Todesprüfung - Thomas Matiszik - E-Book
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Thomas Matiszik

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Beschreibung

Als Privatermittlerin Corinna Dupont endlich eine Diagnose ihres angegriffenen Gesundheitszustandes erhält, kann sie sich dennoch nicht ihren eigenen Problemen widmen. Ausgerechnet ihr behandelnder Arzt wird der Vergewaltigung bezichtigt und gerät ins Visier der Polizei. Sie sagt zu, ihm zu helfen, und gerät dabei schon bald in ein Netz aus Gewalt und Lügen. Kommissar David Schmelzer sieht sich unterdessen mit einem grauenvollen Verbrechen konfrontiert. Dem Opfer wurden sämtliche Knochen zertrümmert, zudem weist der geschundene Körper Spuren von Missbrauch auf, die ihm post mortem zugefügt wurden. Doch warum wurde das Gesicht der Leiche wie bei einer Beerdigung wieder hergestellt? Währenddessen wird Hannes Jochimsen, der für seine jüngsten dienstlichen Verfehlungen nicht zur Rechenschaft gezogen wurde, mit einem Fall aus seiner Vergangenheit konfrontiert, der ihn an die Grenzen seiner Belastung bringt. Einer der Täter ist aus dem Gefängnis entlassen worden und sinnt nach Rache. Drei zunächst scheinbar unzusammenhängende Fälle treffen in Thomas Matisziks neustem Roman „Todesprüfung“ aufeinander und verweben sich zu einer intelligenten Handlung voller Abgründe. „Todesprüfung“ ist der zweite Teil der Corinna-Dupont-Reihe und schließt nahtlos dort an, wo Band eins geendet hat. Beide Teile sind in sich abgeschlossen und durch wiederkehrende Figuren miteinander verbunden. Sie können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 423

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PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7 – VOR ETWA 4 JAHREN
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11 – ETWA DREIEINHALB JAHRE ZUVOR
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15 – ETWA DREI JAHRE ZUVOR
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 48
KAPITEL 49
KAPITEL 50
KAPITEL 51
KAPITEL 52
KAPITEL 53
KAPITEL 54
KAPITEL 55
KAPITEL 56
KAPITEL 57
KAPITEL 58
KAPITEL 59
KAPITEL 60
KAPITEL 61
KAPITEL 62
KAPITEL 63
KAPITEL 64
KAPITEL 65
KAPITEL 66
KAPITEL 67
KAPITEL 68
KAPITEL 69
KAPITEL 70
KAPITEL 71
KAPITEL 72
KAPITEL 73
KAPITEL 74
KAPITEL 75
KAPITEL 76
KAPITEL 77
KAPITEL 78
KAPITEL 79
KAPITEL 80
KAPITEL 81
EPILOG
Danksagung
Weitere Veröffentlichungen

 

 

 

 

 

 

Thomas Matiszik

Todesprüfung

 

 

Über das Buch:

 

Als Privatermittlerin Corinna Dupont endlich eine Diagnose ihres angegriffenen Gesundheitszustandes erhält, kann sie sich dennoch nicht ihren eigenen Problemen widmen. Ausgerechnet ihr behandelnder Arzt wird der Vergewaltigung bezichtigt und gerät ins Visier der Polizei. Sie sagt zu, ihm zu helfen, und gerät dabei schon bald in ein Netz aus Gewalt und Lügen.

Kommissar David Schmelzer sieht sich unterdessen mit einem grauenvollen Verbrechen konfrontiert. Dem Opfer wurden sämtliche Knochen zertrümmert, zudem weist der geschundene Körper Spuren von Missbrauch auf, die ihm post mortem zugefügt wurden. Doch warum wurde das Gesicht der Leiche wie bei einer Beerdigung wieder hergestellt?

Währenddessen wird Hannes Jochimsen, der für seine jüngsten dienstlichen Verfehlungen nicht zur Rechenschaft gezogen wurde, mit einem Fall aus seiner Vergangenheit konfrontiert, der ihn an die Grenzen seiner Belastbarkeit bringt. Einer der Täter ist aus dem Gefängnis entlassen worden und sinnt auf Rache.

Drei zunächst scheinbar unzusammenhängende Fälle treffen in Thomas Matisziks neustem Roman TODESPRÜFUNG aufeinander und verweben sich zu einer intelligenten Handlung voller Abgründe.

 

TODESPRÜFUNG ist der zweite Teil der Corinna-Dupont-Reihe und schließt nahtlos dort an, wo Band eins geendet hat. Beide Teile sind in sich abgeschlossen und durch wiederkehrende Figuren miteinander verbunden. Sie können unabhängig voneinander gelesen werden.

Der Autor:

 

©Sarah Heilbrunner

 

Thomas Matiszik wurde 1967 in Recklinghausen geboren und wuchs in Oer-Erkenschwick als jüngstes von vier Kindern auf. Nach 12 Semestern Lehramtsstudium an der Ruhruniversität Bochum arbeitete Thomas Matiszik als freier Musik-Journalist für die beiden Radiosender 1Live und WDR2 und schrieb Artikel für mehrere Stadt- und Musikmagazine. Seit Mitte der 90er-Jahre arbeitet er als freier Konzertagent in Bochum und hat Bands wie Reamonn, die H-Blockx oder auch Hollywood-Star Kevin Costner betreut. Mit seiner Familie lebt er unweit von Dortmund im beschaulichen Holzwickede.

Musik ist neben dem Schreiben Matisziks große Leidenschaft. Mit seinem aktuellen Projekt „All About Joel“ zollt er dem großartigen US-Songwriter Billy Joel höchst respektabel Tribut.

Ende 2013 beginnt Thomas Matiszik mit seinem Debütroman »Karlchen«. Heute blickt der Autor stolz auf vier Romane zurück, von denen sowohl die Modrich-Trilogie als auch »Tiefschwarze Schuld« von den Kritikern gefeiert wurden.

Thomas Matiszik

 

Todesprüfung

 

 

 

 

 

Ein Corinna-Dupont-Thriller

Band 2

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Oktober © 2022 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Veronika Moosbuchner

https://www.lektorat-moosbuchner.de/

 

Korrektorat: Rebekka Maria Peckary

https://www.federnote.at/

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

http://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 127813003, Adobe Stock ID 124573637, Adobe Stock ID 137622416 und freepik.com

 

»Wenn ich die Wahl habe zwischen

dem Nichts und dem Schmerz,

dann wähle ich den Schmerz!«

(William Faulkner)

 

Für Violaine

 

PROLOG

 

Die Werkzeugkiste steht geöffnet vor meinen Füßen. Fast ehrfürchtig betrachte ich den Gummihammer, den ich erst kürzlich im Baumarkt erstanden habe. Unschlüssig frage ich mich, welcher Teil seines Körpers als nächster an die Reihe kommt. So wie er da in dem Sessel sitzt, gefesselt an Armen und Beinen und erfrischend hilflos, könnte ich mit den Knien anfangen und die Investition in den Gummihammer rechtfertigen. Die Angst in seinen Augen zu sehen ist hinreißend, durch nichts zu ersetzen! Erst seit gestern Abend ist er bei mir, ist er mein! Wir haben uns über Gott und die Welt ausgetauscht. Zu dem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, was ihm zuteilwerden würde. Im Grunde hat nur er geredet, während ich ihn die ganze Zeit sehnsuchtsvoll anstierte, mir vorstellte, welches Geräusch seine Knochen machen würden. Würden sie lauter brechen als die seiner Vorgänger? Oder sogar splittern?

Für einen Augenblick stelle ich mich vor den Personenspiegel im Erker des Wohnzimmers. Es ist genau dieser Blick, auf den sie immer wieder hereinfallen: interessiert, neugierig, aber niemals aufdringlich. Könnte er sprechen, würde der Spiegel mir die Wahrheit sagen. Die Wahrheit über mein zweites Gesicht – das hinterhältige, das mordlüsterne Gesicht. Ich kann nichts dagegen tun. Übung macht bekanntlich den Meister, und deshalb wird es für mich immer leichter, ein neues Opfer zu finden.

Schweren Herzens entscheide ich mich gegen den Gummihammer. Ich mag es heute lieber prätentiöser und greife nach der Bohrmaschine. Wie gewohnt liegt sie gut in der Hand. Ich drücke den Knopf immer wieder und lasse den Motor aufheulen. Dabei komme ich ihm langsam näher. Er atmet stoßweise und winselt, soweit es ihm noch gelingt. Aus seinem geschwollenen Mund kommen nur noch lang gezogene Laute. Für einen Augenblick halte ich inne und schaue auf ihr Foto, das ich neben den anderen an die Pinnwand gesteckt habe. Sie weiß noch nichts von ihrem Glück, dabei habe ich sie längst auserkoren.

Der Bohrer dreht mit maximaler Geschwindigkeit ein feines Loch in die Wand hinter seinem Kopf. Wie leicht das doch geht. Sein Atem gerät ins Stocken. Das Auto meines Kollegen klingt bisweilen ähnlich. Ich war in jedem Fall gut beraten, auf ihn zu hören. Zwar ist er ein einfältiger Mensch, besitzt aber eine ganze Armada an erstklassigem Werkzeug. Zur Not hätte er mir einen Bohrer geliehen, sich darauf einzulassen, wäre jedoch dumm und fahrlässig gewesen.

Ich lasse den Motor erneut bei höchster Drehzahl kreischen. Das Schätzchen hat zwar ein Vermögen gekostet, dafür macht die Arbeit damit richtig viel Freude. Nachdem ich das Loch in die Platte gebohrt habe, ziehe ich die Maschine zurück und halte sie mit gurgelndem Motor vor sein Gesicht. Dann presse ich ihn gegen die Sessellehne und beobachte, wie die Bohrmaschine langsam und präzise in seine Schulter fährt. Ich höre keine Laute mehr, diesmal ist es ein Wimmern, das in ein Kreischen übergeht. Ehe ich ihm sein Maul stopfen muss, verdreht er die Augen und verliert die Besinnung. Seinen schlaffen Körper trage ich in mein Ankleidezimmer, wo ich ihn vorsichtig auf den Boden lege.

Nun ist er bereit für seine letzte Reise. Eine Reise zu einem besonderen Ort. Ich habe Hunger …

 

KAPITEL 1

 

Heute war der Tag, an dem sie endlich Klarheit bekommen würde. War sie nur ausgebrannt oder ernsthaft krank? Sie wollte endlich die Wahrheit wissen, nachdem sie zu viel Zeit damit verbracht hat, im Internet eine Antwort auf die Symptome zu finden. Doktor Materna hatte Corinna so gründlich wie möglich untersucht. Großes Blutbild, eine CT, eine MRT und zuletzt eine unangenehme Punktion des Rückenmarks, mit der ihr eine Flüssigkeitsprobe entnommen worden war. Sie hatte nie gewagt, zu fragen, warum das alles gemacht werden musste.

Corinna wäre in ihrer jetzigen Situation froh gewesen, wenn bei ihr lediglich eine Borreliose festgestellt werden würde. Mit einer vierwöchigen Einnahme von Antibiotika würde sie klarkommen. Alles andere bereitete ihr eine Menge Kopfzerbrechen und noch mehr schlaflose Nächte. Wenigstens hatte Petrus ein Einsehen mit ihr und bescherte angenehme 20 Grad Celsius und Sonnenschein.

Also hatte Corinna beschlossen, die zehn Minuten Fußweg zur Praxis von Jens Materna in Kauf zu nehmen. Gemächlich war sie die Straße entlanggeschlurft und hatte über die vergangenen Monate nachgedacht. An welche Kirchenmauer hatte sie doch gleich gepinkelt? Wie konnte es sein, dass es unmöglich schien, ihr eigenes Leben in geregelte und vor allem gesunde Bahnen zu lenken? Es hatte den Anschein, als klebte ihr das Pech an den Stiefeln. Erst war es Jochimsen, dann Paul.

»Corinna Dupont?«

»Das bin ich«, sagte Corinna.

»Bitte folgen Sie mir ins Behandlungszimmer Nummer 3.«

Die junge Sprechstundenhilfe ging voran. Corinna beobachtete ihren wippenden Gang und den Pferdeschwanz, der munter hin und her pendelte. Sie nahm einen schweren Parfumduft wahr. Jasmin mischte sich mit Moschus. Corinnas Nase hatte bislang jedenfalls nicht gelitten.

Jens Materna saß bereits an einem schmalen Tisch und betrachtete grübelnd den Computerbildschirm.

»Hallo Jens!«

»Setz dich«, kam zurück. Materna zeigte auf den Stuhl gegenüber. Corinna meinte zu erkennen, wie er der Sprechstundenhilfe, die das Behandlungszimmer wieder verließ, ein wenig verstohlen hinterherblickte.

»Die Dame kenne ich noch nicht. Genau deine Kragenweite, oder? Langes, lockiges Haar, Sommersprossen, blaue Augen und etwas zu viel von allem … Jens, hörst du mir überhaupt zu?«

Materna notierte sich etwas auf einem Zettel und drehte sich zu Corinna um. »Was?«

»Mann, bist du durch den Wind«, bemerkte sie. »Die Kleine, die mich hergebracht hat …«

»Ach, du meinst Nadja. Eine bessere Sprechstundenhilfe hatte ich bisher nicht. Aber behalt das bitte für dich, die anderen müssen das nicht wissen.«

»Von mir erfährt niemand etwas, versprochen.«

»Danke. Sie ist Gold wert. Bei deinem letzten Besuch war sie im Urlaub, wenn ich mich recht entsinne. Arbeitet noch nicht lange hier, hat aber schon alles im Griff.«

Corinna schmunzelte. »Alles. Inklusive ihres Chefs?«

Materna schaute erneut auf den Bildschirm. Ein helles Pingen signalisierte den Empfang einer E-Mail. »Mist, verdammter!«, murmelte Materna und wandte sich wieder Corinna zu. Seine Augen flackerten, Schweiß zeigte sich auf seiner Stirn und über der Oberlippe.

»Was ist denn los mit dir? Hast du Probleme?«

Materna wiegelte gestenreich ab und warf einen Blick in Corinnas Krankenakte. »Alles gut, ich habe nur die letzten Nächte nicht gut geschlafen. Wäre ich eine Frau, würde ich meinen, ich hätte meine Tage. Egal, nun zu dir, meine Liebe.« Er setzte seine Brille ab und sah Corinna ernst an. »Ich habe keine guten Nachrichten.«

»Ich wusste es«, rief Corinna. »Verdammt, womit habe ich das verdient? Was ist es? Krebs?«

Materna schüttelte den Kopf.

»Gut. Sogar sehr gut. Aber was ist es dann? Jetzt rück schon mit der Sprache raus. Ich bin ein großes Mädchen.«

Der Doktor holte tief Luft. »Wir haben bei dir zuerst eine CT durchgeführt. Das Ergebnis war nicht eindeutig, deshalb haben wir noch eine MRT unter Hinzunahme eines Kontrastmittels gemacht. Ich vermute eine frühe Multiple Sklerose. Die Aufnahmen, die das MRT deines Gehirns zeigt, lassen eigentlich nur den einen Schluss zu.«

Corinna starrte Materna an wie einen Todesengel. Gleich würde ein Rabe hereinfliegen und sich auf seine Schulter setzen. MS also, wie Tante Jutta. Sie spürte, wie sich die ersten Tränen einen Weg bahnten und Spuren auf ihrer Haut hinterließen.

Materna legte seine große, schweißnasse Hand auf Corinnas. »Wir sind bei dir in einem sehr frühen Stadium. Die heutige Medizin ist bei dieser heimtückischen Krankheit viel weiter als noch vor 50 Jahren.«

Corinna lachte zynisch. »Fein. Das heißt, du und deine hochbezahlten Kollegen haben es in einem halben Jahrhundert nicht geschafft, diesen Scheiß zu besiegen. Sie ist immer noch unheilbar, stimmt’s?«

Materna nickte und tätschelte ihre Hand. Schroff zog sie sie zurück.

Er schaute irritiert. »Du bist noch jung, Corinna. Mit der richtigen Medikation können wir den weiteren Krankheitsverlauf, mit all seinen Schüben, abmildern und hinauszögern. Außerdem bekommst du von uns noch einen Ernährungsplan. Es ist wichtig, dass du ab sofort zum Beispiel auf tierische Nahrungsmittel verzichtest.«

»Was ist mit Kaffee?«

Jetzt lachte Materna. Zum ersten Mal, seit Corinna den Raum betreten hatte.

»Kaffee ist gut, wirklich. Eigentlich soll er sogar die Gefahr deutlich senken, an MS zu erkranken.«

»Was ist daran so witzig?«

Maternas Lachen verstummte schlagartig. »Ich wollte damit nur sagen, dass Kaffee, sofern du ihn magst und regelmäßig konsumierst, kein Problem darstellt!«

Es pingte erneut, Materna sah kurz zu seinem Computer hinüber, um sich dann wieder Corinna zuzuwenden.

»Willst du’s nicht lesen?«, fragte sie.

Materna ignorierte ihre Frage. »Sport ist ebenfalls wichtig. Am besten Ausdauersport. Warst du früher nicht eine der besten Schwimmerinnen der Schule?«

Corinna nickte leicht, stellte aber zeitgleich fest, wie sie von einer hinterhältigen Trägheit, die sie bereits die letzten Monate geplagt hatte, erneut erfasst und niedergedrückt wurde. »Delphin war immer meine stärkste Disziplin. Geräteturnen mochte ich auch. Aber das sollte ich jetzt vielleicht besser bleiben lassen.«

Materna nickte zustimmend. Corinna schwieg und starrte zur Decke.

»Du solltest wissen, dass du dein normales Leben, also auch deinen Job, mit kleineren Einschränkungen weiterführen kannst, wenn du meine Ratschläge befolgst und natürlich deine Medikamente nimmst. Das ist keine so schlechte Perspektive, wenn du mich fragst.«

Sie schloss die Augen. Tante Jutta hatte die Krankheit mit 37 bekommen und fast 30 Jahre damit leben müssen. Anfänglich bemerkte Corinna nichts davon, dass ihre Tante krank war. Die gemeinsamen Tage waren geprägt von langen Spaziergängen, Kinobesuchen oder intensiven Gesprächen. Tante Jutta war fast so etwas wie eine Freundin gewesen. Zuletzt hatte sie im Rollstuhl gesessen und jegliche Kontrolle über ihren Körper verloren. So wollte Corinna nicht enden.

»Ich frage dich aber nicht«, antwortete sie. »Ich frage dich allerdings, ob du zu 100 % sicher mit deiner Diagnose bist?«

»So sicher, wie man als Experte für neurologische Erkrankungen sein kann«, sagte Materna, als es ein drittes Mal pingte. »Ich muss jetzt weitermachen, Corinna. Bleib du bitte kurz hier, Nadja wird dir noch per Infusion hochdosiertes Kortison verabreichen. Danach kannst du dir am Empfang ein Rezept abholen und nimmst das Medikament noch drei weitere Tage. Ist der neueste und heißeste Scheiß, um es etwas flapsig zu formulieren. Aber damit solltest du deinen Job machen können. Vielleicht nicht so wie gewohnt, aber deine Aussetzer und vor allem die Mattheit sollten deutlich nachlassen. Ich drück dir die Daumen, in vier Wochen sehe ich dich wieder zur Kontrolle.«

Materna drückte abermals kurz Corinnas Hand, noch immer war seine schweißnass. »So wie ich dich kenne, wirst du kämpfen und diese Krankheit besiegen. Wenn es jemand schafft, dann du!«

Corinna sah, wie Materna schnellen Schrittes das Zimmer verließ. Sie bemerkte kaum, wie die Sprechstundenhilfe kurz darauf bei ihr die Infusion legte.

»Ja, ich werde kämpfen«, murmelte sie.

 

Gegenüber der Praxis gab es ein gemütliches Café, in dem Corinna saß und an ihrem Milchkaffee nippte. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Kein einziger davon hatte mit Aufgeben zu tun. Als sie die Rechnung orderte, sah sie ihren Arzt fluchtartig das Gebäude verlassen, in dem sich seine Praxis befand. Hektisch steckte sie dem Kellner Geld zu, riss die Tür auf und rief Jens hinterher, doch der reagierte nicht auf ihre Rufe. Dr. Jens Materna sprintete zu seinem Auto, stieg ein und brauste davon. Mit offenem Mund beobachtete sie, wie zwei Streifenwagen vor der Praxis hielten.

 

KAPITEL 2

 

David Schmelzer saß in seinem Lieblingscafé unweit der Dortmunder Reinoldikirche und biss in ein Croissant. Vor ihm stand sein aufgeklappter Laptop. Die aktuellen Immobilienanzeigen ließen in ihm keine Freude aufkommen. Es konnte doch nicht so schwer für einen Staatsdiener sein, eine Zweizimmerwohnung in Dortmund zu bekommen. Der Markt sei überhitzt, das war überall zu hören und zu lesen. Der Begriff der »Mietpreisbremse« machte die Runde in allen lokalen Medien, schien sich aber als eine Art Wunschdenken derer zu entpuppen, die am kürzeren Ende des Hebels saßen.

Schmelzer war entschlossen, allen Widrigkeiten zum Trotz endlich auf eigenen Beinen zu stehen, selbst wenn er dabei gewisse Ansprüche über Bord würde werfen müssen. Er wollte endlich raus aus den elterlichen vier Wänden. Seitdem seine Erzeuger ihren dritten Frühling erlebten und nahezu jeden Tag der wiederentdeckten Leidenschaft füreinander frönten, war ein Zusammenleben mit ihnen unter ein und demselben Dach buchstäblich unmöglich geworden.

Er traf sich in unregelmäßigen Abständen mit Lis, einer schwedischen Austauschstudentin. Dass sie sich zum ersten Mal im Rahmen einer Razzia im Dortmunder Studentenviertel getroffen hatten, störte die beiden mittlerweile nicht mehr. Es wäre sicher übertrieben, zu sagen, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber zumindest war es Lust. Schmelzer hatte bei Lis etwas ausgelöst, was vor ihm noch nie ein Mann geschafft hatte, wie sie ihm bereits mehrfach – und zumeist bei der Zigarette danach – gestanden hatte. Dabei sprach sie mit einem leichten schwedischen Akzent, den Schmelzer überaus sexy fand. Lis bewohnte eine kleine Behausung zusammen mit zwei Kommilitoninnen, die praktisch nie zu Hause waren. So hatten sie Zeit füreinander, und er musste nicht befürchten, von seinen Eltern unterbrochen, oder noch schlimmer, belehrt zu werden. De facto hatten sie keinen blassen Schimmer von dem Mädchen aus Malmö, außer dass ihre Fächerkombination Germanistik und Geografie war.

Sein Handy brummte. Fiona Seifert hatte ihm ein Foto geschickt. Seine neue Kollegin machte bis dato einen guten Job. Der letzte Fall um die außer Kontrolle geratene Leyla Radomski hatte gezeigt, dass es ihre eigentliche Berufung war, in Kapitalverbrechen zu ermitteln und diese Fälle zu lösen. Seiferts Bewerbung zur Kripo war nicht von allen Kollegen begrüßt worden, weshalb Schmelzer auch nicht müde wurde, allen Zweiflern von Fionas außergewöhnlichen Fähigkeiten zu berichten. Schließlich verdankte er ihr nicht weniger als sein Leben. Ob seine Fürsprache der Grund war, dass sie den Zuschlag bekommen hatte und nun an seiner Seite arbeitete, hatte Schmelzer bislang nicht in Erfahrung bringen können.

Er entsperrte sein Handy und blickte auf das Foto. Was zum Teufel war das da auf seinem Bürotisch? Im gleichen Moment kam ein ›Er ist wieder da!‹ hinterher. Schmelzer vergrößerte es. Das sah aus wie eine Kidneybohne. Dann schaute er genauer hin und fluchte. »Ich fasse es nicht! Verdammt, das darf doch nicht wahr sein!« Hektisch winkte er die Bedienung zu sich, steckte ihr einen Zehner zu und verließ, den Laptop unter dem Arm, das Café.

›FUCK!‹, schrieb er in großen Lettern zurück. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: ›Das kannst du laut sagen!‹.

 

Etwa eine Viertelstunde später stand er vor seinem neuen Büro. Durch die Milchglasscheibe der Tür sah er bereits Jochimsens verschwommene Silhouette. Er hatte es sich auf Schmelzers Stuhl bequem gemacht.

»Wie passend: Ein Milchgesicht hinter einer Milchglasscheibe!«, tönte es von drinnen. »Kommissar Schmelzer! Treten Sie doch näher!«

David hatte keine Wahl. Er öffnete die Tür und betrat sein Büro. Jochimsen saß da, beide Beine auf dem Tisch ausgestreckt und kaute auf seinen geliebten Veilchenpastillen herum. Es war widerlich. Er war widerlich. Noch immer.

»Wie ich sehe, ist Ihnen die kurze Zeit ohne mich gut bekommen. Sie sehen ausgeglichener aus. Und ein wenig zugenommen haben Sie auch, oder irre ich?«

Schmelzer stand da, wie ein waidwundes Tier, das weiß, dass es kein Entkommen mehr gibt.

Jochimsen lächelte. Dabei legte er seine von den Veilchenpastillen violett eingefärbten Zahnreihen frei. »Jetzt sagen Sie bloß nicht, dass Sie immer noch bei Mama und Papa wohnen? Da wäre ich schon ein wenig enttäuscht.«

Schmelzer fühlte eine fast ohnmächtige Wut in sich aufsteigen. »Was tun Sie hier?«

Jochimsen griff herzhaft in eine Papiertüte und stopfte sich den Mund mit Veilchenpastillen voll. »Nun, ich gedenke wieder zu arbeiten. Einer muss den Job ja machen. Man stelle sich nur vor, jeder hätte eine ähnliche Arbeitsmoral wie Sie. Nicht auszudenken, oder?« Ehe er etwas erwidern konnte, fuhr Jochimsen unbarmherzig fort. »Das Verfahren gegen mich wurde eingestellt. Ist das die Antwort auf Ihre Frage, Schmelzer?«

David schaute ungläubig und schwieg.

»Na, kommen Sie schon. Jeder hat eine zweite Chance verdient, oder? Das fanden die Jungs bei der Internen auch. Aber jetzt will ich Sie nicht länger stören. Ich bin drüben, falls Sie mich brauchen oder Ihnen weitere Fragen unter den Nägeln brennen.«

Jochimsen stand auf, ging an ihm vorbei und ließ die Bürotür ins Schloss krachen. Schmelzer zuckte zusammen. Womit hatte er das verdient? Warum war Hannes Jochimsen so glimpflich davongekommen? Angewidert warf er einen Blick in die Papiertüte, die dieser achtlos hatte liegen lassen. Zwei einsame Veilchenpastillen sahen ihn wie große, runde Kulleraugen an. Fieberhaft fischte er eine heraus und nahm sie zwischen die Lippen, um sie einen Wimpernschlag später und mit Vehemenz zurück in die Tüte zu spucken. David entsorgte die zurückgelassenen Lutschqualen und fuhr seinen Rechner hoch. Eine eigene Bude zu finden war wichtig. Viel dringender aber war es, Corinna die ›Frohe Botschaft‹ zu überbringen.

KAPITEL 3

 

Mühsam quälte er sich aus der Duschkabine. Es war allerhöchste Zeit, das Teil umbauen zu lassen. Erst das eine Bein. Dann langsam drehen und dabei gut festhalten. Als er wieder sicher stand, war er schweißgebadet. Jede Bewegung bereitete ihm große Qualen. ›Auf einer Skala von 0 bis 10, wo würden Sie Ihren Schmerz ansiedeln? Und denken Sie daran: 10 bedeutet, dass Sie sich vor lauter Schmerzen am liebsten von einem Hochhaus stürzen würden.‹ Immer wieder war ihm diese Frage gestellt worden, von jedem der vielen Ärzte, die ihn in der Zeit danach behandeln durften. Lediglich die Definition für Schmerz variierte von Arzt zu Arzt. War es bei dem einen der Sturz vom Hochhaus, zog der nächste die Hand auf der heißen Herdplatte heran. Der abwegigste Vergleich war der Verlust des eigenen Kindes durch einen Unfall oder ein Verbrechen.

Er erinnerte sich an das Gespräch und daran, dass er dem Arzt die Antwort schuldig geblieben war, ihn vielmehr höflich darauf hingewiesen hatte, dass er sich so etwas nicht vorstellen könnte. Nun, vielleicht lag es daran, dass der Mann Psychiater war und es vermutlich seine Absicht gewesen sein musste, in die verletzte Seele seines Patienten zu blicken. Aber da gab es nichts mehr zu entdecken. Seit damals, als er in der Gewalt jenes Monsters gewesen war.

72 Stunden hatte sein Peiniger sich Zeit gelassen, hatte ihn zu dem gemacht, was er jetzt war: ein körperliches und seelisches Wrack. Die Ärzte hatten insgesamt 87 Frakturen gezählt, allein 23 davon im Gesicht. Er sah immer noch schlimmer aus als Stallone nach seinem ersten Kampf gegen Ivan Drago – oder der letzten Schönheits-OP. Der Unterschied war marginal. Der Gedanke daran legte ein mühsames und qualvolles Lächeln auf seine Lippen. Die Schwellungen wollten sich nicht vollständig zurückbilden. Auf einer Skala von 0 bis 10 lag sein Schmerz beständig bei 10. Manchmal musste er die Skala sogar nach oben hin erweitern und ihm eine 11 geben, mindestens. Und über all die Vergleiche konnte er nur lächeln. Sofern ihm seine Gesichtsmuskeln und -nerven dies zugestanden.

Es waren handelsübliche Werkzeuge, die damals immer und immer wieder auf seinen Körper eingewirkt hatten. Genau das war der ultimative Schmerz, der ihm bis heute ein treuer Begleiter war. Dabei war das Ganze jetzt fast vier Jahre her. Er hatte sich damit abgefunden, dass ihn die Menschen auf der Straße mit einer Mischung aus Angst, Mitleid und Ekel ansahen. Womit er nur allmählich klarkam, waren die permanenten Schmerzen.

Jeder Schritt, jede Bewegung war für ihn eine Herausforderung. Seine Mission wollte er dennoch beenden. Die Ärzte hatten ihm leise Hoffnung gemacht, dass er irgendwann wieder würde laufen können. Ohne Schmerzen. Für den Moment spendete ihm dies nur wenig Trost, auch weil er sich mit seinen 27 Jahren bereits wie ein alter, gebrechlicher Mann fühlte.

Ungefähr eine Stunde später, nachdem er beim Zubinden seiner Schuhe beinahe gestürzt wäre und sich gerade noch fluchend an der Garderobe hatte festhalten können, tippelte er entlang der Hauptstraße hinunter in Richtung Gemeindezentrum. Sein Personalausweis war abgelaufen. Der alte zeigte ihn vor der dreitägigen Reise in den Schmerz, einen jungen Mann voller Lebensmut, mit feinen, fast schon femininen Gesichtszügen.

Seine dunkelbraunen Naturlocken, der südländische Teint seiner Haut und sein unwiderstehlicher Charme hatten ihm das Leben leicht gemacht. Er war einer, dem ausnahmslos alle Herzen zugeflogen waren. Seine Ausstrahlung war bemerkenswert gewesen. Wo auch immer er auftauchte, stand er im Mittelpunkt. Er hatte jeden dieser Momente genossen. Genauso hatte er sich sein Leben vorgestellt, hatten es ihm seine Eltern mit auf den Weg gegeben: Lebe und genieße, solange du kannst! Dass dabei das Studium länger dauern oder sogar auf der Strecke bleiben könnte, war ihnen bewusst gewesen. Trotzdem hatte er gewusst, dass er den Bogen nicht überspannen durfte.

›Lebe und genieße, solange du kannst!‹ Das mit dem Genießen war für ihn ein Leichtes gewesen, sein Leben jedoch wäre an jenem Aprilabend um ein Haar beendet worden. Und wenn er jetzt den Kopf senkte, um den Blicken der Menschen, die ihm entgegenkamen, auszuweichen, wäre es besser gewesen, dieses Schwein hätte ernst gemacht und die Sache zu Ende gebracht. So aber war sein Leben nicht vorbei.

Auf halber Strecke musste er eine kurze Pause einlegen. Drei Personen in Latzhosen und Arbeitsschuhen säuberten die Grünfläche gegenüber der Kindertagesstätte, die auch er früher besucht hatte. Die Leiterin der Einrichtung, so hatte er gehört, würde demnächst in Rente gehen. Sie hatten zusammen Memory oder Schnick Schnack Schnuck gespielt. Vor allem aber liebte er ihre Stimme, wenn sie ihm Märchen vorlas. Damals war sie seine wichtigste Bezugsperson gewesen. Er hatte sie mehr geliebt als seine eigene Mutter. Wie war noch ihr Name? Er musste ihn, wie so vieles, in den drei Tagen, die sein Leben für immer verändert hatten, vergessen haben.

Etwas unbeholfen nestelte er an seiner Jackentasche, zog die Kippen heraus und zündete sich eine an. Auch das hatte angefangen, nachdem ihm klar geworden war, dass er nie wieder derselbe Mensch sein würde. Eigentlich war das Rauchen für ihn immer ein absolutes No-Go gewesen. Die Geschichten aus der Praxis seines Vaters hatten nicht selten mit nikotinbedingten Zahnextraktionen zu tun. Aber nun war an ihm nichts mehr schön, warum sollte er dann überhaupt noch auf sein Äußeres Acht geben?

Die Zigaretten schmeckten ihm nicht. Er blickte zum Himmel und blinzelte in die grelle Sonne. Die drei Grünpfleger begannen eine Unterhaltung. Er ließ den Stummel fallen und wollte ihn austreten, als er einen stechenden Schmerz in seinem zerstörten rechten Bein spürte, den Halt verlor und taumelnd zu Boden stürzte. Schnell näherten sich ihm Schritte.

»Alles okay? Kommen Sie, ich helfe Ihnen hoch.«

Er lag bäuchlings auf dem Gehweg und versuchte verzweifelt, wieder auf die Beine zu kommen. Um nicht vor Schmerz losschreien zu müssen, biss er die Zähne zusammen.

Kräftige Arme packten ihn und richteten ihn wieder auf. »So, geht doch. Ich würde vorschlagen, Sie ruhen sich noch einen Moment aus. Sind Sie ausgerutscht?«

Diese Stimme! War das möglich? Oder doch nur ein dummer Zufall?

Er schüttelte irritiert den Kopf und nuschelte ein leises Dankeschön. Bis zum Bürgerbüro in der Gemeindeverwaltung würde er noch gute fünfzehn Minuten brauchen. Wenn die Angst ihm Flügel verlieh, würde er es vielleicht in zehn schaffen.

 

KAPITEL 4

 

»Man hat ihn vorzeitig aus der Haft entlassen, wegen guter Führung. Ein Vollwitz, aber damit war zu rechnen. Sie nehmen ihn jetzt in Manndeckung. Falls er sich mit ihm trifft, sollten wir das wissen«, fauchte Jochimsen.

Keine Antwort.

»Hey, haben Sie verstanden, was ich sage?«

»Natürlich habe ich das. Bin ja nicht taub. Außerdem habe ich lange genug auf diesen Moment gewartet.«

Jochimsen stöhnte. »Tun Sie nichts Unüberlegtes, Gebauer. Die Falle darf erst zuschnappen, wenn wir belastendes Beweismaterial haben. Wann haben Sie das letzte Mal die Technik überprüft?«

»Erst vor zwei Wochen. Die Herrschaften haben einen sehr tiefen Schlaf und ich die nötigen Instrumente, um lautlos rein- und wieder rauszukommen. Alles in Ordnung, seien Sie versichert. Wallner hat seit Beginn der Überwachung einige seltsame Eigenschaften entwickelt. Lautes Blähen zum Beispiel.«

»Na großartig.« Jochimsen seufzte. »Mir wäre lieber, wir wüssten endlich, ob seine Amnesie ein Fakt oder pure Schauspielerei ist. Gibt es dazu Erkenntnisse?«

»Negativ. Er geht seiner Arbeit nach, war seitdem nicht einmal krankgeschrieben. Abends schaut er gewöhnlich zusammen mit seiner Frau eine vollkommen bräsige Comedy-Serie, trinkt Bier und isst tütenweise Chips. Was machen wir mit dem anderen, wenn er rauskommt?«

Jochimsen warf sich ein paar Veilchenpastillen ein und schmatzte genüsslich vor sich hin. »Um den kümmert sich der Papa persönlich. Und der Papa wird dem ungezogenen Bengel Manieren beibringen, ein für alle Mal. Darauf können Sie sich verlassen. Das sind wir den Opfern schuldig. Vergessen Sie vor allem nie, dass es nur drei Personen gibt, die von dieser Aktion wissen.«

»Wie sollte das auch anders sein, wenn ein Hannes Jochimsen involviert ist?«, schoss Gebauer zurück. »Je mehr Mitwisser, desto größer die Gefahr, dass alles auffliegt, nicht wahr?«

 

Peter Wallner ließ sich erschöpft in den Ohrensessel am Wohnzimmerfenster fallen und blickte starr hinaus auf die Straße. Als seine Frau eine Hand auf seine Schulter legte, zuckte er zusammen.

»Warum so schreckhaft?«

Wallner ließ den Kopf hängen. »Ich habe das Gefühl, an einer unheilbaren und ansteckenden Krankheit zu leiden. Heute ist etwas Seltsames passiert.«

Barbara Wallner strich ihrem Mann über den Kopf und legte die Stirn in Falten. »Was denn, mein Schatz?«

»Ein Mann. Gehbehindert. Ich glaube, er hat nicht einmal mein Gesicht gesehen, sondern nur meine Stimme gehört. Er ist regelrecht vor mir geflüchtet. Irgendetwas ist mit mir. Wenn ich nur wüsste, was.«

»Du verrennst dich da in irgendetwas, Liebling. Vermutlich hat der Mann dich nur mit jemandem verwechselt. Oder kanntest du ihn?«

Wallner erhob sich und sah Barbara verständnislos an. »Ich kann mich nicht erinnern. Das weißt du doch! Dass du meine Frau bist, glaube ich, mehr nicht. Was, wenn sie mit dem, was sie über mich sagen, recht haben?«

Barbara Wallner stand auf und ging in Richtung Küche. »Willst du auch einen Kaffee?«

Wallner ballte die Fäuste und biss sich auf die Unterlippe.

»Peter, was ist nun? Kaffee oder kein Kaffee?«

Er reagierte nicht.

Barbara machte kehrt, hockte sich vor ihren Mann und versuchte, seinen Blick einzufangen. »Du weißt, dass ich dich trotz deiner angeblich so mysteriösen Vergangenheit geheiratet habe, oder? Wir kennen sie nicht, das ist ein Fakt. Ein faszinierender dazu. Du hast sie vergessen, ich kann nicht sagen, ob du dieser schreckliche Mann warst. Aber solange das niemand beweist, liebe ich dich wie am ersten Tag. Ich habe mich in Peter Wallner, den Mann mit den traurigsten Augen und dem größten Herzen der Welt verliebt. Vielleicht will ich gar nicht wissen, wer du wirklich bist. Mein Kaffee wird dich wieder auf andere Gedanken, Liebling! Komm schon!«

Während seine Frau in der Küche verschwand, zuckte ein Lächeln um Wallners Mundwinkel. Dann gefror es wieder. »Was, wenn andere herausfinden, wer ich wirklich bin? Wenn sich irgendwann herausstellt, dass diese Menschen mich nicht verwechseln, sondern deshalb so auf mich reagieren, weil ich ihnen etwas angetan habe?«

Barbara Wallner kam mit zwei Tassen aus der Küche. »Sorry, die Maschine ist so laut, dass ich deinen letzten Satz nicht verstehen konnte. Was hast du gesagt?«

»Nichts, gar nichts«, entgegnete Wallner und nippte an seinem Kaffee. »Lass uns doch ein paar Tage wegfahren. Ans Meer. Ist die Ferienwohnung deiner Eltern gerade frei?«

»Keine Ahnung, aber ich finde es eine prima Idee. Das wäre zwar ziemlich kurzfristig, aber ich frage sie nachher gern.«

Wallner lächelte erneut und nickte. Bestimmt war alles nur ein Irrtum. Bislang hatte er sich auf Barbaras Instinkt immer verlassen können. Im Gegensatz zu ihm besaß sie eine äußerst treffsichere Menschenkenntnis.

 

KAPITEL 5

 

»Mein tiefstes und aufrichtiges Beileid, Herr Stolz. Wir alle hier können Ihren Schmerz nicht annähernd nachempfinden. Ein Verlust ist immer ein einschneidendes Erlebnis, deshalb versuchen wir alles, diesen letzten Dienst so angemessen und würdevoll wie möglich zu gestalten. Wünschen Sie eine Urnenbestattung oder ein klassisches Familiengrab? Wir bieten auch Bestattungen auf offener See an, sofern gewünscht.«

Friedrich Stolz blätterte gedankenverloren in den Prospekten des Bestattungshauses Stellmann. Seine Frau und er hatten dutzende Male genau über dieses Thema gesprochen und sich immer wieder gegenseitig ermahnt, ihre Gedanken und Wünsche für den Fall des Todes testamentarisch festzuhalten, um dem Partner und der gemeinsamen Tochter Judith eine Situation wie die jetzige zu ersparen.

Sie war eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Ein geplatztes Aneurysma war der Grund. Die leichten, stechenden Kopfschmerzen, die sie vor dem Einschlafen geplagt hatten, waren unglücklicherweise weder für sie noch ihren Mann ein ausreichender Anlass zur Sorge gewesen. Nun war es zu spät, ein Testament aufzusetzen, obgleich seine Frau niemals eine traditionelle Familiengrabbestattung, deren Kosten sich auf einen kleinen fünfstelligen Betrag belaufen würden, gewollt hätte.

Als der Bestatter ihm die Preisliste der Särge vorlegte, kam Stolz sein gegenwärtiger Kontostand in den Sinn. Er würde das alles allein stemmen müssen. Die lieben Verwandten würden eine kleine Summe spenden – so viel Anstand besaßen sie immerhin – aber das war nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Das Eigenheim, das Freya und er vor knapp acht Jahren gekauft hatten, war längst noch nicht abbezahlt. Durch den Wegfall von Freyas Gehalt fehlten etwa 2000 Euro in der monatlichen Kasse, woran auch die eher spärliche Witwerrente nichts änderte. Die kleinen Rücklagen, die sie gebildet hatten, waren beim letzten gemeinsamen Urlaub draufgegangen. Ja, sie hatten sich endlich eine Kreuzfahrt gegönnt, allen Unkenrufen ihrer ökologisch korrekten Freunde zum Trotz. Und von Altersvorsorge hatten beide nie viel gehalten. Selbst eine Risikolebensversicherung, die sehr übersichtliche monatliche Kosten nach sich gezogen hätte, hatten beide nicht abgeschlossen.

»Ich denke, ich nehme den hier!« Stolz zeigte auf ein Modell aus hellem Pinienholz. 3400 Euro sollte der Sarg kosten. Er überlegte kurz, mit dem Bestatter zu feilschen, beließ es aber bei dem Gedanken. Nach der Beerdigung wäre er pleite, so viel stand fest. Das Haus würde er aufgeben müssen, auch dazu gab es keine Alternative. Der Tod kommt, wenn der Mensch nicht mit ihm rechnet, aber warum es eine kerngesunde Frau Mitte vierzig so jäh aus dem Leben reißt, darauf fand Stolz keine Antwort.

»Eine gute, sogar eine sehr gute Wahl!«, antwortete der Bestatter begeistert. »Der Leichnam Ihrer Frau wird morgen hierher überführt. Ich werde mir besondere Mühe geben und Ihre Gattin so aussehen lassen, als sei sie nie gestorben.«

Stolz zögerte. Der Mann schien seinen Job mit einer gewissen Hingabe zu machen. Sollte er ihn darauf hinweisen, dass aus Gründen der Pietät in diesem Fall weniger vermutlich mehr wäre? Ehe er etwas erwidern konnte, sprach der Bestatter weiter.

»Pfarrer Klümper wird die Trauerrede halten. Ich habe ihm Ihre Nummer und Adresse gegeben. Er wird sich bei Ihnen melden und mit Ihnen über den Ablauf dieses besonderen Tages reden. Legen Sie alles vertrauensvoll in unsere Hände. Wir verstehen unser Geschäft.«

»Einverstanden.« Mehr brachte Stolz in diesem Moment nicht heraus. Stellmanns Handy brummte. Kurz schaute er aufs Display und drückte den Anrufer weg. »Ich bitte um Verzeihung für die Unterbrechung in einem so hochsensiblen Moment.«

Stellmann erhob sich und schaute erneut bang auf sein Handy. »Ich denke, wir haben die wichtigsten Dinge geklärt, oder?«

Stolz nickte zögerlich. »Ich habe erst einmal keine weiteren Fragen. Der Pfarrer soll sich möglichst bald bei mir melden, um mit mir einen Termin abzumachen. Es liegt mir sehr viel daran, die Trauerrede mit ihm gemeinsam zu gestalten.«

Der Bestatter schaute gedankenverloren über Stolz hinweg und erhob sich ohne einen Kommentar. Nachdem er sein zerknautschtes Sakko gerichtet hatte, sah er auf die Uhr. »Natürlich. Kein Problem. Die Trauerrede. Ich kümmere mich darum. Morgen. Jetzt muss ich leider los. Yvonne, biete Herrn Stolz einen Kaffee oder etwas anderes zu trinken an und gib ihm unseren Prospekt mit, damit er noch mal alle aktuellen Preise der Bestattungsfeiern überblicken kann.« Mit diesen Worten verließ der Bestatter eilig den Raum.

Stolz winkte ab. »Danke, aber auf Kaffee kann ich im Moment gerne verzichten!« Ihm war nicht danach, mehr Zeit als nötig an diesem Ort zu verbringen. Der Tod seiner Frau war nicht richtig. Freya hatte ihr Leben noch längst nicht gelebt. Stolz seufzte vernehmlich und erhob sich. Sollte er sich einen anderen Bestatter suchen? Nein, vermutlich waren sie alle gleich. Machten einen Job, um den sich nicht eben viele Menschen rissen. Aber auch diese Arbeit musste getan werden. Mit dem Prospekt in der Hand und den Blick zu Boden gesenkt bedankte er sich stumm und verließ das Büro des Bestatters.

 

KAPITEL 6

 

»Er ist wieder zurück, Corinna! Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, aber er sitzt wie Graf Koks im Präsidium, kaut diese widerlichen Pastillen und lacht mir dabei ins Gesicht, als wäre nichts geschehen.«

Schmelzer war außer sich. Er spürte, dass dies kein guter Tag werden würde. Und Corinna war diejenige, die an seinem Frust teilhaben sollte.

»Bringen Sie mir bitte noch einen Milchkaffee«, hörte Schmelzer sie sagen. »Was? Wo zum Geier bist du?«

»In einem Café, oder wo trinkst du für gewöhnlich deinen Milchkaffee? Ist aber auch nicht so wichtig. Fakt ist: Du kennst Hannes Jochimsen noch nicht so lange wie ich. Damit war zu rechnen«, sagte Corinna. »Er hat Beziehungen bis in die höchsten Gremien des Polizeiapparats und sogar des Ministeriums. Davon hat mir Strasser mal im Vertrauen erzählt. Angeblich hat Jochimsen den Sohn eines ranghohen Politikers aus einer delikaten Lage gerettet und genießt seitdem Narrenfreiheit.«

Schmelzer ballte die Faust und sein Magen rebellierte. Er stand noch am Anfang seiner Polizeikarriere. Vielleicht war das ein Wink des Schicksals und er sollte sich auf einen Posten irgendwo anders bewerben? In der Provinz eine vergleichbar ruhige Kugel schieben, eventuell mit der Option, eine Dienststelle zu leiten? Es war kein Geheimnis, dass der Polizei besonders auf dem Land der Nachwuchs auszugehen drohte. Außerdem würde er dort vermutlich schneller eine eigene und sogar bezahlbare Wohnung finden, weit weg von seinen Eltern.

»Das ist weder fair noch richtig«, sinnierte Schmelzer laut. »Das heißt vor allem, dass ich diesen Mistkerl niemals loswerde, es sei denn, ihn trifft der Blitz beim Scheißen.«

Corinna lachte. Schmelzer mochte das, auch weil sie, so lange sie sich kannten, nur selten fröhlich gewesen war.

»Entweder das«, prustete sie in den Hörer, »oder wir machen weiter wie bisher und finden etwas, das Jochimsen belastet und bei dem ihm auch der lange Arm des Innenministeriums nicht mehr helfen kann.«

»Das klingt nach einem guten Plan. Sonst alles okay bei dir? Hattest du nicht kürzlich einen wichtigen Arzttermin?«

Keine Reaktion.

»Hallo? Corinna? Was ist denn?«

»Ich habe Multiple Sklerose. Das ist.«

Schmelzer hielt geschockt die Luft an und bekam kein Wort heraus. Plötzlich winkte ihm Fiona Seifert hektisch zu, einen Telefonhörer in die Höhe haltend.

Sie hielt eine Hand schützend vor die Hörmuschel. »Die Zentrale hat mir eine Dame weitergeleitet, die eine Leiche gefunden hat. Die KTU ist bereits unterwegs. Die Dame sagt, der Mann sei bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Ich denke, da müssen wir hin. Oder was hattest du gerade vor?«

Schmelzer hielt nun seinerseits die Hand vor die Muschel des Telefons. »Warte kurz, ich habe Corinna in der Leitung.«

Schmelzers Gesichtsausdruck ließ keinen anderen Schluss zu als den, dass er keinen Smalltalk führte.

»Das ist ja furchtbar. Tut mir leid für dich. Brauchst du Hilfe?«

Corinna weinte leise, fing sich aber schnell wieder. »Dein Typ wird verlangt, richtig? Mach deinen Job und sorge dich nicht um mich. Mein Doc hat mir Astronautennahrung verschrieben. So eine billige Autoimmunerkrankung kann mir doch nichts anhaben.«

David grinste. »Das klingt gut. Aber wie gesagt: Solltest du Hilfe brauchen, ruf mich an. Und wenn ich etwas Luft habe, schmieden wir einen Plan, der Jochimsen endgültig aus unserem Leben entfernt.«

»Alles klar, Schmelzer. Pass auf dich auf.«

Seifert trat näher an ihn heran. »Der Mann wurde auf dem Ostfriedhof gefunden.«

Schmelzer sprang auf, zog die Jacke an und strebte dem Ausgang zu.

»Wir kommen sofort«, rief seine Kollegin in den Hörer und hechtete ihm hinterher.

»Weiß man, wie der Mann dort hingekommen ist?«

Schmelzer wunderte sich über Seiferts vorwurfsvollen Gesichtsausdruck. Sie erinnerte ihn an seine alte Religionslehrerin, die ihn des Öfteren mit Blicken maßregelte, wenn er zuvor die Bibel wieder einmal missinterpretiert hatte.

»Warte, ich denke mal eben drüber nach … die Antwort ist nein. Wie ich bereits ausführte, ist der Mann tot und kann hierzu keine sachdienlichen Hinweise mehr geben. Die Zeugin wiederum hat uns lediglich über den Fund informiert. Woher also sollte irgendjemand wissen, wie er dahin gekommen ist?«

»Guter Einwand, Seifert«, pflichtete Schmelzer seiner Kollegin bei. »Es hätte ja eventuell sein können, dass es Schleifspuren oder Ähnliches gibt, die darauf hinweisen, dass der Mann nicht aus eigener Kraft den Weg zum Friedhof angetreten hat.«

»Und du meinst, die Zeugin kann uns das sagen, weil sie eine diplomierte Spurenleserin ist?«

Offenbar wollte seine Kollegin ihn nur foppen. Mittlerweile hatten sie den Dienstwagen erreicht.

»Haha, sehr witzig, Seifert. Hätte doch sein können, dass Strasser und seine Mannschaft bereits zu den ersten Erkenntnissen gekommen sind. Von allein kommt eine Leiche nur selten irgendwo hin. Irgendwer wird ihn also dorthin gebracht und platziert haben. Und dann stelle ich mir die Frage, wieso jemand auf die Idee kommt, einen Toten auf einem Friedhof liegen zu lassen? Warum entsorgt man ihn nicht einfach so, dass wir ihn nicht finden und ich stattdessen Zeit für einen Kaffee mit Corinna Dupont hätte?«

Fiona zuckte mit den Schultern, während sie den Wagen startete und vom Parkplatz fuhr. »Okay, das ist seltsam. Vielleicht wollte jemand die Person genau dort entsorgen? Wäre doch irgendwie praktisch. Vielleicht kam was dazwischen? Aber es ist viel zu früh für derlei Vermutungen, oder?«

Schmelzer nickte zustimmend. »Auch wieder wahr, Seifert! Dann geben Sie mal Gas, Frau Kollegin!«

 

KAPITEL 7 – VOR ETWA 4 JAHREN

 

»Möchtest du von der Crème Brulée kosten?« Sie bemerkte seinen verstohlenen, fast sehnsüchtigen Blick in Richtung des Flambierbrenners nicht. Er stand nicht in der unmittelbaren Reichweite, es wäre für Lanusch allerdings ein Leichtes, den Brenner an sich zu nehmen und seine Arbeit verrichten zu lassen.

»Eigentlich schon«, antwortete sie. »Ich bin allerdings nicht mehr hungrig und etwas müde. War vielleicht zu viel Wein heute Abend!«

Der Wein ist es nicht, dachte Lanusch und schwieg, während er sie weiter studierte. Sollte sie versuchen aufzustehen, müsste er schnell sein und sie auffangen. Bewusstlos würde sie ihm nur halb so viel Freude bereiten. »Schau mal, die Flasche ist fast leer.« Lanusch hielt den Rotwein gegen das Licht der Lampe, die über dem Tisch hing. »Lass uns den Rest noch aufteilen, danach bringe ich dich nach Hause. Einverstanden?«

Sie versuchte, ihren Daumen als Zeichen der Zustimmung zu recken, heraus kam dabei aber eine ungelenk wirkende Geste.

Das Zeug wirkte bei ihr schneller als gedacht, aber wie immer absolut zuverlässig. Lanusch linste erneut schmachtend zum Flambierbrenner hinüber. Seine Nackenhaare stellten sich auf und ein wohliges Kribbeln strömte durch seinen Körper. So war das immer, kurz bevor es losging.

»Wo war noch mal die Toilette?«, fragte sie lallend.

»Ich begleite dich!« Sanft nahm Lanusch ihren Arm und streichelte diesen sachte. »Schön vorsichtig aufstehen. Du siehst nicht gut aus. Was ist denn plötzlich los mit dir?«

Sie erhob sich und sackte sofort wieder zurück in den Stuhl. »Wenn ich das nur wüsste. So viel von dem Wein hatte ich doch gar nicht.« Sie versuchte ein Lächeln, schaffte aber lediglich eine schiefe Grimasse.

»Jetzt komm, steh auf und halte dich einfach an mir fest«, forderte Lanusch sie auf. »Danach mache ich uns einen starken Kaffee und bring dich dann heim.«

Nun würde es nicht mehr lange dauern. Lanusch stützte sein Opfer und geleitete es zum Badezimmer.

»Vielleicht hilft ja eine kalte Dusche? Komm, wir versuchen das mal. Lass dir von mir helfen, okay?« Sie nickte willenlos. »Braves Kind.« Nachdem Lanusch sie vollständig entkleidet, abgeduscht und abgetrocknet hatte, trug er sie hinüber in sein Schlafzimmer und legte sie auf das Bett. Sie war nun fast eingeschlafen. Lanusch hatte die Dosis des Betäubungsmittels so gewählt, dass sie dennoch alles mitbekommen würde. So wie er es am liebsten hatte.

»Du kannst kommen, sie ist so weit!«, rief er, »Und bring den Flambierbrenner mit!«

 

KAPITEL 8

 

Corinna hatte gerade das Café verlassen, als Materna sie anrief.

»Jens, willst du kontrollieren, ob ich meine Medizin nehme oder mir erklären, warum du offenbar auf der Flucht vor irgendwem bist? Ich habe dich gesehen.«

»Du musst mir helfen, Corinna«, sagte Materna ängstlich.

»Himmel, was hast du denn? So kenne ich dich gar nicht. Erzähl mal, was passiert ist!«

»Die Bullen sind hinter mir her. Irgendjemand will mir etwas anhängen.«

Corinna hielt die Luft an. Die Erinnerungen an ihre letzten, unseligen Monate im Polizeidienst kamen unweigerlich hoch. Sie erwartete, dass ihr Körper sich der Stress-Situation unterwerfen und ihr klare Signale senden würde, es langsamer anzugehen. Sie verharrte kurz und horchte in sich hinein. Ob es der zweifache Milchkaffee oder die Kortison-Dröhnung von Nadja war, sie spürte keinerlei Schwäche. Im Gegenteil: Wäre ein Baum in der Nähe gewesen, hätte Corinna Dupont in diesem Augenblick versucht, ihn auszureißen. »Jetzt mal langsam, Jens. Das heißt, die Polizei war auf dem Weg zu dir, als du die Kurve gekratzt hast?«

»So ungefähr … Mein Anwalt hat mich rechtzeitig gewarnt.«

»Dein Anwalt? Wofür brauchst du einen Anwalt? Und woher wusste er das? Und überhaupt: Wie kann er dir raten, vor der Polizei zu fliehen?«

Materna entwich ein spitzes Lachen. »Geraten hat er mir dazu nicht, es war mein Impuls zu fliehen. Willst du mir nun helfen oder nicht?«

»Ja doch«, gab Corinna zurück. »Aber wir sollten uns irgendwo treffen. Wo versteckst du dich?«

»Ich schicke dir gleich eine Adresse. Ist eine Wohnung, die ich für bestimmte Anlässe angemietet habe.«

Sie rümpfte die Nase, als hätte sie etwas übel Riechendes wahrgenommen. »Wie bitte? Was denn für … Egal, ich komm da hin, du erklärst mir deine Misere und ich versuche, zu helfen. Bis gleich.«

 

Die Adresse entpuppte sich als luxuriöse Maisonettewohnung in unmittelbarer Nähe des Phönixsees. Materna öffnete Corinna angespannt die Tür und zog sie hinein. »Dir ist hoffentlich niemand gefolgt?!«

Sie verdrehte die Augen und warf einen Blick aus dem Fenster, das beinahe die gesamte Wand umfasste. »Schön ist es hier. Wohnen am See nicht auch etliche BVB-Profis?«

»Kann sein. Ich hab’s nicht so mit Fußball. Schon vergessen?«

Corinna schnippte und lächelte dünn. »Stimmt ja, ein weiterer eigentümlicher Charakterzug!«

Materna reichte ihr ein Glas Wasser.

»Wasser? Jens, vielleicht ist mir eher nach einem vollmundigen Portwein? So wie es hier aussieht, hast du alles, was das Frauenherz begehrt, auf Lager. Habe ich recht?«

»Alkohol wäre in deinem Zustand keine gute Idee. Hast du das Medikament schon abgeholt?«

Corinna schüttelte den Kopf. »Nee, und weißt du auch warum? Seitdem ich deine Praxis verlassen habe, bin ich nicht zur Ruhe gekommen. Zuerst musste ich mit deiner Diagnose klarkommen, dann erfahre ich, dass mein Ex-Chef wieder in Amt und Würden ist, und das, obwohl er mehr Dreck am Stecken hat als so manch einer, den er eingebuchtet hat. Und schließlich meint mein alter Schulfreund, den Staatsfeind Nummer 1 mimen zu müssen. Aber ich verspreche dir, mir das Zeug gleich morgen zu besorgen. Jetzt erzähl mal, was es mit deiner Flucht auf sich hat. Was wirft man dir genau vor?«

Materna fuhr sich nervös mit beiden Händen durchs Haar. »Ich soll eine Patientin vergewaltigt haben. Das ist alles vollkommen lächerlich, aus der Luft gegriffen und geradezu absurd. Wäre ich nicht rechtzeitig gewarnt worden, säße ich jetzt schon in Untersuchungshaft.«

Corinna traute ihren Ohren nicht. »Moment mal: Das sind gleich zwei Dinge, die du mir erklären musst. Von wem hat dein Anwaltdenn diese Informationen?«

»Du musst nicht alles wissen, Corinna. Ich kann den Mann nicht einfach ans Messer liefern, das verstehst du doch.«

Sie stand auf und ging zur Tür.

Ihr Arzt schaute verwirrt. »Was soll das, wo willst du hin?«

Corinna verharrte und drehte sich um. »Was das soll? Das fragst du mich? Entschuldige vielmals, aber du bittest mich um Hilfe, erzählst mir, der Grund der Ermittlungen gegen dich sei ein Kapitalverbrechen und dass dich jemand gewarnt hat, damit du rechtzeitig fliehen konntest. Sorry, aber das ist schon starker Tobak.« Sie machte einen Schritt auf Materna zu und sah im tief in die nervös zuckenden Augen. »Wenn ich dich womöglich da rausboxen soll, musst du mir einfach die Wahrheit sagen. Nicht die halbe, nicht einmal 99 Prozent reichen. Ich muss einfach alles wissen. Verstehst du das? Wenn nicht, verlasse ich jetzt dein Liebesnest und wünsche dir Glück. Einen guten Anwalt hast du ja bereits.«

Als sie bereits die Klinke in der Hand hatte, spürte sie Maternas Hand auf ihrer Schulter. »Bitte, Corinna, du bist meine einzige Chance. Aber ich kann dir nicht den Namen desjenigen nennen, der mich gewarnt hat. Das könnte ihn den Job kosten. Kannst du dich bitte setzen und zuhören?«

Sie überlegte kurz. Brachte sie es wirklich übers Herz, einen alten Schulkameraden hängenzulassen? Noch dazu war er ihr Arzt. Hilfe gegen ihre Krankheit konnte sie von ihm nur erwarten, wenn er auf freiem Fuß war.

»Nimm die Hand von meiner Schulter. Das machst du noch immer zu gerne, oder?« Materna schaute sie fragend an. »Jens, ich will dir nichts, aber du warst schon früher einer, der die Hände nicht bei sich halten konnte. Dieses beiläufige ›Hand-auf-Schulter-oder-sonstwo-legen‹ musst du dir dringend abgewöhnen. Besonders vor dem Hintergrund der aktuellen Beschuldigung.«

»Heißt das jetzt, du hilfst mir oder nicht?«

»Nur, wenn du mir einen Portwein einschenkst. Ein Glas wird nicht so schlimm sein.«

»Als dein Arzt muss ich dir erneut davon …«

»Aber als mein Klient solltest du das tun, was ich dir sage.«

Der Portwein tat Corinna gut, das Kortison schien wie ein Booster zu wirken. »Also, du kennst jemanden bei der Polizei, der dir gesteckt hat, dass du verhaftet werden sollst, und zwar wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung. Soweit korrekt?«

»Korrekt«, antwortete Materna. »Er ist ein alter Freund, der mir einen Gefallen schuldet.«

»Okay, mehr will ich dazu erst einmal nicht wissen. Es muss ein riesiger Gefallen sein, dass der Typ seinen Job für dich aufs Spiel setzt. Hast du ihm das Leben gerettet oder sowas Ähnliches?«

Maternas Miene zeigte sich versteinert. Corinna meinte, ein leichtes Achselzucken an ihm zu bemerken.

»Dann erzähl mir jetzt bitte von der angeblichen Vergewaltigung. Aber denk dran: Ich brauche jetzt alle Details, sonst bist du mich schneller los als du MRT sagen kannst.«

Nun lächelte Materna. »Das ist unfair, findest du nicht? Lass uns besser vereinbaren, nicht die Abkürzung zu nehmen. Bei Magnetresonanztomographie bleibt dir wenigstens eine reelle Chance zu verschwinden, bevor ich es ausgesprochen habe.« Corinna nahm einen großen Schluck Portwein. Ein gutes Tröpfchen war das. »Genug gelabert. Jetzt schieß los.«

Materna holte tief Luft. »Es ist jetzt drei Wochen her. Ich war mit einer Frau zum Essen verabredet. Danach sind wir hierhin, haben noch was getrunken. Und dann kam eins zum anderen …«

 

Corinna schaute ihrem Arzt, der mit seinen Gedanken plötzlich nicht mehr bei der Sache war und nervös die Fingerspitzen immer wieder zusammenfahren ließ, erwartungsvoll an. »Kommt da noch was, Jens? Name, Alter, Haar- und Hautfarbe, Beruf zum Beispiel? Oder überlegst du gerade, das Signalwort auszusprechen?«

Materna hob beschwichtigend die Hände. »Verzeih bitte, mir ist gerade etwas eingefallen. Aber dazu komme ich später. Sie heißt Lydia, ist Mitte zwanzig und eine Patientin. Volles Haar, sinnliche Lippen. Was sie beruflich macht, weiß ich tatsächlich nicht.«

Corinna schüttelte den Kopf. »Eine Patientin? Da bin ich aber froh, dass ihr euch nicht in deiner Praxis nähergekommen seid.«

Materna errötete.

»Seid ihr etwa doch?«, fragte Corinna erstaunt.

»Sie hat mir bereits bei der Untersuchung eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie etwas von mir will. Aber ich bin ja nicht bescheuert.«

Corinna lachte laut auf. »Das wird sich noch zeigen. Etwas mit einer Patientin anzufangen, ist schon mal alles andere als clever. Kannst du mir genauer beschreiben, wie sie dir – ich nenne es mal Avancen – gemacht hat?«

»Die Art, wie sie mich angesehen und die Beine übereinandergeschlagen hat, ihr betörendes Parfum.«

Materna schaute Corinna fragend an, als diese demonstrativ gähnte.

»Das ist alles? Also, wenn die Dame untenrum nicht ebenso luftig gekleidet war wie Sharon Stone in Basic Instinct, reicht das nicht. Warum meint ihr Männer immer gleich, man würde euch anmachen, nur weil man sich ein wenig gepflegter kleidet und nicht wie ein Iltis stinkt?«

Jetzt war es Materna, der laut lachte. »Natürlich war das nicht alles. Stell dir die folgende Situation vor: Ich sitze auf meinem Schreibtisch, sie vor mir auf einem Stuhl. Ich erzähle ihr, wie ich gedenke, sie zu therapieren, plötzlich steht sie auf, legt die Hände auf meine Knie und sagt, ich wisse gar nicht, wie dankbar sie mir sei und ob sie sich mal erkenntlich zeigen dürfe. Na ja, und dabei rückt sie mir auf die Pelle.«

»Weiter«, sagte Corinna fordernd. »Jetzt wird es interessant.«

»Ich habe mich elegant aus der Situation gerettet und ihr zu verstehen gegeben, dass sie’s lassen soll. Das hielt sie aber nicht davon ab, mich zum Essen einzuladen. Sie ist sehr attraktiv. Tja, und an dem Abend hat es dann gefunkt.«

Corinna leerte das Glas Portwein.

»Durstig?«

Sie winkte ab. »Nein, den einen habe ich irgendwie gebraucht, aber mehr muss nicht sein, danke. Also, ihr seid nach dem Essen hierher, richtig? Was passierte dann?«

»Wir hatten Sex. Wunderschönen, vor allem aber einvernehmlichen Sex. Danach brach der Kontakt zu ihr ab. Ich habe ein paar Mal versucht, sie zu erreichen, das Ganze dann aber als One-Night-Stand abgehakt. Und jetzt das.« Nervös kaute er an seinen Fingernägeln.

Corinna überlegte, wie sie weiter vorgehen könnte. Kannte sie jemanden bei der Sitte? »Okay, das klingt für mich danach, als wollte dir eine verschmähte Ex eins reinwürgen. Mit dem Unterschied, dass du sie nicht verschmäht hast. Bist du absolut sicher, sie nicht doch zu irgendetwas gezwungen zu haben?«

Materna hielt die Hände vors Gesicht.

»Was ist? Ist dir was eingefallen?«

»Nun ja, sie stand genau wie ich auf Fesselspiele. Du weißt schon, mit Handschellen an den Bettstangen, erst sie, dann ich. Aber wie gesagt: Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie etwas gegen ihren Willen getan hat. Im Gegenteil … Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte es ruhig noch eine Spur härter zugehen können. Aber da war ich raus. Ich stehe nicht so sehr auf Hundehalsbänder und einen roten Ball im Mund.«

Corinna hob die Augenbrauen. »Danke für deine Offenheit. Wenn das alles ist, würde ich dich jetzt um die Adresse der Dame bitten. Ich rede mal mit ihr, von Frau zu Frau. Dass dich die gesamte Dortmunder Polizei sucht, ist dir klar, oder? Du solltest dich stellen. Ich versuche, dich da rauszuboxen, versprochen.«

Materna schüttelte vehement den Kopf. »Ich bleibe hier. Die Wohnung läuft auf den Namen meiner Ex-Frau. Niemand wird mich hier vermuten, solange ich meinen Arsch nicht vor die Tür bewege.«

»Deine Ex-Frau? Ich wusste gar nicht, dass du verheiratet warst.«

»War ich aber. Tatjana war meine große Liebe. Wenn ich dir jetzt davon erzähle, brauchst du definitiv noch ein Glas Portwein.« Materna reichte Corinna einen Zettel mit Lydias Namen und Adresse.

»Fangen wir doch damit an, dass ich nicht verstehe, warum deine Ex dir diese herrliche Wohnung überlassen hat.«

Materna zückte ein Foto. »Wir hatten einen sehr kreativen Ehevertrag geschlossen. Dafür, dass ich hier hausen darf, fährt sie mit diesem Schätzchen durch die Gegend.«

Corinna betrachtete den Sportwagen auf dem Foto. »Der ist rot und sieht schnell aus.«

Materna seufzte. »Das ist ein Ferrari 488 mit über 700 PS. Für den braucht man normalerweise einen Waffenschein.«

Nun seufzte sie. »Wahnsinn! Was so ein Teil auf unseren Straßen zu suchen hat, ist mir ein Rätsel. Egal. Ich melde mich bei dir, sobald ich etwas über die aktuelle Dame in Erfahrung gebracht habe. Du rührst dich nicht von der Stelle, verstanden?«

Materna reckte den Daumen. »Na klar. Und du besorgst dir bitte die Medikamente. Ich kann keine schwächelnde Ermittlerin an meiner Seite gebrauchen.«

 

KAPITEL 9

 

»Ich hatte Ihnen klar und deutlich gesagt, dass Sie mich niemals auf der Arbeit anrufen dürfen! Welcher Teil von ›niemals‹ ist da oben nicht angekommen?« Stellmann verlieh dem letzten Satz Nachdruck, indem er sich mit dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand gegen die Stirn hämmerte. Nichts hasste er mehr, als das Beratungsgespräch mit seinen Kunden früher als notwendig abbrechen zu müssen. Als Bestatter war es seine Pflicht, den Angehörigen auf professionelle Weise, und auch mitfühlend, Wege aufzuzeigen, die bevorstehende Beerdigung als eine Art Highlight in ihrem Leben zu betrachten.

»Jetzt kommen Sie erst mal rein und dann runter. Muss nicht jeder im Haus mitbekommen, wie sehr Ihr Schuh drückt.«

Stellmann schob die Frau beiseite. »Sie haben zehn Minuten.«

»Was möchten Sie trinken?«

Er winkte ab. »Sie haben Nerven. Ich sagte Ihnen doch, dass ich es eilig habe. Also lassen Sie uns zur Sache kommen.« Er bedauerte mittlerweile seine Entscheidung, wusste aber, dass es kein Zurück mehr gab. Um seine Ziele zu erreichen, war sie genau die richtige Wahl. »Ich habe den Umschlag mit ihrem Geld dabei. Und weil ich ein netter Mensch bin und sie weiterbeschäftigen möchte, habe ich noch ein paar Scheine draufgelegt. Das war doch der Grund für dieses reichlich spontane Treffen, richtig?«

Sie hatte sich in der Zwischenzeit ein Glas Weißwein eingeschenkt und zog den Umschlag mit dem Geld zu sich herüber. »Die Firma dankt. Ich meine mich zu erinnern, dass Sie eventuell weitere Jobs für mich haben. Sie erwähnten diesen anderen Bestatter und irgendeinen Pfarrer. Wollen Sie wirklich nichts trinken?«

Stellmann verzog keine Miene, aber ihre Worte kamen der Wahrheit sehr nah. Das Ehepaar Jost leitete das führende Bestattungsunternehmen im Ort, und besonders Luise Jost ließ keine Situation aus, um Stellmann aufzuzeigen, dass er nach wie vor – und vermutlich noch sehr lange – die zweite Geige spielen würde. »Fast dreihundert Beerdigungen waren es bei uns im letzten Jahr. Gestorben wird immer, oder? Wie lief es bei dir, Andreas?« Ihre Worte hallten in seinem Kopf wider und ließen ihn schier verzweifeln. Der Pfarrer und sogar der Bürgermeister waren Zeuge gewesen, als Luise Jost ihren härtesten Konkurrenten wie einen dummen Schuljungen hatte aussehen lassen. Keine zwei Wochen war das her. In dem Moment hatte Stellmann beschlossen, seine Strategie zu ändern und in den Angriffsmodus umzuschwenken.

Josts arrogante Haltung rührte daher, dass sie mit dem Bürgermeister einen der prominentesten Fürsprecher im Ort an ihrer Seite wusste. Der andere war Pfarrer Klümper, an dem Stellmann aber seit ein paar Wochen mit wachsendem Erfolg baggerte. Bislang hatte das jedoch nicht dazu geführt, dass das Bestattungsunternehmen Jost um seine Marktführerschaft bangen musste, aber wenn auch der Bürgermeister seine Meinung ändern würde, sähe es bald zappenduster aus. Im Gegensatz zu diesem war Pfarrer Klümper einer angepassten monatlichen Aufwandsentschädigung deutlich abgeneigt. Was Stellmann dem Pfarrer stattdessen anbot, wussten die Josts nicht.

Er richtete sich auf. »Ich glaube, ein Gläschen Wein kann nicht schaden.«

»Na also, das klingt doch viel entspannter«, entgegnete sie.

»In dem Umschlag ist Geld für den nächsten Auftrag, der ein wenig eilt. Außerdem ein Foto von Pfarrer Johannes Klümper. Dem armen Mann bekommt das Zölibat nicht sonderlich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich würde Sie also gern weiterbeschäftigen.«

»Weiterbeschäftigen? Das klingt so formell. Ich nehme an, ich soll den Pfarrer genauso verführen wie diesen Arzt, der im Übrigen ein verflucht netter Typ ist.«

Stellmann lächelte siegessicher und stieß mit ihr an. »Verflucht nett ist Klümper auch«, säuselte er. »Wenn der Job erledigt ist, bekommen Sie das Doppelte. Haben wir einen Deal?«

Sie leerte ihr Glas in einem Zug und sah ihm tief in die Augen. »Wie steht es mit Ihnen?«

»Mit mir? Ehrlich gesagt, bin ich nicht abgeneigt, aber ich vermische ungern Berufliches mit Privatem.« Er sah auf die Uhr. »Und außerdem sind die zehn Minuten um. Ich verlasse mich auf Sie. Rufen Sie mich nie wieder auf der Arbeit an, haben Sie verstanden?«

Sie knöpfte langsam ihre Bluse auf. »Ich liebe es, wenn Sie so hart sind, wissen Sie das? Und ich vermische gern Dinge miteinander.«

Stellmann schüttelte den Kopf, erhob sich und verließ die Wohnung. Sie war nett, äußerst attraktiv, aber auch sehr anstrengend.

 

KAPITEL 10

 

»Herr Steinbach, bitte Kasse Drei besetzen!«, hallte es über die Lautsprecher des Supermarkts.

Eloisa prüfte ein letztes Mal, ob die Lebensmittel in ihrem Einkaufswagen deckungsgleich mit ihrem Einkaufszettel waren, den sie heute Morgen geschrieben hatte. Sie würde Fiona mal wieder mit einem typisch kubanischen Gericht überraschen. Ihr Magen knurrte vernehmlich. Sosehr sie ihren Job auch liebte, musste sie sich eingestehen, dass sie drei Powerkurse hintereinander nicht mehr so locker wegsteckte wie vor ein paar Jahren. Vielleicht sollte sie es in absehbarer Zukunft mal mit Yoga oder Pilates probieren, auch wenn die Fortbildung viel Geld kosten würde. Geld, das sie nicht hatte.

»Das sieht aber vielversprechend aus«, sagte der Mann an Kasse Drei, als er Eloisas Waren über den Scanner zog. »Was gibt es denn, wenn ich fragen darf?«

»Fajitas«, antwortete Eloisa schmallippig.

»Oh, ich liebe Fajitas. Verraten Sie mir das Rezept? Bitte.«