Todesspiel. Die Nordseite des Herzens - Dolores Redondo - E-Book
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Todesspiel. Die Nordseite des Herzens E-Book

Dolores Redondo

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Beschreibung

Die Suche nach einem Serienmörder bringt die beste Kommissarin, die das FBI je hatte, aus Spanien nach New Orleans. Die junge Amaia Salazar findet an den Tatorten immer das gleiche Bild vor: mehrere Tote, die Leichen stets nach Norden ausgerichtet. Schritt für Schritt nähert sie sich einem Mann, der raffiniert ist, aber nicht unbezwingbar.

Wenn die Natur tobt und die Menschen am schutzlosesten sind, schlägt er erbarmungslos zu: Er bringt ihnen den Tod. Er ist als »der Komponist« bekannt. Er inszeniert seine Taten beinahe liturgisch und richtet die Leichen stets nach Norden aus, daneben drapiert er eine Geige. Am verheißungsvollen Vorabend des schlimmsten Hurrikans der Geschichte von New Orleans befindet sich die junge Kommissarin Amaia Salazar mit ihrem Ermittlungsteam in der Stadt, um dem Komponisten endlich auf die Spur zu kommen. Doch dann erreicht sie ein Anruf aus Spanien, der sie mit den Geistern ihrer Kindheit und tiefsitzenden Ängsten konfrontiert. Die Situation spitzt sich zu: Der Wind steigt auf, die Straßen leeren sich, Häuser werden verbarrikadiert. Kommt die junge Ermittlerin dem gnadenlosen Mörder rechtzeitig auf die Spur?

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Seitenzahl: 776

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Zum Buch

Wenn die Natur tobt und die Menschen am schutzlosesten sind, schlägt er erbarmungslos zu: Er bringt ihnen den Tod. Er ist als »der Komponist« bekannt. Er inszeniert seine Taten beinahe liturgisch und richtet die Leichen stets nach Norden aus, daneben drapiert er eine Geige. Am verheißungsvollen Vorabend des schlimmsten Hurrikans der Geschichte von New Orleans befindet sich die junge Kommissarin Amaia Salazar mit ihrem Ermittlungsteam in der Stadt, um dem Komponisten endlich auf die Spur zu kommen. Doch dann erreicht sie ein Anruf aus Spanien, der sie mit den Geistern ihrer Kindheit und tiefsitzenden Ängsten konfrontiert. Die Situation spitzt sich zu: Der Wind steigt auf, die Straßen leeren sich, Häuser werden verbarrikadiert. Kommt die junge Ermittlerin dem gnadenlosen Mörder rechtzeitig auf die Spur?

Zur Autorin

Dolores Redondo, geboren 1969 in San Sebastián, ist eine der einflussreichsten und wichtigsten Schriftstellerinnen Spaniens. Mit ihren literarischen Spannungsromanen begeistert sie ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt, ihre Werke erscheinen in über 30 Ländern und werden verfilmt. Die Autorin wurde für den CWA International Dagger Award nominiert und für ihren Roman »Alles was ich dir geben will« mit dem Premio Bancarella sowie dem Premio Planeta, einem der wichtigsten Literaturpreise der spanischsprachigen Welt, ausgezeichnet. Zuletzt gewann sie den Grand Prix des Lectrices de ELLE. Mit »Todesspiel – Die Nordseite des Herzens« ist ihr erneut ein preisgekrönter Nr.-1-Bestseller gelungen.

DOLORES REDONDO

TODESSPIEL

DIE NORDSEITE DES HERZENS

Thriller

Aus dem Spanischen von Anja Rüdiger

Die spanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »La cara norte del corazón« bei Editorial Planeta, Barcelona. Die Übersetzung dieses Buches wurde von Acción Cultural Española, AC/E, unterstützt. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Bibel-Textstellen entstammen Markus 13, 24 und Markus 13, 25, der Auszug findet sich in Markus 13, 2. Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen. Sollte uns dies im Einzelfall bis zur Drucklegung bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen. Deutsche Erstausgabe September 2022 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Copyright © der Originalausgabe 2019 by Dolores Redondo Meira By agreement with Pontas Literary & Film Agency Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by btb Verlag, München Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © getty images / wanderluster Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck mb · Herstellung: sc ISBN 978-3-641-26394-2V002www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Für Aitor und June, dafür, dass sie, um mit mir zusammen zu sein, darauf verzichtet haben, »etwas mehr zu schwimmen«. Das ist ein echtes Privileg.

Für Eduardo. Immer, alles.

Für meine Literaturagentin Anna Soler-Pont, für ihren Beitrag, ihre Führung und ihre unaufhörliche und unermüdliche Arbeit. Danke, dass du der »bad cop« in meinen Romanen bist und meine gute Ratgeberin im Alltag. Von Herzen danke und »weiter so«.

Für Maria Cardona, für die Zuversicht, die Beharrlichkeit und die Freude bei der Arbeit und für den Beweis, dass mit einem Lächeln alles »besser« geht. Danke, dass du dafür gesorgt hast, dass alles ganz leicht zu sein scheint.

Für Ricard Domingo. Du hast immer noch die Fähigkeit, das Unsichtbare zu sehen. Für die vielen Jahre.

Im Gedenken an José Antonio Arrabal, der unbemerkt gestorben, aber unvergessen ist. Danke dafür, dass du bis zum Schluss mein Leser warst.

Prolog

Elizondo

Als Amaia Salazar zwölf Jahre alt war, hatte sie sich im Wald verlaufen und war sechzehn Stunden lang unauffindbar gewesen. Es war früh am Morgen, als sie dreißig Kilometer nördlich der Stelle, wo sie vom Weg abgekommen war, wieder auftauchte. Bewusstlos lag sie im heftigen Regen. Ihre Kleider waren schwarz versengt und verschmutzt. Ihre Haut jedoch war auffallend blass, makellos und bitterkalt, als wäre sie gerade aus Eis erstanden.

Amaia behauptete, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte, was geschehen war. Ihr war nur noch eine kurze Sequenz an Bildern im Gedächtnis geblieben, die sich ununterbrochen wiederholte. Manchmal fragte sie sich, ob sie wirklich so weit durch den Wald gegangen war oder ob sie möglicherweise einfach nur so lange auf denselben Baum gestarrt hatte, bis ihr Gehirn in eine Art Hypnosezustand gefallen war.

Es war ein ganz normaler Sonntagmorgen gewesen, an dem sie mit ihrem Hund Ipar gemeinsam mit einer Gruppe Wanderer aufgebrochen war. Sie wollte ihrer Tante Engrasi den Gefallen tun, die sie seit Monaten drängte, mehr an die frische Luft zu gehen. Beide wussten, dass das in Elizondo unmöglich war. Im letzten Jahr war sie immer seltener draußen gewesen, bis sie schließlich nur noch den Schulweg zurückgelegt und Tante Engrasi sonntags zur Messe begleitet hatte. Die restliche Zeit über war sie im Haus geblieben und hatte gelesen, ihre Hausaufgaben gemacht, der Tante beim Putzen geholfen oder mit ihr zusammen gekocht. Sie hatte jeden Vorwand genutzt, um nicht rauszugehen. Jede Ausrede war willkommen, um sich nicht dem stellen zu müssen, was im Ort passiert war.

Sie sagte immer wieder, dass sie sich nur noch daran erinnerte, den Baum angesehen zu haben, und ihr sonst nichts im Gedächtnis geblieben wäre, wobei das nicht ganz stimmte. Denn in ihrer Erinnerung sah sie zwar den Baum, aber auch das Gewitter … und das Haus mitten im Wald.

Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte ihr Vater neben dem Krankenhausbett gesessen, in dem sie lag. Sein Gesicht war bleich gewesen, das nasse Haar klebte ihm an der Stirn, und die Augen waren vom Weinen gerötet. Beschützend hatte er sich zu ihr heruntergebeugt, mit besorgter Miene, in der sich aber allmählich Erleichterung zeigte. Ihr kamen fast die Tränen vor Rührung. Sie liebte ihren Vater über alles.

Doch in dem Moment, als sie ihm dies sagen wollte, spürte sie die leichte Berührung seiner warmen Lippen, während er ihr etwas ins Ohr flüsterte: »Amaia, erzähl niemandem davon. Tu es für mich. Erzähl es nicht.«

Die Worte, mit denen sie ihm hatte sagen wollen, wie sehr sie ihn liebte, erstarben in ihr. Unfähig, auch nur einen Laut herauszubringen, nickte sie. Sie versprach zu schweigen, dieses letzte Geheimnis für sich zu behalten. Es war der Grund dafür, dass sie aufhörte, ihn zu lieben.

ERSTER TEIL

Ein Komponist denkt die ganze Zeit über an sein unvollendetes Werk.

Strawinsky

Die Toten tun, was sie können.

Engrasi Salazar

1 Albert und Martin

Brooksville, Oklahoma

Albert

Albert war elf Jahre alt und eigentlich ein braver Junge, doch am Tag der Morde gehorchte er seinen Eltern nicht. Er tat dies nicht, weil er sich ihnen ständig widersetzte, sondern einfach nur, weil er dachte, dass am Ende doch nichts Schlimmes passieren würde. Der Wetterdienst warnte schon seit Stunden vor einem heftigen Gewittersturm. Kalte und warme Luftmassen prallten aufeinander und würden in Form von Tornados auf die Erde treffen. Allerdings befanden sie sich das ganze Frühjahr schon im ständigen Alarmzustand. Seine Mutter hatte den Fernseher in der Küche auf volle Lautstärke gestellt, obwohl die Nachrichten sich immerzu wiederholten, und wehe, man wagte es, den Ton leiser zu drehen oder auf ein anderes Programm umzuschalten. Seine Eltern nahmen die Sache mit den Tornados sehr ernst, und Albert verstand beim besten Willen nicht, warum. Schließlich war noch nie so ein Monstersturm über sie hinweggefegt.

Doch als er seinen Eltern am Morgen erklärte, er sei mit Tim, dem Sohn der Jones, zum Spielen verabredet, wollten sie ihn nicht gehen lassen. Die Scheune der Jones war vor drei Jahren von einem Tornado zerstört worden, und warum sollte sich das nicht wiederholen?

Sie würden alle zu Hause bleiben und, sobald die Sirene erklang, nach unten in den Schutzraum gehen.

Albert protestierte nicht. Er stellte nach dem Frühstück seine Schüssel in die Spüle und schlich sich durch die Hintertür davon. Als er etwa den halben Weg zur Farm der Jones zurückgelegt hatte, merkte er, dass etwas Seltsames passierte. Die Wolken, die den Himmel schon am frühen Morgen bedeckt hatten, zogen auf einmal rasend schnell über den Himmel; zwischen ihnen blitzte die Sonne hindurch und projizierte ein Spiel aus Licht und Schatten auf die Erde, auf der sich ansonsten nichts rührte. Eine gespenstische Stille lag über den Feldern, nirgends war eine Landmaschine zu sehen, und sogar die Vögel waren verstummt. Er horchte aufmerksam, doch das Einzige, was er hörte, war das Heulen eines Hundes in der Ferne. Oder war es vielleicht gar kein Hund?

Er erreichte die Farm der Jones mit den ersten Windböen. Erschreckt begann er zu rennen, lief die Treppe zur Haustür hinauf und trommelte mit aller Kraft dagegen. Keine Antwort. Er eilte um das Haus herum zur Hintertür, die immer offen war, nur nicht an diesem Tag. Er legte die Hände auf die Scheibe und blickte in die Küche. Niemand da.

Und dann hörte er es. Er trat zwei Schritte zurück und blickte um die Ecke zur Seite des Hauses. Der Tornado raste wie ein wütender Bote der Finsternis, eingehüllt in eine Wolke aus Staub, Nebel und Zerstörung, über die verlassene Wiese heran. Albert verharrte einen Moment in stummer Bewunderung, wie hypnotisiert von der heranstürzenden Macht und erstaunt von der magnetisierenden Gewalt. Der aufwirbelnde Staub trieb ihm die Tränen in die Augen. Panisch suchte er nach einem Ort, wo er sich in Sicherheit bringen konnte.

Die Jones hatten im vorderen Teil der Farm bestimmt einen Schutzraum, aber genau wusste er das nicht, und es war eh zu spät, um dorthin zu gelangen. Also rannte er zum Hühnerstall, wandte unterwegs kurz den Blick zurück auf das heranstürzende Monster und betete, dass die Tür des Stalls nicht abgeschlossen war. Er schob den sperrigen Riegel zurück, stolperte hinein und schloss die Tür von innen. Für einen Moment verharrte er keuchend in der Dunkelheit. Hier drinnen stank es nach Federn und Hühnerkot. Als seine Augen sich an das spärliche Licht, das durch die Ritzen im Holz hereinfiel, gewöhnt hatten, tastete er in seiner Hosentasche nach seinem Asthmaspray. Vor seinem geistigen Auge sah er es zu Hause auf dem Tisch neben dem Fernseher liegen. Während er die aufsteigenden Tränen zurückdrängte, lauschte er auf die draußen tobende Bestie. Hatte sie sich ein wenig beruhigt? Vielleicht entfernte sie sich bereits wieder?

Er legte sich auf den Boden und blickte durch die Luftlöcher zwischen den Holzbrettern nach draußen. Wenn der Tornado für einen Moment die Richtung geändert hatte, dann nur, um noch gewaltiger zurückzukehren. Wie ein lebendes Wesen, das aus all dem bestand, was es auf seinem Weg mit sich riss, kam er über die Wiese heran.

Albert blickte zurück in den Stall, und erst da fielen ihm die Hühner auf, die sich in einer Ecke versammelt hatten. Sie wussten, dass sie sterben würden, und in diesem Moment wusste er es auch. Am ganzen Körper zitternd, stürzte er in der letzten Sekunde, bevor der Tornado die Farm erreichte, auf die Vögel zu und rollte sich zwischen ihnen zusammen. Die zuvor still aufeinander hockenden Hühner stoben mit lautem vorwurfsvollem Gackern auf, das sich beinahe wie panisches menschliches Geschrei anhörte.

Auch Albert schrie. Er schrie voller Angst nach seiner Mutter. Als er sich einen Moment später selbst nicht mehr hören konnte, weil das Brüllen der Bestie draußen alles übertönte, wusste er, dass dies das Ende war. Das Letzte, was er spürte, bevor der Hühnerstall über ihm zusammenbrach, war die Wärme des Urins, der an der Innenseite seiner Schenkel hinunterlief.

Martin

Die Sonne strahlte an einem blauen Himmel, an dem sich nicht eine einzige Wolke zeigte. Martin hielt inne, als er in seinem kurzen, perfekt gekämmten Haar einen Schweißtropfen spürte. Nervös strich er mit der Hand darüber und stellte besorgt fest, dass der Kragen seines Hemdes bereits feucht war.

Mit der Spitze seines glänzenden Schuhs schob er Schutt und gesplittertes Holz zur Seite, um seinen Aktenkoffer abstellen zu können. Dann nahm er ein weißes Stofftaschentuch heraus und wischte sich damit über den Nacken. Während er es wieder zusammenfaltete und einsteckte, begutachtete er sein Äußeres. Die gebügelte Hose und die makellosen Schuhe. Das Jackett war dagegen ein Fehlgriff gewesen. Er hätte wissen können, dass auf einen Tornado stets Hitze folgte, und ein leichteres Kleidungsstück wählen sollen.

So weit das Auge reichte, war alles vollständig zerstört. Nur die kleine rote Scheune stand noch, gleich neben der Treppe, die hinunter in den Schutzraum führte; dorthin hatte sich die Familie Jones geflüchtet. Er griff wieder nach seinem Koffer und ging auf den offen stehenden Eingang des Schutzraums zu. Kurz blieb er noch einmal stehen und atmete den Geruch von dunkler Erde ein, der daraus aufstieg; es roch nach Pilzen, Torf und leicht nach Urin. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Dort war niemand mehr. Also ging Martin auf die Farm zu, oder besser auf das, was von ihr übrig geblieben war.

Albert

Albert kam wieder zu sich. Noch bevor er die Augen öffnete, merkte er, dass er sich nicht bewegen konnte. Er spürte einen heftigen Druck auf der Brust. In der Ferne hörte er die Stimmen der Familie Jones, und er wollte nach ihnen rufen. Doch seine von dem Gewicht der Balken zusammengepresste Lunge erlaubte ihm nur drei Atemzüge, bevor er erneut das Bewusstsein verlor.

Grelles Licht blendete ihn, als er die Augen wieder aufschlug. Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war, und nahm sich vor, diesmal keine Panik zu bekommen, um nicht wieder ohnmächtig zu werden. Nach wie vor konnte er sich nicht bewegen. Ein Teil des Dachs lag auf ihm, aber er schätzte, dass darüber noch etwas anderes war, etwas sehr Schweres. Wahrscheinlich war einer der Stützbalken auf ihn gefallen. Keuchend atmete er durch den Mund. Seine Stirn brannte an der Stelle, wo das gesplitterte Holz seine Haut aufgeschürft hatte, und seine Nase war voller Blut und Rotz. Wahrscheinlich war auch sein linker Fuß gebrochen, denn er spürte darin einen stechenden Schmerz.

Neben seiner rechten Hand entdeckte er ein lebloses Huhn. Er begann zu weinen, aber er wusste, dass er sich zusammenreißen musste, um keinen Asthmaanfall zu bekommen. Mühevoll atmete er durch den Mund ein, wobei er so tief Luft holte, wie das Gewicht auf seiner Brust es zuließ. »Sehr gut, Albert, du machst das prima, Schatz«, hörte er die Stimme seiner Mutter, die ihm bei den Anfällen normalerweise beistand. Als er an sie dachte, stiegen ihm erneut Tränen in die Augen. Er kam sich wie ein kleiner dummer Junge vor.

Wütend auf sich selbst, spannte er den Körper an, der unfreiwillig erbebte. Der Schmerz jagte hinunter bis zu seinem verletzten Fuß. Keuchend verlor er die schwache Kontrolle, der er seinen Atem unterworfen hatte. Also konzentrierte er sich darauf, seine Atemzüge im Kopf mitzuzählen, bis er wieder ruhiger wurde. Anschließend drehte er den Kopf nach rechts und schürfte sich erneut die Stirn auf, als er versuchte, durch die Öffnung zwischen den eingestürzten Brettern zu schauen.

Er war ein Junge vom Land und konnte daher anhand des einfallenden Lichts feststellen, dass es kurz nach Mittag war. Der Tornado hatte sämtliche Wolken weggefegt. Er dachte auch, dass Mr. Jones zum Glück zwei Tage zuvor das Gras gemäht hatte, denn ansonsten hätte er nun den Mann nicht sehen können, der über die Wiese heranschritt. Er wusste sofort, dass es nicht Mr. Jones war. Der Mann hatte ein glänzendes Abzeichen auf der Brust und trug einen Aktenkoffer.

Albert holte tief Luft und versuchte zu schreien, aber es drang nur ein ersticktes, heiseres Krächzen aus seinem Mund. Der Mann wandte kurz den Blick in die Richtung des zerstörten Hühnerstalls. Albert war sich sicher, dass er zu ihm herüberkommen würde, doch in dem Moment kroch das Huhn, das er für tot gehalten hatte, zu der Öffnung zwischen den Brettern, schlüpfte nach draußen auf die Wiese, und der Mann wandte den Blick wieder ab und ging weiter auf die Farm zu.

Albert brach in Tränen aus. Es war ihm egal, ob er dabei erstickte oder nicht. Er war sich sicher, dass er in jedem Fall sterben würde.

Martin

Während er näher kam, drang ein leises verzweifeltes Klagen an sein Ohr. Er hatte es schon Dutzende Male gehört. Dabei kam es gar nicht darauf an, was sie sagten. Alle Menschen, die eine Tragödie überlebten, klangen gleich.

Ein etwa sechzehnjähriges Mädchen zog bunte Tücher aus dem Schutt und schwenkte sie in einer Staubwolke wie Gymnastikbänder durch die Luft, bevor sie sie sich um den Hals legte. Sie war die Erste, die ihn sah, und sie machte ihre Familie auf ihn aufmerksam, indem sie mit dem Finger auf ihn wies.

Die Wiese war von hölzernen Trümmern übersät, und er ging darüber hinweg weiter auf die Farm zu.

Da waren noch zwei weitere Kinder, ein Jugendlicher in etwa demselben Alter wie das Mädchen und ein Junge von vielleicht zwölf Jahren. Der ältere Junge trug ein Shirt mit dem Bild einer Rockgruppe, und der jüngere hatte für einen Jungen etwas zu langes Haar. Mr. Jones hingegen saß weinend auf den Stufen zu dem, was von der Veranda noch übrig war. Martin entdeckte neben ihm auf der Treppe eine Wasserflasche, zwei Schokoriegel und eine Pistole. Mr. Jones hielt sich den Kopf in einer Geste absoluter Hilflosigkeit, während seine alte Mutter, die neben ihm saß, ihn wie ein kleines Kind tröstend in den Armen wiegte.

Ein paar Schritte daneben stand eine Frau von etwa Mitte vierzig und sah Martin fragend entgegen, die jüngere Mrs. Jones, wie er annahm. Sie war eine zierliche, hübsche Frau, deren Haar in einem künstlichen Rotton gefärbt war, der ihr nicht stand, und sie hielt eines von diesen kleinen, dummen Schoßhündchen im Arm, die ununterbrochen winselten.

Martin überprüfte noch einmal, ob das Abzeichen auf seiner Brust gut sichtbar war. Die ganze Familie schien sich zu freuen, ihn zu sehen. Alle hielten in dem inne, was sie gerade taten, und gingen instinktiv auf die Stelle zu, an der sich die Haustür befunden hatte, obwohl der größte Teil der Wand auf dieser Seite nicht mehr vorhanden war.

Mrs. Jones war die Erste, die reagierte. Ohne den Hund abzusetzen, zog sie sich die Bluse zurecht und strich sich leicht durchs Haar, bevor sie die Treppe hinunterging, um Martin mit strahlendem Lächeln zu empfangen.

Auch er lächelte, obwohl er sie abgrundtief dafür hasste, so viel Böses angerichtet zu haben, für all die Korruption und die anderen schrecklichen Dinge, mit denen sie Gott selbst wütend gemacht hatte. Er streckte ihr die Hand entgegen, und noch bevor er die ihre schüttelte, hatte er beschlossen, dass, obwohl er sich eigentlich schon für die Alte entschieden hatte, diesmal sie die Erste sein sollte, die er töten würde.

Albert

Albert hörte die Schreie und die Schüsse. Er riss erschreckt die Augen auf. Womöglich war dies trotz allem ja doch sein Glückstag.

2 Der Bergkauz

FBI-Akademie, Quantico, Virginia

Mittwoch, 24. August 2005

Amaia Salazar rutschte unruhig auf ihrem Stuhl in der zweiten Reihe hin und her. Sie war eine der Ersten gewesen, die den großen Raum betraten, in dem der Vortrag stattfinden würde und der wegen des großen Publikumsandrangs inzwischen aus allen Nähten platzte. Anders als der Unterricht an den vorangegangenen Tagen, der allein den europäischen Polizisten vorbehalten war, war diese Veranstaltung als Master Class angekündigt und allen Agents und Kadetten zugänglich, die daran teilnehmen wollten. Ein paar kühle Blicke reichten aus, um zwei Agents im Anzug und ein paar breit grinsende Kadetten in den typischen blauen Poloshirts davon abzuhalten, sich neben sie zu setzen. Sie hatte keine Lust auf Gesellschaft.

Von allen Themengebieten im Austauschprogramm war der Vortrag von Special Agent Dupree der interessanteste. Und das nicht nur für sie, wie sie aus dem mittlerweile fast überfüllten Raum schloss. Gertha, eine Kommissarin der deutschen Polizei mittleren Alters, grüßte sie und setzte sich neben sie. Sie beide waren die einzigen Frauen in der Gruppe der europäischen Polizisten. Und angesichts der frostigen Begrüßung seitens ihrer männlichen Kollegen war es kein Wunder, dass die Deutsche ihr bisher nicht von der Seite gewichen war. Am Anfang hatte sich Amaia ihr gegenüber eher zurückhaltend gezeigt. Sie mochte Gertha, fand sie sympathisch, aber sie redete für Amaias Geschmack etwas zu viel. An den zwei Tagen während des Frühstücks, des Abendessens und im Flughafenbus hatte sie Amaia praktisch ihr komplettes Leben erzählt.

»Ein Bergkauz«, hatte Gertha zu ihr gesagt.

»Bitte?«

»Ich wette, dass du irgendwo aus den Bergen kommst, genau wie mein Mann, dem man auch jedes Wort aus der Nase ziehen muss.«

»Tatsächlich bin ich eigentlich im Tal zu Hause.«

Sie hatten gelacht, und Gertha hatte ihr in den letzten vier Tagen wesentlich mehr als nur ein paar Worte aus der Nase gezogen. Möglicherweise weil es einem leichter fiel, sich jemandem anzuvertrauen, den man vielleicht niemals mehr sehen würde, oder weil Gertha Schneider nicht nur reden, sondern auch zuhören konnte.

Gertha leitete in Deutschland eine fünfundvierzigköpfige Mordkommission, von denen achtunddreißig Mitglieder männlich waren. Sie hatte ganz schön kämpfen müssen, um sich den nötigen Respekt zu verdienen, und trat dennoch jedem erst einmal vorurteilsfrei entgegen.

Doch bevor Gertha nun das Wort ergreifen konnte, setzte sich ein Mann im Anzug neben Amaia.

»Subinspectora, ich habe Sie überall gesucht. Ich dachte, Sie wären mit den anderen im Gemeinschaftsraum.« Er untermalte den scheinbaren Vorwurf mit einem Lächeln, das vielleicht ein wenig zu lange andauerte.

Emerson sollte sie während der Zeit an der Akademie unterstützen; seine Aufgabe war es, sie durch die Gebäude zu führen, ihr bei den Schulungen zu helfen, sie den verschiedenen Ausbildern vorzustellen und ihr über sein Passwort den Zugriff auf die Daten zu ermöglichen, die die Kursteilnehmer brauchten, um die technischen Übungen zu absolvieren. Und hin und wieder schmiss er sich ein bisschen an sie ran.

»Ja, na ja«, entgegnete Amaia, »ich bin etwas früher hier erschienen, weil ich einen guten Platz ergattern wollte. Dieser Vortrag interessiert mich ganz besonders.«

»Da sind Sie nicht die Einzige«, stellte Emerson fest und sah sich im Saal um. »Agent Dupree weiß sein Publikum zu begeistern. Haben Sie ihn schon mal gehört? Kennen Sie ihn?«

»Ich habe schon mal einen Vortrag von ihm besucht, vor drei Jahren am Loyola College in Boston, als ich dort studiert habe. Ich hab Schlange gestanden, um mir das Programm von ihm signieren zu lassen, und habe ihm die Hand geschüttelt, das ist alles. Im Programm unseres Kurses steht, dass Agent Dupree das nächste Seminar halten wird, und ich möchte gut vorbereitet sein.«

Emerson lächelte angeberisch und zog eine Augenbraue hoch.

»Wissen Sie etwas, was ich nicht weiß?«, fragte sie in dem Bewusstsein, dass er es unbedingt erzählen wollte.

»Agent Dupree hat seine eigenen Methoden«, antwortete er. »Ein Seminar zu halten bedeutet bei ihm nicht das Gleiche wie bei anderen. Er ist der Leiter einer Einsatzgruppe und kein Lehrer. Hin und wieder hält er einen Vortrag oder veröffentlicht einen Artikel. Dass er sich bereiterklärt hat, an der Ausbildung der Europol-Gruppe mitzuwirken, ist eine Ausnahme.«

»Sie arbeiten mit ihm, stimmt’s?«

»Nicht wirklich.« Man merkte, dass es Emerson schwerfiel, das zuzugeben. »Manchmal begleite ich ihn, wenn er unterwegs ist. Ich würde mich freuen, wenn das zur Gewohnheit würde, und ich halte das in Zukunft durchaus für möglich. Ich gehöre zum communications support team von Agent Stella Tucker, die ihrerseits zu Duprees Team gehört. Man könnte also sagen, dass ich indirekt für ihn arbeite. Das Feld der Verhaltensanalyse umfasst viele Bereiche. Die Einsatzgruppen werden mit Agents aus dem kriminalistischen Bereich gebildet, aber es gibt viele andere Aspekte, die bei den Ermittlungen eine Rolle spielen und hier vor Ort durchgeführt werden, zur Unterstützung der Kollegen, die draußen die Bösen jagen.«

Er sagte »die Bösen«, als spräche er mit einem kleinen Mädchen, und untermalte das Ganze mit einem weiteren übertriebenen Lächeln. Als er merkte, dass er damit nicht das gewünschte Ergebnis erzielte, fuhr er in professionellem Ton fort.

»Wir Ermittler hier können von allen drei Einsatzgruppen herangezogen werden. Klar, ich bin auf Datenanalyse spezialisiert. Das hört sich vielleicht nicht so berauschend an, ist bei einer Ermittlung aber von zentraler Bedeutung.«

Im Saal ging das Licht aus, und zeitgleich erstarben die Gespräche im Publikum. Dafür wurde das Rednerpult in der Mitte des Vortragsbereichs von einem hellen Strahl erleuchtet.

Agent Dupree kam von der rechten Seite und stellte sich ins Licht. Er war ein schlanker, eleganter Mann. Das kurz geschnittene und akkurat gekämmte dunkle Haar erinnerte Amaia an einen Soldaten in früheren Zeiten. Zum tadellosen marineblauen Anzug trug er ein weißes Hemd und eine dazu passende Krawatte und war sorgfältig rasiert.

Laut der kurzen Vita im Programm war Dupree vierundvierzig Jahre alt, hatte im Bundesstaat Louisiana das Licht der Welt erblickt und verfügte über eine breit gefächerte Ausbildung in den Bereichen Recht, Wirtschaft, Kunstgeschichte, Psychologie und Kriminologie. Seit einem Jahr leitete er eine der drei Arbeitsgruppen, die in der Behavioral Science Unit, der Abteilung für Verhaltensforschung des FBI, für den Bereich Feldforschung zuständig waren.

Dupree ließ den Blick über das gesamte Publikum schweifen. Dann tippte er aufs Mikrofon, und das dumpfe Geräusch aus den Lautsprechern zeigte an, dass es eingeschaltet war. Er beugte sich leicht über das Rednerpult, hob den Blick und richtete sich an eine unsichtbare Person hinten im Publikumsbereich.

»Bitte, könnten Sie die Zuhörer ein wenig beleuchten? Wenn ich niemanden sehe, habe ich das Gefühl, mit mir selbst zu reden.« Er lächelte. »Und das kommt oft genug vor.«

Der launige Kommentar ließ ihn sofort sympathisch wirken, und die Stimmung war gleich wesentlich entspannter, als das Licht hell genug war, dass Agent Dupree sein Publikum sehen konnte.

Er ließ noch einmal den Blick über die Anwesenden schweifen, als ob er jemanden suche. Als er Amaia entdeckte, sah er sie für ein paar Sekunden an, dann richtete er den Blick wieder aufs Rednerpult.

Es war nur ein Moment gewesen. Amaia sagte sich, dass er wahrscheinlich jemanden hinter ihr angeschaut hatte, und bemerkte im selben Augenblick, dass Agent Emerson sie beobachtete. Er hatte es ebenfalls bemerkt.

Dupree wandte sich ans Publikum und begann zu sprechen.

»Sie alle wissen, wie wichtig es ist, eine viktimologische Analyse zu erstellen, die es uns erlaubt, über das Opferprofil eines Täters den Täterkreis einzugrenzen. Heute jedoch werde ich über die Erstellung von Registern potenzieller Opfer reden, mit denen man herausfinden kann, ob man es mit einem Serientäter zu tun hat oder nicht. Wir werden unsere Aufmerksamkeit zunächst dem gewählten Opfertyp widmen, und zwar bereits bevor sich herausstellt, ob er überhaupt existiert.«

Eine Art kollektives Seufzen ging durch den Raum. Duprees Blick fiel erneut auf Amaia. Als er dann weitersprach, schien jedes seiner Worte an sie gerichtet zu sein.

»Im Allgemeinen geht man davon aus, dass die Tat eines Serienmörders dazu dient, den eigenen Schmerz zum Schweigen zu bringen, denn oft ist er selbst Opfer gewesen, bevor er zum Täter wurde. Doch von allen Hypothesen ist die gefährlichste, dass alle Mörder im Grunde geschnappt und festgenommen werden wollen und ihre Straftaten nichts anderes sind als der verzweifelte Versuch, die Aufmerksamkeit auf das eigene Leiden zu lenken, denn natürlich trifft das nicht auf geistesgestörte Mörder zu.«

Agent Dupree machte eine Pause und wandte sich wieder an das gesamte Publikum. »Diese Hypothese geht davon aus, dass die Brutalität und die Grausamkeit der Tat nur dazu dienen, Aufmerksamkeit zu erregen. Dass der Täter nicht mit dem Morden aufhören kann, weil er damit endlich eine Möglichkeit gefunden hat, etwas zu sein, jemand zu sein, wichtig zu sein. Das ist eine rein ichbezogene Sicht auf sich selbst, und in seiner wahnhaften Absicht, als Täter erkannt zu werden, geht dieser dann auch so weit, dass er schließlich gefasst wird. Aber Vorsicht, denn derartige Annahmen sind der größte Feind des Ermittlers, und es ist offensichtlich, dass nicht alle Serienmörder zwanghaft und unorganisiert handeln. Tatsächlich sind sich einige von ihnen ihrer ›Besonderheiten‹ durchaus bewusst und greifen zu einer List, um den Ermittler in die Irre zu führen, indem sie sich bei der Ausübung der Tat in ihn hineinversetzen und dementsprechend den Tatort präparieren oder falsche Spuren legen. Damit wollen sie dem Ermittler vorgaukeln, es mit einem anderen Tätertypus zu tun zu haben, als es tatsächlich der Fall ist. Ein solcher Mörder ist in der Lage, seine makabren Verbrechen unerkannt über Jahre zu begehen, indem er sämtliche Spuren oder auch die Leichen beseitigt, damit es den Anschein hat, seine Opfer wären untergetaucht, vor etwas auf der Flucht, hätten einen Unfall gehabt oder Selbstmord begangen. Dafür wählt er Opfer, die von ihrem Profil her höchst gefährdet sind, Menschen, deren Verschwinden entweder unbemerkt bleibt oder kein Misstrauen erregt, weil sie aus irgendwelchen Gründen am Rande der Gesellschaft leben: Drogenabhängige, Prostituierte, Obdachlose, illegale oder geduldete Einwanderer. Ein solcher Verbrecher wählt seine Opfer ganz genau aus und weiß, dass derartige Menschen oft ihren Aufenthaltsort wechseln. Dies trifft besonders auf unser Land zu, dessen Größe die Ermittlungen erschwert. Aber«, fügte Dupree, an die linke Seite des Raums gerichtet, hinzu, wo Amaia und ihre europäischen Kollegen saßen, »Sie in Europa befinden sich durch die offenen Grenzen innerhalb der EU in einer ähnlichen Situation. Dieser Mördertyp hat absolut nicht die Absicht, gefasst zu werden, und er ist in der Lage, sein ganzes Leben lang die Rolle des braven Bürgers zu spielen, da er es nicht darauf abzielt, berühmt zu werden, weil er seinen Platz in der Welt bereits gefunden hat.«

Dupree sah Amaia eindringlich an, als er fortfuhr: »Seine Befriedigung und das Gefühl von Macht verschafft er sich dadurch, dass wir wie beim Teufel glauben, dass er nicht existiert.« Er lächelte, und das Publikum tat es ihm nach.

Amaia versuchte, Agent Emersons Blick zu ignorieren, aber es war unmöglich, Gertha zu überhören, die sich zu ihr hinüberbeugte und ihr zuflüsterte: »Das hat er zu dir gesagt.«

Dupree wandte sich wieder ans gesamte Publikum. »Ein Mordermittler ist darauf gedrillt, Unstimmigkeiten zu erkennen und die üblichen Motive im Blick zu haben: Eifersucht, Sex, Drogen, Geld, Erbschaft, Erpressung. Serientäter sind dabei jedoch ein Ausnahmefall, da ihr Lohn psychologischer Art ist. Deshalb ist es so wichtig, herauszufinden, auf welche Art und Weise sich unser Täter belohnt, um zu verstehen, welche Bedürfnisse er befriedigt. Das Ziel dieses Vortrags und der anschließenden Übungen in Ihren Ausbildungslehrgängen ist die Eruierung allgemeiner und unstimmiger Elemente im Umfeld eines Opfertyps in der Art und Weise, wie die Leiche entsorgt oder präsentiert wird, was darauf hinweist, dass sich hinter dem, was wie ein Selbstmord oder ein Unfall aussieht, möglicherweise ein Mord oder sogar eine Mordserie verbirgt. Und wie können wir Mörder studieren, die wir noch nicht fassen konnten? Wie können wir eine Datenbasis schaffen, wenn uns die Daten nicht bekannt sind? Wie können wir das Verhalten eines Gespenstes studieren, eines Wilderers, der seinen Lohn daraus bezieht, dass seine Existenz uns nicht bekannt ist?« Dupree machte erneut eine Pause.

»Mithilfe der Viktimologie«, flüsterte Amaia.

»Mithilfe der Viktimologie«, fuhr Dupree beinahe im selben Moment fort. »Der Erstellung von Opferprofilen, aber auch der Profile von potenziellen Opfern, von verschwundenen oder scheinbar untergetauchten Menschen, von Leuten, die auf einmal spurlos weg sind. In einem solchen Fall wird die Viktimologie zu einer abstrakten Wissenschaft, in der die Intuition des Ermittlers eine zentrale Rolle spielt, um festzustellen, ob es sich in Wirklichkeit um das Opfer eines Verbrechens handelt. Dabei kommen Aspekte zum Tragen wie das physische und das psychologische Profil des mutmaßlichen Opfers, seine gesellschaftliche Stellung, Charakterzüge, persönliche Schwächen und Neigungen und natürlich auch auffällige äußerliche und körperliche Besonderheiten. Zu welcher Familie das mögliche Opfer gehört, seine Krankheiten und Pathologien, die medizinische Vorgeschichte und jedwede Information über sein Verhalten, seine Persönlichkeit, seine Geschmäcker, seine Affinitäten. Zweifellos können die Arbeiten, die der Ermittler durchführen muss, wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass es sich um das Opfer eines Verbrechens handelt, egal, ob eine Leiche vorhanden ist oder nicht, mühselig sein, und wir wissen, dass unser Gedächtnis uns täuschen und uns verwirren kann. Deshalb ist es von größter Wichtigkeit, sämtliche Elemente genau zu dokumentieren, um eine Datenbasis zu schaffen, auf die wir zurückgreifen können, damit es in unserem Gehirn klick macht, wenn ein weiteres mögliches Opfer auftaucht oder verschwindet, das die gleichen Züge aufweist wie die uns bereits bekannten.«

Agent Dupree drückte auf einen Knopf am Rednerpult, und auf der Leinwand hinter ihm erschien das Gesicht eines jungen Mannes im Anzug mit ansprechendem Erscheinungsbild, abgesehen davon, dass er sehr dünn war. Das Schwarz-Weiß-Foto schien aus einer alten Zeitung zu stammen.

»In den 1980er-Jahren begann der englische Ermittler Noah Scott Sherrington bei Scotland Yard mit der Erstellung einer Datenbasis zu potenziellen Opfern auf der Grundlage des Profils von angeblich aus ihrer Familie geflohenen, untergetauchten oder anderweitig verschwundenen Frauen. Besonders bemerkenswert dabei ist, dass Inspector Sherrington keine Leichen oder irgendwelche anderen sterblichen Überreste hatte, die die Annahme untermauerten, dass die Verschwundenen nicht mehr lebten, und genauso wenig über irgendwelche Hinweise darauf, dass es eine Entführung gegeben hatte oder dass eine der Frauen nicht freiwillig untergetaucht war. Wenn Sie sich später das Dossier ansehen, das Sie nach diesem Vortrag erhalten, werden Sie feststellen, dass sich Sherrington auf eine Küstenregion mit einer hohen Anzahl Arbeitsloser und einem unangenehmen Klima konzentriert hat. In den Achtzigern war die Chance, in London zum Popstar zu werden, wesentlich größer als die, eine Anstellung in der dortigen Konservenfabrik zu finden, was dazu führte, dass viele Jugendliche die Gegend verließen. Und die Facharbeiter, die nur eine kurze Zeit dort blieben, schienen vielen der jungen Frauen eine gute Gelegenheit, sich einen Ehemann zu angeln, um ihrer Heimat den Rücken kehren zu können.

Die Erstellung dieser Datenbasis anhand der Profile der Frauen erlaubte Scott Sherrington, eine Art Landkarte des Verbrechens zu erarbeiten. In den folgenden Jahren konnte er dann einige Namen auf der Liste der verschwundenen Frauen streichen, weil sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu Hause oder an einem anderen Ort auftauchten. Doch nach und nach konkretisierten sich seine ›Landkarte‹ und das Opferprofil in alarmierendem Maße.

Inspector Scott Sherrington ist im Bereich der Viktimologie ein Vorbild für alle Ermittler auf der ganzen Welt, denn er führte die Möglichkeit ein, auf der Basis des Profils potenzieller Opfer das Vorhandensein eines Mörders nachzuweisen. An diesem Punkt angekommen, begann er auf die allgemein bekannte Art und Weise zu ermitteln – Zeugensuche, Rekonstruktion der letzten Stunden der Opfer vor ihrem Verschwinden und Festlegung der Profile –, bis er in der Lage war, mit einer kaum vorhandenen Fehlerquote die Frauen herauszufiltern, die von zu Hause geflohen oder aus anderen Gründen aus freiem Entschluss untergetaucht waren. Natürlich erhielten Sherringtons Theorien damals nicht so viel Unterstützung, wie es heute der Fall ist.«

Dupree richtete den Blick erneut auf Amaia, was diesmal dazu führte, dass einige Agents sich zu ihr umdrehten.

»Seinem Instinkt folgend, konnte Sherrington den Kreis der Verdächtigen auf zwei mögliche Täter reduzieren, wenn er dies auch als ›Eingebung‹ bezeichnete«, betonte Dupree.

»Eine Eingebung«, flüsterte Amaia, der plötzlich klar wurde, worin die Verbindung zwischen ihr und Duprees Vortrag bestand. Denn vor gerade mal sechs Monaten hatte sie, kurz nachdem sie zur Subinspectora der Policía Foral – der autonomen Polizei der Region Navarra – befördert worden war, von ihrer Vorgängerin einen Fall übernommen, in dem es um das Verschwinden einer jungen Krankenschwester ging, die im Krankenhaus gerade ein Praktikum begonnen hatte. Die vorherigen Ermittler hatten den engsten Kreis der Frau gründlich unter die Lupe genommen und waren kurz davor, den Fall als »freiwilliges Verschwinden« abzuschließen. Allerdings hatte die Mutter der jungen Frau keine Ruhe gegeben, war immer wieder im Kommissariat erschienen und hatte mit ihren Auftritten im Fernsehen und in der Presse für einigen Wirbel gesorgt. Der Fall war nicht gerade als Willkommensgeschenk für Amaia gedacht gewesen, sondern es war darum gegangen, ihn endlich abzuschließen und Ruhe zu haben, doch sie hatte sich voller Enthusiasmus an die Arbeit gemacht. Sie war sämtliche Daten der Ermittlungen noch einmal durchgegangen und hatte sich sofort auf einen Arzt des Krankenhauses konzentriert.

Bei der vorangegangenen Ermittlung war er nicht mal als verdächtig eingestuft worden, sondern hatte nur als Zeuge ausgesagt, da mehrere Kollegen der jungen Frau angegeben hatten, ihn im Gespräch mit ihr gesehen zu haben. Er war als Verdächtiger gleich ausgeschlossen worden, weil keine Verbindung zwischen den beiden hergestellt werden konnte, hauptsächlich aber wegen des untadeligen Rufs des Arztes: Er war ein vielversprechender Chirurg und stammte aus einer angesehenen Medizinerfamilie in Pamplona.

Amaia erinnerte sich noch genau an die Worte des Comisario, als sie ihm von ihrem Verdacht berichtet hatte. »Ich kenne diese Familie. Das ist ausgeschlossen!«, hatte er mit ernster, respektvoller Miene gesagt und damit deutlich gemacht, dass er Amaias Argumente für lächerlich hielt.

Daraufhin hatte sie ihren Verdacht nicht mehr erwähnt, sondern war, nachdem sie dem vielversprechenden Chirurgen mehrere Wochen auch in ihrer Freizeit gefolgt war, auf den Ort gestoßen, wo er die junge Frau als Sexsklavin gefangen gehalten hatte. Und sie war nicht die erste. Seine Verhaftung führte dazu, dass das plötzliche Verschwinden von zwei weiteren Frauen aufgeklärt werden konnte. Als Amaia in ihrem Bericht hatte erklären müssen, was diesen Mann für sie verdächtig gemacht hatte, konnte sie dies nicht wirklich erklären, sondern hatte es als Eingebung bezeichnet.

»Scott Sherrington hatte also eine Eingebung«, fuhr Dupree fort. »Mehrere Wochen lang beschattete er abwechselnd die beiden Männer, auf die sich sein Verdacht konzentrierte. In einer Nacht, während eines heftigen Gewitters, als er nach der Beschattung des einen zurück nach Hause fuhr, hielt er an einer Ampel, sah den zweiten Verdächtigen und beschloss, ihm zu folgen, ohne zu wissen, dass er den Richtigen erwischt hatte und in dieser Nacht zusehen würde, wie sich der Mann seiner Opfer entledigte. Was er nach dem Mord mit den Leichen machte, war das Einzige, was Scott Sherrington im Laufe seiner Ermittlungen nicht herausgefunden hatte, obwohl wir, als wir später seine Notizen durchgegangen sind, überrascht von seinen brillanten Schlussfolgerungen waren.

Wie ich bereits gesagt habe, war leider niemand bereit gewesen, den Inspector zu unterstützen oder ihm auch nur zuzuhören. Und das Gebiet, wo der Täter seine Opfer verschwinden ließ, war sehr groß, und die Eintönigkeit der Landschaft erschwerte es zusätzlich, das Versteck zu finden. Das führte dazu, dass der Inspector mitten in der Nacht, während eines Gewitters, auf unwegsamem Gelände ganz allein versuchte, den Täter zu überführen, während dieser die Leiche einer jungen Frau, die perfekt in Scott Sherringtons Profil passte, verschwinden lassen wollte. Die Überraschung, das Monster gefunden zu haben, die körperliche Überlegenheit des Mörders und eine bis dahin unbekannte Herzschwäche des Inspectors führten dazu, dass er im Kampf mit dem Täter einen Herzinfarkt erlitt.

Scott Sherrington wurde am nächsten Morgen von zwei Jägern gefunden, die ihn ins Krankenhaus brachten. Während einer riskanten Herzoperation konnte sein Leben gerettet werden. Doch als der Inspector wieder bei Bewusstsein war, war der Mörder geflohen. Dank Sherringtons Ermittlungen war es jedoch möglich, seine Verbrechen zu rekonstruieren und die Leichen von neun seiner Opfer zu finden.

Die Datenbasis, die Scott Sherrington erstellt hat, dient noch heute als beispielhaft und hervorragendes Lehrstück dafür, wie die Viktimologie anzuwenden ist, egal, ob das Verbrechen offensichtlich ist oder ob der Mörder Maßnahmen ergriffen hat, um es wie Selbstmord oder einen Unfall aussehen zu lassen. Inspector Sherrington konnte seinen Beruf wegen seiner Herzkrankheit leider nicht mehr ausüben.«

Dupree ließ den Blick durch den ganzen Raum schweifen.

»Agents, Kadetten, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Die Gäste aus dem Ausland unter Ihnen werden von den Agents, die mit Ihrer Unterstützung betraut sind, das komplette Dossier mit den Ermittlungen Scott Sherringtons erhalten sowie eine Darstellung der Grundlagen der Viktimologie hinsichtlich Verhaltens- und geografischer Profile. Beschäftigen Sie sich damit, denn das wird das Thema des nächsten Seminars sein. Der Vortrag ist hiermit beendet.«

Special Agent Dupree verließ das Podium auf dem gleichen Weg, wie er gekommen war. Das Publikum verharrte einen Moment schweigend, bis das Licht, das Dupree erbeten hatte, heller wurde und die Leute blendete.

Amaia erhob sich, blieb jedoch noch einen Moment stehen, den Blick auf das Rednerpult gerichtet, das Dupree gerade verlassen hatte, und vermisste auf einmal jene unerklärliche Aufmerksamkeit, die sie beunruhigt, ihr aber vor allem auf seltsame Art geschmeichelt hatte.

Die deutsche Kollegin klopfte ihr auf die Schulter und sagte: »Na, dem bist du aber ins Auge gefallen!«

Und während sie noch in Gedanken war, hörte sie auch Emerson, der sagte: »Aber hallo, Subinspectora Salazar! Wie es aussieht, haben Sie den Chef ganz schön beeindruckt.« In seinem Tonfall schwang eine Nuance ungesunder Rivalität mit.

Amaia richtete den Blick auf ihn, als wäre sie gerade aus einer Trance aufgewacht. Etwas in ihm hatte sich verändert. Bisher hatte er seine Aufgabe beinahe überkorrekt erfüllt. Als er ihr am Tag ihrer Ankunft als Mentor zugeteilt wurde, war sie sich sicher gewesen, bei ihm eine gewisse Verärgerung wahrzunehmen, die sie der Tatsache zugeschoben hatte, dass er unter all den Männern eine Frau erwischt hatte. Wobei es ihn zu entschädigen schien, dass sie diejenige war, die in allen Bereichen die höchste Punktzahl erzielte; das reichte aus, um seine Laune deutlich zu verbessern, woraus Amaia geschlossen hatte, dass er einer jener extrem rivalisierenden Menschen war, die nicht verlieren konnten. Hin und wieder hatte sie auch den Eindruck, dass er versuchte, sie zu verführen, indem er sein Lächeln mit den übermäßig gebleichten Zähnen mit einem eindringlichen Blick in ihre Augen kombinierte. Doch jetzt hatte er einen strengen Zug um die Lippen, reckte das Kinn vor und wirkte wie ein aufgeplusterter Pfau.

Amaia berührte ihn leicht an der Schulter und schob ihn aus dem Weg. Daraufhin wirkte er so irritiert und beleidigt, als hätte sie ihn mit vorgehaltener Waffe zurückgedrängt. Sie ging um die Agents herum, die zwischen den Stuhlreihen standen, um sich zu unterhalten, und auf die Tür seitlich des Vortragsbereiches zu, durch die sie den Raum verließ.

In ihrem Rücken konnte sie hören, wie Emerson sagte: »Salazar, Sie können jetzt nicht weggehen! In einer Viertelstunde beginnt das Seminar in Raum drei auf der anderen Seite des Gebäudes. Die Zeit reicht gerade mal, um pünktlich hinzukommen.«

Er eilte ihr im Gang hinterher und erreichte sie genau in dem Moment, als die Tür zum Vortragsbereich geöffnet wurde. Dupree verließ in Begleitung eines weiblichen Agents den Raum. Eine Gruppe Männer, die im Gang auf ihn warteten, umringte ihn, um ihn zu begrüßen und mit Komplimenten zu bestürmen, während sie durch den Gang schritten.

Amaia hob eine Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. »Agent Dupree, Entschuldigung.«

Dupree wandte sich um, sah sie gleichgültig an und nickte grüßend zu Emerson hinüber, der direkt hinter ihr stand.

»Agent Emerson«, sagte er, drehte sich wieder um und ging, von seinen Kollegen umringt, davon.

Wie erstarrt blickte Amaia ihm hinterher. Und es war ihr egal, dass Emerson hörte, wie sie sagte: »Verdammtes eingebildetes Arschloch!«

3 Der Plan des Windes

FBI-Akademie, Quantico, Virginia

Als sie zum Unterrichtsraum kamen, hatte man dort bereits das Licht abgedimmt. Emerson blieb vor der Tür stehen und ging dann, ohne sich von Amaia zu verabschieden, durch den Gang zurück, durch den sie gekommen waren. Im Inneren des Raums wütete ein Unwetter. Auf der Leinwand hinten im Saal lief ein Video, in dem zu sehen war, wie ein brüllender Sturm Dächer mit sich riss. Elektroleitungen lagen am Boden, und schäumende Wellen überschwemmten das Land.

Um nicht durch das Bild zu laufen und möglichst wenig aufzufallen, huschte Amaia auf der Suche nach dem nächsten freien Platz im Halbdunkel tief gebückt durch den Raum. Dem Video folgte ein weiteres, dann wurde eine Reihe von Fotos gezeigt, auf denen die Auswirkungen diverser Naturkatastrophen – Zyklone, Taifune, Orkane – zu sehen waren. Einige Bilder waren aus der Luft aufgenommen, und sie schienen alle aus den Nachrichten oder von den Titelseiten verschiedener Zeitungen zu stammen.

»Naturkatastrophen«, sagte eine Frau im Hintergrund, und Amaia erkannte die nasale Stimme von Agent Tucker. Auch wenn sie sie nicht erkennen konnte, sah Amaia sie im Geiste deutlich vor sich. Tucker war eine Afroamerikanerin um die fünfzig mit einem bildschönen Gesicht. Sie trug das Haar so kurz wie ein Marinesoldat, vielleicht als Gegengewicht zu ihrem fülligen Körper, der sie kleiner wirken ließ, als sie war.

Sie gehörte zur Einsatzgruppe von Agent Dupree und war verantwortlich für die Medienkommunikation, für Familien und Opfer und war nach Dupree selbst der dienstälteste Agent der Truppe. Drei Tage zuvor hatte sie ein Seminar zum Thema Internetkriminalität gegeben, und als Amaia nun erneut Tuckers Stimme hörte, wurde ihr klar, was Emerson gemeint hatte, als er sagte, dass Dupree seine eigene Art habe, die Dinge in die Hand zu nehmen. Der Special Agent hatte offenbar nicht vor, selbst zum Seminar zu erscheinen.

Sie seufzte und zwang sich, Tucker zuzuhören, die weiterhin unsichtbar in der Dunkelheit sprach.

»Sie hinterlassen Dutzende Opfer, Tote und viele Verletzte, und es gibt genaue Handlungsvorschriften, um so schnell wie möglich Überlebende zu bergen und die Verbreitung von Krankheiten durch verwesende Leichen zu verhindern. Das bedeutet für alle an Rettung und Untersuchungen Beteiligten, schnell und effizient zu agieren. Ich spreche von Szenarien, in denen das absolute Chaos herrscht, in denen man leicht den Überblick verliert und Hinweise auf ein Verbrechen übersieht. Ich spreche von verstümmelten oder ausgeweideten Leichen, die in Bäumen hängen und denen in den meisten Fällen die Gewalt des Sturms sogar die Kleidung vom Leib gerissen hat. Auf Ihren Tischen liegt ein Dossier mit den Unterlagen zur nächsten Übung. Darin finden Sie alle Details, die ich nun kurz zusammenfassen werde.

Im letzten Frühjahr war es im März so warm wie selten zuvor, und einige Regionen unseres Landes wurden von mehreren Tornados und heftigen Gewittern heimgesucht. Einer der schlimmsten Tornados verursachte in einem kleinen Ort in der Nähe von Killeen in Texas verheerenden Vieh- und Flurschaden und forderte auch menschliche Opfer, darunter die Familie Mason. Eine komplette Familie: Vater, Mutter, drei Kinder im jugendlichen Alter und die alte Großmutter, die bei ihnen lebte.«

Auf der großen Leinwand waren Fotos von einer typischen texanischen Farm zu sehen. Die lächelnd in der Tür ihres Farmhauses posierende Familie vor der Katastrophe und wie es dort anschließend ausgesehen hatte. Letztere Bilder waren von schlechter Qualität und wahrscheinlich von einem Assistenten mit wenig Erfahrung gemacht worden. Es waren keine Markierungen oder Hinweise zu sehen. Nur wenige Verletzungen waren aus der Nähe fotografiert, doch auch diese Aufnahmen waren unscharf. Einige Bilder vom gesamten Schauplatz der Katastrophe hingegen waren ganz passabel.

Die Leichen lagen nicht weit voneinander entfernt, was darauf schließen ließ, dass sich die Familie in dem Moment, als das Dach und Teile der Wände weggerissen worden waren, in einem Raum aufgehalten hatte. Amaia stellte sich vor, wie sie sich umarmt und gegenseitig Mut zugesprochen hatten. Die Opfer waren zum Teil von Schutt, Brettern und ein paar schweren Möbelstücken bedeckt, wie sie auf amerikanischen Farmen typisch waren.

Tucker fuhr fort. »Die im Fall von Naturkatastrophen vorgeschriebene Eile, die Toten zu beerdigen, und der Umstand, dass die Todesursache zunächst eindeutig erschien, sorgten dafür, dass die Totenscheine sofort ausgestellt wurden und es keine Autopsien gab. Nur wenige Monate später sorgten die aus Kanada herüberziehenden kalten Luftströme und die warme Luft über dem Golf von Mexiko für mehrere Gewitter mit Superzellen, die zahlreiche Tornados hervorriefen. Eine dieser Superzellen entlud sich mit voller Kraft im Korridor von Oklahoma, und der daraus entstandene Tornado zerstörte die Farm der Familie Jones in der Umgebung von Brooksville.«

Erneut war auf der Leinwand eine hübsche Farm zu sehen, diesmal aus der Luft aufgenommen, gefolgt von einem Foto von Chaos und Verwüstung.

»Die Familie Jones wurde tot auf ihrer Farm aufgefunden. Der Vater, dessen alte Mutter, die ebenfalls dort lebte, die Ehefrau und die drei Kinder. Vom Geschlecht und Alter her alle sehr ähnlich den Mitgliedern der Familie Mason.«

Die Fotos mit der Gesamtansicht glichen den vorherigen so sehr, dass man sie hätte übereinanderlegen können. Die Übereinstimmungen waren geradezu verblüffend: Die Leichen lagen sehr dicht beieinander, und die Toten waren zum Teil mit Staub, Schutt und ein paar Möbeln bedeckt.

Agent Tucker nahm zufrieden das Murmeln unter den europäischen Kollegen zur Kenntnis. Diesmal waren die Bilder sehr gut; selbst mit ungeübtem Auge war zu erkennen, dass sie diesmal von einem Gerichtsmediziner aufgenommen worden waren.

»Wäre man hier genauso verfahren wie in dem anderen Fall, wären auch diese Toten von den Ermittlern nicht weiter beachtet worden. Sämtliche Familienmitglieder befanden sich in dem Raum, der das Wohnzimmer gewesen war, und ihre Leichen wiesen kaum Verletzungen am Körper auf, dafür aber umso heftigere Wunden am Kopf, die von den Balken, Planken oder Möbeln zu stammen schienen, die sie unter sich begraben hatten.«

Der Kollege von der französischen Police nationale, der neben Amaia saß, unterbrach den Vortrag: »Die beiden Szenarien sind sich sehr ähnlich. Wenn im ersten Fall der Polizei nichts Ungewöhnliches aufgefallen ist, wie Sie sagen, und angesichts der schlechten Qualität der Fotos gehe ich davon aus, dass das FBI nicht ermittelt hat. Wie kam es dazu, dass die Bundespolizei bei dem anderen Fall eingeschaltet wurde?«

Agent Tucker wartete ein paar Sekunden, bis sie sich sicher sein konnte, die volle Aufmerksamkeit der Zuhörer zu haben. »Ein Zeuge«, sagte sie leise, aber gut hörbar in der Dunkelheit im hinteren Bereich des Raums.

Amaia lächelte. Diese Frau beherrschte alle Tricks, um sich das Interesse des Publikums zu sichern.

»Ein Junge von elf Jahren, der mit einem der Söhne der Farmerfamilie befreundet war«, erklärte Tucker wieder in normaler Lautstärke. »Trotz der Warnungen im Wetterbericht und des Verbots seiner Eltern hat er das Haus verlassen und ist zu seinem Freund gelaufen. Das Unwetter erwischte ihn mit voller Kraft, bevor er den Schutzraum der Jones erreichen konnte, und er flüchtete sich in den Hühnerstall. Er trug keine allzu schlimmen Verletzungen davon, war jedoch mehrere Stunden unter einem großen Brett eingeklemmt, was ihm das Leben gerettet hat, weil er dadurch nicht von dem Balken getötet wurde, der darauf fiel. Der Druck auf seinem Brustkorb machte es ihm unmöglich, um Hilfe zu rufen. Später sagte er, dass er nach dem Unwetter gehört habe, wie die Familie aus dem unterirdischen Schutzraum kam. Er konnte sie von dort, wo er sich befand, nicht sehen, doch er erkannte ihre Stimmen. Dann hat er einen Mann gesehen, der über die Wiese herankam, und kurz darauf hörte er Schüsse und Schreie und noch mehr Schüsse, bis die Stimmen erstarben. Dann vernahm er, wie jemand in den Trümmern wühlte, und nachdem auch diese Geräusche nicht mehr zu hören waren, sah er den Mann erneut. Laut seiner Beschreibung war er groß und dünn, hatte den Schritt eines jungen Menschen und einen Koffer dabei und trug ein Abzeichen am Revers. Der Junge berichtete weiter, dass der Mann, als er wieder über die Wiese ging, den Koffer auf den Boden stellte und sich noch einmal zu den Überresten der Farm, die nun hinter ihm lagen, umdrehte. Dann habe er beide Arme gehoben und sie, obwohl kein Laut zu hören war, bewegt, als würde er ein Orchester dirigieren. Der Junge nannte ihn den ›Komponisten‹, was die Einheit, die die Ermittlungen durchführt, übernommen hat.«

Alle Anwesenden saßen schweigend da. Amaia starrte in Richtung von Agent Tucker. In der Dunkelheit war ihr Gesicht kaum auszumachen, dennoch nahm sie wahr, dass die Frau, offensichtlich zufrieden mit dem Effekt ihrer Worte, nickte.

»Ungewöhnlicherweise hat der Mörder die Waffe am Tatort zurückgelassen, und wir haben sie in der Nähe der Leichen gefunden. Einen Revolver Smith & Wesson 617, Kaliber .22lr, der dem Familienvater gehörte. Bei der Autopsie stellte sich heraus, dass sich unter den heftigen Kopfverletzungen, von denen angenommen worden war, dass sie von herabfallenden Trümmern oder Balken stammten, bei jedem Familienmitglied Schusswunden befanden, zugefügt mit ebendiesem Revolver. Insgesamt fanden wir hinreichende Beweise dafür, dass sich die Familie, wie der Junge ausgesagt hatte, während des Unwetters in dem unterirdischen Schutzraum befand, dass alle an den Kopfschüssen gestorben sind und dass der herumliegende Schutt arrangiert wurde, um es aussehen zu lassen, als wäre die Familie durch herabstürzende Trümmer gestorben.

Diese Szenerie brachte einem Mitglied unserer Einheit das Foto auf der Titelseite einer Zeitung in Erinnerung, das er einen Monat zuvor gesehen hatte. Das Foto von der Familie Mason in Texas, die während eines heftigen Unwetters ums Leben kam, halb verschüttet unter den Überresten ihrer Farm. Vergessen Sie nicht, dass diese Leute ohne Autopsie beerdigt wurden. Wir befragten den Sheriff, der für den Fall zuständig war. Auch an diesem Ort war eine Waffe in der Nähe der Opfer gefunden worden, doch da sie ebenfalls dem Familienvater gehört hatte, schenkte man ihr keine weitere Beachtung. Wir erhielten die Genehmigung, die Toten zu exhumieren, und bei der anschließenden Untersuchung stellte sich heraus, dass auch in diesem Fall sämtliche Familienmitglieder unter ihren Kopfverletzungen Schusswunden aufwiesen, die ihnen mit dem Revolver des Vaters zugefügt worden waren.«

Auf der Leinwand waren Großaufnahmen der Verletzungen zu sehen, die bei der Autopsie gemacht worden waren.

Tucker verließ ihren Platz im hinteren Bereich des Raums und ging zur Tür, um das Licht wieder einzuschalten. Daraufhin waren die Bilder der Toten auf der Leinwand kaum noch zu erkennen, und die Anwesenden zwinkerten mit den Augen, um sich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen.

Tucker fuhr fort: »Ein Stück Holz, das in einem Sturm von Windgeschwindigkeiten mit mehr als hundertfünfundfünfzig Meilen pro Stunde durch die Luft wirbelt, wird zu einem tödlichen Projektil. Was der Mörder natürlich wusste. Lediglich in zwei Fällen hatte er die Einschussverletzungen damit kaschiert, dass er die Schädel seiner Opfer mit Trümmern aus Stein eingeschlagen hat; in allen anderen hat er Holzspaten benutzt, mit denen er die Köpfe regelrecht aufgespießt hat.«

Tucker ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. Amaia wusste, dass nun eine Eröffnung folgen würde, die nicht ohne Reaktion bleiben sollte. Dafür kannte sie Agent Tucker gut genug.

»Sämtliche Verletzungen durch Trümmer waren den Opfern post mortem zugefügt worden. Der Mörder hat den Tatort manipuliert, um die Reihenfolge der Ereignisse scheinbar umzukehren.«

Amaia, die auf einem Stuhl dicht an der Tür saß, befand sich in Tuckers nächster Nähe. Sie sah, dass sich auf den Lippen der Agentin der Anflug eines Lächelns zeigte, während sie der Unruhe lauschte, die erneut unter ihren Zuhörern ausgebrochen war, die sich diesmal sogar umwandten, um mit ihren Kollegen zu reden und Mutmaßungen anzustellen. Als Tuckers Blick auf Amaia fiel und sie merkte, dass sie beobachtet wurde, erstarb das Lächeln.

Tucker wies auf das Dossier auf Amaias Tisch. »In den Mappen auf Ihren Tischen finden Sie alle Informationen, über die wir verfügen; das, was wir von den Nachbarn erfahren haben, die Aussage des Zeugen, die Tatortfotos, kurze Viten sämtlicher Mitglieder der beiden Familien und, damit Sie nicht blindlings loslegen, alles über die Schritte, die wir bereits unternommen haben: die Versuche, ein verbindendes Element zwischen den beiden Taten oder den Familien zu finden, was bisher noch zu keinem Ergebnis geführt hat, abgesehen von der Feststellung der Übereinstimmungen in Geschlecht, Alter und Anzahl der Familienangehörigen, was ich vorhin bereits erwähnt habe. Es handelt sich um einen offenen Fall, an dem das FBI aktuell arbeitet. Die Unterlagen, über die Sie nun verfügen, sind vertraulich. Bisher wurde nichts davon an die Presse gegeben. Wir glauben, dass der Täter unentdeckt bleiben will, dass er also nicht zu denen zählt, die nach Berühmtheit streben; die vollendete Tat scheint auszureichen, um ihn zu befriedigen. Er hat es nicht nötig, Werbung zu machen, und wir auch nicht. Unser größter Vorteil ist, dass er keine Ahnung hat, dass wir von seiner Existenz wissen.«

Gertha schüttelte den Kopf und fragte: »Ist es gegenüber den zukünftigen Opfern nicht rücksichtslos, darauf zu warten, dass er wieder zuschlägt, und nicht die Presse zu informieren, in der Hoffnung, dass er seine Taten daraufhin einstellt?«

»Wir glauben nicht, dass er dann aufhören würde, aber er könnte seine Vorgehensweise ändern, wenn wir die Sache publik machen, und angesichts des sehr großen Radius, in dem sich der Täter bewegt, wäre es dann beinahe unmöglich für uns, ihn zu kriegen. Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist, ihm zuvorzukommen.

Zu der Übung zählt auch, dass Sie zwar auf die Unterstützung Ihres Mentors zählen können, dieser Ihre Schlussfolgerungen jedoch nicht durch Hinweise oder Meinungsäußerungen beeinflussen wird. Aber er wird Ihnen helfen, an jede Information zu gelangen, über die wir verfügen. Erstellen Sie drei Profile, ein Verhaltensprofil, ein geografisches und ein viktimologisches. Wir erwarten Ihre Ergebnisse bis morgen Mittag.«

Barbagallo, der Kollege von den italienischen Carabinieri, hob das Dossier hoch, um auf sich aufmerksam zu machen. »Entschuldigen Sie, Agent Tucker, das soll keine Kritik an Ihrem Vortrag sein, aber im Programm steht, dass Special Agent Dupree dieses Seminar halten würde.«

Amaia schüttelte lächelnd den Kopf, während sie daran dachte, wie Dupree sie vorhin absichtlich übersehen hatte.

Agent Tucker, die bereits an der Tür war, hielt, die Hand auf der Klinke, noch einmal inne und antwortete genüsslich: »Hat er doch. Oder was glauben Sie, warum er diesen Vortrag gehalten hat.«

4 Das Bestattungsunternehmen

Cape May, New Jersey

Die Tote sah furchtbar aus. Mary Ward zwickte sie, ohne sich einen Handschuh überzuziehen, mit zwei Fingern in die Wange. Die oberste Hautschicht löste sich und hinterließ auf der Höhe des Wangenknochens eine abgepellte Stelle, als hätte sie dort einen Sonnenbrand gehabt. Vorsichtig befühlte Mary die gelöste Haut zwischen ihren Fingern. Sie war gummiartig wie Reste von Papierkleber.

Mary Ward seufzte. Tiefgefrorene Leichen waren immer die schlimmsten, und diese war da keine Ausnahme. Mit einem Feuchttuch wischte sie sich die Hautreste von den Fingern, dann kümmerte sie sich um den Behälter des Luftentfeuchters neben dem Behandlungstisch, der so voll war, dass das Gerät die ganze Nacht über nicht funktioniert hatte. Sie leerte den Behälter in die Spüle und beschloss, den Entfeuchter trotz des unangenehmen Geräuschs, mit dem er lief, eingeschaltet zu lassen, während sie die arme Mrs. Miller zurechtmachte. Dazu trug sie zuerst eine dicke Schicht feuchtigkeitsbindendes Pulver auf, das sie einwirken ließ, während sie sich dem Haar widmete. Mit aufrichtigem Mitleid betrachtete sie die üppige kastanienfarbene Mähne der Verstorbenen auf dem Foto, das sie als Vorlage erhalten hatte. Darauf lächelte sie in die Kamera und umarmte eines ihrer Kinder. Sicher den Ältesten, dachte Mary.

Sie erinnerte sich noch gut an den Jungen. Er war wie sein Vater, seine beiden Geschwister und Mrs. Millers Schwiegermutter sechs Monate zuvor während des heftigen Unwetters ums Leben gekommen.

Wie vorgeschrieben war die Familie bereits mehrere Stunden nach dem Unglück bestattet worden, doch Mrs. Millers Mutter, die in Spanien lebte und, als sie die Schreckensnachricht erhielt, einen Herzinfarkt erlitt, hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit ihre Tochter erst bestattet wurde, nachdem sie sie noch einmal gesehen hatte. Und so bekam Mary einen Leichnam auf den Tisch, der sechs Monate lang tiefgekühlt aufbewahrt worden war, und ein Foto, und man erwartete von ihr, dass sie Wunder vollbrachte.

Mary entfernte die Reste des Pulvers mit dem Föhn, probierte mehrere Pigmente aus, verrührte die zähe hautfarbene Mischung in einer Schale und verteilte sie dann mit einem Spachtel auf Mrs. Millers Gesicht. Während sie die Mischung mit einem kleinen Schwamm und einem Pinsel, die sich kaum von denen unterschieden, die jede Frau beim Schminken benutzt, auf Mrs. Millers Gesicht verstrich, lächelte sie zufrieden. Anschließend modellierte sie mit den Fingern die Wangenknochen.

Als sie die Mischung auf dem Kinn verteilte, bemerkte sie eine kleine Schwellung. Sicher von einem zerbrochenen Stück Zahnersatz. Das passierte oft. Sie seufzte verärgert und stellte die Schale mit dem Pinsel auf den Tisch. Mit einer Pinzette und einer Lampe inspizierte sie die Mundhöhle und stellte überrascht fest, dass offenbar alles in Ordnung war. Also betastete sie noch einmal die Unterseite des Kinns.

Da war etwas, ein loses Teil, zwischen ihren Fingern. Langsam schob sie das kleine Teil in den Unterkiefer, wo es von der hinteren Zahnreihe gestoppt wurde. Sie musste aufpassen, dass das Ding, was immer es auch war, nicht in Mrs. Millers Kehle rutschte. Mit äußerster Vorsicht schob sie die Pinzette in den Mund und führte sie die Zahnreihe entlang, bis sie die richtige Stelle gefunden hatte. Sie hielt das Teil von außen mit den Fingern fest, bis sie es mit der Pinzette packen konnte. Dann zog sie die Pinzette heraus und hielt sie ins Licht.

Es war nicht das erste Mal, dass Mary Ward eine Revolverkugel sah, aber nie im Leben hätte sie gedacht, eine im Mund von Mrs. Miller zu finden.

5 Unverschämt

FBI-Akademie, Quantico, Virginia

Donnerstag, 25. August 2005

Amaia ging hinter Agent Emerson durch die Gänge der FBI