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Andreas Franz

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Beschreibung

Der neue spannende Krimi um Deutschlands bekannteste Kommissarin Julia Durant von den Bestseller-Autoren Andreas Franz und Daniel Holbe Ein Fall, der die toughe Kommissarin vor ganz neue Herausforderungen stellt.   Weihnachten in Frankfurt. Eine junge Frau verlässt an Heiligabend spät ihre Familie, um ihrer Arbeit nachzugehen. In dieser Nacht zahlen die Freier erfahrungsgemäß besonders gut. Am nächsten Tag findet man ihre Leiche. Sie war im dritten Monat schwanger. Julia Durant und ihr Chef und zukünftiger Ehemann Claus sind zutiefst berührt. Das Schicksal der jungen Frau trifft Julia hart, die eigentlich mit Hochzeitsplanungen beschäftigt ist. Nach ein paar Tagen meldet sich Peter Brandt, Julias Kollege aus Offenbach: Auch hier wurde eine Tote gefunden, ein Callgirl mit betuchter Kundschaft. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Morden? Die zwei Frauen waren nur scheinbar auf eigene Rechnung tätig, in Wahrheit stand hinter beiden jemand, der abkassierte. Zwei Reviere, zwei Clans? Handelt es sich womöglich um eine Fehde unter Zuhältern?     Zum 22. Mal bereits ermittelt die Frankfurter Kommissarin Julia Durant in einem nervenzerfetzenden Fall. Ein Muss für alle Fans von Andreas Franz und Daniel Holbe. Julia Durant ermittelt unter anderem auch in folgenden Fällen:  - Band 21: Die junge Jägerin - Band 20: Der Flüsterer - Band 19: Der Panther - Band 1: Jung, blond, tot

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Seitenzahl: 539

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AndreasFranz / DanielHolbe

Todesruf

Julia Durants neuer Fall

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ein Fall, der die toughe Kommissarin vor ganz neue Herausforderungen stellt.

Ein Fall, der Julia Durant vor ganz neue Herausforderungen stellt

Frankfurt kurz vor den Feiertagen. Eine junge Frau verlässt spätnachmittags ihre Familie, um ihrer Arbeit nachzugehen. In diesen Nächten zahlen die Freier erfahrungsgemäß besonders gut. Doch ihr letzter Kunde wird ihr zum Verhängnis. Schwer verletzt verlangt sie nur nach einer Person: Julia Durant. Fast zeitgleich wird Julias Chef und zukünftiger Ehemann Claus an einen Fundort mit einer Frauenleiche gerufen. Das Schicksal der beiden Frauen trifft Julia hart, und ihre eigene Hochzeitsplanung muss in den Hintergrund treten. Doch dann meldet sich Peter Brandt, Julias Kollege aus Offenbach, und plötzlich erscheinen die Überfälle auf die Frauen in einem ganz anderen Licht …

 

Inhaltsübersicht

Motto

Prolog

Sonntag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Epilog

Leseprobe »Der doppelte Tod«

Das Vergangene ist nicht tot,

es ist nicht einmal vergangen.

William Faulkner

Prolog

Liebe.

Sicherlich nicht das, was sie zusammengeführt hatte, und es war auch nicht das, was sie bei ihm hielt. Das Band zwischen ihr und ihm war aus einer Mischung von Bequemlichkeit und Berechnung geknüpft. Wirtschaftliche Interessen. Eine gemeinsame Wohnung in der Innenstadt, weil keiner von ihnen sich eine eigene hätte leisten können. Freundschaft. Sie hatten sich schon im Sandkasten gut verstanden.

Er betrachtete ihren Körper. Sie schliefen noch immer nebeneinander, doch schon lange nicht mehr miteinander. Diese wenigen Male, diese Höhepunkte in seinem Dasein als Mann, waren für ihn die Welt gewesen. Immer mehr reifte in ihm die Erkenntnis, dass es für sie nie dasselbe gewesen war. Nicht einmal echte Leidenschaft also. Mehr ein Preis, den sie zu zahlen bereit war, denn immerhin verstanden sie sich gut und waren lange Vertraute. Aber warum konnte, warum wollte sie ihn nicht ebenso lieben wie er sie?

Was, wenn sie sich eines Tages in jemand anderen verlieben würde?

Was, wenn er nach Hause kam und einen anderen Mann in ihrem Bett vorfände?

Seine Fäuste ballten sich. Und er spürte, wie die Erregung in seine Lenden strömte.

Er tastete sich an sie, doch bevor er sie berühren konnte, hörte er ein Grunzen, das man nicht vortäuschen konnte.

Sie schnarchte!

Und statt sie mit seinen Berührungen zu wecken und eine Abfuhr zu riskieren, entschied er sich, dass er um sie kämpfen würde.

Er würde ihre Liebe entfachen.

So wie ein Feuer, dem sich nichts und niemand entziehen konnte.

Und bis dahin?

Seine Hände begannen zu zittern, und bald lief ein Schauer durch seinen Körper.

Bis dahin würde er warten.

Denn das Warten würde es wert sein.

*

Manchmal fühlte er sich wie ein Tier.

Wenn er seine Gedanken abschaltete und seinen Instinkten folgte. Wenn er sich seinen dunklen Begierden hingab, obwohl der Kopf ihm etwas anderes riet.

Aber er war kein Tier. Er war intelligent genug, zumindest so viel Kontrolle über seinen Körper zu bewahren, dass er sich nicht in Gefahr begab.

Die Gefahr, entdeckt zu werden. Entlarvt.

Eine Gefahr, die alles zerstören würde. Die seine Welt, seine Schutzmauern zum Einsturz brächte.

Das konnte und würde er nicht riskieren.

Er nahm das Feuerzeug in die Hand, drehte das Metallrädchen und erschrak dennoch, als der Funke eine Flamme erscheinen ließ. Schatten tanzten über die Tischplatte, auf der neben dem Adventskranz sein Ausweis und ein Schlüsselbund lagen.

»Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier«, sagte er sich im Stillen vor, einen Klang aus längst vergangenen Tagen im Ohr. Dazu der Geruch von verbranntem Wachs. Die Kerzen flackerten, dann reckten die Flammen sich wie leuchtende Blütenblätter in Richtung Zimmerdecke.

Seine Hand legte das Feuerzeug zwischen Ausweis und Schlüsselbund. Weitere Gegenstände gelangten in sein Blickfeld. Der Ledergürtel.

Die Taschenlampe. Ein frisch geschärftes Messer.

Manche Dinge musste er verbergen, wenn er das Haus verließ.

Andere durfte er zeigen.

Vertrauen schaffen.

Die meisten würden ihm vermutlich nicht vertrauen, wenn er sich ihnen näherte. Er wusste, dass sein Spiegelbild nicht das eines Menschen war, dem man offenherzig und ohne Argwohn entgegentrat.

Oder lag es daran, dass das Tier in ihm wohnte?

Er selbst erkannte es, wenn er sich selbst lange genug in die Augen blickte. Vielleicht erging es anderen genauso.

Aber wenn er die richtige Kleidung trug und in der richtigen Umgebung saß, schien alles Misstrauen wie weggefegt.

Wie einfältig die Menschheit doch war.

Er saß noch einen Moment da, bis er das Kerzenlicht nicht mehr ertragen konnte. Blies es aus, nahm sich in stoischer Ruhe all seine Utensilien vom Tisch und verließ das Zimmer.

Es war Zeit.

In seinem Kopf heulte ein Wolf.

Todesruf?

Sonntag

Sonntag, 22. Dezember, 16:55 Uhr

Es waren die längsten und dunkelsten Nächte, die ein Jahr zu bieten hatte. Selbst hier in der großen Stadt, die niemals zu schlafen schien. Tiana saß auf dem Kunstledersofa und horchte auf. Doch da war nichts, kein Geräusch im Kinderzimmer. Sie nahm einen Karton, der ein ferngesteuertes Auto enthielt, und umwickelte ihn mit buntem Papier. Es sah weniger professionell aus als das, was die Verkäuferinnen in den Spielzeugläden anboten, aber dafür war es selbst gemacht. Mit Liebe. Ihre Mundwinkel sackten nach unten. Liebe.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie sich beeilen sollte. Die Weihnachtszeit war eine Zeit der Verzweiflung, eine Zeit der Bedürftigen, eine Zeit, in der man an den richtigen Stellen auf dem Straßenstrich ziemlich viel verdienen konnte. Tiana atmete schwer, als sie den letzten Streifen Tesafilm aufs Papier klebte. Nur noch das Geschenkband. Sie würde es mit der Schere kräuseln, so wie sie es als Kind von ihrer Großmutter gelernt hatte. Danach würde sie aufstehen, die Kleidung wechseln und Make-up auftragen. Kirschroter Lippenstift und goldene Ohrringe. Weihnachtsfarben. Und dann würde sie ihren Körper verkaufen an einsame Freier, die keinen Gedanken daran verschwendeten, dass der Preis dafür, einen Moment lang nicht einsam zu sein, der schleichende Tod einer Frauenseele war. Ihrer Seele.

 

Eine Stunde später stand Tiana unter einer Brücke unweit des Messeturms. Sie teilte sich diesen Platz mit einer Handvoll Frauen und Mädchen. Die Älteste von ihnen war zweiunddreißig, die Jüngste vierzehn. Tiana hatte sich aus dem Badezimmerschrank zwei Tabletten genommen, die eine sofort geschluckt und die andere in ein Bonbonpapier gewickelt und in ein Miniaturhandtäschchen gesteckt, in dem sie außerdem Kondome, Kaugummi und ein paar weitere Utensilien mit sich führte. Dazu ein billiges Klapphandy, in dem die Nummer ihres Freundes gespeichert war. Heiraten wollten sie. Ein weiteres Kind zusammen kriegen. Aber erst, wenn sie ihren Job als Straßenhure aufgegeben hatte. Vielleicht würde es im neuen Jahr endlich klappen.

Tiana war dreiundzwanzig und seit sieben Jahren dabei.

Ein Auto verlangsamte seine Fahrt. Der nachfolgende Fahrer hupte und zog vorbei. Aus einer Pfütze stob Wasser auf. Der Nieselregen hatte den ganzen Tag über nicht aufhören wollen, und Tiana hoffte, aus der klammen Kälte zu kommen, und wenn es nur für eine halbe Stunde war.

Die Beifahrerscheibe senkte sich. Zwei weitere Frauen traten vor, doch der Mann am Steuer hatte sich bereits für sie entschieden. Er nickte ihr zu, sie nickte zurück. Es spielte sich immer ein wenig anders ab und doch irgendwie gleich. In den Augen der Freier lag eine Mischung aus Lust, Unbehagen und Entschlossenheit. Wer einmal die Entscheidung getroffen hatte, am Straßenrand anzuhalten, der zog es in den meisten Fällen durch. Der Fremde zeigte ein gequältes Lächeln, als sie die Tür aufzog und er auffordernd auf den Beifahrersitz klopfte. »Immer rein ins warme Auto.«

Tiana lächelte zurück. Die feuchtkalte Luft trieb Beschlag auf die Scheiben. Er drehte die Lüftung stärker und schloss den Spalt des Seitenfensters.

»Ist Rebstock okay?«, wollte er wissen, nachdem er den Wagen in Bewegung gesetzt hatte.

Sie nickte. Warf einen Blick auf die zurückbleibenden Frauen und wünschte ihnen, dass auch für sie jemand anhielt. Tiana hatte ein gutes Herz, vielleicht lag es auch an den besonderen Umständen. Trotz aller Widrigkeiten war Weihnachten die schönste Zeit des Jahres. Zumindest in ihren wenigen Jahren als unbeschwertes Kind hatte sie dieses Fest und die Vorfreude darauf sehr genossen.

Kurz darauf hielt der Kombi am Rand des Rebstockgeländes. Der Fahrer wirkte unschlüssig. »Da drüben?«, fragte er. Er dachte vermutlich, dass sie die geeignetsten Plätze am besten kannte. Bei ihrem Job. Lag da in seinem Blick plötzlich eine Prise Abscheu? Tiana fühlte sich mit einem Mal unwohl. Sie kannte es sehr wohl, dass Männer im Angesicht einer Hure die Lust verloren. Wenn ihnen klar wurde, dass die Dienstleistung, die sie abrufen wollten, für ihr Gegenüber nur ein notwendiges Übel war. Verabscheute er sich selbst? Sie fand keine Antwort. Stattdessen deutete sie in einen Bereich, der durch Buschwerk geschützt war und weitab von der nächsten Laterne lag. Eine Ecke, die sie tatsächlich gut kannte. Je unbeobachteter der Freier sich fühlte, umso schneller würde es ihm gelingen, in Fahrt zu kommen. Umso eher war sie zurück – und bereit für den Nächsten.

Der Wagen parkte, der Motor erstarb, die Standheizung brummte weiter. Das Nötigste war schnell besprochen. Tiana schob das Geld in ihre Handtasche, legte das Oberteil ab und griff sich an den Verschluss des roten BH. Der Fremde atmete schwer.

»Lass mich das machen«, forderte er. Sie ließ ihn gewähren. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Manche Männer kamen regelmäßig, manche waren Fremde. Aber sein Gesicht hätte sie unter Hunderten erkannt. Er …

… drückte ihr die Kehle zu. Sie wollte sich wehren, doch er war zu stark. Plötzlich lag sein Arm um ihren Hals geschlungen, während der andere von hinten um ihre Arme und Hüfte griff. Noch immer auf dem Beifahrersitz, spürte sie, wie sich der Schaltknüppel in ihre Nierengegend bohrte. Sie stöhnte auf und presste etwas in ihrer Muttersprache hervor, was ihre Großmutter mit Sicherheit beschämt hätte. Doch ihre Gedanken drehten sich um ihren Sohn. Um ihr nacktes Leben. Tiana strampelte, und ihre Füße trafen die Mittelkonsole und die Türverkleidung. Gleichzeitig spürte sie, wie ihre Beine immer schwerer wurden.

»Gib einfach auf!«, sagte die Stimme. »Ich will nichts von dir, was deine Freier nicht auch wollen.«

»Was willst du denn?«, krächzte sie.

Sein Lächeln konnte sie nicht sehen. Die Fratze, die er dabei zog. Und auch nicht die Klinge, die er griffbereit in der Seitentasche der Fahrertür liegen hatte.

Sie konnte es nur hören. Eine selbstverliebte, harte Stimme und Worte, die nichts Gutes verhießen.

Dienstag

Dienstag, 24. Dezember, 17:50 Uhr
Heiligabend

Bedächtig fuhr sie mit dem Zeigefinger über den Bilderrahmen. Pustete unsichtbaren Staub von ihrer Fingerkuppe und hob das Foto anschließend an. Es war eines der wenigen Familienbilder, die sie besaß. Vater, Mutter, Tochter. Julia Durant spürte den Kloß im Hals. Sie war die Letzte dieser drei, die noch lebte. Kinderlos. Keine Geschwister. Das letzte Blatt am Familienstammbaum. An Tagen wie diesen war die Erinnerung an ihre Eltern besonders schmerzlich, auch wenn der Tod der Mutter Jahrzehnte zurücklag und auch der ihres Paps schon einige Jahre her war. Wie schön war es gewesen, seiner Stimme zu lauschen, wenn er die Weihnachtspredigt hielt. Und später, wenn die Familie nach der Bescherung noch einmal zur Christnacht gegangen war. Pastor Durant hatte diese Feste nicht nur für seine Gemeinde zu etwas Besonderem gemacht.

Sie stellte das Foto zurück an seinen Platz. Im Hintergrund lief das alljährliche Album »Rock Christmas«, soeben stimmte Elton John einen fetzigen Refrain an. Aus der Küche duftete es nach Gänsebraten. Julias Verlobter Claus, der für sein Leben gerne kochte, hatte sich mit Vehemenz gegen die traditionellen Würstchen mit Kartoffelsalat gewehrt. Ebenso gegen Karpfen.

»Schatz?«, rief er, begleitet von einem heftigen Scheppern.

Sie antwortete: »Ich bin hier. Brauchst du Hilfe?«

Er steckte den Kopf aus dem Türrahmen. »Danke. Alles unter Kontrolle. Du könntest aber schon mal den Wein öffnen und uns einschenken. In zehn Minuten können wir loslegen.«

Julia lächelte. Wenn auch nicht alle Schwermut verflogen war, so wusste sie, dass sie die Zeit nicht anhalten konnte. Menschen wurden älter, Menschen starben. Kindheit und Jugend waren vorüber, die Zeit von aufregenden Bescherungen und umherfliegendem Geschenkpapier längst Geschichte. Und sie hatte es trotzdem gut getroffen. Ein Mann, den sie liebte und der für sie dasselbe empfand. Den sie kommendes Jahr heiraten würde. Dazu der Job, der manchmal zwar hart, aber trotzdem erfüllend war. Nein, im Grunde gab es nichts, worüber sie sich Sorgen machen müsste.

Außer vielleicht über diesen Brief, der seit Tagen auf dem Telefontisch lag. Beide wussten, woher er kam und was darin stand. Und irgendwann würden sie darüber reden müssen, denn diese Sache stand ungefähr so diskret im Raum wie ein Elefant in einem viel zu engen Porzellanladen. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis eine unbedachte Bewegung alles um sie herum in ein Scherbenmeer verwandelte.

Aber nicht heute. Nicht an Heiligabend.

Mit einem hellen Plopp fuhr der Korken aus dem Flaschenhals. Ein echtes Stück Kork, kein künstlicher Ersatz, vollgesogen mit tiefrotem Wein aus dem Jahr 2009.

»Ein Jahrhundertjahrgang«, hatte Claus versprochen, der eine Vorliebe für schwere Rotweine aus Bordeaux oder aus dem Rhônetal hatte. Julia roch an der Flasche, dann goss sie langsam ein und prüfte, ob sich Weinstein oder Korkenreste in der Flüssigkeit befanden. Ihre Gedanken hingen noch immer bei ihren Eltern und bei dem Brief. Draußen klatschten Regentropfen an die Scheiben. Elton John war verklungen, und John Lennon übernahm mit »Happy Xmas«, ein Song, der sie heute besonders berührte. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr, sich eine Träne aus den Augenwinkeln zu wischen. Dann stand Claus auch schon mit der Rotkrautschüssel vor ihr. Er küsste sie auf die Stirn. »Alles okay bei dir?«

»Nur ein bisschen melancholisch.«

Er neigte den Kopf. Auch in seinen Augen lag etwas Unbestimmtes, etwas schien ihn zu beschäftigen. Und wenn Julia es genau bedachte, dann lag dieser Ausdruck dort schon länger. Länger als drei Tage. Länger als dieser bescheuerte Brief aus der Landeshauptstadt Wiesbaden.

Claus nahm sie kurz in den Arm, dann entschuldigte er sich und eilte zurück in die Küche. Kehrte mit Klößen zurück, deutete auf den Tisch und bat seine Liebste, Platz zu nehmen.

»Lass uns erst einmal essen«, schlug er vor und holte als Letztes eine Porzellanplatte mit der bereits tranchierten Gans. Platzierte sie auf der Tischdecke und küsste sich anschließend die Finger. »Ich will mich ja nicht selber loben …« Er hob vielsagend die Augenbrauen. »Fröhliche Weihnachten, mein Schatz.«

Sie stießen an und aßen schweigend, im Hintergrund gaben sich Boney M., Bing Crosby und Bryan Adams das Zepter in die Hand. Das Fleisch und die Sauce waren fantastisch. Doch lag es nur am Kauen, dass sich keine Konversation entwickeln wollte? Oder fiel ihnen das Reden tatsächlich schwer? Schwerer als noch vor drei Tagen?

Offenbar hatte Claus Hochgräbe denselben Gedanken. Praktisch gleichzeitig mit Julia ließ er die Gabel sinken und platzte heraus: »Julia, wir müssen …«

»… müssen mal reden«, vervollständigte diese den Satz, den sie ebenfalls gerade begonnen hatte.

Sie sahen einander an und mussten unwillkürlich kichern.

»Du zuerst«, lächelte sie.

»Nein, nein. Ladies first«, wehrte er ab.

Dann klingelte das Telefon. Zuerst Julias Smartphone, das sie zuletzt im Bad liegen gesehen hatte. Noch bevor sie die Badezimmertür erreicht hatte, piepte auch Claus’ Apparat in der Küche.

»Durant?«

Julia setzte sich auf den Badewannenrand. Die Nummer war ihr nicht unbekannt, auch wenn die Kollegen des Kriminaldauerdienstes verschiedene Durchwahlen hatten und sie nie wusste, wer gerade Dienst schob.

»Schubert, KDD«, meldete sich eine ihr fremde Stimme. »Frohe Weihnachten und sorry für die Störung.«

Die Kommissarin ging in ihrem Kopf durch, wer Bereitschaft hatte. War nicht ihr Kollege Frank Hellmer dran? Und dafür hatte er die beiden Feiertage frei?

»Schon gut. Sie werden ja einen Grund dafür haben.«

»Ja, leider. Eine Prostituierte, Anfang zwanzig. Vergewaltigt und im Gebüsch liegen gelassen. Rebstockgelände. Muss zwei oder drei Tage her sein.«

Verdammt. Julia Durant spürte den Kloß beim Schlucken. »Gibt es eine Vermisstenmeldung?«

Wieso fragte sie ausgerechnet danach? War es nicht so, dass niemand diese Mädchen vermisste? Sie kamen aus Bulgarien, man versprach ihnen gut bezahlte Jobs in der Gastronomie. Was danach folgte, war meist ein unvorstellbarer Alptraum aus Vergewaltigungen, Erniedrigungen und Todesangst. Manche Mädchen starben noch vor dem Erreichen der Volljährigkeit. Die überlebten, zerbrachen seelisch. Aussteigerinnen gab es selten. Vermisst gemeldet wurden sie nie.

»Nein. Aber wir haben einen Namen. Und sie hat ausdrücklich nach Ihnen verlangt.«

Julia Durant japste. »Moment. Sie lebt?«

»Na, sagte ich doch. Oder nicht? Sie liegt seit vorgestern Nacht in der Klinik. Und sie hat heute nach dem Aufwachen immer wieder Ihren Namen genannt.«

Die Kommissarin schluckte. Das war keiner ihrer üblichen Tatorte, es gab keine Leiche – Gott sei Dank! –, und trotzdem war sie es, die sich fürs Erste mit der Angelegenheit befassen musste. Sie fragte noch Details zu Tatort und Tatzeit ab, außerdem, in welchem Krankenhaus das Opfer behandelt wurde. Dann beendete sie das Gespräch und fand Claus am Tisch sitzend vor, mit einer Miene, als habe ihm jemand sein Gourmetessen versalzen.

»Es gibt Arbeit«, murrte er. »Und leider kann ich das wohl nicht auf Frank abwälzen. Einer der Nachteile, wenn man Chef sein möchte.«

»Ich hab’s schon gehört. Das Opfer hat außer meinem Namen wohl kaum was gesagt.«

Claus schenkte ihr einen irritierten Blick. »Hmm? Das kapiere ich jetzt nicht.«

»Na, das Mädchen aus dem Rebstockpark.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Ich sollte mich am besten gleich auf den Weg machen. Tut mir leid. Aber vielleicht dauert’s ja …«

»Moment, Moment.« Claus wedelte mit den Händen. »Ich rede von einer toten Frau im Osthafen. Aufgetakelt, als käme sie direkt von einer Nobelparty, oder wie eine Escortdame. Irgendwie unpassend für Heiligabend, aber darum geht’s erst mal nicht. Du kennst doch diese riesige Schleuse, wo man drüber laufen kann.«

»Die Staustufe Offenbach?« Durant war nun ebenfalls verwirrt.

»Ja, ich glaube, das ist es. Bei der Aurora-Getreidemühle.«

»Ich wurde gerade vom KDD informiert, dass eine junge Frau nach mir verlangt. Vergewaltigungsopfer. Muss am Wochenende passiert sein. Aber das wird dann ja eine völlig andere Baustelle sein.«

Claus nickte langsam. »Die Tote im Hafen ist jedenfalls von heute. Aufgefunden vor einer knappen Stunde.« Er dachte nach. »Warum hat die Frau nach dir gefragt?«

»Es gibt nur einen Weg, das rauszufinden.« Durant war bereits auf dem Weg zur Wandgarderobe, als ihr Blick auf das blinkende Festnetztelefon fiel. Vermutlich hatte man es zuerst hier versucht, aber offenbar war der Apparat stumm geschaltet. War sie es selbst gewesen? Oder Claus? Sie konnte sich nicht erinnern. War es aus dem Wunsch heraus geschehen, nicht an den Telefontisch gerufen zu werden, wo dieser toxische Briefumschlag steckte?

Claus trat neben sie. Ihre Blicke fanden einander, keiner musste etwas sagen, sie verstanden sich auch so. Es war jetzt nicht an der Zeit, sich über solche Dinge zu unterhalten. Die Arbeit rief. Und sie nahmen diese Ablenkung dankend an.

18:50 Uhr
Frankfurt, Osthafen

Claus Hochgräbe spannte seinen Schirm auf und näherte sich dem Treppenaufgang der Staustufe, vorbei an den Einsatzfahrzeugen, wobei er Frank Hellmers Porsche vermisste. War er noch nicht hier? An vorderster Position parkte der Audi des Notarztes, der in ein Gespräch mit der Rechtsmedizinerin Andrea Sievers vertieft war.

»Frohe Weihnachten«, begrüßte diese den Kommissariatsleiter, als sie ihn erblickte. Der Sarkasmus in ihrer Stimme war nicht zu überhören, aber an einem Abend wie heute kaum fehl am Platz. Jeder Uniformierte, der Rettungsdienst, der Notarzt und alle anderen an diesem Auffindungsort anwesenden Personen hatten eine Familie oder wenigstens einen Ort, an dem sie jetzt lieber wären als ausgerechnet hier. In dieser Nacht, bei diesem Wetter.

»Danke, ebenfalls.« Hochgräbe lächelte kurz und nickte dann dem Notarzt zu. »Wo muss ich hin?«

Dr. Sievers deutete in Richtung des graffitibesprühten Betons. »Weiter unten. Ich würde mir was über die Füße ziehen, sonst werden die pitschnass. Dafür ist der Schirm überflüssig.«

Claus’ Gedanken rasten. Zu viele Informationen auf einmal. Wie schaffte diese Sievers es bloß, angesichts des Todes immer so eine Frohnatur zu sein? Andererseits: Wenn sie jede Tote zu nah an sich heranließe, wäre sie längst depressiv, alkoholkrank oder suizidgefährdet. Im Grunde ging es ihnen allen gleich: Weitermachen. Für Gerechtigkeit kämpfen. Auch wenn es oftmals sinnlos erschien. An das Gute glauben. Hoffnung haben. So wie man es an Weihnachten seit jeher feierte.

Er trat zu den Kollegen der Spurensicherung und schlüpfte in einen leichten Plastikoverall, der ihm wie ein luftleeres Michelin-Männchen von den Schultern hing. Die Luft schmeckte kühl, und sein Atem bildete Nebel. Als er den Schirm zusammenzog, spürte er sofort die feinen Tropfen auf der Haut. Ihm war heiß, sein Körper hatte sich auf das Verdauen von fettigem Essen und Wein eingestellt. Gleichzeitig fröstelte er.

In der Nähe des Ufers erwartete ihn Frank Hellmer, der anstatt eines weiteren Weihnachtsgrußes nur ein stummes Nicken für ihn übrighatte.

»Hi, Frank«, sagte Claus. »Seid ihr auch gerade beim Essen gesessen?«

»Erinnere mich besser nicht daran. Mir hängt der Magen in den Kniekehlen.« Hellmer atmete schwer. Seine Hand deutete in Richtung eines provisorischen Pavillons, in dessen Schutz zwei Spurensicherer hockten. Ein Blitzlicht zuckte auf. »Im Vergleich zu ihr da dürfen wir uns wohl kaum beklagen.«

Hochgräbe näherte sich dem Pavillon. Die Tote war trotzdem klitschnass, und dasselbe galt vermutlich auch für sämtliche Spuren, die der Täter hinterlassen hatte. Die vom Scheinwerferlicht angestrahlte Haut wirkte blasser, als sie vermutlich war, dazu grellroter Lippenstift und braunes Haar. Lockig, so viel konnte man noch erkennen, auch wenn es durch den Regen schwer und verklebt war. Der Schmuck wirkte billig, doch das Kleid hatte einen gewissen Stil. Allerdings musste Claus sich eingestehen, dass er von solchen Dingen nicht viel verstand.

»Was meinst du«, fragte er Hellmer, »kommt sie von einer Schickimicki-Party, oder ist sie eher ein Callgirl oder so was in der Art?«

»Schwer zu sagen. Dem Typ nach könnte beides passen, aber ich finde, für ein Partymäuschen ist die Schminke zu krass und alles etwas zu doll aufgetragen. Ich kann mich irren, aber dem Gefühl nach würde ich auf Escort tippen. Bestenfalls. Laut Andrea wurde sie stranguliert. Vielleicht mit diesem Schal, den sie da trägt.«

Hochgräbe beugte sich hinab. Die Spurensicherer hatten sich an den Rand der Überdachung zurückgezogen, er fragte nach, ob er die Tote berühren dürfe. Einer der beiden Mondanzüge reichte ihm Einweghandschuhe. Er bedankte sich und zog den Latex über die Hände. Die Feuchtigkeit und der Schweiß machten das zu einem zähen Prozess, aber endlich gelang es ihm, die Haare und das Textil um den Hals der Toten beiseitezuschieben. Nur unter Einsatz seiner Fantasie konnte er die Strangulationsmale erkennen, denn der Hals war schmutzig und verschmiert.

»Du musst den Kopf anheben«, kommentierte Andrea Sievers, und Claus zuckte zusammen. Er hatte sie nicht kommen hören. Sofort richtete er sich auf.

»Danke, das überlasse ich dann lieber dir.«

Dr. Sievers machte eine Kusshand. »Oh, wie großzügig.«

»Gibt es weitere Erkenntnisse? Todeszeitpunkt? Hinweise auf Geschlechtsverkehr? Irgendwas, was uns weiterbringt?«

Die Rechtsmedizinerin zündete sich eine Zigarette an, und auch Frank Hellmer zog einen Glimmstängel hervor. Zwischen den Rauchwolken verkündete Andrea, dass die Tote erst seit zwei oder drei Stunden hier liege und nicht lange vor ihrem Ableben auch Sex gehabt haben müsse. »Der Todeszeitpunkt dürfte dreißig bis neunzig Minuten vor dem Ablegen gewesen sein«, schloss sie. »Sie hatte also genügend Zeit, sich wieder anzuziehen, und laut Spusi deutet nichts darauf hin, dass es hier unten einen Todeskampf gegeben hat.«

»Hmm. Kann man das bei der Nässe sicher sagen?«, fragte Hellmer.

»Kein Schlamm an den Absätzen«, kam es unter einer der Masken hervor. »Wäre sie hier runtergelaufen, müssten ihre Schuhe eingesunken sein. Sind sie aber nicht.«

»Sehr gut«, sagte Hochgräbe anerkennend. »Also wurde sie getragen und abgelegt.«

»Entsorgt«, sagte Sievers bitter.

»Ja. Eine schlimme Sache«, murmelte Hellmer. »Also ein halbwegs kräftig gebauter Täter.«

»Oder eine Täterin«, ergänzte Hochgräbe wie beiläufig. Nicht, weil er daran glaubte, dass es sich um eine Frau handeln könnte. Auch nicht, weil er unbedingt das weibliche Geschlecht erwähnen wollte. Aber er war Chef der Mordkommission. Und es war sein Job, in diesem frühen Stadium der Ermittlung sämtliche Optionen im Auge zu behalten. Denn nur eines war zu diesem Zeitpunkt sicher: Sie wussten im Grunde noch überhaupt nichts.

»Gibt es Zeugen?«, fragte er und sah sich um. Irgendjemand musste die Frau schließlich gefunden haben.

»Ja und nein.« Hellmer seufzte. »Es gab einen Anruf im fünften Revier«, sein Daumen zeigte hinter sich in Richtung des Aurora-Geländes, »das ist ja nur ein paar Straßen entfernt und für unsere Seite der Staustufe zuständig. Angerufen haben allerdings die Kollegen von drüben.« Hellmers Hand wechselte die Position und deutete nun in Richtung Wasser. In der Mitte des Flusses endete die Zuständigkeit Frankfurts, und über mehrere Kilometer, bis Maintal auf der nördlichen und Mühlheim auf der südlichen Uferseite, folgte diese Grenze den bogenförmigen Linien des Mains. »Der Anruf ist von einer Offenbacher Dienststelle gekommen. Ich weiß die Nummer des Reviers gerade nicht, das ist aber auch erst mal zweitrangig. Jedenfalls hat sich dort wohl ein Anrufer gemeldet, er wollte seinen Namen nicht preisgeben, und hat von einer leblosen Frau am Ufer geredet. Als er den Fundort genauer beschrieb, wurde den Beamten klar, dass es sich um das Ufer auf unserer Seite handeln muss, und sie verständigten die hiesigen Kollegen.«

»Aha.« Hochgräbe überlegte. Man konnte niemandem vorwerfen, Arbeit von sich zu weisen, auch nicht, weil heute Heiligabend war. Die Zuständigkeiten der Polizei waren klar definiert, auch wenn er selbst nicht verstehen wollte, wieso es links und rechts des Mains nicht ein großes Präsidium mit gebündelter Hierarchie geben konnte. Dafür war er vermutlich noch zu sehr Münchner. Er kratzte sich am Kinn. »Mal ganz dumm gefragt, aber ist diese Sache mit der Stadtgrenze nicht hinlänglich bekannt? Oder liegt es vielleicht daran, dass diese ganze Wehranlage hier Staustufe Offenbach heißt? Und warum wählt man, wenn man eine leblose Person findet, nicht einfach den Notruf?«

Hellmer zog eine Schulter nach oben. »Das mit dem Notruf ist vielleicht schnell erklärt. Da ist das Risiko einer schnellen Ortung viel zu groß, egal, ob man seine Nummer unterdrückt oder nicht.« Er pausierte kurz. »Aber die andere Sache könnte noch viel wichtiger sein.«

»Was genau meinst du?«

»Dem Anrufer ist da was rausgerutscht. Er hat gesagt, er habe das Taxi nur kurz abgestellt, um in die Büsche zu gehen.«

Hochgräbe weitete die Augen. »Ernsthaft? Erst anonym anrufen und dann solch eine Information preisgeben?!« Seine Gedanken nahmen Fahrt auf. Wenn der Anrufer das Taxi abgestellt hatte, war er kein Fahrgast, sondern der Taxifahrer selbst! Musste er dann aber nicht ortskundig genug sein, um den feinen Unterschied zwischen Frankfurt und Offenbach zu kennen? Schon allein deshalb, weil das Überqueren der Stadtgrenze ein höheres Entgelt bedeutete? Und ließ sich die Route eines Taxis nicht lückenlos nachvollziehen?

»Vielleicht war er schwarz unterwegs«, mutmaßte Hellmer. »Auf eigene Rechnung.«

Damit würde zwar das Nachverfolgen der Wegstrecke platzen, dachte Hochgräbe, aber er hing woanders. »Ausgerechnet heute? Am Heiligen Abend?«

Hellmer blickte auf die Regenfäden. »Bei solchem Dreckswetter lässt man sich doch sicher gerne in die Christmette fahren. Und heute gab es sicher kein Überangebot an Fahrern. Das könnte durchaus eine lukrative Nacht sein.« Er zuckte die Achseln. »Wir sollten dem jedenfalls nachgehen. Mal fragen, ob die Dribbdebächer den Anruf aufgezeichnet haben.«

»Wer?«

Frank Hellmer lachte auf. Dann wiederholte er mit spitzen Lippen: »Drüben des Baches. Dribb-de-Bach.«

Claus Hochgräbe schüttelte den Kopf und winkte ab. »Sag das doch gleich.«

19:00 Uhr
Unfallklinik

In einem anderen Teil der Stadt saß Julia Durant im Wartebereich und drehte einen Becher mit Automatenkaffee in den Händen. Als ein junger Mann in Pflegermontur erschien, richtete sie sich auf.

»Sie können jetzt zu ihr«, sagte er. Er war nicht gerade schlank, am Hals unter dem Kinn wucherte dunkler Flaum, und in den Ohrläppchen hatte er Christbaumkugel- und Glöckchen-Stecker. Durant musste lächeln und folgte ihm in ein Zimmer, das nur schummrig beleuchtet war. Auf einem Stuhl am Fenster hockte ein Mann, auf dem Schoß ein vielleicht fünfjähriger Junge. Ungekämmt und mit fleckiger Kleidung, das fiel der Kommissarin sofort auf, dann aber galt ihre Aufmerksamkeit der Ärztin, die neben dem Bett stand und ihr mit sorgenvoller Miene entgegensah.

»Guten Abend.« Sie stellte sich als Dr. Kerner vor, der Name verklang aber ebenso schnell wie sämtliche Floskeln, die sich um Weihnachten drehten. »Sie sind also Kommissarin Durant?«

»Julia Durant, Mordkommission.«

»Das wundert mich. Es ist ja niemand ums Leben gekommen.«

Die Kommissarin warf einen Blick zu dem Mann. War er ihr Zuhälter? Misshandelte er sie? Nein, das passte nicht zu dem Kind. Also tat sie ihm wohl unrecht. Momentan kauerte er da wie ein Häufchen Elend, doch dieser Schein mochte trügerisch sein. Sie wollte ihn ansprechen, stattdessen konzentrierte sie sich wieder auf die Ärztin und die junge Frau, die neben ihr auf dem Bett lag. Zugedeckt, mit geschlossenen Augenlidern. Sie glaubte, die Pupillen darunter aufgeregt tanzen zu sehen.

»Das ist Frau Tiana Ganev. Dort sind ihr Partner und deren Kind«, erklärte die Ärztin kurz. Ihre Augenbrauen zogen eine durchgehende Linie unter der Stirn, und die Augenpartie wirkte müde und angespannt. Kein Wunder. Während alle Welt Friede, Freude und Festtagsbraten zelebrierte, musste die Belegschaft der Klinik sich mit solchen Fällen herumschlagen.

In diesem Augenblick öffnete die junge Frau die Augen. Ihr Blick traf die Kommissarin. Ein Zucken ging durch ihre Mundwinkel.

»Frau Durant«, raunte Dr. Kerner und deutete mit dem Finger auf sie.

Frau Ganev wollte etwas sagen, doch es kam nur heiseres Krächzen. Ein Schluck aus dem Wasserbecher, dann versuchte sie es erneut. »Danke, dass Sie gekommen sind.«

So eindeutig ihr osteuropäischer Einschlag auch war, das Deutsch klang fast makellos. Durant schluckte. Ein Anzeichen dafür, wie lange sie bereits hier im Land lebte und sich für diesen zweifelhaften Luxus immer wieder demütigen ließ? Sie konnte sich nicht wehren, schon damals, bei der Sitte, hatten diese Fantasien sie aufgefressen. Unvorstellbare Dinge geschahen jeden Tag in dieser ach so feinen Stadt, in dieser schillernden Metropole mit all ihren Luxusschlitten und Glasfassaden. Doch unten, im Schatten der Paläste, begann der Sumpf, der ohne Gnade seine Opfer forderte. Und die Justiz hatte längst aufgegeben. Hin und wieder die Verhaftung eines Handlangers, doch die Hintermänner blieben unantastbar. Und war es nicht deren Schwarzgeld, das die Neubauviertel mitfinanzierte? Durant spürte, wie ein bitterer Geschmack aufstieg, und er rührte nicht von Claus’ Weihnachtsgans her.

Sie nickte zuerst dem Mann zu, denn es kam ihr falsch vor, ihn zu ignorieren, auch wenn er keinerlei Interesse daran zu haben schien, aktiv an dem Treffen teilzunehmen. Stattdessen summte er eine fremde, schön klingende Melodie ins Ohr des Kindes. Dann trat Durant näher an das Bett und reichte der jungen Frau die Hand. Erst jetzt sah sie die Blessuren in ihrem Gesicht. Faustschläge, vermutete sie. Beinahe hätte sie ihre ersten Worte verschluckt.

»Gerne. Was kann ich für Sie tun?«

Woher kennen Sie meinen Namen? Dutzende diffuser Fragen gingen ihr durch den Kopf. Auch eine weitere, deren Antwort sie womöglich gar nicht hören wollte. Gab es eine Leiche? Hatte sie am Ende jemanden getötet?

Stattdessen begann Tiana Ganev zu reden. Erst zögerlich, dann immer freier, auch wenn ihre Worte zunächst unverbindlich klangen. Sie habe sich am Sonntagabend auf den Weg gemacht. »Weihnachtsgeschäft.«

Durant fand es zynisch, dass sie ausgerechnet diesen Begriff verwendete. Und beklemmend. Aber sie wusste, was die junge Frau damit meinte.

Durant warf einen verstohlenen Blick zu dem Mann. Er hatte aufgehört zu summen, aber er reagierte nicht auf das, was Tiana gesagt hatte. Was musste er bei ihrem Beruf wohl empfinden? Eifersucht, Scham oder einfach nur Wut?

»Er spricht nicht gut Deutsch.« Tiana hatte ihren Blick richtig gedeutet.

»Aber er weiß, worüber wir uns unterhalten?«, fragte Durant. »Und was ist mit dem Kleinen?«

Tiana nickte langsam. »Sie haben recht. Er soll das nicht hören.«

Die Ärztin räusperte sich und trat auf den Mann zu. Deutete mit Worten und Gesten an, ob sie nicht zusammen nach draußen gehen wollten, um einen Kaffee zu trinken. Etwas zu spielen für den Kleinen sei bestimmt auch zu finden. Tiana Ganev sagte etwas in ihrer Muttersprache und reagierte mit Erleichterung, als der Mann dem Vorschlag mit einem Nicken zustimmte und den Raum verließ. Die Kommissarin nahm eng neben dem Bett Platz und fragte, als die Tür sich schloss: »Er ist also Ihr Freund?«

»Kann man so sagen. Hmm. Verlobt.«

»Sie wollen heiraten?«

»Erst, wenn ich das nicht mehr mache. Wir sparen Geld, damit ich aufhören kann. Und dann meinen Schulabschluss nachholen kann.« Tianas Stimme wurde belegt, und eine Träne löste sich. »Jetzt weiß ich nicht, wie wir das schaffen. Er hat keinen guten Job, und ich …« Ihre Hand suchte nach dem Bauch. Dann wimmerte sie etwas in einer fremden Sprache. Tschechisch? Rumänisch? Bulgarisch? Doch Julia Durant musste die Worte nicht übersetzen, um zu begreifen.

»Sie bekommen ein Baby?«

Tiana nickte. Wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg und verzog das Gesicht, als sie die blauen Flecke berührte. »Die Ärztin sagt, es geht ihm gut. Erst acht Wochen, es ist ihm nichts passiert.« Sie schluchzte bitterlich. »Aber ich wusste noch gar nichts davon! Nichts bemerkt, keine Ahnung. Was soll jetzt passieren?«

Durant musste erneut heftig schlucken. Heute teilte das Schicksal wieder mal ziemlich gnadenlos aus. Gerade erst hatte sie die düsteren Gedanken über das Aussterben ihrer eigenen Familie beiseitegeschoben, da stand sie einer Frau gegenüber, die bereits ihr zweites Kind erwartete. Womöglich waren beide ungeplant gewesen, und es stand ihr auch nicht zu, diese misshandelte Frau mit sich selbst zu vergleichen. Aber dennoch nagte es an ihr. Julia hatte es nie geschafft, vielleicht hatte sie einfach nur zu lange gewartet, und irgendwann war es zu spät gewesen. Der Wunsch, zeitweise sogar eine brennende Sehnsucht nach eigenen Kindern, würde unerfüllt bleiben. Dieses Glück war anderen beschieden gewesen. Hellmer, Kullmer, Seidel – all ihren Kollegen. Nur ihr nicht.

Durant ärgerte sich, dass sie so anfällig für Ablenkungen und depressive Gedanken war. Aber es war nun einmal Heiligabend. Dabei war das Opfer ein ganz anderes. Ein furchtbares Verbrechen hatte sich ereignet, und nur mit viel Glück hatte Tiana überlebt und das ungeborene Kind bei sich behalten. Die Kommissarin musste sich verdammt noch einmal darauf konzentrieren, was Tiana Ganev zugestoßen war.

»Eines nach dem anderen«, sagte sie daher. »Es wird sich eine Lösung finden, aber jetzt ist es erst einmal wichtig, dass Sie wieder gesund werden. Doppelt wichtig sogar.« Sie hielt inne. »Weiß Ihr Freund denn schon Bescheid?«

Tiana verneinte. »Ich glaube aber, er ahnt etwas.«

»Soll ich mit ihm sprechen?«

»Nein! Bitte. Ich muss das selbst tun.«

»In Ordnung. Kommen wir bitte zum Tathergang zurück.«

Tiana Ganev begann mit leiser Stimme zu erzählen.

»Es war kalt. Ich bin eingestiegen. Ein fremder Mann, der erste an diesem Abend. Zuerst war er nett, sehr freundlich, und auch großzügig. Er wollte Sex mit Küssen, ich mache das nicht gerne, aber das ist zu Weihnachten nicht selten. Fünfzig Euro.«

Julia Durant lauschte aufmerksam und stellte nur ab und zu eine Detailfrage. Und sie bat: »Bitte versuchen Sie, sich so genau wie möglich an alles zu erinnern.«

Zuerst sei alles normal gewesen, erinnerte sich Frau Ganev. Nichts Auffälliges, man lerne die Freier im Laufe der Zeit ganz gut einzuschätzen. Der Mann habe ein wenig gehemmt gewirkt, aber das sei keine Seltenheit, schon gar nicht bei jenen, die vorgaben, das zum ersten Mal zu tun. Während Prostituierte ihren Körper verkaufen, erwarten die Männer eine Illusion. Das Gefühl von einer Prise echter Zuwendung, mindestens von Einvernehmen, und dazu der Wunsch zu glauben, dass es der fremden Frau wenigstens ein bisschen Lust bereitete. Das alles schien bei dem Täter nicht anders gewesen zu sein, bis er sie aus heiterem Himmel zu würgen begann. Ihr drohte und von ihr verlangte, das Geld zurückzubekommen.

»Ich zahle doch nicht! Das hat er immer wieder gesagt. Ich zahle nicht dafür, dass ich mit dir Liebe mache.«

Durant lauschte. Er hatte Tiana ein Messer an den Oberschenkel gepresst. Behauptet, dass ein Schnitt an dieser Stelle binnen Minuten zum Tod führen würde. Dann habe sie mit ihm schlafen müssen. Zuerst versuchte er es auf dem Vordersitz, dann hinten. Das Messer stets in Griffweite, stets vor ihren Augen, aber unerreichbar.

»Es hat nicht geklappt«, beendete die junge Frau ihre Ausführungen. »Er konnte nicht … es kam nicht …«

»Ich verstehe schon«, sagte Durant.

»Jedenfalls wurde er wütend, schlug mich, und dann kam das Messer. Er wollte mich töten, das weiß ich genau. Ich habe mich gewehrt, so gut ich es vermochte, aber er war stärker. Ich glaube, dann bin ich mit dem Kopf an die Tür geknallt. An mehr erinnere ich mich nicht. Erst wieder, als das Blaulicht kam.«

19:10 Uhr

Er saß auf einer überdachten Bank und lauschte den Wellen, die sanft ans Ufer schlugen. Der Regen störte ihn nicht, die Kühle, die Feuchtigkeit und die Dunkelheit waren schützende Begleiter. Doch an diesem Abend, in dieser Nacht, schmerzten die Narben besonders. Die Wunden, die das Leben an Körper und Seele hinterlassen hatte. Das Leben. Menschen in seinem Leben. Fleischgewordene Teufel, die ihn ins Verderben gelockt hatten, ins Fegefeuer, und ihn dann hilflos zurückgelassen hatten.

Er ballte die Fäuste. Nie wieder! Diese Zeiten lagen hinter ihm, das war nicht mehr er, er hatte sich in einen anderen Menschen verwandelt. Niemals würde er wie die Seefahrer in Homers Odyssee dem heuchlerischen Gesang der Sirenen verfallen. Oder der Nixe Loreley, die ihn erbarmungslos in den Untergang ziehen würde.

Für eine Sekunde musste er über diesen Vergleich nachdenken. Das Wasser war nicht sein Feind wie in diesen Sagen. Oder doch?

War es nicht der Regen, die unangenehme Feuchte, die die Parks in diesen Tagen wie ausgestorben erscheinen ließ? Nicht einmal Gassigängerinnen wagten sich auf ausgedehnte Runden, wobei er Hundefrauen ohnehin nicht zu seinen Favoritinnen zählte. Er brauchte keine aggressiven Kläffer, die ihn bei seinem Treiben störten. Er brauchte Ruhe. Stille. So wie hier am Mainufer.

Er hatte sie nicht verletzen wollen.

Er hatte überhaupt nicht zu einer von ihnen gehen wollen, einer Hure, einer Frau, die ihren Körper verkaufte, aber mit ihren Gedanken und Gefühlen nicht bei der Sache war.

Hatte nicht bezahlen wollen, nicht dafür, dass er ihnen doch ein Geschenk brachte. Seit Menschengedenken war es der Gang der Welt, dass Frauen erobert werden wollten. Dass sie ihre wahren Qualitäten, ihre tiefsten Leidenschaften nur zeigten, wenn man sie bezwang.

Huren taten es freiwillig. Gegen den schnöden Mammon.

Wenn es einen Gott gab, würde dieser sie mit Feuerregen richten.

Ihn schauderte.

Doch es war nicht mehr zu ändern. Und das Bild, wie sie dalag, hilflos, blass und ohne eine Regung, zog vor seinem inneren Auge vorbei.

Sie hatte sein Geschenk nicht verdient.

Auch nicht an Weihnachten.

19:35 Uhr

Claus Hochgräbe stand wieder unter seinem Regenschirm und betrachtete die beiden Bestatter, die ihrem traurigen Ritual folgten. Die Tote wurde in einen Zinksarg gehievt, der in einem anthrazitfarbenen Kastenwagen verschwand. Einer der Männer hatte einen Glimmstängel im Mundwinkel, der andere kaute Kaugummi. Ob sie die Anzüge nur für ihre Dienstfahrt trugen oder bereits in ihnen in der Kirche oder beim Familienessen gesessen hatten, würde unbeantwortet bleiben. Der Diesel erklang, Scheinwerfer flammten auf.

»Ich fahre hinterher.« Andrea Sievers war neben Hochgräbe getreten.

»Willst du etwa heute noch mit der Obduktion beginnen?«, fragte der Kommissariatsleiter und konnte die Irritation in seiner Stimme nicht verbergen.

Andrea hob die Schultern. »Sie ist die Einzige, die heute Abend hier auf mich wartet. Und spätestens ab morgen nervt ihr mich doch eh mit eurer Ungeduld. Also fange ich gleich an, der Abend ist so oder so gelaufen.«

Claus schluckte. Manchmal vergaß er, wie gut das Leben doch war. Er hatte eine Frau, eine gemütliche Wohnung, er war nicht einsam. Doch nicht nur die Opfer, deren Schicksale seinen Berufsalltag bestimmten, traf das Schicksal hart. Die Vereinsamung der Menschen griff immer weiter um sich, auch im engsten Bekanntenkreis. Isolation – und alle damit verbundenen Folgeerscheinungen: Ängste, Depressionen, Sucht. Und zwischen Heiligabend und Neujahr würde sich das manchenorts derart zuspitzen, dass es noch den einen oder anderen Suizid geben würde. Er konnte nichts dagegen tun. Andererseits betraf das nicht Andrea Sievers. Diese lebenslustige Person, und das trotz ihres Berufs, diese Frohnatur. Oder war das alles nur aufgesetzt?

Hochgräbe verscheuchte die finsteren Gedanken. Du übertreibst, sagte er sich nicht ohne Überzeugung.

Andererseits: So etwas wie absolute Sicherheit gab es nun einmal nicht.

Er musste an Julia denken. Und an den Brief.

Irgendwann würde einer von ihnen den Mut fassen müssen, darüber zu sprechen. Was seine Verlobte nicht wusste, war, dass es noch etwas völlig anderes gab, was ihm auf der Seele brannte. Etwas, was durchaus das Potenzial hatte, sämtliche ihrer Zukunftspläne zu durchkreuzen.

Julia Durant war eine bemerkenswerte Frau, die manche Dinge sehen konnte, lange bevor sie für andere Gestalt annahmen.

Ob sie ihm nicht längst etwas angemerkt hatte?

»Träumst du?«

Hellmers Frage ließ ihn zusammenfahren wie ein Kind, das man mit dem Finger im Honigglas erwischt hatte.

»Sorry«, wich er aus. »Es ist dieser Abend. Findest du nicht auch, dass unsere Arbeit heute besonders bedrückend ist?«

Frank nickte. »Vor allem wegen des Bratens, der zu Hause auf dem Tisch steht.«

»Dein Ernst?«

»Nein. Also auch. Aber ich verstehe schon, was du meinst. Diese Frau hier hatte für heute sicher andere Pläne, als so zu enden. Vielleicht hat sie im Laufe des Tages anderen eine frohe Weihnacht gewünscht oder war gläubig. Vielleicht war sie im Gottesdienst, vielleicht hat sie auf ein besseres neues Jahr gehofft. Vielleicht wollte sie einfach mal schick feiern gehen, oder sie war eine einsame Seele, der an diesem Abend die Decke auf den Kopf gefallen ist.« Er seufzte. »Wir wissen momentan fast gar nichts über sie. Keine Papiere, keine Hinweise, kein gar nichts. Und ich möchte sie nicht aus Bequemlichkeit in die Callgirl-Schublade stecken, nur weil sie sich so aufgetakelt hat.«

Claus nickte. »Wir sollten die Vermisstenmeldungen durchgehen«, sagte er und deutete in Richtung Mainufer. »Auch von drüben.«

Auf der anderen Flussseite begann der Hoheitsbereich des Polizeipräsidiums Südosthessen, zuständig für die Stadt und den Landkreis Offenbach und den Main-Kinzig-Kreis. Das Revier von Kommissar Peter Brandt, der die Stadt Frankfurt aus tiefster Seele verachtete oder diese Verachtung zumindest gerne zur Schau trug.

»Ist das nicht zu früh?«, wollte Hellmer wissen.

Hochgräbe schüttelte den Kopf. »Nicht heute Nacht.«

Es gab kaum ein Fest, an dem minutiöse Planung und Stress derart geballt auftraten wie an Weihnachten. Wenn es also irgendwo in dieser oder in der Nachbarstadt jemanden gab, der diese Frau vermisste, würde er längst alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, um sie zu finden.

19:50 Uhr

Bevor Durant das Krankenzimmer verließ, fragte sie doch noch, wie die junge Frau auf ihren Namen gekommen war.

Tiana hatte müde gelächelt. »Durant, Durant.«

Der Klang ihrer Worte erinnerte an die bekannte britische New-Wave-Band, was der Kommissarin ein kurzes Lächeln entlockte.

»Auf der Straße sagt man: Wenn etwas Schlimmes passiert, dann immer Julia Durant rufen.« Auch die Frau musste lächeln, wobei es etwas gequält wirkte. »Es ist ein guter Name.«

»Danke.«

Seit ihrer Zeit bei der Sitte wusste Julia, dass man in gewissen Kreisen ein Gespür dafür hatte, wem bei der Polizei man trauen konnte und wem nicht. Dabei ging es weniger um das Vertrauen in Gesetze, sondern vielmehr um eine persönliche Note. Ein Gefühlslevel, eine Person, mit der man gut konnte – oder eben nicht. Zu der man einen Draht finden konnte. Womöglich war sie eine dieser Personen; ein Name, der in Kreisen machtloser und misshandelter Frauen die Runde machte. Wie viele Frauen hatte sie schon in Frauenhäusern untergebracht? Sie wusste es nicht. Doch keine von ihnen würde es ihr vergessen, vermutlich war das Mädchen deshalb auf sie gekommen.

Tiana berichtete noch über eine Bekannte, die in einem Frauenhaus untergekommen war. Durant erinnerte sich an die Ermittlung im Rotlichtmilieu. Zwei oder drei Jahre musste das her sein. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, öffnete sich die Tür, und kleine Trippelschritte näherten sich. Hinter dem Jungen dessen Vater. Von der Ärztin (wie hieß sie noch mal?) nichts zu sehen.

Der Mann nickte Durant freundlich zu.

»Sein Deutsch ist sehr schlecht, er schämt sich«, erklärte Tiana und sagte etwas in ihrer Muttersprache. Bulgarisch, wie die Kommissarin mittlerweile wusste.

Daraufhin schüttelte die junge Frau ihr die Hand und sagte nur ein Wort.

»Danke.«

 

Der Aufenthaltsraum war immer noch leer. Julia Durant blickte durch das Fenster hinab auf die Lichter der Stadt. Draußen zog das Regenwasser Bahnen auf das Glas. Irgendwo dort unten stand Claus. Hoffentlich hatte er an einen Schirm gedacht.

An seinem Tatort lag eine tote Frau. Hier schien das Schicksal gnädiger gewesen zu sein. Doch es waren jede Menge Fragen offen. Sie zog ihre Notizen hervor. Der Anruf war von einem Taxifahrer gekommen, der die Hecke am Rebstockgelände offenbar aufgesucht hatte, um sich zu erleichtern. Ausgerechnet dort, auf diesem riesigen Gelände, und das gerade rechtzeitig, bevor Tiana erfroren wäre. Durant glaubte nicht an Zufälle. Sie glaubte an Gott, auch wenn ihr Beruf sie immer wieder mit den gottlosesten Abgründen konfrontierte, sie war nicht naiv.

Jemand räusperte sich. Sie fuhr herum und erkannte die Ärztin. Das Namensschild füllte die Gedächtnislücke wieder. Dr. Kerner.

»Frau Durant? Ich möchte kurz unter vier Augen mit Ihnen sprechen.« Sie blickte sich um, niemand war zu sehen. Trotzdem zog sie die Glastür des Zimmers hinter sich zu.

»Ich wollte auch noch …«, antwortete Julia, »aber bitte. Sie zuerst.«

Dr. Kerner nickte. »Frau Ganev hat sehr viel Glück gehabt. Die Prellungen sind nicht ernst, bis auf einen leichten Bruch im unteren Rippenbereich. Auch die Verletzungen im Vaginalbereich halten sich in Grenzen. Die Schnittwunde am Oberschenkel allerdings hätte sie das Leben kosten können. Entweder der Täter hat auf die Arterie gezielt und sie nur knapp verfehlt, oder es war ein willkürlicher Treffer. In beiden Fällen hatte sie einen Schutzengel, denn hätte das Messer die Arteria fermoralis verletzt oder gar durchtrennt, wäre der Tod innerhalb kürzester Zeit eingetreten. Alles in allem also ist sie vergleichsweise glimpflich davongekommen. Dennoch muss ich sie noch ein paar Tage hierbehalten.«

Die Ärztin stockte, und Julia kniff die Augen zusammen. Was verschwieg sie ihr?

»Wegen des Bruchs?«, fragte sie geradeheraus. »Oder gibt es da noch mehr?«

Dr. Kerner wog offenbar ab, was unter ihre Schweigepflicht fiel. Dabei berührte sie scheinbar unwillkürlich ihren Unterbauch. Durant verstand.

»Ich weiß von der Schwangerschaft.« Sie lächelte.

Die Ärztin erwiderte das Lächeln, wenn auch mit einem sorgenvollen Ausdruck in den Augen.

»Dem Embryo geht es gut, soweit man das in diesem Stadium der Schwangerschaft sagen kann. Ich bin keine Frauenärztin, doch ich weiß, dass das immer nur eine Momentaufnahme ist. Diese Phase ist sehr fragil, auch ohne den traumatischen Stress, dem Frau Ganev ausgesetzt war. Die Empfehlung der Gynäkologie ist daher eindeutig: Sie sollte in den kommenden Tagen erst einmal absolute Ruhe halten. Auch danach ist die Gefahr noch nicht überstanden.« Sie seufzte. »Sie wissen ja sicher selbst, wie sensibel der Körper im ersten Trimester ist. Haben Sie Kinder?«

»Nein.«

»Entschuldigung, das geht mich nichts an. Aber wie gesagt. Nach aktuellem Stand hat die junge Frau sehr viel Glück gehabt. Allerdings wäre es eine große Hilfe, wenn Sie mich dabei unterstützten, sie zu überzeugen, so lange wie möglich unter ärztlicher Beobachtung zu bleiben.«

Durant versuchte, in der Miene ihres Gegenübers zu lesen. Gab es da etwas Unausgesprochenes, was sie erkennen sollte? Wonach sie fragen sollte, weil die Ärztin es nicht wagte, es auszusprechen? Oder interpretierte sie da zu viel hinein?

»Und Sie glauben, dass sie auf mich hören wird?«

»Sie hätten mal sehen sollen, wie sie nach Ihnen verlangt hat. Wenn sie auf Sie nicht hört – auf wen sonst?«

»Hmm. Und es geht dabei ausschließlich um das ungeborene Kind?«

Dr. Kerner druckste. »In erster Linie schon. Ich habe einfach das Gefühl, dass sie von irgendetwas getrieben wird. Dass sie sich zu Hause nicht schonen würde oder am Ende noch vor Neujahr wieder auf den Strich geht.«

»Von irgendwas oder von irgendwem?«, hakte Durant nach.

Die Ärztin hob die Augenbrauen, sagte jedoch nichts.

Also wurde Julia deutlicher: »Sprechen wir hier von einem Zuhälter? Oder am Ende von dem Mann in ihrem Zimmer? Falls es da irgendetwas gibt, sollten Sie es mir dringend mitteilen!«

»Das ist es ja. Ich weiß es nicht«, erwiderte Dr. Kerner. »Aber etwas stimmt da nicht, für so was bekommt man ein Gespür. Ich könnte es nicht ertragen, eine schwangere Frau in eine ungewisse Gefahr gehen zu lassen. Nicht an Weihnachten.«

Julia Durant nickte langsam und versuchte, Jesus, Maria und Josef von ihrem geistigen Auge zu verbannen. Die Weihnachtsgeschichte würde sie hier nicht weiterbringen. Es war nicht die Christnacht und ihr Vater, der eine erwärmende Predigt hielt. Es war der kalte Alltag. Das Bild des Mannes, ein Danke auf den Lippen, kam ihr in den Sinn. Warum hatte er sich bedankt und wofür? Dass sie gekommen war, um ihren Job zu tun? Oder war es eine Farce, eine aufgesetzte Unschuldsmiene? Verbarg sich hinter der scheuen Miene und den schwarzen Augen ein unbarmherziger Zuhälter, jemand, der einen auf Loverboy machte und mit dem Traum von Heirat und Familienglück spielte? Oder, schlimmer noch: Hatte er das Kind dabei, um es als Druckmittel zu nutzen, damit sie nichts ausplauderte? Warum fiel es ihr nur so schwer, einfach davon auszugehen, dass er sich um das Kind sorgte und man – besonders an Weihnachten – als Familie zusammen sein wollte? Das Gedankenkarussell drehte sich immer schneller. Doch bevor sich ein Ergebnis abzeichnete, durchbrach das Klingeln ihres Handys das Rauschen.

Claus. »Ich wollte mal hören, wie es bei dir aussieht.«

»Bin gerade im Gespräch mit der Ärztin. Der Frau geht es aber so weit gut. Den Umständen entsprechend. Und bei dir?«

»Andrea hat die Tote mitgenommen. Es gibt weder Anhaltspunkte zur Identität noch zu den Umständen, außer, dass sie kurz vor dem Ableben Sex gehabt hat.«

»Einvernehmlich?«

»Da wollte sie sich noch nicht festlegen. Die Kleidung und die Aufmachung der Toten deuten jedenfalls nicht zwingend darauf hin, dass es sich um eine Professionelle handelt. Jedenfalls nicht vom Straßenstrich. Allerdings gibt es ja auch noch jede Menge Escortdamen und Edelhuren. Vielleicht hat sie sich auch einfach nur für einen neuen Lover in sexy Dessous geworfen. So als kleines Weihnachtsgeschenk.«

Er schnaufte ins Mikro, was bei Julia als heftiges Rauschen ankam, sodass sie das Gerät vor Schreck vom Ohr nahm.

»Na ja, jedenfalls macht Andrea sich gleich dran, und ich überlege, ob ich ihr Gesellschaft leisten soll. Wie lange brauchst du denn noch?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher«, gab Durant zu. Eine innere Stimme hielt sie davon ab, die Klinik zu verlassen, auch wenn sie im Moment nicht viel tun konnte. Sie musste zuerst darüber nachdenken, wie sie diese Stimme beschwichtigen konnte. »Fahr ruhig ins Institut und grüß Andrea von mir. Hier wird sie ja Gott sei Dank nicht gebraucht.«

»Hmm. Dann mache ich das mal. Schade um die Gans. Aber ich habe das ungute Gefühl, dass Andrea heute jemanden braucht.«

Durant überlegte. Andrea Sievers hatte vor Jahren eine kurze Beziehung mit Kommissar Brandt aus Offenbach gehabt. Seitdem war sie Single, was jenseits der vierzig etwas anderes war als mit Mitte zwanzig. Sie hatte erst kürzlich beim Thema Hochzeit daran gedacht, dass Andrea vermutlich ohne Partner kommen würde. Mal wieder. Es behagte ihr auch nicht, dass Claus und nicht sie selbst zu ihr fuhr, nicht zum ersten Mal bekam sie Gewissensbisse, dass sie sich viel zu wenig um Andrea Sievers kümmerte. Doch just in diesem Moment brauchte jemand anderes Julias Aufmerksamkeit. Also schob sie das schlechte Gewissen beiseite, nahm sich aber vor, im neuen Jahr etwas mehr für Andrea da zu sein. Gute Freunde waren rar gesät. Ein neuer Schatten zog auf, aber Julia ließ ihn nicht zu. Sie schickte Claus einen Luftkuss durchs Telefon und verabschiedete sich mit dem Versprechen, bald nach Hause zu kommen. Dann wandte sie sich wieder der Ärztin zu, die an der Glastür stand und auf den weiß beleuchteten Flur blickte.

»Entschuldigung. Das war der Boss. Er ist an einem Tatort.«

»Verstehe.« Etwas Keckes umspielte die Mundwinkel der Frau. Offensichtlich war ihr der Telefonkuss nicht entgangen.

»Ja. Er ist gleichzeitig auch mein Verlobter«, erklärte Durant schnell. »So etwas gibt es hier doch sicher auch.«

»Seltener, als es die Fernsehserien vermuten lassen würden«, sagte Dr. Kerner. »Aber ja. Natürlich. Es ist nur nicht gerne gesehen.«

»Wem sagen Sie das.« Durant musste hart schlucken. Der Brief. Wer konnte schon wissen, wie lange …

Die Stimme der Ärztin unterbrach den Gedanken.

»Wollen wir noch einmal zu ihr gehen? Und sie davon überzeugen, über die Feiertage hierzubleiben?«

Die Kommissarin nickte.

20:10 Uhr

Claus Hochgräbe startete den Motor seines Dienstwagens. Er fuhr selten Auto und besaß seit vielen Jahren kein eigenes. Wenn er gemeinsam mit Julia unterwegs war, überließ er in der Regel ihr das Steuer. In Momenten wie diesen rächte sich das allerdings, wie er feststellte, denn er musste zunächst überlegen, welchen Weg er in die Kennedyallee auf der anderen Mainseite nehmen sollte, wo sich das Institut für Rechtsmedizin befand – in einem alten, eleganten Sandsteinhaus, an dem man ohne das Wissen, dass im Keller Leichen obduziert wurden, einfach vorbeifahren würde. Viel zu ablenkend waren die Flaggen der benachbarten Konsulatsgebäude und die davor stationierten Polizeibeamten. Oder die Villa Kennedy, ein Nobelhotel von Rang und Namen.

Hochgräbe hätte dem Gefühl nach die Autobahn angesteuert. A661, Kaiserleibrücke, Offenbacher Kreuz, A5 und dann von Süden her zurück nach Sachsenhausen. Zwanzig Kilometer Wegstrecke, die ihm dafür den Stadtverkehr ersparen würden. Doch es war Heiligabend, die meisten Stauverursacher saßen bei Essen und Geschenken, also konnte er das Ganze auf ein Viertel der Strecke reduzieren. Er folgte der Franziusstraße, überquerte die Osthafenbrücke und lauschte dem weihnachtlichen Radioprogramm, als er den Blick über das leuchtende Glasgebäude der Europäischen Zentralbank in unmittelbarer Nähe lenkte und anschließend den Glanz der dahinter liegenden Skyline bewunderte. Im Dunst des Regens verliehen die zahllosen Lichter der Stadt eine Art Heiligenschein. Frankfurt war schön, das musste er sich eingestehen, auch wenn ein Teil seines Herzens immer in München verbleiben würde. Bei aller Finsternis war es eine bunte, lebendige Stadt, in der es sich gut leben ließ. Prompt wurde er schwermütig. Also drehte er das Radio lauter und konzentrierte sich auf die Straße. Er passierte mehrere Mainbrücken, das Museumsufer, den Eisernen Steg und erreichte nach einer knappen Viertelstunde und ohne nennenswerten Verkehr die Rechtsmedizin.

Hoffentlich hat Andrea Kaffee, dachte er, als er die Wagentür zuknallte. Den Schirm ließ er im Auto. Es hatte aufgehört zu regnen. Wenigstens etwas.

 

»Oh!« Dr. Sievers machte wie üblich keinen Hehl aus ihren Gefühlen. Erstaunt blinzelte sie. »Mit dir hätte ich jetzt nicht gerechnet.«

»Ich kann doch nicht einfach nach Hause fahren und so tun, als gäbe es keinen Mord.«

»Hm. Und was ist mit Julia?«

»Julia ist bei einem anderen Opfer.«

»Wie? Noch eine Leiche?«

Claus verneinte und berichtete kurz, was er wusste. Andrea nickte. Ein paar Sekunden verstrichen, dann setzte sie ein Grinsen auf. »Dann bin ich also so was wie deine Lückenbüßerin.«

Claus lächelte müde. »Nein, du bist das Hauptprogramm.«

»Na dann … werde ich mal sehen, was ich zu bieten habe. Willst du nur gucken oder auch anfassen?«

»Äh …«

»Schon gut. Dahinten ist Schutzkleidung, ich war gerade dabei, die Gute zu entkleiden und zu waschen. Mach dich bereit und komm einfach dazu.«

Während Hochgräbe sich in einem Nebenraum einen Overall, Haarnetz und Handschuhe anlegte, kamen ihm die ersten Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, hierherzukommen. Nach einem Kaffee hatte er auch nicht gefragt. Frank Hellmer hatte es da deutlich besser. Im Präsidium war es jetzt angenehm ruhig, es gab einen Vollautomaten, Snacks und keine Leiche im Nebenzimmer. Er seufzte. Für eine Änderung der Aufteilung war es jetzt zu spät.

Als er schließlich ohne Eile neben Andrea trat, lag die Tote frisch gewaschen auf dem Metalltisch, und die Rechtsmedizinerin stand gebeugt über ihrer Körpermitte.

»Die Totenflecke geben mir recht«, verkündete sie. »Der Fundort war nur die Ablagestelle, umgebracht wurde sie woanders.« Sie referierte über Einblutungen und deutete auf verschiedene Stellen des Körpers. Es war eine schöne Frau gewesen, wie Hochgräbe für sich feststellte. Groß, mittelschlank, die weiblichen Rundungen ausgeprägt. Alles natürlich, keine Hinweise auf Schönheits-OPs oder dergleichen. Dafür war sie wohl auch zu jung.

»Wie alt schätzt du sie?«

»Ende zwanzig«, antwortete Sievers und ergänzte: »Eins dreiundsiebzig, sechsundsechzig Kilo. Ich tippe nicht auf Osteuropa, sie könnte eher aus Skandinavien, Benelux oder Sindelfingen stammen.«

»Also quasi von überallher«, konstatierte Hochgräbe.

»Das habe ich so nicht gesagt«, erwiderte die Ärztin spitz. »Alles, was zu weit östlich liegt, schließe ich aus. Und natürlich auch Asien. Und Afrika …«

»Afrika?«, wiederholte er fahrig. Dann winkte er ab. »Na ja, schon gut. Entschuldige bitte.«

Andrea Sievers kniff die Augen zusammen. »Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja. Was soll schon sein?«, wehrte Claus ab. »Außer, dass Heiligabend ist …«

»Den haben wir uns wohl alle anders vorgestellt.«

»Was hattest du denn stattdessen vor?«

»Na ja, ich hab’s ja nicht so mit dem traditionellen Gedöns«, sagte Andrea und verzog den Mund. »Und weil viele Kneipen geschlossen haben, haben ein paar Leute eine Neunziger-Party organisiert.« Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. »So richtig geht’s da eh erst gegen Mitternacht los. Zwei Stunden habe ich also noch, bevor ich mich in Hüftjeans, Spaghettitop und Plateauschuhe werfe. Wenn’s dir also nichts ausmacht, würde ich gerne vorankommen.«

Claus Hochgräbe musste schmunzeln. »Das würde ich ja gerne sehen.« Um Andrea Sievers musste er sich heute Abend also keine Sorgen mehr machen. »Na gut. Ich werde dich nicht weiter aufhalten.«

 

Die äußere Begutachtung brachte zwei mittelgroße Tätowierungen und ein paar Narben hervor. Nichts, was unmittelbar mit dem Tod in Zusammenhang stand. Außerdem bestätigte die nähere Untersuchung des Halses den Verdacht des Erwürgens. Bei der Mordwaffe wollte die Rechtsmedizinerin sich noch nicht festlegen, wobei sie das Halstuch als Tatwaffe für sehr wahrscheinlich hielt. Etwas anderes hatte man im Umfeld der Leiche auch nicht finden können. Ebenso schienen sämtliche andere Gegenstände entfernt worden zu sein, es gab weder eine Handtasche noch persönlichen Besitz, vom Schmuck einmal abgesehen.

»Raubmord fällt damit wohl flach«, sagte Claus.

»Denke ich auch. Wobei die Ohrringe nicht sonderlich wertvoll sein dürften. Und Ringe trug sie vermutlich nicht. Jedenfalls habe ich keine Druckstellen gefunden.«

Claus überlegte. Julia trug auch selten Ringe. Sie besaß generell nicht besonders viel Schmuck, das meiste fand sie unpraktisch, und er hatte es aufgegeben, etwas zu finden, das sie regelmäßig anlegte. Er musste an die Hochzeit denken. Sie hatten sich noch nicht um Eheringe gekümmert! Claus räusperte sich. »Verheiratet war sie demnach wohl auch nicht.«

»Wie gesagt. Keine Ringe und auch an den Ringfingern nicht die üblichen Abdrücke. Worauf willst du hinaus?«

»Könnte sie den Ring nur für den Abend abgelegt haben?«

»Ah. Du meinst für ein erotisches Abenteuer? Das ist theoretisch natürlich möglich. Aber wie gesagt: Die Druckstellen eines Eherings verschwinden vielleicht optisch, aber nur oberflächlich. Mir wäre das aufgefallen, da bin ich mir nach all den toten Ehefrauen, die hier zu Gast waren, ziemlich sicher.« Andrea nahm noch einmal beide Hände der Toten auf und betrachtete sie. Prüfend blickte sie auf. »Wie gesagt: nichts zu sehen. Aber sag mal: Was ist eigentlich mit eurer Planung? Schon das Aufgebot bestellt?«

»Ich dachte, du hast es eilig?«

»So viel Zeit muss sein«, konterte sie.

»Es läuft alles.« Insgeheim hatte er gehofft, das Gespräch auf eine andere Art führen zu können, und eigentlich hätte er auch lieber Frank Hellmer als Gesprächspartner gehabt. Aber vielleicht bot sich ihm hier eine Chance … Claus hüstelte und fasste sich ein Herz. »Okay«, begann er, »jetzt, wo du so direkt fragst, würde ich vielleicht gerne über etwas mit dir reden.«

Ein lang gezogenes Ja der Rechtsmedizinerin signalisierte ihm, dass es jetzt keinen Weg mehr zurück gab.

»Du weißt ja selbst, was hier in den letzten Monaten los war. Die Sache mit Julias Ex. Zuerst sein Tod, dann seine Briefe und der ganze Rattenschwanz, den das mit sich gebracht hat. Das hat eine Menge alter Wunden aufgerissen.«

Julia Durant war vor vielen Jahren bereits verheiratet gewesen. Die Ehe war nicht im Guten auseinandergegangen, zumal ihr Ex sie mehrfach betrogen hatte. Daraufhin brach sie den Kontakt zu ihm ab und war für einen Neuanfang nach Frankfurt gezogen. Bei Claus Hochgräbe lagen die Dinge anders. Er war früh verwitwet. Aber um ihn ging es im Moment nicht.

»Dazu noch der Tod einer alten Kollegin und der Verlust von Alina«, merkte Dr. Sievers an.