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Zwei Foltermorde in einer entlegenen Burg bei Koblenz erschüttern die Weinberge an der Mosel. Zwischen den bizarr entstellten Opfern, einem Offizier und einem Studenten, existiert keinerlei Verbindung. Staatsanwalt Robert Hartmann in Berlin wird um Amtshilfe gebeten. Während seiner atemlosen Reise durch eine brutale Vergangenheit verschwimmen die Grenzen zwischen Freund und Feind. Die Ermittlungen zwingen ihn, sich in den Nebel seiner eigenen, unheilvollen Erinnerungen zu begeben. Die blutige Spur reicht bis in seine unmittelbare Umgebung. Als weitere Menschen auf unerklärliche Weise sterben, muss Hartmann erkennen, dass diese Bedrohung vor niemandem zurückschreckt. Auch er ist nur Figur in einem mächtigen Spiel, dessen Regeln andere bestimmen. Als er ahnt, dass der nächste Zug ihm gilt, steht er längst im Fadenkreuz…
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Seitenzahl: 535
Veröffentlichungsjahr: 2015
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MORITZHIRCHE
TODESFÄHRTE
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Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin. Die Nacht, da man sprach: EinKnabe kam zur Welt.Jener Tag soll finster sein und Gott droben frage nicht nach ihm! Kein Glanzsollüber ihm scheinen! Schreckliche Finsternis und Dunkel sollen ihnüberwältigen und düstere Wolken am Tageüber ihm bleiben.Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt?Warum bin ich nicht umgekommen, als ich aus dem Mutterleib kam? Dannläge ich da und wäre still, dann schliefe ich und hätte Ruhe mit den Königenund Ratsherren auf Erden, die sich Grüfte erbauten.Denn was ich gefürchtet habe, istüber mich gekommen, und wovor mir graute,hat mich getroffen. Es sollen sie verfluchen, die einen Tag verfluchen könnenund die da kundig sind, einen Leviathan zu wecken!
Buch Hiob, Altes Testament (Tanach)
Montag, 08. August
Wie schnell kann sich eine glückliche Verheißung zum unerwartetenAlptraum wenden...Reiß dich zusammen! Es ist nur der Regen, das geht vorbei.
Feine Wassertropfen flogen nach allen Seiten, als er den Kopf schüttelte. Blonde Haare hingen in wirren Strähnen durch sein Gesicht. »Verdammtes Scheißwetter!«
Niemand war da, der seine meteorologischen Verwünschungen hätte wahrnehmen können. Doch er fühlte sich besser, wenn er fluchen konnte. Tatsächlich regnete es im Grunde seit Wochen. Es war ein sehr deutscher Regen, der in seiner unvergleichlichen Tristesse Selbstmordgefährdeten vermutlich die Entscheidung erleichterte. Fetzen bedrohlicher Kumuluswolken erstickten auch an diesem Tag die liebliche Landschaft in schwermütigem Dunkelgrau. Mit einiger Phantasie betrachtet schienen sie sich für einen kurzen Moment zu einer hämisch grinsenden Fratze zu vereinen, bevor sie von der nächsten Böe wieder auseinander gerissen wurden. Die gesamte Natur schien in eine Depression verfallen zu sein, die die Wärme verdrängt hatte. In der einsetzenden Dämmerung dieses Tages begannen Nebelschwaden durch die Hügel mit sorgsam angelegten Rebstöcken und die Bäume des nahen Waldes zu kriechen. An den höheren Zweigen riss wütend ein kühler Wind. Es war die schlechte Karikatur eines Sommers, der sich zudem bereits seinem Ende zuneigte. Selbst ältere einheimische Bauern konnten sich nicht an Vergleichbares erinnern. Sie rechneten bereits mit einem miserablen Jahrgang ihres namhaften Rieslings. Möglicherweise wäre den erschreckend kleinen Trauben noch eine passable Spätlese zu entlocken. Sollte die durch ständigen Regen einsetzende Fäulnis nicht auch diese Hoffnung im feuchtgrauen Dunst ersticken. Das Wetter übertrug sich allmählich auf die Menschen, ließ selbst robuste Gemüter mürrisch und missmutig werden.
Mirko Harnisch war ein Mensch ausgesprochen sonnigen Gemüts. Allmählich verdüsterte das Wetter jedoch ebenfalls seine Stimmung. Innerlich verfluchte er zusätzlich den Job, den er über die freien Monate seiner Semesterferien angenommen hatte. Als er den Aushang in einem Café der Koblenzer Innenstadt nahe der Universität gesehen hatte, war ihm das Angebot fast wie ein Hauptgewinn erschienen.
»Werden Sie Verwalter von Burg Rothenfels! Arbeiten und leben Sie eineZeit lang auf einer der ursprünglichsten Burgen im Südwesten Deutschlands.Verdienen Sie ihr Geld, wo andere Menschen Urlaub machen! Entlohnung aufVerhandlungsbasis.«
Noch in derselben Minute wählte er die angegebene Telefonnummer. Der ältere Mann am anderen Ende sagte sofort zu. Laut dem Gespräch sollte sich seine Aufgabe darauf beschränken, zu den Besuchszeiten Eintrittskarten an Touristen zu verkaufen, die den Weg zu dem recht einsam gelegenen Bauwerk fänden. Ansonsten müsste er einfach nur anwesend sein, als eine Art Hausmeister.
Ein echter Traumjob.
Darüber hinaus würde sich viel Freizeit bieten, die er zum Lernen für die anstehenden Examensklausuren gut gebrauchen konnte. Als er zwei Wochen später das mächtige Burgtor durchschritt, konnte er sich erster Zweifel nicht erwehren, ob das Angebot tatsächlich ein Glücksfall gewesen sei. Mehrmals verpasste er den kleinen Waldweg, der von der Landstraße abzweigte. Er fragte sich, wie potenzielle Besucher das winzige Hinweisschild »Zur Burg« im Vorbeifahren wahrnehmen sollten. Harnisch nahm sich vor, auf diesen Marketingfehler aufmerksam zu machen. Die Bedenken verstärkten sich in den folgenden Tagen. Nur wenige Menschen interessierten sich für das unscheinbare Festungsbauwerk. Es lag zu weit abseits ausgetretener Touristenpfade. Die Tage verliefen monoton.
Was ihn jedoch mittlerweile an den Rand der Verzweiflung trieb, war die Einsamkeit, vor allem nachts. Als ängstlicher Typ galt der vierundzwanzig Jahre alte Mirko Harnisch gemeinhin nicht. Eher als einer, der auch allein gut zurechtkam. Seine von Natur aus große, kräftige Statur widersprach eher den Klischees eines Chemiestudenten. Man hätte ihn wahrscheinlich für einen Bauarbeiter oder Surflehrer gehalten. Die dunkelblonden Haare trug er etwas zu lang, sie verlangten eigentlich nach einem Schnitt. Doch irgendwie gab gerade das ihm eine verwegen-romantische Ausstrahlung. Er wusste um seine Wirkung und genoss sie. Die Aufgabe in der Burg brachte ihn erstmals seinen Grenzen näher. Nur anders, als er es sich vorgestellt hatte.
Wenn er um achtzehn Uhr das schwere, hölzerne Tor hinter dem letzten Besucher abschloss, begannen eintönige Stunden des Wartens. Des Wartens auf die Nacht. Zu seiner Verwunderung hatte Harnisch festgestellt, sich in der absoluten Ruhe und Einsamkeit nur schwer auf die komplexen Reaktionsgleichungen in seinen Aufzeichnungen konzentrieren zu können. Inmitten der unerträglichen Stille wurde er ständig durch Geräusche aufgeschreckt, deren Ursprung er nicht unmittelbar lokalisieren konnte. Von einigen glaubte er, sie noch nie vorher gehört zu haben. Oft setzte sich das fort, wenn er sich in sein karges, im Burgfried gelegenes Zimmer zurückzog. In dem schmalen, unbequemen Bett empfand er die Ruhe als quälende Belastung. Für die Zerstreuung durch einen Fernseher hätte er mittlerweile einiges gegeben. Doch der fehlte und wäre mangels Empfang höchstwahrscheinlich nutzlos gewesen. Ein Knarren oder Knirschen irgendeiner jahrhundertealten Holztür ließen ihn dann alsbald wieder hochschrecken, um einen späten Kontrollgang einzulegen. Auch die Treppen führten ein reges Eigenleben und hatten es auf seinen Schlaf abgesehen.
In der ersten Nacht – im Rückblick erschien es ihm lächerlich – entwendete er einer der aufgestellten Rüstungen das Schwert. Schlagbereit postierte er sich hinter einem antiken Holzschrank. Jemand schien in den verwinkelten Gängen unterwegs zu sein. Die Minuten verstrichen und der junge Student musste sich alsbald eingestehen, vergeblich aufgestanden zu sein. Eichenbohlen knarrten und die uralten Eisenscharniere der Holztüren gaben von Zeit zu Zeit jaulende Laute von sich. Der imaginäre Eindringling blieb jedoch im Dunklen.
Am Ende dieses zweiten Montags im August hätte Mirko Harnisch eigentlich besserer Stimmung sein müssen. Der Besuch eines befreundeten Kommilitonen lag nur wenige Stunden zurück. Silvio war bisher der einzige, der seine Ankündigung einhielt, ihn an seinem abgelegenen Arbeitsplatz zu besuchen. Es war eine enttäuschende Erfahrung, dass kaum einer der Bekannten zu den bierselig abgegebenen Zusicherungen stand. Zugegeben, der Weg war selbst mit dem Auto beschwerlich. Andererseits lag die Universitätsstadt Koblenz nicht weit entfernt. Man musste nur wollen.
Schöne Freunde, dachte er mit einem Anflug von Bitterkeit. Der Besuch ließ ihn an den verbleibenden Zeitraum von anderthalb Monaten denken, die ihm noch bevorstanden. Sarkastisch redete er sich selbst ein, bis dahin dem Wahnsinn anheimgefallen zu sein. Nachdem sein Freund aufgebrochen war, fühlte er sich unwohl und noch einsamer als vorher. Aufzugeben wäre allerdings eine zu große Blöße gewesen.
Ich werde durchhalten.
Kurz überlegte er, zum Auto zu laufen und ins nächste Dorf zu fahren. Er könnte dort wenigstens einkaufen gehen. Es würde ihn ablenken. Nach einem Blick auf seine digitale Armbanduhr verwarf er die Idee wieder. Es war bereits nach neunzehn Uhr. Kein Geschäft in der näheren Umgebung würde noch geöffnet sein. Nicht, dass er dringend an diesem Abend etwas hätte besorgen müssen. Er suchte einfach nach einer Chance, Burg Rothenfels zumindest vorübergehend zu verlassen. Der Ort übte eine eigenartige, tief beklemmende Wirkung auf ihn aus. Manchmal fühlte er sich hinter den dicken Mauern, die einst Angriffen von außen standhalten sollten, als Gefangener. Sobald er die immer gleichen Handgriffe verrichtete, die immer gleichen Türen abschloss, spürte er etwas, das nur als Endgültigkeit zu beschreiben war. Es war ein Gefühl, als müsste er für immer hier verharren.
Resigniert lief er über den gepflasterten Innenhof, steuerte das Tor an. Eine bleierne Regenwolke hing schwer über ihm am Himmel, der bereits in Dämmerung begriffen war. Sie schien nur auf eine Gelegenheit zu warten, die nächsten Wassermassen gen Erde fallen zu lassen. Er beschleunigte seine Schritte.
Bloß nicht schon wieder nass werden.
Hektisch zog er an der mächtigen Holztür, hielt aber plötzlich inne. Im lehmigen, vom dauernden Regen aufgeweichten Erdboden vor dem Portal zeichneten sich vom Wald her deutliche Fußabdrücke ab. Sie waren ihm zugewandt, führten demnach zur Burg.
Die letzten Besucher hatte er am frühen Nachmittag verabschiedet: Eine holländische Touristin, die mit ihren zwei schlecht erzogenen Söhnen heillos überfordert zu sein schien. Den älteren der beiden schätzte er auf höchstens dreizehn Jahre.
Skeptisch betrachtete er einen der Abdrücke. Grobes Profil hatte seine Spuren im Boden hinterlassen. Sie konnten unmöglich von den Niederländern stammen. Im Übrigen hätte der Regen sie seitdem längst beseitigt. Beunruhigt ließ er den Blick durch den Wald schweifen. Unter den dichten Zweigen war nur noch wenig zu erkennen. In höchstens einer Stunde würde hier tiefes Dunkel herrschen. »Denk nach!«, zwang er sich zur Ruhe. »Es gibt für alles eine Erklärung, auch hierfür.« Nach einem Moment der Überlegung atmete er erleichtert aus, merkte dabei erst, dass er den Atem angehalten hatte. »Idiot, Silvio ist doch eben erst gegangen«, entfuhr es ihm fast lachend. Der Wald beantwortete sein Eingeständnis mit dem kehligen Schrei einer Eule.
Bald konnte sie lautlos von ihrem Ast gleiten, um im Schutze nahender Dunkelheit zu jagen. Sie würde nicht zurückkehren, ohne ihren spitzen Schnabel in das Fleisch einer Feldmaus oder einer Ratte geschlagen zu haben. Mit erbarmungsloser Geduld würde der Raubvogel den Körper mit scharfen Krallen am Boden halten, bis die letzten Zuckungen des Opfers erstarben. Unbemerkt wäre es möglich, sich mit der toten Beute zurückzuziehen. Nicht etwa als Flucht, nur als Rückzug. Bis der Instinkt das Tier erneut auf die Jagd schickte.
Tatsächlich war Silvio erst vor weniger als einer halben Stunden diesen Weg zu seinem Auto gelaufen. Harnisch grübelte weiter, fühlte sich aber schon entspannter, nachdem er der Meinung war, die Spuren annähernd plausibel erklären zu können.
Doch warum führen die Schuhabdrücke zur Burg, nicht zum Parkplatz?
Der Zweifel hielt an. In diesem Augenblick öffnete sich die Regenwolke wie eine Schleuse, während gleichzeitig der Wind auffrischte. Nach wenigen Momenten stand Wasser in den Fußspuren, verwischte sie. Innerhalb von Minuten würde nichts mehr auf denjenigen hindeuten, der sie hier hinterlassen hatte. Fröstelnd zog er das Tor zu und drehte den Schlüssel wie jeden Abend zweimal. Mit einem metallischen Geräusch schob sich der Riegel ins Schloss. Er hatte es nicht mehr eilig, war er dank der großen Wassertropfen, die der Wind aus allen Richtungen auf ihn einprasseln ließ, doch inzwischen ohnehin völlig durchnässt. Der Regen schien nur der Anfang zu sein. In einiger Entfernung zuckten bereits kleinere Blitze. Schwacher Donner deutete auf ein nahendes Gewitter hin. Die meisten Fenster der Burg waren noch hell erleuchtet. Der graue Himmel zwang ihn dazu, die überwiegende Zeit des Tages die Beleuchtung eingeschaltet zu lassen. Schon aufgrund der spärlichen Besucher. Da Harnisch bisher keinen Hauptschalter gefunden hatte, musste er nun am Abend überall manuell das Licht ausschalten. Ihm war das eigentlich egal. Auch die Stromkosten interessierten ihn kaum.
Das ist ja wohl Sache der Eigentümer dieser gottverlassenen Festung. Diemüssen bestimmt nicht auf den Cent schauen.
Ihm wurde bewusst, dass er keine Ahnung davon hatte, wem die Burg eigentlich gehörte. Ein Bevollmächtigter hatte ihn in Empfang genommen, kurz eingewiesen und war sogleich wieder verschwunden.
Egal, Hauptsache jemand wird mir diese Tortur hier bezahlen.
Er betrat die Burg durch den Seiteneingang, schloss hinter sich ab und lenkte seine Schritte durch die Eingangshalle der kleinen Wendeltreppe zu. Sie führte zu seinem Zimmer im Turm. Modriger Geruch von feuchten Steinen und alten Teppichen stieg ihm in die Nase. Nachdem er das Schlüsselbund und die schwere Stabtaschenlampe aus seinem Zimmer geholt hatte, begann die Runde wie jeden Abend. Die Lichter waren auszuschalten und die Türen abzuschließen. Während er routiniert die immer gleichen Handgriffe durchführte, dachte er daran, wie lächerlich das alles war.
Wer sollte schon hier sein? Selbst die paar Touristen verschwinden nach denobligatorischen Erinnerungsfotos schnell wieder.
Es gab imposantere Bauwerke in dieser an Burgen und Schlössern reichen Region. Zu stehlen gab es kaum etwas. Der größte Teil des Interieurs hatte bestenfalls ideellen Wert. Sein Weg führte ihn durch die beiden Stockwerke der Festung, die vor mehreren Jahrhunderten einem Angehörigen des niederen Adels Unterkunft geboten hatten.
Dessen Name überdauerte die Zeiten. Der Grund dafür lag weniger in seinem nicht allzu beachtlichen Besitz als vielmehr in der berüchtigten Grausamkeit gegen Feinde als auch Untergebene. Mirko Harnisch hatte das in der großen Halle auf einem hölzernen Ständer ausgelegte Buch inzwischen fast ausgelesen. Die Mixtur aus uralten Chroniken und mündlichen Überlieferungen ließ jeden Leser schaudern. Eindringlich wurden die ausgeklügelten Folterpraktiken beschrieben, die während der Herrschaft des ehemaligen Burgherrn zu einer schrecklichen Kunst erhoben worden waren. Dabei hatte er stets große Mühe darauf verwendet, die Unglücklichen möglichst lange am Leben zu lassen, während einer seiner Folterknechte das Opfer langsam ausweidete. Gliedmaßen und Zunge wurden bei dieser Prozedur bevorzugt. Sie waren am leichtesten zu entfernen, ohne das Opfer unmittelbar zu töten. Das eigene Schicksal ereilte den Tyrannen schließlich im Jahre des Herrn 1456. Wer die Tat letztendlich fertiggebracht hatte, war umstritten geblieben. Lediglich ein dunkler Blutfleck blieb der Legende zufolge nach seiner Enthauptung an der Außenmauer haften. Harnisch hatte tatsächlich eine Verfärbung am fraglichen Stein gefunden, ohne sich über den wahren Ursprung sicher zu sein.
Nachdem alle Lampen ausgeschaltet und alle Türen geschlossen waren, lag wie jeden Abend eine düstere Verlassenheit über dem Gemäuer. Dieser Zustand war Mirko Harnisch aus der Stadt unbekannt. In den ersten Tagen hatte er die Stille als unerträglich empfunden. Mittlerweile stellte sich eine gewisse Gelassenheit ein. Zusätzlich erhellte ein Gedanke sein Gemüt.
Ein frisches Bier.
Er dachte daran, wie sehr er die einfachen Annehmlichkeiten des Lebens zu schätzen gelernt hatte. In seinem Zimmer angekommen setzte er sich an den wackligen Holztisch am Fenster. Er stellte neben dem Bett und einem kleinen Schrank das einzige Mobiliar im Raum dar. Die Tischplatte war abgenutzt und zerkratzt.
Wie viele frustrierte, gelangweilte Menschen haben an diesem Tischgesessen?
Er entfernte den Kronkorken. Zischend entwich Kohlensäure aus der Flasche. Das Bier hatte ihm sein Kommilitone Silvio Meier mitgebracht. Der tiefe Schluck war eine Erlösung. Er sah aus dem kleinen Fenster über die Baumwipfel, um die wie immer zu dieser Tageszeit unermüdlich einige Fledermäuse kreisten. Inzwischen war die tiefschwarze Nacht hereingebrochen, während der Regen mit gleichbleibender Intensität vom Himmel rauschte. Die unablässige Geräuschkulisse wirkte gleichzeitig beruhigend und bedrückend. Das Gewitter, das sich am Horizont angekündigt hatte, war wider Erwarten in der Ferne vorbeigezogen. Im Wald hätte man die Hand vor Augen nicht erkennen können.
Schnell leerte er die erste Flasche. Im Begriff, die zweite zu öffnen, hielt er unvermittelt inne. Bereits in den letzten Minuten war er das Gefühl nicht losgeworden, etwas vergessen zu haben. Er hatte es nicht vergessen, er hatte es verdrängt. Der Keller war von Beginn an ein Ort des Unbehagens für ihn geblieben. Harnisch überlegte kurz. Es war eine Sache, das Licht die Nacht über brennen zu lassen. Der Keller verfügte jedoch mittels einer Treppe über einen separaten Ausgang zum Hof. Diese stand tagsüber für die Besucher offen. Da er sie nicht geschlossen hatte, musste sie das auch jetzt noch sein. Nein, es half nichts. Er musste noch einmal dort hinuntergehen.
In den Keller.
Seufzend stellte er die Bierflasche auf den Tisch, griff nach Schlüssel und Taschenlampe. Die weichen Gummisohlen der Sportschuhe dämpften die Geräusche der Schritte auf den engen Treppenstufen. Im Erdgeschoss angekommen tauchte der Lichtschein aus dem Kellerabgang die eine Seite der dunklen Eingangshalle in mattes Licht. Es wurde von den aufgestellten Rüstungen reflektiert. Die grob gezimmerte Tür stand offen. Harnisch blieb stehen. Er hatte fest geglaubt, die Tür an diesem Tag nicht geöffnet zu haben, konnte sich aber nicht genau erinnern. Doch, er war sich sicher. Kein Besucher hatte sich die Gewölbe heute angesehen. Das konnte er nachvollziehen, waren es doch hauptsächlich Familien gewesen. Kurz neben der Tür war in Augenhöhe ein unauffälliges Schild angebracht. Darauf wurde empfohlen, diese Räumlichkeiten mit Kindern nicht zu besichtigen.
Unsägliches Leid hatte sich dort unten zugetragen. Viele große und kleine, inzwischen verrostete Instrumente unterschiedlicher Form lagen ordentlich aufgereiht. Sie waren intelligent konstruiert, um den Opfern bei möglichst lang ausgedehnter Lebensdauer Schmerzen zuzufügen, die den Bereich der Vorstellungskraft überschritten hatten. Wahnsinn oder Ohnmacht mussten die wie von einem Metzger aufgeschnittenen, anschließend von grausamen Spezialisten gequälten Opfer bereits lange vor dem gnädigen Moment des Todes in eine andere Welt geführt haben. Allerlei Pressen und Zangen zeugten von scheußlichem Einfallsreichtum. Vor Hunderten von Jahren waren wahrscheinlich entsetzliche Schreie von den dicken Wänden widergehallt. Zur morbiden Faszination der Touristen war alles weitgehend im Originalzustand belassen. Sogar das tief in den Kellerboden eingelassene Loch, in dem die vermeintlichen Verschwörer verdurstet oder bei lebendigem Leib verfault waren, war unversehrt.
Harnisch war im Begriff die steinerne Kellertreppe zu betreten, als er von unten ein leises, metallisches Geräusch wahrzunehmen glaubte. Unsinn, dachte er, spürte aber wie sich sein Magen zusammenzog. Er stand am Rand der Treppe und lauschte angestrengt in die Tiefe. Nichts als Stille und das kaum hörbare Rauschen des Regens, der unablässig gegen das massive Mauerwerk peitschte. Er blickte hinunter, sah aber nur eine andere Steinwand, da die Treppe halbkreisförmig nach unten führte. Sekunden verharrte er in dieser Position. So sehr er die Sinne anstrengte, konnte er doch keinen Laut mehr ausmachen.
Sicher, sich getäuscht zu haben, setzte er den Fuß auf die erste Stufe. Alles wirkte normal. Tastend setzte er den Weg fort, bis sich der Blick auf die beiden Kellerräume öffnete. Das helle Licht der Neonröhren war ihm schon beim ersten Mal unpassend erschienen, ermöglichte den Besuchern aber die Wahrnehmung jedes grausamen Details der Folterstätte. Das gleichmäßige Flackern im hinteren Raum erschreckte ihn nicht. Es deutete lediglich auf den notwendigen Austausch einer der Leuchtstoffröhren hin. Er würde es morgen erledigen, sofern irgendwo Ersatz zu finden wäre.
Ein leichter Luftzug erinnerte ihn daran, weshalb er hier war. Die Tür zum Hof befand sich am Ende des zweiten Raumes. Er durchquerte den kurzen Gang zwischen den beiden Verliesen, fand sie erwartungsgemäß geöffnet vor. Im Gegensatz zu den übrigen Türen der Burg war sie nachträglich eingebaut worden und bestand aus schwerem Metall. Für einen Moment trat er nach draußen. Der kurze, gemauerte Aufgang endete im Hof. Wassertropfen schlugen ihm scharf ins Gesicht. In der Schwärze konnte er gerade einmal die Umrisse der Burg erkennen. Schnell trat er in die Helligkeit zurück und zog die Tür zu, bis das Schloss einrastete. Ein Knall ließ ihn zusammenzucken. Der Luftzug hatte anscheinend die obere Kellertür zugeschlagen. Das war sonst nie geschehen, doch da hatte auch kein starker Wind geherrscht.
Nicht so schlimm.
Er hatte den Schlüsselbund bei sich und würde sie wieder öffnen können. Dennoch fühlte er sich augenblicklich wie gefangen. Als Harnisch sich umdrehte, um den Rückweg anzutreten, blieb sein Blick an einem der hölzernen Tische hängen. Sie muteten wie Werkbänke an. Nur dass sie vor Jahrhunderten einem anderen Zweck gedient hatten. Das zu bearbeitende Material war menschliches Fleisch gewesen. Zur Veranschaulichung waren darauf in regelmäßigen Abständen die eisernen Folterinstrumente gleich Werkzeugen ausgelegt. Manche ähnelten Messern. Andere schienen der Form von Zangen oder Korkenziehern entlehnt worden zu sein. Die Reihe der Grausamkeiten wies jetzt deutliche Lücken auf. Mehrere der Instrumente fehlten. Der Schreck fuhr Harnisch durch den gesamten Körper. Mühsam zwang er sich zur Ruhe. Das Wahrscheinlichste schien ihm, einer der Touristen hätte einige schaurige Erinnerungsstücke gestohlen.
Schließlich lagen sie lose auf den Tischen.
Er wünschte sich, die Erklärung würde ihn beruhigen. Leider konnte sie es nicht. Zu sicher war er sich, morgens alles an seinem Platz gesehen zu haben. Vielleicht hatte sich jemand heimlich tagsüber hier herunter geschlichen? Jeder Erklärungsversuch schien ihm unwahrscheinlich, ließ ihn nur nervöser werden.
Erst einmal hinaus hier, das Licht löschen.
Morgen würde sich schon alles klären lassen. Seine Hand berührte bereits den Lichtschalter, als eine plötzliche Eingebung ihn herumfahren ließ. Irgendetwas anderes schien ebenfalls nicht zu stimmen.
Sekundenlang ruhte sein Blick auf der Öffnung im Boden, die sich wenige Meter neben ihm auftat. Es war der Eingang zu der kleinen Höhle, in der vor Jahrhunderten die Gefangenen ihrem sicheren Tod entgegengesehen hatten. Normalerweise war das Loch mit einer runden Holzscheibe verschlossen. Damals sollten die absolute Einsamkeit und das Fehlen jeglichen Lichtes die Inhaftierten noch vor ihrem Todeskampf in den Wahnsinn treiben.
Das Loch im Boden war allzu leicht zu übersehen. Es maß im Durchmesser ungefähr einen dreiviertel Meter. Jetzt lag die Holzscheibe neben dem Eingang. Mirko Harnisch fühlte seine Schläfen pulsieren, als er sich der schwarzen Öffnung näherte. Sein Herz schlug rasend. Die rechte Hand verkrampfte sich um die Stabtaschenlampe. Der Blick drang in den schmalen Abgrund, konnte in der dort herrschenden Dunkelheit aber nichts erkennen. Die Deckenbeleuchtung vermochte die enge, mehrere Meter nach unten führende Höhle nicht zu erhellen. Kurz überlegte er, was er dort zu sehen erwartete. Er fand keine Antwort und schaltete die Taschenlampe ein. Der fokussierte Lichtstrahl glitt über die unbearbeitete Wand in die Tiefe. Er beugte sich über die Öffnung. Das Licht erreichte ebenen Sand, den Boden der Höhle.
Der Blick auf die verzerrte Grimasse traf Harnisch wie ein Schlag in den Magen. Der Strahl fiel auf eine blutige Masse, die einmal ein Gesicht gewesen sein musste. Entsetzliche Verstümmelungen nahmen ihm alles Menschliche. Die fehlenden Lippen gaben ihm einen furchtbaren Ausdruck, der an ein teuflisches Grinsen erinnerte. Die Nase war als blutiger Brei in der Mitte des Kopfes nur noch zu erahnen. Die Ohren fehlten ebenfalls. Das Schrecklichste aber waren die leeren Augenhöhlen.
Schwer atmend kämpfte Harnisch mit aufkommender Übelkeit. Die Gedanken überschlugen sich. In seinen Emotionen vermischte sich der Ekel mit hämmernder Angst. Was war hier geschehen? Wer war in der Lage, so etwas zu tun?
Warum?
Widerwillig, aber von dem Drang getrieben alles zu sehen, richtete er die Lampe nochmals in die schwarze Leere. Erneut überkamen ihn Abscheu und Brechreiz beim Anblick der entstellten Leiche. Zitternd umklammerte er die Taschenlampe. Der Lichtkegel hüpfte in der Frequenz seines Zitterns. Er erkannte Kleidung und nackte Haut. Das Blut darauf war von Sand und Schmutz zu Klumpen geformt.
Ein Geräusch war leise, aber hörbar. Die Erkenntnis, möglicherweise nicht alleine im Gewölbe zu sein, ereilte ihn plötzlich und unvorbereitet. Lähmende Todesangst ließ klares Denken unmöglich werden. Der Laut schien von der Treppe zur Halle gekommen zu sein.
Dann war es auch nicht der Wind, der die Tür zufallen ließ.
Wie lange beobachtete die unbekannte Person ihn schon? Die Gedanken überschlugen sich. Angst rann als kalter Schweiß langsam seinen Rücken hinab. Der einzige Ausweg führte jetzt über die Stahltür in den Hof.
Bitte Gott, was auch immer hier passiert, lass mich entkommen. Ich will sonicht sterben.
Während er mit verzweifelter Schnelligkeit die Tür erreichte, schaute er kurz zurück. Er sah den Schatten im Halbkreis der Kellertreppe, der sich ohne Hast zu nähern schien. Instinktiv griff Harnisch den passenden Schlüssel und drehte ihn hastig herum. Während er die schwere Tür nach außen drückte, blickte er wiederum hinter sich. Im ersten Raum des Verlieses bewegte sich etwas Schwarzes in seine Richtung. Er zwängte sich durch die zur Hälfte geöffnete Tür nach draußen. Im gleichen Moment schob er sie mit ganzer Kraft zurück ins Schloss. Schnell verriegelte er sie, um anschließend abwartend zu verharren. Kein Laut war zu hören.
Die Regenwolken hatten sich vom dunklen Himmel verzogen. Nur von den Zweigen der Bäume fielen noch Wassertropfen. Er sah kaum seine eigenen Schuhe in der Schwärze, traute sich aber nicht, die Lampe zu benutzen. Endlich hatte er das Gefühl, wieder eine Chance zu haben, klar denken zu können. An dem großen Bund in seiner Hand war neben den Schlüsseln der Burg auch sein Autoschlüssel befestigt. Nur das Burgtor und der kurze Weg durch den Wald trennten ihn von seinem Wagen. Er konnte es schaffen. Nein, er musste es schaffen. Leise und zügig bewegte er sich auf das große Portal zu. Kurz bevor er das Holztor erreichte, hielt er inne. Für einen Moment hatte er geglaubt, Schritte zu hören.
Unsinn, unmöglich.
Alles blieb still. Einzig von den Blättern einer großen Eiche fielen in rhythmischer Folge Wassertropfen hinab. Am Tor angelangt, versuchte er schnell das Schloss zu öffnen, wählte aber diesmal den falschen Schlüssel. Auch der zweite passte nicht in das geschmiedete Schloss. Das Zittern der feuchten Hände nahm erneut zu. Alle Schlüssel sahen in der Dunkelheit so gut wie gleich aus. Während er weiter versuchte, den Richtigen zu finden, entglitt ihm das große Bund und fiel metallisch klirrend auf die Steine. Er entschloss sich, kurz die Taschenlampe zu Hilfe zu nehmen und betätigte den Schalter.
Beeil dich, schneller.
Die Schlüssel lagen unmittelbar vor seinen Füßen. Er hob sie nicht mehr auf. Die Einsicht, nicht schnell genug gewesen zu sein, hatte etwas grausam Existenzielles. Im Lichtschein erkannte er deutlich den Schatten der massiven Gestalt hinter sich. Sein Herz schien stehen zu bleiben. Während er sich umdrehte um davonzulaufen, fiel ein kurzer Blick auf den, der ihn tötete. Mirko Harnisch blieb kein Hauch einer Chance, dem blitzartigen Stoß auszuweichen.
Unbeschreibliche Schmerzen breiteten sich in seiner Brust aus. Das rostige Metall, das jetzt aus seinem Oberkörper ragte, kam ihm bekannt vor. Es erinnerte entfernt an die Form eines Korkenziehers. Blut lief warm über sein T-Shirt und tropfte auf die regennassen Steine. Schwindel breitete sich hinter seinen pochenden Schläfen aus. Er torkelte. Das Herz schlug weiter, als wolle es das Ende nicht hinnehmen. So einsam wie in diesem Augenblick hatte er sich noch niemals gefühlt. Mühsam drehte er sich um, vergeblich nach Rettung suchend.
Mit einem Mal starrte er in kalte, teilnahmslose Augen ohne Gesicht, in denen weder Wahnsinn noch Mitleid zu erkennen waren. Gleichsam war ein Leuchten darin. Menschliche Züge schienen dagegen ausradiert worden zu sein. Sie musterten ihn als ein Stück Fleisch, annähernd gelangweilt und ohne Reue. Beiläufig wurde er an die Mauer gedrückt. Mit einem Ruck riss ein schwarzer Handschuh an dem Instrument, das schrecklich vulgär aus ihm ragte. Kraftvoll sprudelte das Blut aus der Mitte seiner Brust. Eine Frage, die er sich einmal in der Kindheit gestellt hatte, zuckte durch sein Gehirn.
Wie viel Blut ist in einem Menschen?
Die Antwort verteilte sich in einer ständig größer werdenden Lache vor ihm, versickerte bereits zwischen den nassen Fugen der Steine. Seine letzten Atemzüge fühlten sich heiß und schwer an. Schließlich ließ die blutgefüllte Lunge das Atmen unmöglich werden.
Einmal streckte er noch den Arm aus, als wollte er fragen: »Warumich?«, doch ungerührt wandte sich sein Mörder ab, lief mit ruhig kontrollierten Schritten zur Burg zurück. Aus seiner geballten Faust ragte noch die skurril gedrehte Klinge, mit der er wenige Momente zuvor den jungen Studenten getötet hatte. Braun-rot vermischte sich die Farbe des Rostes auf dem alten Metall mit frischem Blut. Nach jedem zweiten Schritt der Silhouette löste sich ein roter Tropfen und fiel auf den Hof.
Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Freitag, 19. August, Berlin
Deprimierende Leere, gepaart mit schmerzender Eifersucht und einem diffusen Gefühl des Alleinseins beherrschten Robert Hartmann. Am frühen Abend dieses Spätsommertages war die Französische Straße belebt. Mit schnellen, nervösen Schritten ließ er die hell erleuchteten Schaufenster hinter sich und bog in die Hedwigskirchgasse ab.
Er hatte den alten, tiefschwarzen Porsche an einer Stelle der Friedrichstraße geparkt, an der ihm ein Strafzettel so gut wie sicher war, trotz der vorgerückten Stunde des Mittwochabends. Es war ihm gleichgültig. Was zählten schon ein paar Euro, wenn man sich fühlte wie er? Im Übrigen hatte er lange genug mit der Suche eines Parkplatzes vergeudet. Leise fluchend stellte er den Sportwagen schließlich in einer kleinen Lücke neben einer der allgegenwärtigen Baustellen ab. Sie erhoben sich immer noch überall wie offene Wunden aus dem zerrissenen Herz der Hauptstadt. Die regelrechte Bauwut, mit der die Neugestaltung der historischen Mitte Berlins einherging, nahm kein Ende. Ohne ersichtlichen Grund war die Stelle unmissverständlich als Parkverbotszone deklariert.
Dunkle Wolken hingen seit dem Morgen wie bedrohliches Schwermetall über der Stadt. Das angekündigte Gewitter indes war bisher ausgeblieben. Nach einer viel zu kalten Phase präsentierte sich dieser Abend schwül und warm. Die feuchte Luft vermischte sich mit Abgasen und dem typischen Gestank der Großstadt.
Nachdem er spürte, wie mehrere Schweißtropfen sich auf seinem Rücken langsam abwärts bewegten, zog er das helle Sakko aus und legte es über seinen Arm. Mit einer beiläufigen Geste wischte er sich über die Stirn. Sie war ebenfalls feucht. Er strich die mittellangen, dunkelblonden Haare zur Seite. Auffrischender Wind trug loses Papier vor sich her, ließ langsam eine leere Bierflasche über die Straße rollen. Der Flaschenhals fehlte. Erst die gegenüberliegende Bordsteinkante stoppte die klirrende Bewegung.
Mein boulevard of broken dreams.
Die Wettervorhersage hatte ergiebige Niederschläge angekündigt. Der Regen würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Er beschleunigte seine Schritte. Eine Gruppe junger Touristen stand vor einer wenig einladenden Pizzeria. Im Vorbeigehen hörte er begeisterte Fetzen englischer Sprache.
Aus welchem trostlosen Teil des Königreichs mögen sie ihren Weg hierhergefunden haben, dass ihnen diese Stadt so viel Begeisterung zu entlockenvermag?
Unwillkürlich sah er sich um. Die Fassade neben ihm hatte wohl Kriege und Diktaturen überlebt, schön war sie seit langer Zeit nicht mehr. Einzelne Einschusslöcher aus dem letzten Weltkrieg waren nie beseitigt worden.
Liegt der Reiz dieser Stadt für Außenstehende eben im morbiden Charmeihrer Unvollkommenheit?
Jemand hatte das Zerstörungswerk der Geschichte komplettiert und ein hässliches, dafür großflächiges Graffiti angebracht. Sollte ein Passant danach trachten, das bunte Machwerk tolerant als Kunst zu identifizieren, so hatten andere Sprayer auch diese Illusion zunichte gemacht. Ihrer Verachtung war mit einem durchkreuzenden schwarzen Schriftzug Ausdruck verliehen worden. Ein Sinn war dem Gekritzel nicht zu entnehmen. Einzig das Wort »Fuck« drängte sich dem Betrachter überdeutlich auf. Hartmann murmelte es vor sich hin und erntete sogleich verwunderte Blicke der jungen Briten. Vermutlich war einfach noch kein Investor für die kostspielige Sanierung des Objekts gefunden worden.
Im Nachbarhaus hatte sich dagegen ein italienischer Modekonzern einquartiert und zahlte wahrscheinlich eine horrende Miete für die winzige Verkaufsfläche, auf der minimalistisch geschmackvolle Herrenanzüge drapiert waren. Die Preise für die edlen Stoffe wirkten geradezu obszön. Um die Haute Couture nicht allzu deplatziert wirken zu lassen, war die gesamte untere Fassade mit glänzendem Marmor verkleidet worden. Was als nobler Hauch gedacht war, wirkte eher grotesk inmitten der Schäbigkeit der umliegenden Gebäude.
Doch die Immobilien in Nähe der Stadtmitte galten als zukunftsträchtige Investition. Internationale Luxusmarken waren bestrebt, Präsenz zu demonstrieren. Das Ziel war jetzt nicht mehr weit entfernt.
Ein kleines, aber empfehlenswertes Lokal. Er hatte es in besserer Laune schon einige Male mit Kollegen besucht. Als exklusiv war in erster Linie das Angebot der Drinks und Cocktails zu bezeichnen. Hartmann passierte ein Baugerüst, unter dem der stechende Geruch von Urin schwerlich zu ignorieren war. Er atmete durch den Mund. Im Eingangsportal lag angesammelter Unrat. Ansätze von Stuck ließen eine herrschaftliche, zumindest aber bürgerliche Vergangenheit erahnen. Er steuerte das Nebenhaus an. Äußerlich wirkte die Bar rustikal. Die rote Holztür war notdürftig gestrichen worden und knarrte beim Öffnen. Er trat ein.
Der Inhaber, ein stets jovialer Australier, legte Wert auf persönlichen Kontakt zu seinen Gästen. Möglicherweise versuchte er damit, die erschreckenden Preise auszugleichen. Hartmann war dennoch überrascht, mit seinem Namen begrüßt zu werden. Das Gedächtnis musste definitiv eine Stärke des Besitzers sein. Mike zeichnete sich darüber hinaus durch eine positive Ausstrahlung aus, die meist auf seine Gäste übersprang. Herzlichkeit gehörte zum Geschäftsmodell. Auch Hartmann animierte er zu einem gequälten Lächeln.
»Ist hinten noch was frei?« Die Frage bezog sich auf die Lounge im hinteren Teil der Bar und war eher rhetorischer Natur. Es waren kaum andere Gäste anwesend.
»You’re welcome.« Der Satz des Barkeepers klang wie ein Schild, das man an die Tür hängt.
Hartmann ließ die Theke hinter sich und steuerte einen zurückgesetzt gelegenen Raum der Bar an. Dieser war durch eine Glastür getrennt und erlaubte das Rauchen. Er hatte vor längerer Zeit damit aufgehört, erwog an diesem Abend aber, das zu vergessen. In einer Ecke hängte er sein Jackett über einen Lederstuhl und setzte sich an den dazugehörigen polierten Holztisch. Sekunden später stand Mike vor ihm, um die Bestellung aufzunehmen: »Was darf ich ihnen bringen, Herr Staatsanwalt?«
Zum Teufel, woher weiß er das nun wieder?
Er hatte es wohl bei einem vorherigen Besuch zufällig mitbekommen.
»Dunkel sollte es sein, mit Eichenholz und Feuer.« Es klang übertrieben pathetisch, aber Mike schien unbeirrt.
»Ich finde bestimmt etwas ganz Besonderes für Sie.«
Der Barkeeper entfernte sich. Hartmann stützte den Kopf auf seinen Arm, blickte sich um und seufzte etwas gequält. Wenige Tische entfernt saß ein liebevoll ineinander vertieftes Pärchen. Sie redeten leise, warfen einander schmachtende Blicke zu. Auf dem winzigen Tisch vor ihnen standen zwei riesige, mit exotischen Früchten übermäßig dekorierte Cocktails. Hartmann fragte sich mit einem Anflug von Gehässigkeit, warum sie nicht gleich eine Schale Obstsalat geordert hatten. Der Anblick der beiden schmerzte, ohne dass er sich das eingestehen konnte. Seine linke Hand glitt zum rechten Ringfinger. Bedächtig drehte er an dem wertvollen Stück aus Platin und zog daran. Der Ring bewegte sich nur Millimeter. Er drehte und zog stärker. Der Finger begann, sich dunkelrot zu färben, gab den Ehering jedoch nicht frei. Aus seiner Hosentasche förderte er das Gegenstück zutage. Er legte es vor sich auf den Tisch.
Seine Frau Silvana hatte ihn mühelos entfernt, ihm überreicht und dann das Haus verlassen. Sie stritten sich zu häufig. Im Grunde war es eine Frage der Zeit gewesen.
Ich hätte wissen müssen, dass der Zeitpunkt kommen würde.
Der Barkeeper riss ihn aus seinen Gedanken, als er schwungvoll ein schweres Kristallglas vor Hartmann platzierte. Aus einer dunklen Flasche schenkte er einen über achtzehn Jahre gelagerten Single Malt Whisky ein. Erwartungsvoll blieb er am Tisch stehen. Hartmann begriff, dass er auf sein Urteil wartete. Er hob das halbvolle Glas, schwenkte es langsam und blickte in die Flüssigkeit, die im gedämpften Licht eine edle, goldbronzene Färbung annahm. Der erste Schluck verteilte sich wärmend in seinem Mund und offenbarte dem Kenner Anklänge an Holz, Torffeuer und Wasser, das auf seinem langen Weg durch das schottische Hochland weich geworden war. Ein runder Tropfen, der ihm behagte. Mike schien über die Meinung erfreut: »Sie haben einen feinen Geschmack.«
Er hätte vermutlich das gleiche, freundliche Lob abgegeben, wenn ich ihmgesagt hätte, sein Whisky schmecke nach Erdbeeren, dachte Hartmann, blieb aber ebenso höflich.
»Ein erstklassiger Malt. Kann ich die Flasche hier behalten?«
Der Whisky blieb am Tisch und Mike zog sich zurück. Hartmann leerte das erste Glas zügig und schenkte sich nach. Allmählich stellte sich leichte Entspannung ein. Doch die quälenden Gedanken widerstanden dem Alkohol hartnäckig.
Verdammt, wie konnte es nur soweit kommen? Wie groß ist mein Anteil anunserem Scheitern? Ich kann mich erst seit wenigen Stunden als Singlebetrachten und fühle mich bereits einsam. In den meisten Filmen wäre dies wohlder Moment, in dem das Leben einem hart geprüften Menschen eineneue Chance eröffnet, sämtliche Verzweiflung hinter sich zu lassen, ummithilfe einer neuen Herausforderung den demütigenden Anflug vonSchwäche wieder ins rechte Licht zu rücken. Eine unverhoffte, aber dennochunausweichliche Begegnung mit dem Schicksal. Die unerbittliche Realitätbeschert einem in diesen Momenten hingegen meist die Einsicht, dass sichniemand in einer dieübliche Heucheleiübersteigenden Weise für eineninteressiert.
Es schien eine Szene aus einer der miserablen Seifenopern zu sein, mit denen ihn Silvana häufig am frühen Abend gequält hatte.
Fand sie dort ihre Inspiration für dieses Schmierentheater?
Als er nach der Arbeit das Haus betreten hatte, war ihm eiskalte Stimmung entgegengeschlagen. Er ahnte bereits, Unschönes kündigte sich an. Irgendetwas war anders als sonst. Silvana wartete bereits im Esszimmer auf ihn. Gefasst, fast förmlich. Ihre Offenheit schockierte: »Ich trenne mich von dir. Es hat keinen Sinn mehr, Robert. Ich habe jemanden kennen gelernt. Endlich habe ich die Kraft zu diesem Schritt.« Die Worte trafen wie Fausthiebe. Ein lächerliches »Verstehe« entfuhr ihm. Eine wortkarge, verkrampfte Konversation schloss sich an. Silvana war offenbar fest entschlossen und einzig noch darauf bedacht, die Formalitäten zur Abwicklung der Ehe zügig zu erledigen.
Wieder trank er einen großen Schluck.
Das Klingeln des Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Kurz überlegte er, es einfach auszuschalten, besann sich dann aber eines anderen und blickte auf das Display. Die Überraschung war perfekt. Mit Peter Zimmermann hatte er vor vielen Jahren Jura in Heidelberg studiert. Nach dem zweiten Examen waren sie jedoch im Wortsinne unterschiedliche Wege gegangen. Fast 20 Jahre vergingen. Sie betrachteten sich als gute Bekannte. Zur echten Freundschaft fehlte seitdem vielleicht nur häufigerer Kontakt. Anfangs hatten sie noch an Geburtstagen und Weihnachten telefoniert. Irgendwann endete auch das. Zimmermann war in den Südwesten Deutschlands gezogen und inzwischen seit Jahren verheiratet. Hartmann hatte die Stelle in Berlin angenommen und seine zukünftige Ex-Frau kennen gelernt. Beide Männer waren seitdem als Staatsanwalt tätig, wenngleich mit unterschiedlichen Aufgaben.
Dankbar über die Ablenkung nahm er das Gespräch an und meldete sich mit einem kurzen: »Hartmann«
»Hallo Robert, wie geht es dir denn so?«, Zimmermann klang, als bemühe er sich um Lockerheit.
»Da Du fragst, es ging schon besser.«
»Klingt nicht berauschend. Ist mit deiner Frau alles in Ordnung?« Sein Interesse wirkte echt.
»Mit ihr schon denke ich, nur mit unserer Ehe nicht.«
»Das ist schade. Bringt ihr das wieder in Ordnung?«
»Nur durch einen Besuch beim Familiengericht. Aber genug davon. Wie ist es dir ergangen?«
»Danke der Nachfrage. Ich komme hier gut zurecht.«
Hartmann wurde bewusst, wie lange sie keinen Kontakt mehr gehabt hatten. Bei ihrem letzten Telefonat war Peters Tochter Nathalie noch in den Kindergarten gegangen.
»Das ist schön zu hören.« Er begann sich zu fragen, ob der Anruf außer seichtem Smalltalk noch einen anderen Sinn verfolgte.
Zimmermann schien seine Gedanken zu ahnen, verfolgte aber scheinbar die Taktik, nicht mit der Tür ins Haus fallen.
»Und beruflich? Arbeitest Du noch bei der Sonderabteilung für Serientäter?«
»Mord, Totschlag, Vergewaltigung, womit kann ich helfen?« Hartmann spürte Resignation in seiner eigenen Stimme.
»Ich meinte eher, ob Du noch für die schwierigen Fälle zuständig bist.«
»Du meinst, ob ich mich noch damit beschäftige, Psychopathen zu jagen?« Er erschrak über seine eigene Unprofessionalität. Der Whisky hinterließ anscheinend erste Spuren.
»Wenn Du das so nennen möchtest, ja.«
»Da hat sich nicht viel geändert. Ich versuche Profile der Täter zu erstellen und ihnen damit näher zu kommen. Fast wie früher beim BKA. Nur, dass die Ermittlungen vor Ort meist die Kripo übernimmt.«
»Man hört, Du seiest ziemlich gut.«
»Hört man das? Rufst Du etwa an, um mich zu meinen beruflichen Erfolgen zu beglückwünschen?«
»Schön, dir macht man nichts vor. Wir brauchen deine Hilfe.«
»Wir?«
»Am besten fange ich von vorne an. Ich habe einen Fall, bei dem unsere hiesigen Ressourcen«, er zögerte, »sagen wir etwas überfordert sind. Es handelt sich dabei um die Ermittlungen in einem Doppelmord. Wenn man die Tat überhaupt noch so bezeichnen kann. Gestern wurden im Keller einer Burg nicht weit entfernt von hier zwei Leichen gefunden. Ein Abstieg in die Hölle, im mehrfachen Sinne. Natürlich gibt es bisher weder Hinweise auf Täter noch gar ein Motiv.«
»Klingt tatsächlich kompliziert. Aber Tötungsdelikte werden eben leider nicht nur in Großstädten begangen.«
Zimmermann überging den Hinweis und fuhr unbeirrt fort: »Eine der Leichen ist in geradezu unvorstellbarem Maße verstümmelt. Es deutet einiges auf irgendeinen rituellen oder sonst wie außergewöhnlichen Hintergrund hin. Und noch etwas verkompliziert das Ganze. Bei dem einen Toten handelt es sich um einen hohen Offizier der Bundeswehr, um einen – warte mal kurz – um einen Oberst. Wie und warum das Opfer so verunstaltet wurde, wissen wir noch nicht.«
Hartmann nahm einen tiefen Schluck.
»Verstehe. Jetzt stehst Du unter Druck.«
Die Antwort bestand aus einem knappen, freudlosen Lachen. »Druck? In der Gegend gibt es solche Verbrechen sonst nicht. Diebstähle oder Schlägereien ja, Kapitaldelikte sehr selten. Neulich eine Messerstecherei in Koblenz. Aber etwas Vergleichbares ist hier noch nicht vorgekommen. Der Landrat der betreffenden Gemeinde ist außer sich. Der hiesige Generalstaatsanwalt steigt mir aufs Dach. Und als wäre das nicht genug, will jetzt auch noch das Verteidigungsministerium bei den Ermittlungen mitmischen.«
»Und ich dachte, ich hätte Probleme«, erwiderte Hartmann lakonisch.
Ahnend, auf was der Anruf hinauslaufen würde, begann er bereits, sich eine Antwort zurechtzulegen. Er hätte es nicht zugegeben, war aber dankbar für die unverhoffte Gelegenheit, den heimischen Problemen für eine gewisse Zeit den Rücken kehren zu können. Sicher war andererseits auch, dass sie sich während seiner Abwesenheit nicht lösen würden.
Eine Flucht löst niemals Probleme.
Zimmermann schien nicht zu wissen, wie er fragen sollte. Sein Kollege kam ihm zuvor.
»Ja, ich stehe dir zur Verfügung. Aber ihr müsst das noch offiziell mit meiner Dienststelle klären. Von wegen Amtshilfeersuchen und dem ganzen Quatsch.«
Für weitere Konversation fehlte Hartmann an diesem Abend die Geduld.
Sein Gesprächspartner wirkte plötzlich enorm erleichtert.
»Ich danke dir.«
»Eins noch Peter, erwarte bloß nichts Unmögliches von mir. Du weißt, wie Ermittlungen laufen. Ich kenne noch keine Einzelheiten, aber wir werden weitere Unterstützung brauchen. Pathologen, forensische Experten, möglicherweise weitere Gutachter. Und natürlich die volle Unterstützung aller örtlichen Behörden.«
»Ich werde mein Bestes tun, Robert.«
Hartmann hatte mit der Zeit gelernt, aus Stimmen zu lesen. In diesem Fall konnte er nur wenig Zuversicht aus der belegten Äußerung seines Kollegen heraushören.
»Manche Leute hier waren dagegen, jemanden von außerhalb hinzuzuziehen. Ich wollte nur, dass Du das weißt. Vielleicht wird dir an mancher Stelle kalter Wind entgegenschlagen.«
»Auf kaltes Wetter bin ich vorbereitet. Hitze liegt mir nicht mehr.«
Mit der suggestiven Kraft des Whiskys drängte er eine unliebsame Erinnerung zur Seite.
Zimmermann lachte auf. »Das kannst Du wörtlich nehmen. Wir haben hier vermutlich den miesesten Sommer seit Generationen. Die Winzer beschweren sich schon darüber, dass ihre Weinberge langsam verfaulen.«
»Dann hoffe ich, Du hast noch eine Flasche im Keller.«
»Da mach dir keine Sorgen, der Weinkeller ist sozusagen mein Hobby.« Er wurde wieder sachlich. »Ich schicke dir vorab die Ermittlungsakte, damit Du dich mit den Details vertraut machen kannst. Viel steht allerdings nicht darin. Genau genommen ist sie so dünn wie unsere bisherigen Erkenntnisse.«
Die Verabschiedung verlief schnell. Sie würden sich demnächst ja persönlich sehen.
Wie und warum eines der Opfer so verunstaltet wurde, wissen sie nochnicht.
Nachdenklich drehte Hartmann das halbgefüllte Glas in der Hand vor sich auf dem Tisch, hob es dann an und ließ das samtige Brennen der Flüssigkeit am Gaumen verweilen. Geschmack von unergründlicher, torfiger Erde breitete sich aus. Ohne es näher beschreiben zu können, verstärkte sich das Gefühl, mit der Zusage einen großen Fehler begangen zu haben.
***
Wenige Jahre zuvor
Mazar i Scharif, Provinz Balkh, Afghanistan
Deutscher ISAF – Stützpunkt »Camp Marmal«
Als Siegfried Schilling nach dem kurzen Briefing aus der klimatisierten Baracke trat, schlug ihm warme Luft entgegen. Nach dem Halbdunkel überreizte das Sonnenlicht seine Augen. Sofort setzte er die Sonnenbrille auf. Erbarmungsloser afghanischer Himmel. An keinem Ort hatte er jemals einen so makellos azurblauen Himmel gesehen. Spätestens zur Mittagszeit würde die Sonne jede Bewegung zur Qual werden lassen.
Wie an jedem anderen Tag in diesem Land.
Ein planierter Sandweg führte ihn zum Fuhrpark. Neben einer Reihe von Transportern lehnte ein weiterer Soldat an einer Mauer und rauchte. Alle Fahrzeuge trugen die Namen von mehr oder weniger wehrhaften Tieren. Die Gattungen der nur leicht gepanzerten Patrouillenfahrzeuge nannten sich Dingo oder Mungo. Doch in diesem Fall hatten sie sich für den sogenannten Wolf entschieden, einen einfachen Mercedes-Geländewagen. Nicht gerade neuster Bauart und vollkommen ungeschützt, dafür unauffällig und zuverlässig.
Als er seinen Kameraden bemerkte, schnippte Heiner Lynd die Kippe neben die Reifen und schwang sich hinter das Steuer. Ein wenig war Schilling darüber verwundert, dass er die Instruktionen allein entgegengenommen hatte. Wahrscheinlich war Lynd bereits informiert worden. Sie nickten sich wortlos zu.
Scheppernd sprang der Dieselmotor an, gab dann ein heiseres Brummen von sich. Der Wagen beschleunigte. Sie passierten zahlreiche Container und einige behelfsmäßige Bauten, bis die stark gesicherte Zufahrt hinter ihnen lag. Auf einem großen Holzschild stand »Camp Marmal.« Der Name stammte vom nahe gelegenen Gebirgszug. Darunter waren Sicherheitshinweise in der einheimischen Sprache Paschtu abgedruckt. Erst vor wenigen Tagen war ein mit Sprengstoff beladener Lieferwagen auf das Tor zugefahren, jedoch noch außerhalb der Mauern explodiert. Obgleich nur die Attentäter dabei ums Leben gekommen waren, herrschte seitdem nervöse Wachsamkeit.
Um das Feldlager breitete sich Ödnis aus. Die mit Schlaglöchern übersäte Piste durchquerte ausgezehrte Landstriche. Karger Boden ließ, abgesehen von dornigen Büschen, kaum Vegetation zu. Im Schein des Sonnenaufgangs erhob sich am Horizont die atemberaubende Kulisse der schneebedeckten Gipfel des Hindukusch.
Schilling griff nach einem der kompakten Sturmgewehre, die im hinteren Teil des Wagens neben anderem Equipment lagen. Er lud die Waffe durch und legte sie auf seinen Schoß. Auf dem schwarzen Lauf spiegelten sich Sonnenstrahlen. Der ergonomische Griff des Gewehrs lag wie immer perfekt in seiner Hand. Die Waffe beruhigte ihn. In wenigen Stunden würde sich das dunkle Metall so erhitzt haben, dass man sich ohne Handschuhe daran verbrannte.
Ruhelos schweifte sein Blick umher und analysierte die Landschaft nach möglichen Bedrohungen. Noch einmal ging er die Informationen durch, die Oberst Seyfart ihm in gewohnt kurzer Form übermittelt hatte.
Ein Mitglied der Aufständischen hätte sich mit einem verlockenden Angebot an den Militärgeheimdienst gewandt. Der Mann gab angeblich vor, über detaillierte Kenntnisse feindlicher Planung und Strategie zu verfügen. Im Gegenzug dafür, dass er sein Wissen teilte, verlangte er eine noch unbestimmte Summe in Dollar und die Möglichkeit der Ausreise in ein westliches Land seiner Wahl. Das Geld war kein Problem, der zweite Wunsch schon eher. Bei einem ersten Treffen sollte der Informant abgeleuchtet werden. Dies würde ihre Aufgabe sein. Als Treffpunkt hatte er einen Bergkamm zwischen dem kleinen Ort Zurmat und der Stadt Gardez im Distrikt Paktia vorgegeben. In einer Hütte, die als sicheres Haus bezeichnet worden war. Gegenvorschläge hatte der Mann nicht akzeptiert.
Siegfried Schilling wusste, es war eine Fahrt in die Ungewissheit. Es konnte sich genauso gut um eine Falle handeln. Wiederholt die Seiten zu wechseln, hatte in diesem Land nichts Ehrenrühriges, solange der Stammeskodex gewahrt blieb. In diesem Fall würden sie schlimmstenfalls vor einer Webcam hingerichtet werden. Schilling fühlte sich unwohl, was jedoch nicht an ihrem Auftrag lag.
Berufsrisiko
Er hasste vielmehr das Gefühl, nicht dort zu sein, wo er am dringendsten gebraucht wurde. Er hasste es, hier zu sein und er hasste seinen Vorgesetzten. Oberst Seyfart hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er keinesfalls früher nach Deutschland zurückkehren könne. Ob seine Mutter bei seiner Rückkehr noch leben würde, war ungewiss.
Der Krebs wartet nicht auf mich. Das ist mir egal. Sie sind Soldat.
Alles war ihm fremd geworden, auch Lynd. Er blickte über die rötliche Ebene. Ein großer, grauer Vogel kreiste über den Furchen eines verdorrten Ackers. Dann schien er etwas erspäht zu haben, stieß pfeilartig hinab.
»Ich denke, das wird ein unvergesslicher Ausflug«, sagte Lynd plötzlich vieldeutig. Sein Blick blieb dabei unbewegt.
»Darauf kann ich verzichten«, erwiderte Schilling genervt, »wie heißt unser Mann eigentlich?«
»Wer?«
»Der Spitzel, der Informant. Wer sonst?«
»Ach richtig. Er nennt sich Azim.«
»Der Weise.«
Lynd zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Was?«
»Das ist die Bedeutung des Namens im Arabischen. Habe ich irgendwo einmal gelesen.«
»Von mir aus.«
Die Sonne stieg. Die angenehmen Temperaturen des Morgens waren längst verflogen und unbarmherziger Hitze gewichen. Der Geländewagen quälte sich weiter durch Schlaglöcher und Geröll. Sie kamen nur langsam voran. Die Piste führte jetzt durch ein lange ausgetrocknetes Flussbett. Hin und wieder säumten Panzerwracks sowjetischer Bauart den Weg. Ausgeschlachtet und jeden Sinnes beraubt wirkten sie wie rostige Mahnmale. Dazu bestimmt, jedem Fremden die Aussichtslosigkeit seiner Unternehmung vor Augen zu führen. Der Anblick ließ Siegfried Schilling für einen Moment nachdenklich werden.
Alle sind hier gescheitert. Alexander der Große, die Briten, die Russen. Allehaben einen schrecklichen Blutzoll für ihre Anmaßung gezahlt. Wie wird es unsergehen?
Das Fahrzeug war ein Stück von der Piste abgekommen. Die Reifen wirbelten knirschend kleinere Steine zur Seite. Sofort steuerte Lynd den Wolf wieder in die Mitte der Straße. Die erste Ortschaft auf ihrer Route deutete sich an. Äußerste Wachsamkeit war gefragt. Im Getümmel der Gassen und Märkte konnten sich Angreifer leichter verstecken und aus dem Hinterhalt zuschlagen. Improvisierte Sprengfallen stellten eine weitere Gefahr dar. Lynd behielt die Geschwindigkeit bei, um kein leichtes Ziel zu bieten.
Bloß nicht anhalten.
Schäbige Exotik empfing sie. Am Ortsrand duckten sich niedrige Lehmhütten neben abgeerntete Felder. Die ärmlichen Menschen wirkten misstrauisch und ängstlich. Niemand schien die ungläubigen Fremden noch als Befreier betrachten zu wollen.
Die Straße war für afghanische Verhältnisse in Ordnung und erlaubte eine zügige Fahrt. In der Mitte der Siedlung erblickte Schilling eine Ruine, deren ursprüngliche Bedeutung nicht mehr auszumachen war. Der massiven, protzigen Bauart nach handelte es sich um ein Überbleibsel der sowjetischen Besatzungszeit. Vor langer Zeit hatte es vermutlich Repräsentationszwecken gedient. Um die geborstenen Mauern gruppierten sich die spärlichen Stände eines Basars. Unzählige Einschüsse klafften im Beton. Ausgeblichene Fragmente einer Malerei im naiven Stil des sozialistischen Realismus bedeckten die Fassade. Der abblätternde Handschlag zwischen Bauer und Soldat demonstrierte wohl einst die Illusion brüderlicher Verbundenheit der Völker. Die plumpe Darstellung wirkte in ihrer Banalität bereits historisch. Fasziniert schaute Schilling der Vergangenheit hinterher.
Lynd widmete sich hingegen stoisch konzentriert dem Fahren. Der Ausdruck in seinem Gesicht war hart und abwesend. Sie stoppten nur einmal nach knapp vier Stunden. Lynd füllte Dieseltreibstoff aus einem Kanister in den Tank. Schilling sah auf die Ziffern am Armaturenbrett. 14.30 Uhr. Er gab eine kurze Funkmeldung durch. Wenn es ihnen gelänge, die Geschwindigkeit beizubehalten, würden sie Gardez vor Anbruch der Dämmerung erreichen.
Die Landschaft veränderte allmählich ihr Gesicht. Statt steiniger Ödnis dehnten sich rote Felder zu beiden Seiten der Straße. Die Bauern schienen wenig Getreide, dafür umso mehr Mohn anzubauen. In einem langen chemischen Prozess wurde aus den Blüten der Pflanzen schließlich der weiße Stoff trügerischer Träume. Auf verschlungenen Pfaden wurde er außer Landes geschafft und fand seinen beschwerlichen Weg nach Europa und Amerika. Keiner versuchte bisher ernsthaft, dem Drogenanbau entgegenzutreten. Ein unkontrollierbarer Guerillakrieg mit den mächtigen Warlords wäre zwangsläufig die Folge gewesen. Kilometerweit erstreckte sich die rote Blumenpracht bis an einen kleinen Fluss. Sie sprachen nur wenig. Am frühen Abend erreichten sie die Provinzhauptstadt Gardez. Die Narben der kriegerischen Vergangenheit waren überall ersichtlich. Mauern eines alten Forts krallten sich in die Felsen. Die kleine Festung diente seit Alexander dem Großen allen Invasoren als Stützpunkt. Auch diese Stadt ließen sie hinter sich. Die staubige Ebene begann unmittelbar hinter den letzten Gehöften. Über dem nahen Felsmassiv von Tora-Bora hatten sich Wolken zusammengebraut. Sand fegte über die Piste. Die Steigung nahm zu. Laut Karte und GPS näherten sie sich ihrem Ziel. Lynd lenkte den Wagen von der Straße in eine Mulde.
»Den Rest gehen wir zu Fuß. Bedingungen checken.«
Schilling nickte. Bisher war alles verlaufen wie geplant. Ein rätselhafter Impuls alarmierte ihn dennoch. Etwas störte ihn. Er konnte jedoch nicht sagen, um was es sich handelte.
Unsinn, ich werde paranoid.
Sie stiegen aus, griffen Waffen und notwendigste Ausrüstung. Ihre sandfarbene Tarnkleidung verschmolz annähernd mit der Umgebung. Dornen rissen an Schillings Beinen. Als wollten die vertrockneten Büsche ihn davon abhalten, Lynd zu folgen. Er hatte weitaus stärkere Sandstürme erlebt. Doch außerhalb des Fahrzeugs prasselten die winzigen Körner wie Millionen feiner Nadeln auf jedes Stück ungeschützter Haut. Sie zogen ihre Halstücher bis unter die Brillen. Laut dem kleinen Monitor des tragbaren Navigationsgeräts hatten sie sich dem vereinbarten Treffpunkt bis auf wenige hundert Meter genähert. Der gelbliche Staub, der gleich einer Wolke über dem Boden schwebte, trübte die Sicht stark ein.
Fast erschraken sie, als sich unmittelbar vor ihnen die Reste einer Lehmhütte vom felsigen Untergrund erhoben. Es waren nicht mehr als die Grundmauern, die sich vor dem aufragenden Gebirgsmassiv abzeichneten. Das Dach war vermutlich einmal mit Stroh gedeckt gewesen. Inzwischen war davon nichts mehr übrig. Mit einer Handbewegung bedeutete Lynd seinem Begleiter, alle unnötigen Bewegungen zu unterlassen. Nur ein paar große Geröllbrocken boten ihnen noch Sichtschutz. Keinerlei Zeichen deuteten auf die Anwesenheit weiterer Menschen hin. Lynd wandte sich Schilling zu. Sein Flüstern glich mehr einem Zischen, um den tosenden Sand zu übertönen.
»Ich kläre die Lage. Du wartest.«
Siegfried Schilling hatte nichts gegen die Vorgehensweise einzuwenden. Ohnehin hätte er viel dafür gegeben, zu diesem Zeitpunkt an einem anderen Ort zu sein. Er versuchte die Gedanken an seine Mutter beiseite zu schieben. Es war der falsche Zeitpunkt. Nach wenigen Schritten entzog sich Lynd seinem Blickfeld. Minutenlang kauerte Schilling hinter dem Felsbrocken, ohne etwas wahrzunehmen.
Es dauert zu lange. Wenn ich nur etwas sehen könnte. VerfluchterSand.
Weitere Minuten verstrichen. Vollkommen unerwartet peitschten plötzlich drei Schüsse durch das unentwegte Rauschen. Schilling zuckte zusammen. Doch seine antrainierten Reflexe funktionierten. Er verlor nicht die Nerven. Dicht an die Felswand gepresst näherte er sich geduckt der Baracke. Der Eingang erinnerte ihn eher an den Zugang zu einer Höhle. Zusammengenagelte Bretter ersetzten die Tür. In diesem Moment öffneten sie sich. Zwei Gestalten stachen aus dem Staubnebel hervor. Er glaubte zu erkennen, dass sie sich die Hand gaben. Was sie sagten, konnte er nicht verstehen. Nur ein Wort trug der Wind zu ihm. »Nizar.«
Sein Partner hatte ihn offenbar nicht bemerkt. Laut rief er in seine Richtung.
»Lynd?«
Schilling war sich nicht sicher, ob ihn die Situation erschrecken oder erleichtern sollte. Immerhin war sein Kamerad am Leben.
»Was ist hier geschehen?«
Sein Blick fiel auf einen Gegenstand, den Lynd mit einem Griff an der linken Hand trug.
»Was ist das? Wo ist der Informant?«
Sie standen sich in einem Zustand befremdlicher Unentschlossenheit gegenüber.
»Tot. Er hat auf mich geschossen, ich habe das Feuer erwidert. Es war eine Falle.«
Siegfried Schilling versuchte seiner verwirrenden Gedanken Herr zu werden.
»Für mich klang das eher, als wären die Schüsse hintereinander aus einer Waffe abgegeben worden.«
»Irrtum!«
Er drängte Lynd zur Seite und trat in die Hütte. Die Lehmmauern dämpften die Windgeräusche. Ungläubig schob Schilling die sandverkrustete Sonnenbrille in die Stirn. Im Halbkreis lagen drei männliche Körper auf dem festgestampften Boden. Alle schienen mittleren Alters zu sein, keinesfalls älter als fünfzig. Zwei Leichen wiesen klaffende Löcher in der Mitte der Stirn auf. An der dritten konnte er zunächst keine tödliche Wunde ausmachen. Erst bei näherem Hinsehen entdeckte er den Einschuss auf der linken Brustseite.
In diesem Augenblick wurde unweit der Hütte ein Motor gestartet. Ein Wagen entfernte sich. Schilling fuhr herum. Heiner Lynd blockierte weiterhin den mit groben Holzbalken befestigten Eingang.
»Was ist hier los, zum Teufel?«
»Wovon redest Du, Schilling?«
»Für wie dumm hältst Du mich? Bei einem überraschenden Feuergefecht hättest Du die Schüsse nicht präzise auf Kopf und Herz richten können. Außerdem sehe ich keine Waffen bei den Leichen.«
Die bebende Stimme vermochte Lynd nicht aus der Ruhe zu bringen. Triumphierend hielt er ein abgenutztes Kalaschnikow-Gewehr in die Höhe.
»Schon wieder falsch.«
Schilling war keineswegs überzeugt. Was er vorfand, verwirrte ihn.
»Die Waffe beweist gar nichts. Du wurdest niemals angegriffen, nicht wahr?«
Lynds unschuldige Miene formte sich zu einem bösen Lächeln.
»Ganz richtig. Mein Fehler. Mir hätte klar sein müssen, dass man dir nichts vormacht.«
»Also? Du solltest mir besser sofort erklären, warum Du die Männer erschossen hast. In was ziehst Du mich hinein?«
Lynd hob besänftigend die Hände.
»Natürlich. Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.«
»Nichts ist in Ordnung. Du hast offenbar Unschuldige getötet. Das ist Mord, auch im Krieg.«
Die Stimme seines Gegenübers veränderte sich in bedrohlicher Weise. Siegfried Schilling hatte mittlerweile den Eindruck, einem Fremden gegenüberzustehen.
»Mach keinen Fehler. Du weißt nicht, worum es geht. Noch können wir alle Probleme vermeiden.«
Schilling griff zum Pistolenhalfter, der seitlich an seinem Oberschenkel saß.
»Du bist ja wahnsinnig. Das kannst Du alles der Militärpolizei erzählen. Wir gehen jetzt zum Wagen, dort werde ich eine Funkmeldung durchgeben.«
Lynds Stimme hatte den grollenden Klang abgelegt. Bedauernd sah er seinen Kameraden an.
»Wirklich schade. Ich dachte, Du würdest es verstehen.«
Der Sandsturm nahm noch einmal an Intensität zu, bevor ein vierter Schuss durch den frühen Abend schlug. Kurz darauf übertönte der startende Dieselmotor des Geländewagens das stetige Pfeifen des Windes.
***
Sonntag, 21. August
Alle Prognosen erwiesen sich glücklicherweise als unzutreffend. Der Spätsommer hatte sein Gesicht binnen weniger Tage zum Freundlichen gewendet, glänzte jetzt mit milden Temperaturen und kaum Niederschlägen. Die Meteorologen sprachen von einem Zwischenhoch, das sich völlig unerwartet nach Mitteleuropa verlagert hätte. Es hinterließ jedoch mehr den Eindruck einer improvisierten Ausrede für falsche Vorhersagen. Hartmann blickte zum Himmel.
Wie trügerisch erweisen sich allzu oft die Gewissheiten der Vergangenheit.Nichts ist sicher, nichts bleibt.
Als er am Vormittag in Berlin aufgebrochen war, schienen die Biergärten und Straßencafés bereits bis auf den letzten Platz besetzt zu sein. Die Straßen wirkten hingegen wie leergefegt. Die Tageshöchsttemperatur sollte angeblich 29∘ Celsius erreichen. Er entschied darauf hin, bereits einen Tag früher als geplant aufzubrechen.
Was sollte mich jetzt noch zuhause halten?