Todesklinge - Cathrin Moeller - E-Book

Todesklinge E-Book

Cathrin Moeller

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Mädchenleiche auf Rügen, eine alte Serie von Morden und eine Schuld, die beglichen werden muss: Band 2 der spannenden Serie um die «Akademie des Verbrechens». In einer Kinderheimruine auf Rügen wird eine grausam zugerichtete Leiche mit einer schwarzen Rose gefunden. Es ist die sechzehnjährige Isa. Ex-Kommissar Henry Zornik ist alarmiert. Vor fünf Jahren versetzte eine Serie von Morden an jungen Touristinnen die Insel in Angst. Die Tat heute trägt dieselbe blutige Handschrift des «Rosenmörders» von damals. Zornik selbst hat ihn überführt. Ist der Mörder von Isa ein Nachahmer? Oder tötet der wahre Rosenmörder erneut? Es beginnt ein verzweifeltes Wettrennen gegen die Zeit, denn der Täter hat sein nächstes Opfer schon gewählt.   «Denkt wie ein Mörder. Aber werdet nicht zu seinem Opfer»: In der Akademie des Verbrechens werden zukünftige Ermittler:innen ausgebildet – praxisnah, unkonventionell und lebensgefährlich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 620

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cathrin Moeller

Todesklinge

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Eine Mädchenleiche auf Rügen – und eine Schuld, die beglichen werden muss.

 

In einer Kinderheimruine auf Rügen wird eine grausam zugerichtete Leiche mit einer schwarzen Rose gefunden. Es ist die sechzehnjährige Isa. Ex-Kommissar Henry Zornik ist alarmiert. Vor fünf Jahren versetzte eine Serie von Morden an jungen Touristinnen die Insel in Angst. Die Tat heute trägt dieselbe blutige Handschrift des «Rosenmörders» von damals. Zornik selbst hat ihn überführt. Ist der Mörder von Isa ein Nachahmer? Oder tötet der wahre Rosenmörder erneut? Es beginnt ein verzweifeltes Wettrennen gegen die Zeit, denn der Täter hat sein nächstes Opfer schon gewählt.

«Denkt wie ein Mörder. Aber werdet nicht zu seinem Opfer»: In der «Akademie des Verbrechens» auf Rügen bildet der unkonventionelle Kriminologe Zornik Studierende aus. Indem er mit ihnen in lebensgefährlichen Fällen ermittelt.

 

Stimmen zu «Todesglut»:

«Diese ‹Todesglut› wird erst der Anfang sein (…), handfest und knallhart (…), in einem atemraubenden Showdown gelöst.» Christine Jacob, Leipziger Volkszeitung

 

«Wenn Sie Lust haben, mal wieder den Atem anzuhalten (…). ‹Todesglut. Die Akademie des Verbrechens› wird Sie nicht loslassen, bis Sie den Täter kennen.» Sabine Ertz, Saarländischer Rundfunk

 

«Ein spannender Auftakt einer interessanten Reihe (…), die perfekte Urlaubslektüre (auf Rügen)!» Leser-Welt

Vita

Cathrin Moeller, Diplomsozialpädagogin, arbeitete unter anderem in Resozialisierungsprojekten. Neben der Arbeit an den eigenen Texten, darunter der Spiegel-Bestseller «Wolfgang muss weg!», coacht sie kulturelle Bildungsprojekte. Sie wohnt mit ihrem Mann, einem Kriminalhauptkommissar, in der Nähe von Leipzig. Nach «Todesglut», dem ersten Fall der «Akademie des Verbrechens» auf Rügen, folgt nun mit «Todesklinge» der zweite Band.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Claudia Wuttke

Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01443-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

DIENSTAG, 12. NOVEMBER 2019

Kapitel 1

Die Wildheit der Steilküste war einzigartig. Er atmete tief durch. Schon Caspar David Friedrich ließ sich 1818 von der Insel, ihren schroffen Kreidefelsen, den feinen Sandstränden, den tiefen Buchenwäldern, den grasbewachsenen Dünen und den spektakulären Sonnenuntergängen über dem Meer inspirieren. Den Namen und die Jahreszahl hatte ihm diese dicke Lehrerin mit dem strengen Blick im Kunstunterricht eingebläut, die ihn immer so abfällig wie eine Missgeburt behandelt hatte. Dabei war Kunst ein Schulfach, das er für völlig überflüssig hielt und ziemlich oft schwänzte, auch weil er mehr Angst davor hatte, von dieser Frau vor der ganzen Klasse getadelt zu werden, als einen Eintrag ins Hausaufgabenheft zu kassieren.

Rügen, die Perle in der Ostsee, war auch seine Inspirationsquelle. Allerdings für Zerstörung.

Auslöschen, Demolieren, Beseitigen, Dem-Erdboden-Gleichmachen, Unterdrücken, Töten, das war es, was ihn zutiefst befriedigte. Angstschreie klangen wie Musik in seinen Ohren. Einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, war der Moment, in dem er sich groß und mächtig fühlte. Pulsierend herausspritzendes Blut berauschte ihn wie eine Droge, wie Sex. Nur besser. Dieses erregende Gefühl hatte er zum ersten Mal mit sieben gespürt, als er seinem Vater beim Schlachten von Kaninchen zugesehen hatte. Dieses Zappeln, dieser Blick aus den angstgeweiteten Augen, das letzte Aufbäumen vor dem Unausweichlichen, das dem Tier bestimmt war und das es nicht beeinflussen konnte, war faszinierend. Nur ein Stich in den Hals, dann war es still. Der Körper erschlaffte. Es war vollbracht, ein Leben mit einer einzigen Handbewegung beendet. Und dann durfte er dem Tier das Fell abziehen. Dieses schmatzende Geräusch würde er nie vergessen. Er lächelte in der Erinnerung an damals. Das war seine Welt. Er war eben der böse Friederich. So hatten ihn die Lehrerin und seine Mutter genannt. «Der Friederich, der Friederich, das ist ein böser Wüterich …», sagte er und drapierte ihr das lange schwarze Haar über die Schultern. Sie lag nackt, nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet, auf dem Klapptisch, den sie genau wie den steinigen Strand ringsum mit einer Plastikfolie abgedeckt hatten. Ein Provisorium, das notwendig war, auch wenn die Flut in ein paar Stunden ohnehin alle Spuren wegspülte, wollten sie auf Nummer sicher gehen. Was das Mädchen wohl denkt, wenn es sie beide jetzt in ihren Schutzanzügen mit den Schutzbrillen sieht? Zu gerne hätte er sie gefragt, aber sie konnte ihm nicht antworten. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie konnte weder schreien noch sich rühren. Sie hatten sie mit einem Nervengift betäubt, das ihre Muskeln lähmte. Doch da war etwas in ihren Augen, das ihn irritierte. Trotz. Sie schien keine Angst vor dem Tod zu haben, selbst als er ihr mit der Messerklinge über die Kehle fuhr, sprühten ihre Augen Funken. Vor Wut! Nein, so schaffte er es nicht. Sie verunsicherte ihn. Er konnte ihrem Blick nicht standhalten und gab das Messer ab.

«Was?»

«Stich du ihr die Augen aus!», befahl er und trat einen Schritt beiseite.

«Wieso ich?»

«Ich kann so nicht», sagte er.

«Du musst sie bestrafen. Sie hat uns gesehen.»

«Bring du es zu Ende.» Er wendete sich ab und schlug die Hände vors Gesicht.

«Jetzt reiß dich zusammen, wir machen es genau so, wie es abgemacht war. Sie hat es verdient.»

Er nahm das Messer zurück, atmete tief durch und setzte die Spitze der Klinge an ihrem linken Auge an, aber zögerte wieder.

«Schau sie an und denk daran, was sie getan hat.»

Er wusste genau, dass ihr letzter Blick ihn verfolgen würde, sich in seinem Kopf ausbreiten und seine Gedanken beherrschen. Trotzdem spannte er seine Muskeln an und stach zu, zweimal. Gallertartige Flüssigkeit quoll aus ihrem Kopf hervor. Mehr schaffte er nicht. Er gab das Messer wieder ab und sah mit zusammengebissenen Zähnen zu, wie die scharfe Klinge sich tief im Hals versenkte und das Blut in einer Fontäne herausspritzte.

MITTWOCH, 13. NOVEMBER 2019

Kapitel 2

Henry stand vor der Tafel im Hörsaal 2 und gab seinen Studierenden einen Moment Zeit, sich Notizen zu machen. Draußen konnte man dank des Novembernebels den Park um das Jagdschloss nur erahnen. Es lag unweit von Bergen, und in ihm hatte die Academy of Criminal Investigation ihren Sitz. Er fand diese mystische Stimmung genau passend für das Institut, von dem nicht jeder wissen sollte, dass hier eine neue Generation von Verbrechensbekämpfern ausgebildet wurde, die später als Kriminologen mit besonderen Fähigkeiten an der Seite von Polizeibeamten gerade in schweren Fällen wie Organisierter Kriminalität, Terror und Mord mitarbeiten sollten, ähnlich einer Taskforce. Auf der Insel Rügen rankten sich viele Gerüchte um diesen fast geheimen Ort, der bei den Einheimischen nur Akademie des Verbrechens hieß.

Die dunklen Wolken am Himmel hingen heute so tief, als wollten sie sich auf den Wipfeln der Bäume ausruhen. Selbst jetzt am Mittag war es so dunkel, dass der Kronleuchter über den aufsteigenden Bankreihen eingeschaltet war. Er wartete, bis die 15 Studierenden seines Kurses ihre Köpfe hoben, und schaute in die aufmerksamen Gesichter. «Bei tödlichen Sexualdelikten handelt es sich primär um die Vergewaltigungsabsicht zum Lustgewinn», sagte er, wischte die Tafel ab, trat an das Lehrerpult und packte schon mal seine Unterlagen in die Tasche, damit er pünktlich gehen konnte, wenn es in drei Minuten zur Pause klingelte. «29 Prozent der Täter bringen ihre Opfer aus diesem Motiv dann auch um. Bei 71 Prozent findet die Tötung aber ausschließlich aus Angst vor Entdeckung statt. Morgen machen wir dann dort weiter und werden uns damit beschäftigen, wie man anhand des Modus Operandi den Unterschied in den Motiven erkennen kann», sagte er und beendete die Einführungsvorlesung zur neuen Lektion im Kurs Wie man einen Mörder fängt. In der ersten Einheit stand das Thema Mordmotive bei Sexualdelikten auf dem Plan, zu dem er heute unbedingt noch einen passenden Fall heraussuchen musste. Den wollte er ihnen zur nächsten Vorlesung präsentieren. Seitdem er das Prinzip der Praxisnähe anwendete und die Theorie mit echten Verbrechensbeispielen würzte, bei denen die Studierenden nach neuen Ermittlungsansätzen in kalten ungelösten Fällen suchten, waren seine Vorlesungen so beliebt, dass es Wartelisten für den Kurs gab. Die Studierenden mussten sich die Teilnahme erst in einem Test verdienen, anhand dessen er seine Auswahl traf. Entsprechend engagiert arbeiteten sie mit und hatten die Theorie eines Themas bereits vor der Stunde durchgeackert. Gemeinsam werteten sie dann im praktischen Teil alle bekannten Fakten des Falls aus, trugen weitere Informationen zusammen, entdeckten neue Spuren und übten Hypothesenbilden zu Tathergängen und Tatmotiven und erstellten Täterprofile. Schließlich war es sein Auftrag als Dozent, ihnen seine besondere Ermittlungsmethode beizubringen. Es nützte schließlich auch nicht, theoretisch zu wissen, wie man Fahrrad fuhr, man musste es üben, um sich im Sattel zu halten. Genauso verhielt es sich in einem Mordfall damit, den Details Aufmerksamkeit zu schenken, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen und sie in der Praxis zu überprüfen.

Es klingelte. Henry verabschiedete sich bei seinen Studierenden mit einem Kopfnicken.

Marcus, ein junger Mann mit eisblauen Augen und weichen Gesichtszügen, die von blonden Locken wie bei einem Engel umrahmt wurden, stand auf und trat auf ihn zu. «Das würde ja im Umkehrschluss bedeuten, dass Serienmörder, die ihre Opfer auf eine bestimmte Art auffällig präsentieren, erwischt werden wollen.» Sein verschmitztes Grinsen gefiel Henry gar nicht. Das setzte er nur auf, wenn er etwas vorhatte, das anderen Mitmenschen in der Regel nicht gefiel.

«Ihr Umkehrschluss ist mir zu einseitig gedacht. Mir ist noch kein Täter begegnet, der erwischt werden wollte. Vielleicht fühlt sich so ein Täter, der die Opfer auffällig drapiert, einfach überlegen?»

«War das so beim Rosenmörder, den Sie damals gefasst haben?» Aha, daher wehte der Wind. Der Student aus dem zweiten Jahr hat sich wohl in Vorbereitung des neuen Themas daran erinnert, was Henry den Studierenden über den Rosenmörder-Fall zu Beginn seiner Dozententätigkeit erzählt hatte. Er schaute Henry erwartungsvoll an. Marcus war ein Schlitzohr mit einem messerscharfen Verstand und einer blitzschnellen Beobachtungsgabe. Ganz sicher verfolgte er mit dieser Äußerung ein Ziel. Wollte er etwa, dass Henry seinen letzten Fall als Kommissar bei der Stralsunder Mordinspektion zum Unterricht mitbrachte? Einen Teufel würde er tun!

«Auch wenn der Täter zum Lustgewinn tötet und sich überlegen fühlt, hat er doch sicher Angst, entdeckt zu werden. Ist es da nicht fahrlässig, seine Opfer so unverkennbar zu inszenieren?» Henry gefiel zwar, dass Marcus und besonders die anderen vier Besten des zweiten Studienjahres, mit denen er erst vor zehn Wochen in einem echten ungelösten Fall den Täter ermittelt hatte, nicht alles hinnahmen, was man ihnen erzählte. Sie stellten Theorien infrage und setzten sich damit auseinander. Aber Henry ließ sich ungern manipulieren. Er ahnte, dass auch die anderen darauf brannten, in dieser Lektion seinen alten Rosenmörder-Fall auseinanderzunehmen. Doch dazu war er nicht bereit. Schon jetzt, wenn sie nur den Namen erwähnten, kam alles wieder hoch, und er sah Hannas Leiche im weißen Nachthemd am Strand von Sellin, ihre ausgestochenen Augen, den zugenähten Mund und die blutgetränkte Rose in den gefalteten Händen. Nach fünf Jahren war es immer noch unerträglich für ihn, daran zu denken, dass seine Kollegin Hanna den Köder für den Rosenmörder gespielt hatte, der vorher fünf junge Touristinnen auf die gleiche Weise ermordet hatte. Dass er sie nicht daran gehindert hatte. Nein, er würde ihnen einen anderen Fall zum Unterricht mitbringen. «Es gilt das Prinzip, uns mit alten ungelösten Fällen zu befassen. Der Rosenmörder-Fall ist geklärt, Tom von Bredow wurde gefasst», sagte er bestimmt und schaute auf die Uhr über der Hörsaaltür. 12.15 Uhr. Er musste sich beeilen und die Akademie pünktlich verlassen. Heute würde er Matti zum ersten Mal von der Schule abholen, mit nach Hause nehmen und bis zum Abend betreuen. Heute war der große Tag, der ihn einen Schritt näher ans Ziel brachte, Hannas Sohn zu adoptieren. Er durfte sich keinen Fehler erlauben, denn das Jugendamt und die Heimleitung des Waisenhauses beobachteten mit Argusaugen, wie er mit dem Jungen im Alltag zurechtkam. Henry zog den Parka an und schulterte seine Ledertasche. Die Studierenden verließen den Hörsaal. Außer Marcus, Charlotte, Aron und Neda. Die vier ignorierten sein Signal, dass die Vorlesung beendet war, und blieben vor ihm am Lehrerpult stehen. Neda, die Studentin mit der Brille, spitzte den Mund. «Waren Sie damals wirklich sicher, den richtigen Täter gefasst zu haben?» Henry erstarrte. Neda stellte sein Ermittlungsergebnis infrage, nur um zu erreichen, dass er nachgab. Er spürte aufsteigenden Unmut und biss sich auf die Zunge, bevor er etwas Unüberlegtes erwiderte. Dabei hatte sie mit ihrer Äußerung genau seinen wunden Punkt getroffen. Seit Tom von Bredow sich in seiner Zelle erhängt und ihm das Gerücht zu Ohren gekommen war, dass dieser Mann Mattis leiblicher Vater sein sollte und Hanna niemals etwas angetan hätte, zweifelte Henry tatsächlich manchmal daran, damals den richtigen Rosenmörder überführt zu haben. Er könnte es sich nie verzeihen, dass er schuld am Tod von Mattis Mutter und schließlich auch Mattis Vater war, den er zu einer lebenslangen Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung ins Gefängnis gebracht hatte. Aber auch ohne Geständnis war die Beweislage erdrückend, und die psychische Verfasstheit von Bredows sprach ebenfalls eine eindeutige Sprache. Deshalb verdrängte er möglichst jeden Gedanken daran. Während Neda weiter sprach, ballte Henry eine Faust, um den Selbsthass zu unterdrücken und die Kontrolle über seine Gefühle zu behalten. Er musste cool bleiben, denn seine Studierenden sollten nichts davon merken, dass der Fall ihm immer noch keine Ruhe ließ.

«Tom von Bredow hat nie ein Geständnis abgelegt, sondern wurde allein wegen der Indizien verurteilt. Der Mann war Veterinärmediziner, also keineswegs dumm, und trotzdem war er bei allen sechs Frauen dem gleichen Modus Operandi im Tathergang und in der Präsentation der Leiche gefolgt. Also hat er sich ziemlich sicher gefühlt, dass die Polizei seine Handschrift nicht entschlüsselt?» Henry zog die Augenbrauen hoch. Neda war ebenfalls gut informiert. Woher sie sich diese Information beschafft hatte, wollte er besser gar nicht wissen. Neda war ein Computergenie und Technikexpertin, eine Meisterin der Recherche, die Tricks und Kniffe beherrschte, um sich sogar in perfekt gesicherte Datenbanken von Behörden einzuhacken. Nun mischte sich auch noch Aron ein, der pragmatisch veranlagte Student, der eigentlich wenig redete und manchmal etwas ruppig rüberkam. «Wenn ich es mir richtig überlege, sind Marcus und Nedas Anmerkungen gerechtfertigt. Wie erklärt sich eigentlich, dass Tom von Bredow kein Geständnis abgelegt und bis zum Schluss die Taten geleugnet hat? Das widerspricht sich doch eigentlich damit, dass er sich überlegen gefühlt hat. Hätte er dann nicht am Ende damit geprahlt, dass es sechs Morde brauchte, um ihn zu überführen? Ich würde als Ermittler zweifeln, vielleicht doch den Falschen hinter Gitter gebracht zu haben.» Jetzt fehlten nur noch Charlottes Argumente zu dieser Diskussion. Tatsächlich, die anderen schauten zu ihr. Charlotte fing den verschwörerischen Blick ihrer Kommilitonen auf. Verfluchte! Die hatten sich abgesprochen. Etwas verunsichert räusperte sie sich und sah Henry an. Er verschränkte die Arme vor der Brust und war gespannt, was die rothaarige Studentin mit dem besonderen Einfühlungsvermögen, das ihr half, genaue Profile von Opfern und Tätern zu erstellen, zu sagen hatte. Sie hatte ihn genau beobachtet und sicher längst bemerkt, dass er seine Unsicherheit vor ihnen zu verbergen suchte.

«Es wäre interessant, diesen Fall als Beispiel heranzuziehen, weil der Auslöser für das Motiv des Rosenmörders in seiner traumatischen Kindheit zu finden ist.» Ah! Sie gab offen zu, was sie wollten. «Der immer gleiche Modus Operandi deutet auf eine Projektion hin.»

«Stimmt, Bredow hatte Gelegenheit, Mittel und Motiv. Alle technischen Spuren führten zu ihm», sagte Henry. «Aber so ist es am Ende einer Ermittlung ja immer. Erst sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht, und dann ergibt sich das Bild als Ganzes. Im Nachhinein war es bei unserem ersten Fall ja nicht anders, oder?» Seine Studenten sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.

«Aber hat Sie das nicht gerade aufgrund von Bredows Intelligenz stutzig gemacht? Wären ihm solche Fehler wirklich unterlaufen?», mischte sich Marcus wieder ein.

Henry seufzte. Er wusste besser als jeder andere, dass es keine «Fehler» waren. Aber er verstand schon. «Sie vier wollen also, dass wir uns den Rosenmörder-Fall im Rahmen dieses Themas vornehmen. Ich werde es mir überlegen und Ihnen meine Entscheidung morgen mitteilen. Abgemacht?», sagte er und dachte: Nie im Leben! Aber er hatte jetzt keine Zeit für eine weitere Diskussion, er musste zu Matti. Henry beeilte sich, hetzte zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch.

Im Flur bog er zum Hörsaal drei ab, wo Lucia Bertolli, die Professorin für forensische Pathologie, ihre Vorlesung beendete. «Schauen Sie sich vor unserer Exkursion morgen in die Rechtsmedizin nach Greifswald alle späteren Leichenveränderungen noch einmal genau an, Autolyse, Heterolyse und Skelettieren. Wir wollen uns schließlich nicht blamieren», sagte sie mit diesem italienischen Singsang in der Stimme, den Henry so an ihr liebte. Lucia schaltete den Beamer aus und wischte sich mit der anderen Hand eine Haarsträhne ihrer schwarzen Mähne aus dem Gesicht. Sie schaute zu ihm hoch und setzte ein professionelles Lächeln auf. Er winkte sie zu sich. Einige Studierende schauten ihr hinterher und beobachteten sie genau. Henry hatte durchaus mitbekommen, dass unter ihnen Wetten liefen, ob er und Lucia zusammenkommen würden. Er musste sich bemühen, ihr nicht zu tief in die zweifarbigen Augen zu schauen, von denen dank einer seltenen Laune der Natur eins blau und eins braun war. Lucia blieb im gebührenden Abstand vor ihm stehen und unterdrückte ein süffisantes Schmunzeln, während sie ihn musterte. Ihr Gesicht verriet ihm, woran sie gerade dachte. An letzte Nacht. Sie provozierte ihn. Henry räusperte sich. Bis jetzt hatten sie ihr junges Verhältnis in der Akademie gut vor den neugierigen Blicken ihrer Schüler verbergen können. Dabei machten sie sich einen Spaß aus dem Versteckspiel. Er fand, es ging niemanden etwas an, und war noch nicht bereit, es öffentlich zu machen. «Ich wollte dir nur mitteilen, dass sich Sophie für heute krankgemeldet hat», sagte er förmlich. In Wahrheit wollte er sie nur noch einmal sehen, bevor er Matti abholte und nach Hause fuhr.

«Rovesciato? Du bist aufgeregt», stellte sie leise fest und sagte laut: «Danke für die Info.»

«Hast du noch zwei Minuten.» Auch er redete nun lauter, damit es die Vorübergehenden hören konnten. «Wir müssten uns noch zu dem neuen Beispielfall abstimmen. Es wäre gut, wenn wir in dieser Lektion wieder fächerübergreifend arbeiten.» Sie nickte zustimmend und blieb mit ihrem Blick an seinen Lippen hängen. Hör auf! Sie werden es mitkriegen, dachte Henry und kratzte sich verlegen an der Stirn. Lucia verstand das Signal, aber folgte ihm für seinen Geschmack zu belustigt nach draußen in den Flur. Dort waren sie endlich allein. Sie spähte in beide Richtungen, dann drückte sie ihm einen Kuss auf den Mund. «Du rockst das mit Matti.»

«Ich hätte dich gerne dabei.»

Lucia schaute ihn bedauernd an.

«Ich weiß, du hast bis 17.00 Uhr Vorlesung.»

«Grüß ihn von mir.»

«Das wird ihn freuen. Er mag dich sehr. Vielleicht schaffst du es zum Abendessen?», fragte er erwartungsvoll. Lucia druckste herum. «Wir fahren morgen und Freitag auf diese Exkursion in die Rechtsmedizin, und Samstag halte ich dort den Vortrag auf dem Kongress.»

«Verstehe, du musst dich noch vorbereiten.» Jetzt schaute er sich um und gab ihr einen Kuss. Plötzlich nahm sie eine distanzierte Haltung an. Henry drehte sich um. Ah, Professor Tatter war im Anmarsch. «Bis dann?», verabschiedete sie sich schnell, denn der Strafrechtsprofessor eilte in großen Schritten auf sie zu. Die Ledertasche unter den Arm geklemmt, balancierte er einen Stapel Papiere und setzte bei Lucias Anblick ein schmieriges Lächeln auf. Henry bedachte er wie immer mit einem herablassenden Seitenblick und grüßte nur knapp. Am Anfang hatte es ihn geärgert, doch mittlerweile war Henry egal, was der Mann mit dem Ziegenbart und der lächerlichen Fliege, die er stets um den Hals trug, von ihm dachte.

«Herr Zornik!», rief Charlotte, die ihm bis in den oberen Flur gefolgt war. Henry blieb stehen. Seine Lieblingsstudentin eilte mit einem Brief in der Hand auf ihn zu. «Den haben Sie im Hörsaal verloren.»

«Danke!» Henry ließ den ungeöffneten Umschlag mit dem Logo eines medizintechnischen Labors in seiner Tasche verschwinden. Ihr Lächeln wirkte besorgt. Dachte sie etwa, er sei krank? Nein, er fühlte sich topfit, und das Schreiben hatte mit seinem Gesundheitszustand nichts zu tun. Henry scheute sich davor, diesen Brief zu öffnen, der heute Morgen in seinem Briefkasten gelegen hatte. Er beschloss, sich seiner Furcht vor dem Ergebnis später zu stellen. Zuerst musste mit Matti alles gut gehen. Henry bog zur Haupttreppe ab, umrundete die Ritterrüstung, der immer noch der zweite Handschuh fehlte. Jedes Mal, wenn er hier vorbeikam, schmunzelte er, denn allein Lucia und er wussten, wo der steckte. Bei dem Gedanken an sie beruhigte er sich. Obwohl sie so temperamentvoll war, erdete sie ihn. Ihre Nähe gab ihm eine innere Sicherheit, die er vorher so noch nie gespürt hatte. Mit ihr fühlte er sich weniger verloren. Du bist verliebt, mein Freund!, dachte er beschwingt und hörte auf halber Treppe schon wieder seinen Namen, den ihm jetzt die Schulsekretärin hinterherrief. Henry drehte sich um. «Professorin Krohn verlangt nach Ihnen.» Anscheinend kam er heute hier nicht pünktlich weg.

«Was gibt es denn? Ich habe einen Termin, zu dem ich nicht zu spät kommen darf.» Frau Meyer zuckte mit den Schultern.

«Es scheint wichtig zu sein.»

«Mein Termin ist auch wichtig.» Henry holte das Handy aus der Jackentasche. Ihm blieben noch fünfzehn Minuten zu Mattis Schulschluss. Na, gut! Auf dem Display ploppte ein eingegangener Anruf auf, der ihn während der Vorlesung nicht erreicht hatte. Die psychologische Praxis von Verena Schall hatte ihn vor zehn Minuten zurückgerufen. Sicher wollten sie ihm Behandlungstermine vorschlagen. Darum würde er sich auch später kümmern. Er steckte das Telefon weg, stieg die Stufen wieder hoch und folgte Frau Meyer ins Rektorat.

 

Mit ungutem Gefühl schob Henry die schwere Eichentür zum ehemaligen Herrenzimmer auf. Wenn die Rektorin zur unangekündigten Audienz bat, gab es irgendein Problem. Vielleicht hatte sich mal wieder ein Studierender über seine direkte Art beschwert. Ihm fiel die Auseinandersetzung am letzten Freitag mit Lukas ein. Ihm hatte Henry unmissverständlich klargemacht, dass er nicht zum Kriminologen taugt, weil er die Aufgaben bisher zu nachlässig anging. Und dann hatte Henry ihm in seiner Rage noch gesagt, dass Lukas ihn mit seinem Desinteresse und der mangelnden Leidenschaft für den Beruf an Hauptkommissar Blume erinnerte, von dem seine Studierenden wussten, dass Henry ihn für unfähig hielt. Sein Blick glitt durch den Raum. Binnen Zehntelsekunden nahm er jedes Detail auf. Beatrice Krohn saß mit angespannten Schultern hinter dem überdimensionalen Schreibtisch, auf dem farblich sortierte Mappen lagen. Der dreiarmige Leuchter an der Decke spendete trübes Licht. Die Rektorin war eine stets elegant gekleidete Frau, die mit ihren vierundvierzig Jahren wegen der frischen Gesichtsfarbe, den dunkelblonden schulterlangen Haaren und ihrer zierlichen Gestalt zehn Jahre jünger aussah. Trotzdem strahlte sie das Selbstbewusstsein einer reifen Frau mit hoher Kompetenz und Menschenkenntnis aus, wie Henry es von Führungskräften erwartete. Sie war strukturiert, hasste Chaos und hatte gerne alles unter Kontrolle. Ihr fragender Blick sah eigentlich nicht nach Ärger aus, sondern eher danach, dass sie seinen Rat brauchte.

«Ich habe gerade einen Anruf von einer Kommissarin der Mordkommission aus Hamburg erhalten. Sie hat sich nach Borowski erkundigt. Was hat das zu bedeuten?»

Henry war alarmiert.

«Vielleicht wollen die Hamburger Kollegen ihn als Zeugen in einem Kriminalfall befragen. Oder er hat selbst etwas angestellt», sagte er.

Frau Krohn atmete hörbar aus. «Könnte er tot sein? Immerhin haben wir seit dieser letzten E-Mail vom 18. September nie wieder etwas von ihm gehört.»

Henry stützte sich mit den Händen auf die Stuhllehne vor ihrem Schreibtisch. Eigentlich hatte er jetzt keine Zeit, aber er wollte ihren Zweifel ausräumen. «Also, er und ich haben erst vor vier Wochen wegen meines Auszugs und der Abwicklung seines Mietvertrages telefoniert. Da klang er putzmunter.»

Die Rektorin presste die Lippen zusammen. Sie machte sich Sorgen.

«Hat die Kommissarin denn gesagt, warum sie sich für Borowski interessiert?», fragte Henry, obwohl er wusste, dass man bei der Suche nach Personen, die in irgendeiner Form in einen Mordfall verwickelt waren, Dritten gegenüber niemals den Grund äußerte. Sie könnten die gesuchte Person ja vorwarnen.

«Nein. Denken Sie, er hat etwas angestellt und sich deshalb über Nacht aus dem Staub gemacht?»

«Er war ein Meister im Tarnen und Täuschen. Aber ich habe keine Ahnung. Dafür kannte ich ihn zu kurz.»

«Aber Ihnen hat er seine Wohnung überlassen.»

«Ich war genauso überrascht wie Sie. Was beunruhigt Sie denn?»

«Dass wir in irgendeiner Form mit einem Mordfall in Hamburg Verbindung gebracht werden und unsere Akademie in Verruf geraten könnte. Unabhängig von dieser Sache mit Borowski und Hamburg mache ich mir Sorgen. Es reicht schon, dass wir von den Einheimischen die Akademie des Verbrechens genannt werden. Das klingt in meinen Ohren, als würden wir Verbrecher ausbilden, anstatt diese zu bekämpfen. Schon Professorin Wellers Unfall vor drei Monaten hat die Gerüchteküche zum Brodeln gebracht. Und dieser Hauptkommissar Blume von der hiesigen Mordkommission hat uns sowieso auf dem Kieker und wartet nur auf eine Gelegenheit, unsere Einrichtung schließen lassen zu können. Und jetzt sieht es aus, als sei er dem einen Schritt näher gekommen. Ich weiß nicht, was Blume für Kontakte hat …» Sie druckste herum, dann zeigte sie ihm ein Schreiben. Henry las, dass die Wissenschaftsbehörde einen anonymen Hinweis bekommen hat, dass Dozenten und Studierende der Akademie unbefugt Zugang zu alten Ermittlungsverfahren erhalten haben mussten, darin herumschnüffelten und unbescholtene Bürger in Verruf brachten. «Anonym», sagte er verwundert.

«Das allein könnte reichen, dass sie uns die Schule dichtmachen. Bisher sind wir, wie Sie wissen, staatlich genehmigt, aber noch nicht staatlich anerkannt. Diesen Status muss man sich als Privatakademie erst über fünf Jahre erarbeiten.» Sollte Hauptkommissar Blume so weit gegangen sein? Oder steckten gar ein paar einflussreichere Leute dahinter, denen sie bei ihrer ersten Ermittlung im Fall der unbekannten Toten in der Stadtbibliothek auf die Füße getreten waren?

«Nicht auszudenken, wenn sich dann noch herausstellt, dass einer unserer Dozenten in Hamburg in einen Mordfall verwickelt ist.»

«Borowski ist ein ehemaliger Dozent», betonte Henry. Beatrice Krohn winkte ab. «Dieser kleine Unterschied wird die Presse kaum interessieren.»

«Nun machen Sie sich mal nicht verrückt.»

«Stellen Sie sich vor, Borowski hat wirklich jemanden in Hamburg umgebracht. Und wir haben ihn hier drei Jahre beschäftigt, ohne zu merken, was er vielleicht tatsächlich für ein Mensch war», sagte sie leise, aber Henry hörte die Panik in ihrer Stimme.

«Wissen Sie was? Falls die Kommissarin hier auftauchen sollte, holen Sie mich einfach dazu. Niemand kann Ihnen anlasten, dass Sie sich möglicherweise in einem Menschen getäuscht haben. Er war ein sehr guter Lehrer in seinem Fach und hat sich in seiner Arbeit nichts zuschulden kommen lassen. Die Sache wird sich zum Positiven aufklären.» Henry guckte auf sein Handy. Verfluchte, er musste los. Mattis Unterricht war in zwei Minuten vorbei. Er sprang auf. «Bitte entschuldigen Sie, aber ich muss Matti heute zum ersten Mal von der Schule abholen. Jugendamt und Heim testen meine väterlichen Kompetenzen.» Er zwinkerte ihr zu, auch, um ihre Sorgen zu zerstreuen.

«Na, dann viel Erfolg», sagte Frau Krohn, doch ihr Blick blieb nach innen gekehrt. Darüber könnte Henry sich später wieder Gedanken machen. Jetzt musste er sich einzig und allein auf Matti konzentrieren. Er rannte die Treppe hinunter. Studierende aus seinem Erstsemesterkurs kamen ihm entgegen und sprachen ihn an: «Herr Zornik, könnten wir kurz über die Aufgabe …» Er winkte ab.

«Bitte kommen Sie morgen zu mir. Wie Sie ja wohl hoffentlich bemerken, habe ich es eilig.» Wahrnehmung, Freunde!, ärgerte er sich. Dachten die etwa, er rannte die Treppe zum Spaß hinunter?

«Aber …», setzte der Student zum Widerspruch an. Henry eilte an der Gruppe vorbei.

«Jetzt nicht!», sagte er mit Nachdruck und schüttelte verständnislos den Kopf. Meine Güte, was war bei manchen dieser Generation bloß schiefgelaufen, dass es ihnen so oft an Einfühlungsvermögen mangelte und sie nur ihre eigenen Befindlichkeiten im Blick hatten? Draußen hetzte er über den Parkplatz und entriegelte schon mal den Pick-up per Fernbedienung. Er sprang hinters Steuer, warf das Handy auf den Beifahrersitz und fuhr los, passierte das schmiedeeiserne Tor des Akademiegeländes und raste die von Pappeln gesäumte Allee hinunter. An der Kreuzung zur B6 bremste er, denn vor ihm schlängelte sich eine Autokarawane aus Buschwitz kommend bis nach Bergen hinein. Na großartig! Sein Handy klingelte. Er schaute auf das Display. Die psychologische Praxis von Dr. Schall. Da er sowieso warten musste, konnte er den Anruf auch annehmen. «Zornik», meldete er sich.

«Guten Tag», sagte eine piepsige Stimme. «Sie hatten heute Morgen bei uns wegen eines Termins angerufen.» Henry setzte den Blinker und starrte auf die Hauptstraße. Die Autos kamen nur im Schneckentempo voran. «Es tut uns leid, aber aus Kapazitätsgründen nehmen wir keine neuen Patienten an.»

«Hören Sie, ich bin kein Patient. Frau Dr. Schall hat mich vor fünf Jahren im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung psychologisch betreut …»

«Das ist ja lange her.» Henry verdrehte die Augen. «Da stehen sie nicht mehr in unserem System.»

«Der Termin ist wirklich dringend.»

«Ich gebe es weiter. Das muss dann Frau Doktor selbst entscheiden. Wie war Ihr Name noch gleich?»

«Henry Zornik. Können Sie mich bitte zu ihr durchstellen? Dann kann ich das direkt mit ihr klären.»

«Das geht nicht, sie hat gerade einen Patienten. Sie wird Sie zurückrufen.» Henry hörte das Knacken in der Leitung. Die Sprechstundenhilfe hatte ihn weggedrückt. Na gut, dann musste er sich eben gedulden. Er warf das Telefon zurück auf den Beifahrersitz und hob dankend den Arm, weil ein Lkw-Fahrer bremste, sodass er sich in die Autoschlange Richtung Bergen einfädeln konnte.

 

Kurz darauf erreichte er die Grundschule Altstadt Bergen in der Breitsprecherstraße. Er war nun acht Minuten zu spät. Henry parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor dem dreistöckigen weißen Gebäude mit den Sprossenfenstern. Zum Haupteingang auf der Rückseite gelangte man nur über den Schulhof. Mehrere Kinder mit Ranzen auf dem Rücken verließen das umzäunte Gelände durch das eiserne Tor neben dem Schulhaus. Sie hatten ausgemacht, dass er Matti um 12.30 Uhr dort empfing. Nun waren es schon neun Minuten Verspätung. Er sah den Jungen nicht. Oh Mann, das fing ja gut an. Nächstes Mal musste er unbedingt pünktlich sein. Er wusste doch, wie wichtig das für Matti war. Henry stieg aus, lief auf den Schulhof, in dessen Mitte mehrere Bäume und Bänke standen. Leer. Sicher war Matti bei dem ungemütlichen Wetter wieder ins Haus gegangen, um dort auf ihn zu warten. Ganz schön kalt, stellte Henry fest und schloss den Reißverschluss seiner Jacke. Er zog an der Eingangstür zur Schule. Abgeschlossen. Was richtig war, sonst könnte ja jeder Fremde durch die Schule spazieren. Er klingelte unter der Gegensprechanlage. Der Lautsprecher rauschte, dann knackte es. «Zornik hier, ich wollte Matti Grabner abholen, Klasse 3b.»

«Die 3b ist schon hoch, da müssen Sie sich im Hort melden», vernahm er die krächzende Stimme der Schulsekretärin. Henry drückte auf den nächsten Klingelknopf und wiederholte sein Anliegen.

«Matti haben wir nicht mit nach oben genommen, der hatte doch das Schreiben von Frau Haberland, dass er gleich nach dem Unterricht von Ihnen abgeholt wird.»

«Unten ist er aber nicht.»

«Wenn ihn eine Erzieherin vom Heim nicht gleich nach dem Unterricht abholt, dann wartet er immer auf dem Schulhof. Er ist da sehr zuverlässig.» Ja, das war Matti, und die Erzieher vom Heim sicher auch. Verfluchte! Henry hätte sich in den Hintern treten können. Doch das half ihm jetzt auch nicht weiter. Wo war er nur? Henry eilte nach vorne zur Straße, wo sein Auto stand. Das kannte Matti ja. Er spähte in alle Himmelsrichtungen. Von dem Neunjährigen war nichts zu sehen. Nein, Matti war nicht weggelaufen. Davon war er überzeugt. Vielleicht war er auf die Toilette gegangen, und niemand hat es bemerkt? Henry rannte zurück, klingelte abermals. «Er ist nicht im Hort und auch nicht auf dem Schulhof. Er muss noch im Gebäude sein. Entweder Sie gucken selbst nach, oder Sie lassen mich rein, und ich schaue.» Die Schulsekretärin kam an die Tür. Sie suchten zuerst in den Toiletten und den Klassenräumen im Erdgeschoss. Überall waren schon die Stühle auf die Tische gestellt. Nichts. Da fiel sein Blick aus dem Fenster schräg über die Straße. Dort kam gerade ein Junge im blauen Anorak mit geringelter Bommelmütze und grünem Ranzen auf dem Rücken aus dem Bäcker und wurde von drei Jungs umringt. Matti, dachte Henry erleichtert. Er trug eine gefüllte Papiertüte in der Hand. Die Jungs rissen ihm die Tüte weg. Matti protestierte. Doch sie gaben ihm die Tüte nicht zurück, sondern warfen sie sich gegenseitig über Mattis Kopf hinweg zu, lachten über seine tollpatschigen Versuche, die Tüte zu fangen, schubsten und traten ihn. Henry riss das Fenster auf. «Ey!», brüllte er über die Straße. Die Jungs drehten sich zu ihm um. «Lasst Matti sofort los und gebt ihm seine Tüte zurück!» Ein Großer mit lockigem Haar grinste frech und warf die Tüte auf die Straße, wo ein Auto darüberfuhr. Matti erstarrte. Die drei johlten. Da überlegte Henry nicht lange, schwang sich aufs Fensterbrett und sprang auf den Fußweg hinaus. Damit hatten die drei nicht gerechnet. Wie der Blitz stoben sie auseinander und rannten davon. Na wartet, Freunde, euch kriege ich schon. Man trifft sich immer zweimal im Leben. Wütend auf die Jungs und gleichzeitig froh, dass er Matti gefunden hatte, lief er zu ihm über die Straße. «Komm, wir kaufen ein neues Teilchen, aber vorher müssen wir deiner Schulsekretärin noch Bescheid sagen, dass ich dich gefunden habe.» Matti nickte.

«Du warst zu spät. Nach sechs Minuten bin ich zur Bäckerei gegangen.»

«Ja, ich weiß. Meine Schuld. Aber so etwas kann manchmal vorkommen, wenn man aufgehalten wird. Könntest du dann bitte im Sekretariat warten. Ich habe mir Sorgen gemacht.» Matti verzog keine Miene. Henry wusste, dass der Junge die Gefühle anderer nicht nachempfinden konnte, aber rational verstand, was das Wort Sorgen bedeutete. Als er ihm versöhnlich über den Kopf streichen wollte, wich Matti aus, sodass Henry die Hand schnell herunternahm. Manchmal vergaß er noch, dass das Kind keine Berührungen mochte.

«Ich gehe aber schon allein raus und warte immer auf dem Schulhof. Frau Haberland sagt, das fördert meine Selbstständigkeit.»

«Kommen die Erzieher aus dem Heim nie zu spät?»

«Nein.» Henry runzelte die Stirn. «Nur Oma war einmal elf Minuten zu spät dran, weil sie noch beim Arzt gewesen war. Da hat sie aber im Sekretariat Bescheid gegeben», sagte Matti. Nicht einmal daran hatte Henry gedacht. Er musste unbedingt an sich arbeiten. Manchmal zweifelte er, wie jetzt, wenn er es, selbst aus gutem Grund, nicht schaffte, pünktlich zu sein, Mattis Bedürfnissen je gerecht werden zu können. Mit seiner beschissenen Kindheit aus Gewalterfahrungen und Vernachlässigung im Gepäck und null Erfahrung, was es bedeutete, sich um ein Kind zu kümmern und es großzuziehen, wusste er nur, wie es nicht laufen sollte. Er musste einfach alles daransetzen, Situationen wie eben künftig zu vermeiden. So vorausschauend sollte er doch wohl sein.

«Kanntest du die drei?»

«Ja, das waren Max, Ben und Erik aus meiner Klasse.»

«Ärgern sie dich oft?»

«Geht so», sagte Matti und senkte den Kopf. «Sie lachen beim Sportunterricht über mich, weil ich den Ball nicht richtig fangen kann.» Motorische Schwierigkeiten waren typisch für Kinder mit Asperger-Syndrom.

«Das ist reine Übungssache. Ich könnte es dir beibringen. Hättest du Lust?» In Mattis Augen blitzte es kurz auf. Er schaute Henry ins Gesicht, aber nicht in die Augen. Überhaupt gab er anderen keine Hinweise, wie es ihm ging, was er fühlte, selbst wenn er wütend war, zeigte sich das nicht in seiner Mimik. Aber Henry konnte ihn mittlerweile lesen und wusste, dass Matti ihm gerade dankbar war. Auch wenn es Henry darauf nicht ankam, war es doch ein Signal. Er liebte dieses Kind wie seinen eigenen Sohn und wollte, dass es glücklich war, es beschützen und ihm das Zuhause geben, was er selbst nie hatte.

«Sehr gerne.»

«Haben die drei verlangt, dass du ihnen etwas kaufst?»

«Nein. Frau Haberland sagt, ich soll unvorhergesehene Zeitfenster sinnvoll füllen, also habe ich Heidelbeermuffins für unser Vesper besorgt. Dafür hat sie mir extra Geld mitgegeben. Denn ich soll mich bei dir wie zu Hause fühlen. Du kamst nicht, also habe ich diesen Punkt unseres Tagesablaufs einfach nach vorne verlegt, sodass wir ihn uns jetzt hätten sparen können und unser Zeitkonto wieder ausgeglichen wäre. Warten ist nämlich Zeitverschwendung. Statistisch ist belegt, dass der Mensch 374 Tage seines Lebens damit verbringt, auf andere Menschen oder Maschinen zu warten», sagte Matti in belehrendem Ton. Henry öffnete die Tür zum Bäcker und ließ dem Kind den Vortritt. «Dann wollen wir jetzt nicht noch mehr Zeit verschwenden und uns beeilen, dass wir nach Hause kommen. Dann helfe ich dir bei den Hausaufgaben und bin sicher, dass wir die verlorene Zeit wieder aufholen werden.» Erst wenn sie das geschafft hatten, würde er ihm noch eine Einheit Balltraining vorschlagen, damit Matti nicht durcheinanderkam.

Kapitel 3

Sophie knallte den Rucksack in die Ecke ihres WG-Zimmers und warf sich mit Anorak und Schuhen aufs Bett. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dieser verdammte Arsch! Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie setzte sich auf, schnappte das Kopfkissen und vergrub ihr Gesicht darin. Und ihre Mutter war einfach das Letzte! Okay, dann wusste Sophie wenigstens, woran sie war und dass Mama auf Vaters Seite stand und Sophie von ihr nichts zu erwarten hatte. Eigentlich war es absehbar gewesen. Trotzdem machte Sophie diese Erkenntnis unendlich traurig. Als sie ein Auto vorfahren hörte, wischte sie sich die Tränen ab und schaute aus dem Fenster. Die schwarze Limousine bremste direkt vor dem ehemaligen Gesindehaus auf dem Gelände der Academy of Criminal Investigation, an der Sophie seit zwei Jahren studierte. Sie sah noch, wie Wilbert, Fahrer und Personenschützer der Familie Dresen, um das Auto herumkam, die hintere Tür öffnete und ihrer elegant gekleideten Mutter aus dem Wagen half. «Den Weg hättest du dir sparen können», murmelte sie und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Es klingelte mindestens zehnmal an der Wohnungstür. Niemand zu Hause! Sophie lauschte und schmunzelte, als das Läuten verstummte. Ihre Mitbewohnerinnen Neda und Charlotte waren immer noch drüben im Haupthaus beim Unterricht. Sie hatte sich bei ihnen von unterwegs für heute mit einer Magenverstimmung entschuldigt und gebeten, es an die Schulleitung weiterzugeben. Was nicht einmal gelogen war. Dieses ganze Theater mit ihrer Familie hatte ihr übel auf den Magen geschlagen. Sie lugte unter der Bettdecke hervor und sah Wilbert, der sein kantiges Gesicht an die Scheibe des Sprossenfensters drückte. Mit der kreidebleichen Haut, dem vernarbten Schmiss auf der Wange, den schlohweißen Haaren und dem eisigen Blick aus hellgrauen Augen sah der Hüne bedrohlich aus. Scheiße, Vaters Mann fürs Grobe gab natürlich nicht so leicht auf. Ihr eigener Fehler. Sie hatte ihr Handy eingeschaltet, um mit Neda zu telefonieren. Dann hatte sie es unbedacht wieder eingesteckt. Sophie verdrehte die Augen. Sie könnte wetten, dass Wilbert sie im Auftrag ihres Vaters darüber geortet hatte. Digitale Überwachung war nun kein Problem für den größten Software- und Medienunternehmer Europas. Würde er so etwas tatsächlich wagen? Ja! Dass er damit einen Vertrauensbruch beging, war ihm egal. Ihm ging es um Kontrolle. Das Gesicht verschwand von der Scheibe. Trotzdem wagte sie es nicht, sich zu bewegen. Und dann noch der Rucksack! Den hatte er bestimmt gesehen und wusste nun auch ohne Smartphone-Ortung, dass sie da war. Sie hörte den Motor der Limousine. Gaben sie auf? Sophie lugte abermals unter der Bettdecke hervor. Die Limousine rollte aus ihrem Sichtfeld. Würden sie es jetzt drüben in der Akademie versuchen? Mist, das konnte sie von hier aus nicht beobachten. Sophie schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Sie lief ins Bad, verschloss hinter sich die Tür und schaute von dort auf den Akademieparkplatz. Von der Limousine war nichts zu sehen. Waren sie tatsächlich unverrichteter Dinge gefahren? Sie zuckte mit den Schultern, spähte noch einmal aus dem kleinen Fenster. Jetzt blieb nur noch die vordere Giebelseite, wo ihre Mutter und Wilbert im Auto darauf warten konnten, dass sie irgendwann herauskam. Diese Seite überblickte sie aus Nedas Zimmer. Also lief sie aus dem Bad und ihrer Mutter direkt in die Arme, die gerade über die Schwelle zur Wohnungstür trat. Wilbert stand hinter ihr, das Lockpicking-Set in den Händen. Sie waren tatsächlich nur um die Ecke gefahren. Sprachlos darüber, dass er einfach die Tür aufgebrochen hat, blieb Sophie wie erstarrt stehen. Dann riss sie sich zusammen, unterdrückte ihren Schmerz, der diese gefühlskalte Frau sowieso nicht berührte. Sie schaute ihrer Mutter direkt ins Gesicht. «Verschwinde! Du hast mich belogen. Ich dachte, du stirbst, dabei hast du mich in seine Falle gelockt. Auch wenn unser Verhältnis nicht immer das innigste war, ich habe dir vertraut. Du bist meine Mutter!»

«Es tut mir leid, Sophie, es war eine blöde Idee. Er will doch nur dein Bestes.»

«Er will mein Bestes? Das bezweifle ich. Er hat Angst um seine Geschäfte, und du unterstützt ihn dabei.»

«Du hast es immer noch nicht begriffen, oder? Entweder du bist für ihn, oder er sorgt dafür, dass du für ihn bist. Ich habe auch nur dieses eine Leben. Ich werde mich hüten, mich mit ihm anzulegen. Das Gleiche rate ich dir.»

«Du hast Angst vor ihm», sprach Sophie aus, was sie seit Langem wusste. Ihre Mutter schluckte. «Mama, warum hast du dich nie von ihm getrennt?»

«Weil wir ihm dankbar sein sollten.»

Sophie verschränkte die Arme vor der Brust. «Ach, wofür denn?»

«Er hat uns aufgenommen und dich großgezogen. Du hast die besten Schulen besucht. Das hat alles er bezahlt.»

Sophie horchte in sich hinein. Jegliches Mitgefühl mit der Mutter, die ihre Tochter so schamlos belogen und eigentlich nie beschützt hatte, war ihr in den letzten Sekunden abhandengekommen. Sophie schaute herablassend auf diese perfekt frisierte Frau, die mit ihren achtundfünfzig Jahren dank Botox keine Falte im Gesicht hatte, aber auch keine Mimik mehr besaß. «Außerdem hat er mir einmal deutlich gemacht, dass man sich nicht von einem Alexander Dresen trennt.» Sollte Sophie sie jetzt etwa bedauern? «Ich habe noch keine Lust, zu sterben oder den Rest meines Lebens in einer geschlossenen Einrichtung zu verbringen. Du weißt doch selbst am besten, dass er die Macht besitzt, das zu veranlassen. Möchtest du diese Erfahrung noch einmal machen?»

Nein, das wollte Sophie nicht. Genau das hatte ihr Vater ihr angetan, als sie ihm mit siebzehn klargemacht hatte, was sie von seinen dubiosen Geschäften hielt. Schon damals hatte sie erkannt, dass er mit seinen Unternehmen für Kriminelle Geldwäsche betrieb. Sie hatte ihm gedroht, ihn fertigzumachen, weil es nicht zu ihrem Weltbild und ihrem Sinn für Gerechtigkeit passte, dabei zuzusehen, wie ihr Stiefvater vom Drogen-, Menschen- und Waffenhandel profitierte und billigte, dass Unschuldige dafür getötet und gequält wurden. Wie naiv von ihr! Einem Alexander Dresen drohte man nicht ohne Konsequenzen. Er hatte sie daraufhin zwangseinweisen und ruhigstellen lassen, weil sie mit Wahnvorstellungen angeblich eine Gefahr für sich und andere darstellte. Wenn die Erinnerung daran hochkam, was sie dank ihm in dieser Spezialklinik erlebt hatte, bekam sie immer noch Panik und Todesangst.

«Deine Freunde und dieser Lehrer, ihr habt wohl mit eurer Herumschnüffelei einige Geschäftspartner von ihm so nervös gemacht, dass sie ihre Investitionen in ein geplantes Großprojekt auf der Insel überdenken. Und du steckst mittendrin. Er war so wütend, dass er damit gedroht hat, dich wieder wegzusperren. Das wollte ich dir ersparen. Ich habe keinen anderen Ausweg gesehen, als dich mit dieser Lüge nach Hamburg zu locken. Sophie, lass dieses Studium und hör auf, solche Lügen über ihn zu verbreiten.»

«Aufgeben? Niemals! Du weißt genau, dass das keine Lügen sind, aber du bist ihm hörig.» Sophie schaute ihrer Mutter in die Augen, und was sie sah, machte sie wütend und traurig zugleich. «Wovor hast du tatsächlich Angst?» Sie zeigte auf die Handtasche im Wert eines Kleinwagens am gebeugten Unterarm ihrer Mutter. «Mittellos dazustehen! Das ist alles, was dich kümmert.» Ihre Mutter holte aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. «Ich habe dich gewarnt.» So war es schon immer gewesen. Die Gewalt, die Marlene Dresen stumm von ihrem Mann ertrug, gab sie dann an ihre Tochter weiter, wenn ihr die Argumente fehlten. Ihre Mutter, die in diesem Moment nicht mehr für sie war als eine Frau im Designerkostüm, wendete sich ab und lief aus der Wohnung. Während sich Sophie die Wange rieb, hörte sie eine Autotür zuschlagen und die Limousine davonfahren. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ab heute hatte sie keine Familie mehr. Sie schniefte und wischte sich die Nase am Jackenärmel ab. Was erschütterte sie aber so an dieser Erkenntnis? Das wusste sie doch seit Jahren. Sie spürte kurz in sich, und es gab keinen Zweifel. Es war die pure Angst. Angst davor, ihrem Vater völlig ausgeliefert zu sein. Denn in einem hatte ihre Mutter recht: Alexander Dresen war mehr als mächtig. Sie hatten bei ihrer letzten Ermittlung mit Zornik im Umfeld des Immobilienbüros Winkler & Partner Verbindungen zur italienischen Mafia entdeckt, die über Strohmänner und ein weitverzweigtes, undurchdringliches Netzwerk in Immobiliengeschäfte und in die Tourismusbranche investierte und schmutziges Geld wusch. Dabei war auch der Name von Alexander Dresen aufgetaucht. Ein Informant hatte Zornik gesteckt, dass sie etwas ganz Großes planen. Genau das hatte ihre Mutter gerade bestätigt. Dafür musste ihr Vater alle Störfaktoren beseitigen. Polizei, Richter und Staatsanwaltschaft konnte er bestechen, aber Zornik und die Studierenden, zu denen auch seine Stieftochter gehörte, eben nicht. Deshalb würde er sämtliche Geschütze auffahren, um sie zur Vernunft zu bringen. Und wenn ihm die Akademie querkam, würde er alles daransetzen, sie zu schließen. Er würde auch dieses Mal nicht davor zurückschrecken, sie in diese spezielle geschlossene Psychiatrie zwangseinweisen zu lassen. Sophie fröstelte, und ihre Hände zitterten.

Die Tür zu ihrem Zimmer öffnete sich, und Charlotte steckte den Kopf herein. «Du bist da?», stellte sie perplex fest und musterte sie durchdringend.

Sophie kannte diesen Blick ihrer Mitstudentin. Den setzte Charlotte auf, wenn sie die Gefühle ihres Gegenübers ergründete. Mit ihrem Bachelor in Psychologie und ihrer besonderen Gabe, sich in Menschen hineinzudenken, erfasste Charlotte stets treffend und blitzschnell die Lage. Sophie wollte jetzt nicht von ihr seziert werden.

«Geht es dir gut?», fragte Charlotte und stand im nächsten Moment schon im Raum. «Wenn du reden willst …»

Scheiße, nein! Sie wollte nicht reden. Niemand, besonders Charlotte, sollte sie schwach sehen. Eine Sophie Dresen fürchtete sich nicht!

«Ich verschwinde schon, Sophie. Mach keinen Blödsinn. Für alles gibt es eine Lösung.» Charlotte schloss die Tür.

Sophie musste raus, raus, bevor die anderen kamen und ihr ansahen, wie hilflos sie sich gerade fühlte. Sie zog ihre Sportklamotten an, schnappte den Schlüssel und ließ das Handy bewusst im Zimmer zurück. Sie ahnte, dass ihr Vater nicht einfach so aufgab. Das tat er nie. Marlene war ihr nicht aus eigenem Willen gefolgt. Er hatte sie geschickt, um eine letzte Warnung auszusprechen. Die hatte Sophie mit ihrer Reaktion zurückgewiesen. Im nächsten Schritt würde Wilbert sie wahrscheinlich einfangen. Nicht hier auf dem Gelände der Akademie, sondern wenn sie da draußen allein unterwegs war. Dann würde ihr Vater ihren Freunden gegenüber etwas von einer Krankheit erfinden und sie von jeglichem Außenkontakt isolieren. Ich muss wachsam sein. Draußen schwang sie sich aufs Fahrrad und trat kräftig in die Pedale.

 

Sophie raste mit dem Rad Richtung Nordosten nach Lietzow, ließ den Jasmunder Bodden links liegen und rollte durch Sagard. Der Himmel über ihr war grau mit tiefen Wolken verhangen. Eisiger Wind peitschte ihr den Nieselregen ins Gesicht, der sich wie tausend Nadelstiche anfühlte. Doch der Schmerz störte sie nicht, sie empfand ihn sogar als heilsam, weil er sie von ihrer Angst und ihrer Wut ablenkte. Am Wegweiser nach Lohme bog sie von der Bundesstraße in den Nationalpark ein und fuhr auf Waldwegen bis zur Steilküste. Sie wollte zu ihrem Lieblingsplatz, einem einsamen Aussichtspunkt auf das Meer und den Schwanenstein, einem Findling aus der Eiszeit mit tragischer Geschichte, der zwanzig Meter vom Ufer entfernt aus dem Wasser ragte. Ein Kraftort, mit dem sie sich auf geheimnisvolle Weise verbunden fühlte. Hier würde sie um diese Jahreszeit allein sein und darüber nachdenken können, wie es weiterging. Der Nieselregen hatte den Hochuferweg aufgeweicht. Das Vorderrad rutschte weg. Sie konnte es nicht ausbalancieren und sprang vom Sattel in den Matsch, der hoch aufspritzte. Egal. Dann würde sie den Rest des Weges eben schieben. Ein Schild warnte die Wanderer davor, bei Regen und Schnee weiterzugehen. Sophie ignorierte die Gefahr. Noch hatte sie ihr Ziel, den hölzernen Treppenabstieg in unmittelbarer Nähe der Ruine des ehemaligen Chemnitzer Kinderheims, nicht erreicht. Über ihr rauschten die Bäume im Wind, der stärker wurde, je näher sie dem Waldrand kam, der an der Steilküste bis hinunter an den steinigen Strand reichte. Nun konnte sie auch das Rauschen der Brandung hören. Sie blieb kurz stehen und atmete tief durch. Was war das? Polizeisirenen von mehreren Einsatzfahrzeugen, die näher kamen. Neugierig schob sie das Rad vorwärts und lugte durch die Bäume zum grauen Bau der Kinderheimruine, vor dem mehrere Fahrzeuge mit Blaulicht zum Stehen kamen. Sophie erstarrte. Hat ihr Vater jetzt etwa die Polizei auf sie gehetzt? Sie beobachtete, wie Polizisten in Uniform ringsum das Gelände mit schwarz-gelbem Flatterband absperrten. Nein, der Einsatz hatte nichts mit ihr zu tun. Erleichtert atmete sie auf. Ein Zivilfahrzeug fuhr vor, und Hauptkommissar Blume stieg aus. Trotz der Entfernung erkannte sie den Mann an seinem roten Schal über dem offenen Mantel, seinem eckigen Gang und dem grauen Haar, das wie eine Haube steif an seinem Kopf anlag, weil er es sicher wieder mit Gel zugekleistert hatte. Sie hatten in ihrem ersten Fall, den Zornik mit zum Unterricht gebracht hatte, mehrmals mit Blume zu tun gehabt. Er war ihnen seinerzeit auf die Schliche gekommen, dass sie heimlich in einem Mordfall ermittelten, den er eingestellt hatte. Bei den wenigen Begegnungen wirkte er immer wie aus dem Ei gepellt, als würde er geradewegs in die Oper wollen. Kaschmirmantel, schwarzer Anzug, weißes Hemd, Schlips und den roten Schal. Wenn Blume hier ermittelte, bedeutete das etwas Schwerwiegendes. Drogen? Die Ruine war bestimmt ein perfekter Ort, um illegales Zeug dort zwischenzulagern. Aber dann käme nicht die Mordkommission. Es konnte sich nur um einen Toten handeln. Wahrscheinlich hatte jemand in dem verfallenen Gebäudekomplex eine Leiche gefunden. Vielleicht nach einem Unfall? Die Kinderheimruine gehörte zu den gefragten Lost Places, die Abenteurer und Hobbyfotografen so gerne erkundeten und ihre Bilder oder Videos zu den schaurigen Orten im Netz teilten. «Hör auf, dich abzulenken! Das geht dich nichts an», murmelte sie vor sich hin, weil sie sich dabei ertappte, dass sie sich neugierig an das Geschehen heranpirschte. Sie musste sich auf ihre eigenen Probleme konzentrieren und eine Lösung finden, um sich aus dem Dunstkreis ihres Vaters zu befreien. Hinter ihr knackte es. Sophie erschrak. Kaum dachte sie an ihren Vater, war sie plötzlich wieder da, diese Scheißangst, ihm hilflos ausgeliefert zu sein. Sie drehte sich um und spähte in alle Richtungen. Der Wald war wieder still hier oben, die Bäume schwarz und grau, die Wurzeln am Boden von feinen Nebelschwaden verdeckt. Sie atmete einmal tief durch. Unter den modrigen Geruch nach verwesenden Blättern und nasser Erde mischte sich der Hauch eines rauchigen Männerparfüms, den der Wind in ihre Nase trug. Hatte ihr Vater längst jemand anderen als Wilbert geschickt, der sie bereits observierte und bei der nächsten Gelegenheit einkassierte? Sie hielt die Luft an und schärfte ihre Sinne. Nein, da ist niemand. Sophie drehte ab und lief Richtung Abbruchkante. Da war es wieder, dieses Geräusch. Ruckartig drehte sie sich um und lauschte. Anscheinend wurde sie langsam paranoid. Sie lehnte ihr Fahrrad an einen Baum neben die Holztreppe, die nach unten zum Strand führte. Dabei ließ sie das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht los. Sie hielt inne. Und wenn ihr Vater dieses Mal kurzen Prozess mit ihr machte? Sie traute ihm alles zu. Würde er sie auch umbringen lassen? Wenn es ihm nützte, ja. Es würde wie ein Unfall aussehen. Schließlich war sie nicht sein Fleisch und Blut, sondern der Bonus, den ihre Mutter mit in die Ehe gebracht hatte. Ein Bonus, der nun zur Belastung, ja zur Gefahr für ihn geworden war. Mit zitternden Knien stieg sie die Treppe hinunter. Nein, sie würde sich nicht kampflos ergeben. Erst einmal musste er sie kriegen.

Kapitel 4

Sie war verdammt aufmerksam und hätte ihn beinahe bemerkt. Ein Glück, dass dieser geschlossene Hochsitz noch in der Nähe war, auf den er sich schnell wieder zurückzog. Er beobachtete, wie sie neugierig zur Kinderheimruine hinüberspähte. Dort rückte die Polizei gerade mit einem Großaufgebot an. Die junge Frau gefiel ihm, ihre schlanke Figur, die fast knabenhaft aussah. Und wie sie sich bewegte, geschmeidig wie eine Katze. Er schaute durch sein Fernglas. Die dunklen Augen ließen ihn vermuten, dass sich unter ihrer Mütze schwarzes Haar verbarg. Seine Hände kribbelten vor Aufregung, und er leckte sich die Lippen. Dass er so eine Schöne ausgerechnet hier traf, war ein Zufall, den es nur selten im Leben gab. Sie stieg die Holztreppe zum Strand hinunter. Er zückte das Prepaidhandy und tippte auf den einzigen Namen, der in der Kontaktliste stand. Es dauerte einen Moment, bis er die gewünschte Stimme hörte.

«Jemand hat unsere Leiche entdeckt. Die Polizei nimmt gerade den Fundort auseinander.»

«Was machst du dann dort? Sieh zu, dass du wegkommst, oder willst du riskieren, dass sie dich noch als Zeugen befragen?»

Er lachte in sich hinein. «Stell dir das mal vor.»

«Du siehst jetzt zu, dass du dort ungesehen verschwindest. Verstanden! Sonst …»

«Was sonst? Wirst du mich verpfeifen?» Er machte eine Pause. «Das wagst du nicht.» Stille am anderen Ende der Leitung. Dann hörte er es knacken. Sein Gesprächspartner hatte aufgelegt. Er hasste diesen Befehlston. Nein, so ging man nicht mit ihm um. Wer war er denn? Doch keine Marionette. Es wurde Zeit, ein Exempel zu statuieren und zu demonstrieren, dass er in seinen Entscheidungen frei war. Sein Blick fiel auf das Fahrrad, das die Schöne neben der Holzstiege an eine der krummen Kiefern gelehnt hatte. Eine zweite Leiche in so kurzer Zeit und in unmittelbarer Nähe zur ersten würde nicht nur die Polizei alarmieren und für einige Verwirrung sorgen.

Kapitel 5

Die Blaubeermuffins waren ausverkauft. Und es hatte Henry einige Überredungskunst gekostet, dass Matti Käsekuchen als Nachmittagssnack akzeptierte. Dadurch hatten sie das Zeitkontingent, das der Junge stets für jede Aktivität im strikt getakteten Tagesablauf festlegte, mittlerweile um dreißig Minuten überschritten. Deshalb diskutierten sie auf der Fahrt zu Henrys Hof, welche der geplanten Nachmittagsaktivitäten ausfallen müssten, damit sie es bis 18.00 Uhr pünktlich schafften, im Kinderheim zu sein. Henrys Einsparungsvorschlag, alle weiteren Aktivitäten um zehn Minuten zu kürzen, fand Matti inakzeptabel, würde diese Option doch unnützen Druck oder gar Chaos erzeugen. «Für die Lösung der drei Aufgaben in Mathe, Recherche und Steckbrief des Wiesenbläulings in Sachkunde brauche ich die fünfundvierzig Minuten», rechnete Matti ihm vor. «Ebenso lässt sich das Verspeisen eines Stücks Käsekuchen, das laut Aussage der Backwarenfachverkäuferin zehn Gramm mehr wiegt als der Blaubeermuffin und damit ein Viertel mehr an Masse mitbringt, nicht in kürzerer Zeit als ein Blaubeermuffin herunterschlucken, wenn man ihn ordentlich kaut, um die Produktion der zur Verdauung nötigen Säfte im Körper anzuregen. Theoretisch müsste man dafür das Zeitfenster um drei Minuten und fünfundvierzig Sekunden erweitern.»

«Einverstanden!» Henry gab sich geschlagen. Er rollte langsam auf den ungepflasterten Hof. «Was gedenkst du also zu streichen?», fragte er und schaute zu Matti auf dem Beifahrersitz, der beim Reden geradeaus starrte. Trotz der Wärme im Auto behielt das Kind seine Bommelmütze auf. «Der Spaziergang ist notwendig, damit ich frische Luft bekomme, das Hörspiel zur Entspannung. Das Gesellschaftsspiel ist förderlich für unser Beisammensein und stabilisiert meine Psyche. Die Hausaufgaben und deren Kontrolle können wir auch nicht wegfallen lassen, weil das Ärger mit meiner Klassenleiterin nach sich zieht und einen Eintrag bedeutet, den Frau Haberland liest, sodass sie dann unsere Treffen unter der Woche nicht erlaubt. Ich denke, du solltest die Hühner heute allein füttern, während ich das Hörspiel anhöre. Dann ist das Zeitkonto wieder ausgeglichen, vorausgesetzt, du brühst sofort den Tee auf, damit er ziehen kann, während ich Schuhe und Jacke ausziehe und den Toilettengang erledige.»

Henry atmete auf. «So machen wir das.» Er hielt direkt vor der blauen Eingangstür des reetgedeckten Fachwerkhauses, das er dank seiner Ex-Kollegin Martha vor vier Wochen gemietet und bezogen hatte. Auch wenn die alte Fischerkate in Alleinlage am Rand von Bergen seine Macken hatte, war sie ein Glücksgriff gewesen. Martha hatte sie ihm vermittelt, da sie die Tochter des betagten Besitzers kannte, der bis zu einem Sturz Anfang Oktober allein in dem Haus gelebt hatte. Der Dreiundachtzigjährige war nach einem Krankenhausaufenthalt ins Pflegeheim gekommen. Seine Tochter brachte es nicht fertig, ihr Elternhaus an einen dieser Immobilienhaie auf Rügen zu verscherbeln. Da sie selbst aber in Rostock lebte, suchte sie für die nächsten fünf Jahre einen Mieter, der bereit war, Haus und Grundstück in Ordnung zu halten und sich um die Obstwiese und die Hühner zu kümmern. Der Mietpreis war entsprechend günstig. So schlug Henry zu, hatte er doch nun viel Platz und konnte vor die Tür treten, ohne gleich auf der Straße zu stehen. Im Gegensatz zu der Zweizimmerwohnung unterm Dach mitten in Bergen, die er erst vor Kurzem von seinem Ex-Kollegen Borowski übernommen hatte. Nachdem er in der Kate alle Zimmer gestrichen, den Teppichboden herausgerissen und die Holzdielen sowie Treppenstufen abgeschliffen hatte, war auch der muffige Geruch verschwunden. Henry hatte sich mit raumhohen Bücherregalen, Ledercouch, buntem Wollteppich, Bauernschrank und einem Tisch mit dicker Eichenplatte eingerichtet, um den er verschiedene Stühle gruppierte. Dann hatte er sogar noch die alten Küchenmöbel restauriert. Und als er den Kamin nach der Reparatur durch den hiesigen Ofenbauer zum ersten Mal angezündet hatte, fühlte er sich zu Hause angekommen. Matti bekam ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer unterm Dach mit Ausblick auf die riesige Obstwiese hinterm Haus, direkt gegenüber Henrys Schlafzimmer. Hier konnte der Junge zur Ruhe kommen. Frau Jakob vom Jugendamt war begeistert gewesen und unterstützte ihn dabei, Matti adoptieren zu dürfen, und dass Henry ihm einen Hund kaufen wollte, der dann hier mit ihnen lebte, fand sie großartig. Aber noch war es nicht so weit, dass Matti und ein Vierbeiner hier für immer einzogen. Zuerst musste Henry die Tests bestehen, dass er sich angemessen um dieses besondere Kind kümmern konnte, das Matti zweifelsohne war. Und dann gab es auch noch die Auflage der Familienrichterin, die über seinen Fall entschied. Sie verlangte, dass Henry die abgebrochene Therapie zur Trauma-Bewältigung nach dem Tod seiner Kollegin Hanna wieder aufnahm und erfolgreich beendete. Wie sollte er dem allem bloß gerecht werden? Henry seufzte, stieg aus und holte Mattis Ranzen vom Rücksitz. Er half dem Jungen heraus, schloss ihm die Haustür auf und leerte den Briefkasten. Dabei erinnerte er sich an den Umschlag, den er schon den halben Tag ungeöffnet mit sich herumtrug. Später! Jetzt musste er erst einmal dafür sorgen, dass Mattis Zeitplan aufging, damit sie einen entspannten Nachmittag verbringen konnten und der Junge wieder ins Gleichgewicht kam. Außerdem musste er unbedingt noch ein paar Minuten für ein Ballspiel herausholen, bei dem sie Mattis verzögertes Reaktionsvermögen trainierten. Wenn sie das öfter übten, lachte in zwei Wochen niemand mehr über den Jungen. Er dachte an die drei frechen Burschen. Denen würden sie es zeigen! Also beeilte er sich, lief direkt in die Küche, füllte den Wasserkocher auf und deckte den Tisch für den Nachmittagstee. Er schaute um die Ecke in den Flur. Matti hängte seine Sachen auf, schlüpfte in die Hausschuhe und brachte seinen Ranzen nach oben in sein Zimmer. Wichtig war, dass man ihn in seinen Abläufen nicht durcheinanderbrachte, dass die Hausschuhe immer an derselben Stelle standen. Dass stets der gleiche Kleiderhaken für seine Jacke reserviert war und im Badezimmer sein blaues Handtuch bereithing. Sich darauf einzustellen, fand Henry nicht besonders schwer. Komplizierter war es mit den zeitlichen Vorgaben und der Reihenfolge, die Matti für jede Tätigkeit im Tagesablauf festgelegt hatte. Gab es da Überschneidungen oder Verschiebungen, mussten alle Punkte neu sortiert werden. Gelang Matti das nicht, verhielt