Stimme. »Üble Beleidigungen bringen uns keinen Zentimeter weiter.«

»Sehr richtig«, nickte die CSU-Stadträtin.

»Dann hätte ich da mal eine Frage«, meldete sich ein junger Mann, der der Kleidung nach den Alternativen nahestand.

»Bitte.«

»Ist es zutreffend, Herr Postler, dass Mitglieder Ihrer Gruppe bereits nachts auf Streife durch das Viertel gehen?«

»Was soll das heißen, auf Streife gehen?«, antwortete Otte.

»Das, was es eben heißt.« Der junge Mann zuckte mit den Schultern. »Nachts nach dem Rechten sehen, mit schweren Taschenlampen – und womöglich noch anderen Accessoires … mit einem oder zwei Kollegen, Hunden …«

»Falls Sie hier auf eine Bürgerwehr anspielen«, sagte die SPD-Stadträtin, »das lehnen wir auf das Schärfste ab!«

»Wir machen nichts dergleichen«, beeilte sich Otte zu versichern.

»Aber man wird ja hoffentlich noch abends in dieser Stadt spazieren gehen dürfen.« Postler grinste nun verschlagen.

Renan hatte genug gehört und beschloss, dass sie den Feierabend nicht noch länger aufschieben würde.

 

*

 

»Wie geht’s dir und unserer Tochter?«, fragte Markus, als sie am späten Abend endlich zum Telefonieren kamen.

»Es wird ein Junge«, insistierte Renan, während sie die Zeitung zerknüllte, die noch auf dem Sofa lag.

»Das diskutieren wir aus, wenn ich wieder zurück bin«, erwiderte er entschlossen.

»Da kannst du diskutieren, so viel du willst, das wird nichts nützen«, seufzte sie.

»Also, wie geht’s euch?«

»Ihm geht’s prima!«

»Und dir?«

»Fantastisch«, rief Renan mit gespielter Begeisterung, »wenn man mal von den Kreuzschmerzen absieht!«

»O je …«

»Wenn’s nur im Rücken wehtun würde«, sie stand auf und bog die Wirbelsäule durch, »aber da drückt irgendwas auf irgendwelche Nerven. Das zieht bis in die Zähne, und in den Armen kribbelt’s auch!«

»Der Arzt hat dir doch so Übungen mitgegeben.« Markus bemühte sich um einen mitfühlenden Tonfall, was Renan gar nicht vertragen konnte.

»Ich kann diese Übungen nicht ausstehen«, keifte sie, »ich habe vorher kein Yoga gemacht, und ich werde es auch jetzt nicht tun!«

»Es ist dein Rücken.« Markus wusste mittlerweile genau, wann Gegenrede fehl am Platz war.

»Exakt! Und jetzt lass uns bitte von was anderem reden!«

»Okay. Hast du den Makler angerufen?«

»Ich hasse Makler«, rief Renan, »ich kann dieses Gesocks nicht mehr sehen und hören …«

Eigentlich war es ihnen beiden ja klar, dass sie nach der Geburt des Kindes über kurz oder lang etwas Größeres brauchen würden. Renans Dreizimmer-Mansardenwohnung war zu klein und das Zweiraumapartment von Markus erst recht. Aber es war zum Auswachsen. Bezahlbare Wohnungen ab vier Zimmern gab es kaum noch, und wenn, dann nur über Makler – und dann musste man im Prinzip gleich bei der Besichtigung den Vertrag verlangen und unterschreiben, sonst kam einem ein anderer zuvor. Vor sechs Wochen hätten sie es beinahe geschafft: vier Zimmer, sanierter Altbau, erster Stock, mit Balkon, verkehrsgünstig, aber trotzdem halbwegs ruhig gelegen … Dummerweise hatten sie sich nach der Besichtigung eine Dreiviertelstunde lang Zeit gelassen, bis Markus die Maklerin angerufen hatte und zusagen wollte. Da hatte sie das Schmuckstück leider gerade an andere Interessenten vermietet.

Seitdem hatte Renan keine Lust mehr, sich an diesem Spiel zu beteiligen. Sie sah sich zwar immer noch die Anzeigen in der Zeitung an, und Markus verfolgte die Suchaufträge in den verschiedenen Internetportalen. Aber was Renan anging, so hatte sie keinen Nerv mehr, dauernd Termine auszumachen und sich bei diesen Wegelagerern einzuschleimen. Markus war da noch etwas hartnäckiger, aber er war zurzeit viel am Herumreisen. Er war Jugendsekretär beim Gewerkschaftsbund, und da mussten auf bundespolitischer Ebene mal wieder ganz wichtige Grundsatzpapiere erarbeitet werden, die seine Anwesenheit in Berlin oder Frankfurt erforderlich machten.

»Gut«, seufzte Markus, »dann wechseln wir eben noch einmal das Thema.«

»Wie war’s denn bei dir heute?«, fragte Renan. Irgendwie wollte sie ihn ja auch nicht das ganze Gespräch lang anschnauzen.

»Och, sehr ergiebig«, seine Ironie war nicht zu überhören, »den Vormittag haben wir darum gestritten, ob wir von einer demografischen Krise oder einem demografischen Wandel reden, und am Nachmittag ging’s damit weiter, ob wir jetzt Ausgaben oder Kosten sagen!«

»Faszinierend.« Renan musste lächeln.

»Durchaus«, sagte er, »aber auch ermüdend!«

»Immerhin kriegst du Geld dafür.« Sie setzte sich wieder und griff zur Teetasse.

»Das ist manchmal der letzte Trost«, lachte er trocken. »Und, wofür hast du heute dein Geld bekommen?«

»Da war mal wieder eine Brandstiftung in Konradshof … Autsch!« Renan hatte sich am heißen Tee die Zunge verbrannt.

»Schon wieder?«, Markus schien den Schmerzenslaut überhört zu haben, »na ja, irgendwie ist es aber auch verständlich, dass da ein paar Leute rotsehen …«

»Diesmal ist aber einer dabei umgekommen.« Sie war aufgesprungen und mit dem Telefon auf dem Weg in die Küche.

»Echt?«

»Ja, in einem Auto verbrannt«, sie kramte im Eisfach auf der Suche nach einem Eiswürfel, »so ein junger Bursche …«

»Scheiße …«

»Gehörte tfu fo einer Gang namenf AFKO …« Der Eiswürfel auf der Zunge tat gut.

»Was?«

»AFKO. Aktionffront Konradfhof …«

»Nie gehört …«

Renan spuckte den Eiswürfel in die Hand, um wieder klar sprechen zu können. »Ja, das ist ein Teil des Problems, die erscheinen wohl nur selten an der Oberfläche. Ich war gerade auf einer affigen Bürgerversammlung … oder so was Ähnlichem. Aber da gab es eher Hinweise auf Täter aus anderen Ecken.«

»Aus welchen Ecken?«

»Aus den neu gebauten Häusern, die scheinen da gerade eine Bürgerwehr aufzubauen.«

»Ach du lieber Himmel …«

»Die geben sich wenigstens zu erkennen, aber die anderen …«

»Ich kenne da vielleicht jemanden, der euch dort weiterhelfen kann …«

 

II. Das ist unser Haus

Am nächsten Morgen wollte Alfred es ruhig angehen lassen. Er drehte sich noch einmal im Bett um, nachdem seine Frau die Wohnung in Richtung ihrer Schule verlassen hatte, schaltete das Radio ein und ließ sich von Bayern5 noch einmal in einen leichten Schlaf brabbeln. Als er wieder aufwachte, war es schon nach 9. Er duschte, genehmigte sich einen Espresso und fuhr dann ins Präsidium. Auf dem Weg nahm er noch eine Butterbreze mit, die er im Büro mit einem – hoffentlich frischen – Maschinenkaffee zu verzehren gedachte.