Wenn das Wasser steigt - Dolores Redondo - E-Book

Wenn das Wasser steigt E-Book

Dolores Redondo

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Beschreibung

Der neue Bestseller der spanischen Krimikönigin: Ein brutaler Serienmörder. Ein todkranker Kommissar. Eine Stadt, die von einer Sintflut bedroht ist.

Der Polizist Noah Scott ist herzkrank und weiß, dass seine Lebenszeit begrenzt ist. Doch er ist besessen davon, das Rätsel um den Serienmörder John Bible zu lösen, der Ende der 60er-Jahre junge Frauen tötete und nie gefasst wurde. Jetzt, im Jahr 1983, folgt Noah einer neuen Spur, die ihn nach Bilbao führt. Er weiß, dass sich der Mörder hier versteckt hält, und durchforstet die Stadt, deren herbe Schönheit ihn gefangen nimmt, bis sich eine Jahrhundert-Flut ankündigt, die alles zu verschlingen droht. Dolores Redondo – »Königin des literarischen Thrillers« (Carlos Ruiz Zafón) – verwebt in ihren neuesten gefeierten Spannungsroman historische Tatsachen, wie das Rätsel um den Serienmörder und die verheerende Überschwemmung in Bilbao. Ihre Figuren faszinieren durch große psychologische Tiefe und zeigen, zu wie viel Grausamkeit, aber auch Hoffnung die Menschen fähig sind.

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Seitenzahl: 674

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

Der Polizist Noah Scott ist herzkrank und weiß, dass seine Lebenszeit begrenzt ist. Doch er ist besessen davon, das Rätsel um den Serienmörder Bible John zu lösen, der Ende der 60er-Jahre junge Frauen tötete und nie gefasst wurde. Jetzt, im Jahr 1983, folgt Noah einer neuen Spur, die ihn nach Bilbao führt. Er weiß, dass sich der Mörder hier versteckt hält, und durchforstet die Stadt, deren herbe Schönheit ihn gefangen nimmt, bis sich eine Jahrhundertflut ankündigt, die alles zu verschlingen droht. Dolores Redondo – »Königin des literarischen Thrillers« (Carlos Ruiz Zafón) – verwebt in ihrem neuesten gefeierten Spannungsroman historische Tatsachen wie das Rätsel um den Serienmörder und die verheerende Überschwemmung in Bilbao. Ihre Figuren faszinieren durch große psychologische Tiefe und zeigen, zu wie viel Grausamkeit, aber auch Hoffnung die Menschen fähig sind.

Zum Autor

Dolores Redondo, geboren 1969 in San Sebastián, ist eine der einflussreichsten und wichtigsten Schriftstellerinnen Spaniens. Mit ihren literarischen Spannungsromanen begeistert sie ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt, ihre Werke erscheinen in über 35 Ländern und werden verfilmt. Die Autorin wurde für den CWA International Dagger Award nominiert und mit dem Premio Planeta, einem der wichtigsten Literaturpreise der spanischsprachigen Welt, ausgezeichnet. Zuletzt gewann sie den Grand Prix des Lectrices de ELLE. Ihr Roman »Wenn das Wasser steigt«, der sehr atmosphärisch die dramatische Sturmflut 1983 in Bilbao heraufbeschwört, war innerhalb eines Jahres der meistverkaufte spanische Roman. Eine Verfilmung ist bereits in Vorbereitung.

Dolores Redondo

Wenn das Wasser steigt

Roman

Aus dem Spanischen von Anja Rüdiger

Die spanische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel

Esperando al diluvio bei Editorial Planeta, Barcelona.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung März 2025

Copyright © der Originalausgabe Dolores Redondo Meira, 2022

By agreement with Pontas Literary & Film Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

produktsicherheit@penguinrandomhouse.de

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR)

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Shutterstock/Jon Chica, wandee007

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

MA · Herstellung: KH

ISBN 978-3-641-30932-9V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für Luisa Vareiro, weil du mit all deinen Nachbarn – ob wir wollten oder nicht – deine Begeisterung für die Gruppe Mocedades und vor allem für »Amor de hombre« geteilt hast. In vielen Momenten warst du der lustigste Mensch in meinem Leben. Danke

Für meinen Freund, den Schriftsteller Domingo Villar, der gegangen ist, während ich diesen Roman beendet habe. Ich glaube auch, dass auf der anderen Seite die Sonne scheint; für Menschen wie dich muss das so sein.

Für Neme, Bego und Olaz, ihr wisst schon, warum.

Für Eduardo, mein amor de hombre, der mich niemals zum Weinen bringen wird, es sei denn, du kommst auf den Gedanken, vor mir zu gehen.

Die Geschichte ist meine Muse. Die Geschichte unter meinen eigenen Bedingungen neu zu schreiben, ist meine Aufgabe als Schriftsteller. Ich verfälsche, überarbeite, überdenke und plündere die Geschichte und setze sie wie ein großformatiges Gemälde neu zusammen.

JAMESELLROY

Das ist keine Geschichtsstunde.

BENEDICTCUMBERBATCH zu Sam Elliott in Reaktion auf seine Kritik an The Power of the Dog

Zu verschwinden bedeutet oft, die Identität oder einen Ort zu verlieren; manchmal auch das Leben.

ANDREW O’HAGAN in The Missing

Der Junge

Harmony Cottage

Der Junge blieb auf der Schwelle stehen und begann zu zittern, als er die intensive Kälte draußen spürte. Er ließ den Blick über die ruhige, im Licht des Vollmonds glänzende Oberfläche des Sees schweifen und danach über den Himmel. Die aufsteigenden Tränen verschleierten seinen Blick. Er wollte das nicht tun. Er wollte wieder reingehen, an den Ofen, um eine Geschichte zu lesen und zu schlafen. Denn wenn er dort auf dem Boden neben dem Feuer einschlief, machte sich niemand die Mühe, ihn ins Bett zu schicken, und er hatte seine Ruhe.

Hinter ihm aus der Wohnung war eine drängende Stimme zu hören. »Schließ endlich die Tür und mach dich an die Arbeit, Johnny, sonst komme ich, und es setzt was!«

Er machte die Tür hinter sich zu, um sie nicht mehr zu hören, schloss die Augen, und dicke Tränen liefen ihm über die Wangen, die bereits an Wärme verloren. Beinah wütend wischte er sie mit der freien Hand weg. Zu weinen brachte gar nichts. Er sagte es sich immer wieder, doch jedes Mal kamen ihm erneut die Tränen.

Er ging mit dem schweren Holzbottich zu einer Seite des Hauses. Dort befand sich ein kleines steinernes Waschbecken unter einem alten Wasserhahn. Er war an ein halb abgerissenes Rohr angeschlossen, das, vom Hügel kommend, an der Wand des Hauses hinabführte. An der Seite lehnte ein altes Waschbrett neben einer Holzbürste mit harten Borsten und einer Dose mit der Seife, die sie aus den Überresten des Kochfetts fertigten.

Er stellte den Bottich auf den Boden und brauchte beide Hände, um den rostigen Wasserhahn zu öffnen. Noch war es möglich, doch wenn der Winter kam und die Temperatur sank, würde das Wasser immer spärlicher aus dem Hahn fließen und schließlich ganz gefrieren. Dann würde er zum Ufer des Sees gehen müssen, was noch schlimmer war.

Der Bottich war tief. Selbst wenn er sich beim Bücken auf die Zehenspitzen stellte, reichte sein ausgestreckter Arm nicht ganz nach unten. Als er noch kleiner gewesen war, hatten sie ihn im Sommer in dem Bottich gebadet. Manchmal dachte er, dass, wenn jemand kopfüber dort hineinfiel, der behindert war – so wie Tante Emily, die als Kind Polio gehabt hatte –, darin durchaus ertrinken konnte. Und die Vorstellung, wie sie mit den Füßen strampelte, während sie ertrank, verursachte ihm ein leichtes Gefühl von Befriedigung.

Nachdem es ihm gelungen war, den Hahn ganz aufzudrehen, floss das Wasser in voller Stärke ins Waschbecken. Er krempelte die Ärmel seines Pullovers bis weit über die Ellbogen auf und versicherte sich, dass sie hielten. Dann nahm er das Waschbrett, das so abgenutzt war, dass sich die kleinen Erhebungen, über die die Wäsche gerieben werden musste, kaum noch vom Rest des Holzes abhoben. Das Brett musste schräg ins Becken gelegt werden, sodass die obere Seite am Rand lehnte.

Er beugte sich über den Bottich und nahm den Deckel ab. Der Geruch war unerträglich, obwohl er noch gar nichts angerührt hatte. Er wusste, dass der Gestank, sobald er etwas darin bewegte, durch seine Nasenlöcher in seinen Mund steigen würde, um sich für mehrere Stunden am Gaumen festzusetzen. Egal was er tun würde, es würde ihm nicht gelingen, ihn von den Zähnen und der Zunge zu lösen.

Der Junge wurde erneut vom Weinen geschüttelt, und er musste sich am Bottich festhalten, während er sich vor Übelkeit krümmte. Er hustete, und seine Augen brannten, während sich seine Mundwinkel nach unten verzogen wie bei einem traurigen Clown.

In dem sicheren Wissen, dass niemand kommen würde, blickte er zur anderen Seite des Hauses. Es war egal, wie lange er für diese Aufgabe brauchte, eine Stunde oder fünf Stunden. Das Einzige, was er sicher wusste, war, dass er erst wieder ins Haus durfte, wenn er fertig war. In dem Versuch, das Gesicht so weit wie möglich von dem Bottich fernzuhalten, stellte er sich erneut auf die Zehenspitzen, steckte die Hand hinein, bis er den obersten Stoff ertastete, und zog daran.

Im selben Moment breitete sich um ihn herum eine Wolke des Gestanks aus. Aber das Schlimmste war die Berührung. Sie fühlten sich lauwarm an. So war es immer, egal ob sie sie auf der Fensterbank oder in einer Ecke des Badezimmers aufbewahrt hatten, wo das kaputte Fenster ständig offen stand. Sie faulten. Er war ein Junge vom Land und wusste, was passierte, wenn etwas faulte. Ohne hinzusehen, warf er den Stoff auf das Waschbrett, wo der Wasserstrahl die schwarzen Klumpen wegspülte. Mit den Fingerspitzen nahm er etwas Seife und die Bürste und begann, von Weinen und Übelkeit geplagt, das Blut auszuwaschen.

Bible John

Glasgow, 1983

John blieb vor dem großen Spiegel am Eingang zu den Toiletten stehen. Während er so tat, als würde er seine Kleidung richten, beobachtete er die Frau im Spiegel.

An diesem Abend waren viele Männer in der Diskothek, aber das war ihm egal. Sie allein an der Theke zurückzulassen, nachdem er sie zu einem Drink eingeladen hatte, war ein kalkuliertes Risiko. Während er leicht an den Ärmelaufschlägen seines Hemdes zog, sah er, wie die junge Frau die Gesellschaft von ein paar Typen ablehnte, die sie angesprochen hatten, und einen sehnsüchtigen Blick in die Richtung warf, wo sich die Toiletten befanden. Sie wartete auf ihn.

Er war sich bewusst, dass auch sie ihn sehen konnte, zumindest teilweise, deshalb wandte er sich hin und wieder etwas nach rechts, als ob er mit jemandem reden oder jemandem zuhören würde, der sich außerhalb ihres Sichtfelds befand.

Sie hatte gesagt, ihr Name sei Mary, was sogar sein konnte, aber in solchen Läden wusste man nie. Bei mehreren Gelegenheiten hatte er nachher aus der Zeitung erfahren, dass der richtige Name ein ganz anderer gewesen war.

Was ihn anging, sagte er immer, wenn er nach seinem Namen gefragt wurde: »John, ich heiße John.« Und bekräftigte es mit sicherem Auftreten. Dabei sprach er mit einer leicht höheren Stimmlage als normal. Er verhielt sich möglichst unauffällig, aber wenn sich zufällig jemand an den Mann erinnerte, mit dem die junge Frau die Diskothek verlassen hatte – ein Kellner oder die Pärchen, die in der Nähe gesessen hatten –, würde derjenige sagen: »Ich glaube, dass der Mann gesagt hat, er heißt John, ja, ich bin mir sicher, er hat gesagt, dass er John heißt.«

Es gefiel ihm, sich das Gesicht der Polizisten vorzustellen, wenn sie den Namen hörten. Es war ein Scherz und ein weiteres kalkuliertes Risiko, aber viel mehr gab er nicht preis. Er bemühte sich, dass alles andere, woran sich jemand erinnern könnte, ihnen nicht weiterhalf.

John überprüfte sein Aussehen im Spiegel. Dunkelblaues Jackett und ein weißes Hemd. Dazu trug er gebügelte Jeans und saubere Schuhe. Sein kastanienbraunes Haar schimmerte rötlich, wenn das Licht darauf fiel, und die Frisur war unauffällig. Gepflegt. Er liebte dieses Wort. Gepflegt. So hatten ihn Jahre früher die wenigen Zeugen beschrieben, die sich an ihn erinnerten: ein großer, schlanker junger Mann mit kastanienbraunem Haar und gepflegtem Aussehen. Mehr nicht. Vielleicht hatten sie auch einen leicht schief stehenden Zahn erwähnt. Eine Kleinigkeit, die er schon vor einiger Zeit korrigiert hatte.

Er verzog den Mund zu einem Lächeln und betrachtete zufrieden seine geraden weißen Zähne. Mit geschickten Fingern entfernte er einen unsichtbaren Fussel von der Schulter seines Jacketts und konzentrierte sich wieder auf den Anblick der jungen Frau im Spiegel.

John verfolgte eine einfache und diskrete Strategie, die darin bestand, sich in der Nähe des Eingangs an die Theke zu stellen. So hatte er sie entdeckt. Sie war mit zwei Freundinnen gekommen, die zu der Gruppe gehörten, die gerade aus dem Bus gestiegen war. Er hatte ihren Gang beobachtet. Aus Erfahrung wusste er, dass sich Frauen in »diesen Tagen« anders bewegten. Sie trug eine dunkle Hose und dazu eine lange, weite Bluse, die die Hüften bedeckte, im Gegensatz zu ihren Freundinnen, die in Top und Minirock gekleidet waren. John war ein hervorragender Beobachter der Welt der Frauen und wusste genau, dass sich Freundinnen gern ähnlich kleideten. Aber die Kleidung war nicht der einzige Hinweis.

Er folgte ihr in einigem Abstand und mischte sich unter die Leute in der vollen Diskothek. Er sah, wie sie mit den anderen Mädchen auf die Tanzfläche ging, diese jedoch schon bald wieder verließ und sich an eine Säule lehnte, wo sie ihre Cola trank und ihren Freundinnen beim Tanzen zulächelte.

Die Dunkelheit und der Lärm in der Diskothek erlaubten John, sich hinter sie zu stellen, um sie zu riechen, während er so tat, als würde auch er die Menschen auf der Tanzfläche betrachten. Er atmete ihr Aroma ein. Nahm den leichten Schweiß unter ihren Achseln wahr, gemischt mit einem süßen Parfüm, das unter den jungen Frauen gerade in Mode zu sein schien, und diesem anderen metallischen, leicht salzigen und sauren Geruch. Er verzog ein wenig die Oberlippe, da er seinen Ekel nicht ganz unterdrücken konnte. Und beinah gleichzeitig spürte er seine Erektion.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, entfernte er sich ein paar Schritte und steckte die rechte Hand in die Tasche seines Jacketts. Seine Fingerspitzen berührten das rote Satinband darin. Er dachte an Lucy und biss sich zur Strafe auf die Wange, bis der Schmerz das andere Gefühl verdrängte und er wieder Haltung annehmen konnte.

Das, was danach kam, war leicht. War es immer. Die Formel funktionierte mit geringen Abweichungen schon seit Jahren perfekt. Er würde neben ihr stehen bleiben und ein Gespräch beginnen, ihr sagen, dass er auch keine Lust habe zu tanzen und überlege, etwas zu trinken. Ob sie ihm nicht Gesellschaft leisten wolle? Sie würde ihn ansehen und das Gleiche feststellen wie alle anderen: ein junger Mann, aber kein Kind mehr. Sauber, gut, aber dezent angezogen, höflich, freundlich. Gepflegt. Und dass ihm offensichtlich das einzige Mädchen in der ganzen Diskothek aufgefallen war, das eine Hose und eine weite Bluse trug.

Er würde über alles Mögliche reden, aber heikle Themen vermeiden. Er würde ihr ein paar Komplimente machen, ohne zu übertreiben, und wie zufällig erwähnen, dass er einen Job hatte, dass er solche Orte wie diesen eigentlich nicht allzu sehr mochte, dass er sich gern unterhielt und dass das bei dem Lärm fast unmöglich war, dass er ein Auto auf dem Parkplatz stehen hatte und dass sie gern auch woanders hingehen könnten. Bevor sie etwas einwendete, würde er schnell hinzufügen, dass er sie natürlich auch gern nach Hause fahren würde, wenn ihr das lieber wäre. Sie würde darauf eingehen, weil er ganz zauberhaft war, weil sie mit dem Bus gekommen war und weil alle einen Freund mit einem eigenen Auto haben wollen. Sie würde darauf eingehen, obwohl in den Zeitungen ständig von den vielen jungen Frauen zu lesen war, die spurlos verschwanden, und obwohl man ihr mit Sicherheit tausendmal gesagt hatte, dass sie nicht zu Unbekannten ins Auto steigen sollte.

John wusste, wie sie auf das Angebot reagieren würde, trotz allem und obwohl man das in »diesen Zeiten« nicht machen sollte. Es war sogar möglich, dass dieses versaute Flittchen einverstanden wäre, Sex mit ihm zu haben, wenn er dies andeutete. Dann würde er sie voller Hass schlagen und ihr mit jedem Schlag die Schminke und das Lächeln vom Gesicht fegen. Er würde ihr die Kleider in Fetzen reißen und sie mit ihrem Gürtel oder ihrem BH würgen, bis sie aufhörte zu schreien, während er sie vergewaltigte. Und dann würde er sie nach Hause bringen, damit sie neben ihren Schwestern schlafen konnte, wo der See sie reinigte. Es war lästig, aber so musste er es machen. Zu anderen Zeiten hätte er sie irgendwo auf der Straße oder im Park zurückgelassen, hätte in ihren Taschen nach Tampons oder Binden gesucht und sie auf die Leiche gelegt, um die anderen versauten Flittchen daran zu erinnern, dass man sich während der Menstruation von den Männern fernhalten sollte.

Allein daran zu denken, verursachte ihm ein intensives Kribbeln im Genitalbereich. Er biss noch fester in seine Wange, während er sie aus der Ferne im Spiegel betrachtete, und als er so weit war, kehrte er an ihre Seite zurück.

I got it bad Mir geht es schlecht

Glasgow, 1983

Inspector Noah Scott Sherrington erreichte den Bahnübergang, als die Ampel rot wurde und die Lichter an den Schienen zu blinken begannen. Er kannte diese Stelle außerhalb von Glasgow, war in den letzten zwei Wochen jeden Abend hier entlanggefahren und wusste, dass es noch ewig dauern würde, bis die Schranken heruntergingen, sodass den Autos vor ihm eigentlich noch genug Zeit blieb hinüberzufahren. Eins, zwei, drei und …

»Nein, nein, nein, nein …«, flüsterte er, während der Fahrer vor ihm den Wagen anhielt.

Noah bremste abrupt ab, und die Motorhaube seines alten Autos blieb wenige Zentimeter vor dem Heck des Wagens vor ihm stehen. Das Bremslicht kam zu den rot blinkenden Lichtern an den Schienen hinzu, die Tausende blutige Reflexe auf der violetten Karosserie hervorriefen. Noah spürte einen leichten Schwindel, als er sie betrachtete.

Die Luft im Inneren des Wagens erschien ihm auf einmal extrem stickig. Er suchte nach dem Schalter des Fensterhebers, stieß an der Tür auf den manuellen Mechanismus und begann fluchend zu kurbeln. Für einen Moment hatte er vergessen, dass er nicht in seinem Auto fuhr. Dies war ein Escort, der sicherlich einer der ersten war, die in der Fabrik von Halewood in Knowsley gefertigt worden waren, in den guten alten Zeiten, als dort noch gearbeitet wurde. Ein ziviler Polizeiwagen, der zweifelsfrei seinen Zweck erfüllte. Denn er war in jeder Hinsicht so alt und grau, dass er kaum jemandem auffiel.

Die kalte Nachtluft strömte durchs Fenster herein und kühlte den Schweiß auf Noahs Haut. Erleichtert atmete er die frische Luft ein, die das Gewitter von der Nordsee aus ins Landesinnere schob und damit die Hitze der letzten Tage in diesem seltsamen schottischen Sommer vertrieb.

Dann sah er, wie der Wagen vor ihm über den noch immer offenen Bahnübergang fuhr. Einen Moment dachte er darüber nach, doch noch Gas zu geben und ihm zu folgen. Er seufzte erschöpft und sagte sich, dass es ihm egal war. Inzwischen war ihm alles egal. Er wusste nur zu gut, wo er Angus Bennett finden konnte. Seit zehn Tagen folgte er ihm, und jeden Abend hatte er das Gleiche gemacht.

Bennett arbeitete in einer Firma, die Feuerlöscher für Schiffe verkaufte. Nach der Arbeit fuhr er zwischen den Lagerhallen am Flusshafen und dem angrenzenden Industriegebiet herum, wo die meisten Fabriken bereits geschlossen waren und die Prostituierten ihre Plätze einnahmen. Sie standen zwischen den wenigen parkenden Autos, in ihre Mäntel gehüllt, die sie öffneten, wenn potenzielle Kunden vorbeifuhren, um zu zeigen, dass sie darunter nur Dessous trugen.

Manchmal reduzierte Bennett die Geschwindigkeit und fuhr langsamer an einer bestimmten Prostituierten vorbei, hielt aber nie an. Nachdem er dies etwa eine Stunde lang getan hatte, verließ er die Gegend um die Lagerhallen und fuhr immer dieselbe Strecke, über den Bahnübergang, um zwei Meilen weiter bei einer Diskothek am Stadtrand anzuhalten. Dort blieb er eine oder höchstens zwei Stunden. Er trank nie mehr als ein paar Gläser und fuhr dann die viereinhalb Meilen zu seinem Zuhause, wo er allein lebte.

In den letzten Monaten hatte Noah neben Bennett noch zwei andere Typen verfolgt. Drei Verdächtige. Hunderte Stunden. Da war Charles MacLaughlin, der ebenfalls in Diskotheken ging, um Mädchen aufzureißen, und diese nicht gerade zuvorkommend behandelte. Er hatte, wie sich herausstellte, zwei Ehefrauen und suchte anscheinend nach einer dritten.

Und dann war da noch Daniel Garrat. Der Eigenartigste von den dreien. Der, der am besten ins Profil von Bible John passte. Er war trotz seines kindlichen Gesichts über 40, wenn auch nur knapp, also war er Ende der Sechzigerjahre Anfang 20 gewesen, wie es dem Mörder der Opfer aus dem Barrowland Ballroom zugeschrieben wurde.

Zunächst hatte Noah gedacht, dass Garrat mit seiner Mutter zusammenlebte, hatte dann aber erfahren, dass seine Mutter und deren Lebensgefährte bei ihm wohnten, vielleicht um einen Teil der Miete zu zahlen, denn Garrat wechselte häufig den Arbeitsplatz. Noah hatte herausgefunden, dass dies nicht an mangelnder Qualifikation lag, sondern daran, dass er die Nächte so gern in Diskotheken verbrachte und deshalb oft zu spät zur Arbeit kam. Zumindest hatte ihm das in den letzten beiden Fällen die Entlassung eingebracht.

Dennoch erlaubte sich Garrat, häufig das Auto zu wechseln, und er hatte genug Geld in den Taschen, um jede Nacht auszugehen und ausgiebig Glasgows Diskotheken zu besuchen. Es gab keine festen Freundinnen, das war offenbar nichts für ihn. Er war mehrmals festgenommen worden, weil es in seiner Wohnung zu lautem Streit mit seiner Mutter und deren Lebensgefährten gekommen war. Noah folgte ihm jetzt seit anderthalb Monaten. Vergeblich.

Das, was an Bennetts Verhalten verdächtig erschienen war, das lange Herumfahren durchs Industriegebiet, wo die Prostituierten standen, um nur zu gucken und dann in einer Diskothek weiter nur zu gucken, hatte sich in dieser Nacht aufgeklärt, als er an einer Werkstatt angehalten hatte, in der Autoradios repariert wurden. Als Bennett aus dem Wagen stieg, hatte Noah angenommen, dass er wie sonst pinkeln musste. Doch dann war ihm aufgefallen, dass die Tür der Werkstatt ein Stück geöffnet wurde. Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Kerl in der Tür hatte Bennett dann einen Sack aus dem Kofferraum seines Wagens genommen, in dem sich von den rechteckigen Formen her, die sich abzeichneten, vier oder fünf Autoradios mit Kassettenteil befanden, die wahrscheinlich gestohlen waren.

Wieder alles umsonst.

Noah blickte verärgert nach draußen. Die roten Lichter blinkten immer noch, und die Schranken waren immer noch oben.

Er legte sich die Hand auf den Bauch, weil er für einen Moment das Gefühl hatte, sich den Magen verdorben zu haben. Er fühlte sich satt, geradezu überfüllt, wobei er eigentlich hätte hungrig sein müssen, denn er hatte seit Mittag nichts mehr gegessen. Er sah auf die Uhr und sagte sich, dass es vielleicht noch früh genug war, um im Pub noch eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Dabei kam ihm Detective Sergeant Gibson in den Sinn.

Noah runzelte die Stirn. Er war Gibson über den Weg gelaufen, als er das Kommissariat verlassen wollte, genau in dem Moment, als Gibson einen Verdächtigen aus dem Verhörraum gebracht und zwei uniformierten Kollegen übergeben hatte.

Gibson, mit gelöster Krawatte und schiefem Kragen, während das Hemd an einer Seite unter seiner Wampe fast aus der Hose rutschte, hatte gesagt:

»Hier, unser Freund Billy hat gesungen. Er ist der Dieb, der die Spirituosengeschäfte ausgeraubt hat.«

Der besagte Freund Billy sah nicht besser aus als Gibson. Sein Gesicht war gerötet, vor allem die Nase. Er trug zwar keine Krawatte, aber sein Kragen saß genauso schief, und sein Hemd stand weit auf, wobei einige Knöpfe fehlten. Auf Brusthöhe waren auf dem offenen Hemd ein paar Blutflecken zu sehen.

Noahs Blick blieb ein paar Sekunden länger an den Flecken hängen, wobei er an Tropfen und die Schwerkraft denken musste. Gibson fiel sein Blick auf, und er erklärte eilig: »Er hatte Nasenbluten wegen der Hitze …« Dann neigte er sich leicht zur Seite und fragte den Verdächtigen: »Stimmt doch, mein Freund, oder?«

Der Mann nickte nur müde.

Noah ging weiter und dachte darüber nach, dass es keine gute Idee gewesen war, neue Schuhe anzuziehen, denn ihm taten die Füße weh.

»Sherrington!«, rief Gibson ihm nach und sprach ihn wie immer mit dem englischen Teil seines Nachnamens an. Dabei trat er mit dem Absatz gegen die Tür hinter sich, um sie komplett zu öffnen, damit Detective McArthur, der sich noch im Raum befand, ihn hören konnte. Aus dem Verhörraum, der von einigen »Die Keksdose« genannt wurde, zog der Gestank nach Schweiß, Blähungen und Mundgeruch nach draußen, der wie Nebel im Zigarettenrauch schwebte. »Wir wollen das gleich im Pub feiern. McArthur, die Jungs vom Einbruchsdezernat und ein paar Kollegen von der Streife. Warum kommst du nicht auch?«

»Ich kann nicht, tut mir leid«, antwortete Noah in einem Ton, der deutlich machte, dass es ihm überhaupt nicht leidtat. »Ich hab schon was anderes vor«, hatte er hinzugefügt und war in Richtung Ausgang gegangen.

Gibson holte ihn auf der Straße ein und kam ihm so nah, dass er ihn fast berührt hätte.

»Und was hast du vor, das so wichtig ist? Bible John verfolgen?«

»Ich habe nie gesagt, dass es um Bible John geht«, entgegnete Noah.

»Natürlich nicht«, sagte Gibson spöttisch. »Weil Bible John tot ist.«

»Dafür gibt es keine Beweise.«

»Also bist du doch hinter Bible John her.« Gibson wandte sich triumphierend um, als erwarte er, Publikum zu haben. »Dann sag ich dir mal, was du alles falsch machst. Erstens: Bible John ist tot, und ein Gespenst kann man nicht festnehmen. Zweitens: Du glaubst, dass du in der Lage bist, etwas zu tun, was der gesamten Polizei Schottlands in einer jahrelangen Suchaktion nicht gelungen ist.«

Er betonte das Wort »Schottlands«, denn es war allgemein bekannt, dass Noah in London ausgebildet worden war. Was einige für unverzeihlich hielten.

»Aber der dritte und schwerste Fehler«, fuhr Gibson fort, »ist, dass du anscheinend vergessen hast, dass du hier in The Marine arbeitest und was das für eine Beleidigung ist.«

Noah hob den Blick zu dem wuchtigen Gebäude, das bedrohlich über ihnen aufragte. Der alte Kasten in der Anderson Street in Partick erinnerte an eine staatliche Schule aus den Vierzigerjahren. Er beherbergte die Dienststelle der Polizei in der Uferregion des Flusses Clyde, die als Marine Division bekannt war. Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre war sie zum Hauptquartier jener Einheit geworden, die gegründet worden war, um Bible John zu fassen.

Es war kein Zufall, dass Noah die Versetzung an diesen Ort beantragt hatte, auch wenn es jedem anderen unverständlich sein mochte, dass ein Inspector freiwillig in einer abgelegenen, veralteten Dienststelle arbeiten wollte. Allerdings war nur den wenigsten bekannt, dass es in den Kellerräumen nach wie vor ein Dutzend Zellen gab, an deren bekritzelten Wandfliesen Tausende Namen standen, die die umfassendste Dokumentation des Falls Bible John darstellten.

In dem Moment spürte Noah die ersten Tropfen. Er hob den Blick in die schwüle, feuchte Luft. Der August hatte mit vielversprechendem sommerlichem Wetter begonnen, das ein paar Tage angehalten hatte, doch an diesem Morgen war der Himmel bereits im Morgengrauen voller Wolken gewesen. Zunächst hatte dem niemand große Bedeutung zugemessen, aber inzwischen waren im Radio schwere Regenfälle in Aberdeen gemeldet worden.

»Noah, du solltest dabei sein, wenn wir zusammen feiern«, sagte Gibson und gab sich versöhnlich. »Solche Dinge sind wichtig für die Kollegialität.«

Kollegialität oder Verschwörung?, dachte Noah, dem durchaus aufgefallen war, dass Gibson ihn diesmal mit dem Vornamen angeredet hatte.

In diesem Moment wirkte Gibson, als wäre er gar nicht so übel, vielleicht war er im Grunde sogar ganz in Ordnung.

»Das ist nichts Persönliches, aber ich muss etwas Dringendes erledigen«, sagte Noah, während er die Tür seines Wagens aufschloss.

»Du bist jetzt seit drei Monaten hier und verschwendest mit deinen Theorien über diesen Jack the Ripper für Arme nur deine Zeit«, hielt Gibson ihm vor. »Du hast nichts in der Hand, Sherrington, keine Anzeigen, keine Verdächtigen, keine Opfer, also gibt es auch keinen Fall.«

»Ich heiße Scott Sherrington wie der gleichnamige Medizin-Nobelpreisträger«, entgegnete Noah ruhig, »und da sind all diese jungen Frauen, die verschwunden sind.«

»Verdammt, Noah! Die arbeiten wahrscheinlich inzwischen alle als Nutten in Aberdeen und machen gute Geschäfte mit den Arbeitern auf den Bohrinseln. Oder sie sind in London. Wir leben in den Achtzigerjahren, verdammt! Alle wollen sie Bonnie Tyler oder Cyndi Lauper sein, ›Girls Just Want to Have Fun‹. Diese Mädchen haben sich die Haare rosa oder violett gefärbt und sind von zu Hause ausgerissen. Es gibt keinen Serienmörder.«

»In den Fällen, in denen ich ermittle, geht es ausschließlich um dunkelhaarige Mädchen, die nicht besonders groß und schlank sind und keine familiären Bindungen haben«, sagte Noah mit erzwungener Ruhe. Er verschwieg Gibson gegenüber bewusst, dass sie auch alle ihre Periode gehabt hatten, als sie verschwunden waren, genau wie Bible Johns Opfer. »Außerdem handelt es sich nicht um die Art Mädchen, die von zu Hause ausreißen. Denk nur an Clarissa O’Hagan.«

Clarissa war 16 Jahre alt gewesen, als sie verschwand, die älteste der drei Töchter von Peter und Marisa O’Hagan. Marisa war ein Jahr zuvor an Krebs gestorben. Peter war kein übler Kerl, er arbeitete im Hafen von Glasgow. Es hieß, dass er am Wochenende gern mal ein Glas zu viel trank, dabei aber nie über die Stränge schlug. Clarissa, die noch zur Schule ging, hatte die Mutterpflichten für ihre beiden kleinen Schwestern übernommen. An einem Samstag drei Monate zuvor war sie mit zwei Freundinnen in einer Diskothek gewesen. Clarissa hatte nicht tanzen wollen, da sie immer noch um ihre Mutter trauerte, und von der Tanzfläche aus hatten ihre Freundinnen gesehen, dass sie von einem Mann angesprochen worden war und sich mit ihm eine Weile unterhalten hatte; als sie später nach ihr gesehen hatten, war sie verschwunden.

»Ja«, gab Gibson zu, »das O’Hagan-Mädchen.«

»Sie hat ihre Schwestern geliebt und hatte den Tod der Mutter noch nicht überwunden. Sie war verantwortungsbewusst, hatte gute Noten …«

»Was soll ich dir sagen? Es stimmt, sie schien ein braves Mädchen zu sein, aber vielleicht war die Anstrengung zu viel für sie. Oder vielleicht hat sich der Vater im Suff an sie rangemacht, du weißt schon, als Ersatz für die Mutter in anderer Hinsicht …«

Noah schüttelte erbost den Kopf. »Es widert mich an, dass du so etwas Furchtbares ohne Beweise andeutest. O’Hagan ist ein guter Kerl, der am Leid zerbricht, und wenn das, was du sagst, wirklich vorgefallen wäre, hätte Clarissa ihre Schwestern in dieser Lage niemals allein gelassen. Da bin ich mir sicher.«

»Ihre Freundinnen haben gesagt, dass der Typ, mit dem sie geredet hat, gut angezogen war und anscheinend nicht aus der Gegend stammte«, entgegnete Gibson. »Glaub mir, die Mädchen in Glasgow versuchen ihr ganzes Leben lang alles, um sich einen der Männer zu angeln, die auf den Bohrinseln arbeiten, damit sie sie hier wegholen und ihnen ein schönes Haus in Saltcoats kaufen.« Bei seinen letzten Worten hatte Gibson sich umgesehen, als ob auch er genug von der Stadt hätte. »Jeder will weg von hier, Sherrington, jeder außer dir, wie es aussieht. Und das ist noch so eine Sache, die allen verdächtig erscheint.« Gibson stützte die Hände in die Hüften. »Sieh mal, mein Freund, ich glaube, du bist kein übler Kerl, aber zu viel Bildung ist nicht gut für einen Polizisten. Nach ein paar Jahren bei uns in The Marine wirst du einsehen, dass all diese wissenschaftlichen Techniken und Theorien nichts bringen. Und weil ich glaube, dass du kein übler Kerl bist, versuche ich dir zu helfen. Aber es gibt andere, die inzwischen denken, dass das mit deinen geheimen Ermittlungen nur eine Ausrede ist.«

Noah verdrehte die Augen. »Sie sind nicht geheim, und es geht nicht …«

»Wenn ich nicht behaupte, dass du unsozial bist, dann liegt das daran, dass ich es auch glaube …«

Noah blickte Gibson verständnislos an. Der wiederum sah sich nach allen Seiten um, bevor er flüsterte: »Sie glauben, dass du einer von der Dienststelle für interne Ermittlungen bist, dass du vielleicht wegen McArthur hier bist oder wegen Alfred dem Vogeltöter.«

Der Fall des »Vogeltöters«. Nun verstand Noah, warum es Gibson so wichtig war, dass McArthur ihr Gespräch mitgehört hatte, als er Billy, den Räuber mit dem Nasenbluten, aus dem Verhörraum gezerrt hatte. Einen Monat vor Noahs Versetzung war ein Verdächtiger namens Alfred Galt, ein Dieb, der der »Vogeltöter« genannt wurde, weil er im städtischen Schlachthof von Glasgow für das Zerstückeln von Hühnern verantwortlich war, in seiner Zelle gestorben, nachdem McArthur ihn über mehr als sechs Stunden im Verhörraum in die Mangel genommen hatte. In jenem Loch, das seine Kollegen liebevoll »die Keksdose« nannten.

»Das ist doch Blödsinn!«, schnaubte Noah.

»Blödsinn ist, dass Graham dich von einem Tag auf den anderen hierherversetzt. Wer, der noch ganz dicht ist, bittet, vom CID in Edinburgh zu uns nach Partick versetzt zu werden? Und dann teilt er dich dem Morddezernat zu, aber keiner Einheit. Du treibst dich im Gebäude rum, ohne an einem konkreten Fall zu arbeiten, jagst irgendwelchen Gespenstern nach und bist so gesellig wie ein Maulwurf.«

»Absoluter Blödsinn!«, wiederholte Noah.

»Wenn das so ist, warum beweist du es dann nicht? Komm mit in den Pub, iss was und amüsier dich mit den Jungs, Himmel noch mal! Und dann gib dir die Kante wie ein richtiger Mann!«

Der Regen war stärker geworden, und Gibson zog sich unter das Dach des Gebäudes zurück.

Noah stieg in den Wagen. »Wir reden später weiter, Gibson«, hatte er gesagt und die Tür geschlossen.

War er wirklich hinter Bible John her?

Allein die Erwähnung dieses Namens sorgte bei jedem pensionierten oder noch aktiven schottischen Polizisten für Verärgerung und in The Marine umso mehr.

Ende der Sechzigerjahre hatte der Mörder, den die Presse Bible John nannte und der nie gefasst worden war, drei Frauen umgebracht, die er im Barrowland Ballroom kennengelernt hatte. Patricia Docker war die erste, danach folgten Jemima McDonald und Helen Puttock. Für Leute über 25 war der Donnerstagabend im Barrowland Ballroom perfekt, um eine angenehme Zeit mit Männern zu verbringen, die immer John hießen, oder mit Frauen, die sich stets Jane nannten. Und der bekannte schottische Tanzclub in Glasgow war einer jener diskreten Orte, an dem man sich den Ehering vom Finger ziehen und in die Tasche stecken konnte, um eine gleichaltrige Frau oder einen entsprechenden Mann kennenzulernen und zu tanzen und sich anschließend vielleicht sogar nach Hause bringen zu lassen, ohne dass jemand irgendwelche Erklärungen erwartete.

Man vermutete, dass es so oder ähnlich abgelaufen war. Alle drei Opfer waren mit Anzeichen heftiger Gewaltanwendung nicht weit von ihrem Zuhause tot aufgefunden worden. Als die Polizei daraufhin in Erwägung zog, dass ein Serienkiller in den Straßen Glasgows sein Unwesen trieb, hörte Bible John auf. Oder vielleicht auch nicht.

Abgesehen von den vermissten Frauen, die Noah seinem viktimologischen Profil zugeordnet hatte, gab es keinen wirklich eindeutigen Hinweis darauf, dass Bible John noch einmal zugeschlagen hatte, obwohl es einige seltsame Verbrechen an der Ostküste und zwei weitere in Dundee an der Mündung des Tay gegeben hatte, die 1979 und 1980 verübt wurden und einige Ähnlichkeiten mit Bible Johns Vorgehensweise aufwiesen. Fehlgeschlagene Versuche? Die Ermittlungen waren nicht gerade vorbildlich gewesen, dennoch hatte Noah in Erfahrung bringen können, dass, auch wenn die Leichen bekleidet zurückgelassen worden waren und mindestens ein Opfer nicht erdrosselt wurde, alle zum Zeitpunkt ihres Todes ihre Periode hatten.

Die roten Lichter blinkten immer noch, und endlich senkten sich die Schranken. In dem Moment fuhr aus der entgegengesetzten Richtung noch ein Auto mit hoher Geschwindigkeit über den Bahnübergang, und eine Schranke berührte beinah das Dach des Fahrzeugs. Das leuchtende Orange des Ford Capri kam Noah bekannt vor, und obwohl der Wagen ziemlich schnell an den stehenden Autos vorbeifuhr, gelang es ihm, das Kennzeichen zu entziffern.

John Clyde. Dieser Mann hatte ein Jahr zuvor, als Noah noch in Edinburgh ermittelt hatte, auf seiner Liste der möglichen Täter gestanden. Noah war bei der Durchsicht älterer Fälle aufgefallen, dass zwei Mädchen, die perfekt in das von ihm erstellte viktimologische Profil passten, in den Siebzigerjahren vom Campus der Universität verschwunden waren, an der auch Clyde studiert hatte. Es war Noah nicht gelungen nachzuweisen, dass Clyde die Mädchen dort kennengelernt hatte, und es war nicht einmal klar, ob sie dieselben Vorlesungen besucht hatten, aber Clydes Name stand auf der Liste der Studenten, die in den Monaten vor oder nach dem Verschwinden der jungen Frauen ihr Studium abgebrochen hatten.

Myriam Joyce und Helena Patrickson. Beide dunkelhaarig, schlank und nicht sehr groß. Beide hatten ihre Periode gehabt, als sie verschwunden waren. Doch genau wie bei den Fällen, die sich in Glasgow ereignet hatten, ging die Polizei schließlich davon aus, dass die Mädchen den Ort freiwillig verlassen hatten. Beide hatten Probleme im Studium gehabt und bereits verkündet, dass sie es abbrechen wollten. Außerdem hatten sie in schwierigen Beziehungen gesteckt, was sie dazu veranlasst hatte, hin und wieder allein auszugehen. Sie hatten schönes dunkles langes Haar gehabt, was vielleicht ein Zufall war, vielleicht aber auch nicht. Als sie zuletzt gesehen worden waren, hatten sie sich in der Gesellschaft eines gut aussehenden jungen Mannes befunden, der nicht so attraktiv war, dass man seinen Anblick niemals mehr vergaß, aber auch nicht so hässlich, dass es einem im Gedächtnis blieb. Ein ganz normaler junger Mann mit vertrauenswürdigem Aussehen, mit dem jedes Mädchen ohne Vorbehalte reden würde.

Noah hatte alle Männer, deren Namen auf seiner Liste standen, routinemäßig überprüft. Im Fall von John Clyde hatte er die Polizei von Killin, seinem Wohnort, um Informationen gebeten: Sohn einer alleinerziehenden Mutter, der bei ihr und seinen beiden Tanten aufgewachsen war. Nachdem er sein Philologiestudium an der Edinburgh University kurz vor dem Abschluss abgebrochen hatte, war er wieder in seinen kleinen Heimatort am See zurückgekehrt und hatte seitdem nirgendwo länger als zwei Monate am Stück gearbeitet. Er hatte kurzzeitig als Reiseführer auf einem der Touristenboote gejobbt, wo seine Tante angestellt war, und ein paar Wochen als Rezeptionist in dem Hotel, in dem seine andere Tante als Zimmermädchen arbeitete und seine Mutter als Hausdame. Offensichtlich war John Clyde nicht zum Arbeiten geboren.

Noah hatte das Gefühl, dass er zu jenen jungen Leuten gehörte, die glauben, dass es nichts gibt, was gut genug für sie ist, und es irgendwie schaffen, auch diejenigen davon zu überzeugen, die sich abrackern, um sie durchzufüttern. Eine andere Erklärung dafür, dass sich seine Mutter und seine Tanten nach wie vor um ihn kümmerten, als wäre er noch ein Kind, fiel Noah jedenfalls nicht ein.

Er erinnerte sich an Clydes Gesicht auf dem Foto in seinem Führerschein, das dem Bericht der Polizei in Killin beigelegen hatte. Laut diesem Dokument war er gerade 37 Jahre alt geworden, hatte sich aber ein kindliches Aussehen bewahrt, das ihn jünger erscheinen ließ. Er war stets gut angezogen, gepflegt und ein angenehmer Gesprächspartner. Er war freundlich zu den Nachbarn und höflich zu den Frauen. Jedoch hatte man noch nie eine Frau an seiner Seite gesehen. Was nichts bedeuten musste.

Noah hatte nicht lange gebraucht, um John Clyde als Verdächtigen auszuschließen. Dazu reichte es aus, sich die Gegend um das Haus, in dem er wohnte, anzusehen, ihn einen Abend lang in einer Diskothek zu beobachten und den Bericht der Polizei in Killin zu lesen. Johnny Clyde war die Trägheit in Person. Zu jener Zeit hätte Noah ihn niemals für jemanden gehalten, der die vorgeschriebene Geschwindigkeit überschritt, ein Stoppschild missachtete oder ein Glas zu viel trank. Daher fiel ihm nun sofort auf, dass er noch über den Bahnübergang gefahren war, als sich bereits die Schranken senkten.

Noah sah, wie sich die Rücklichter des Capri in der Dunkelheit entfernten. Er spürte, dass sein Puls schneller schlug, atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen, und traf eine Entscheidung.

Er setzte so weit zurück, dass er wenden konnte, um John hinterherzufahren, folgte ihm in sicherer Entfernung und achtete darauf, dass immer ein paar Autos zwischen ihnen waren, wobei ihm auffiel, dass John an diesem Abend nicht im üblichen Tempo fuhr. Zu dem Überqueren des Bahnübergangs bei sich senkender Schranke und aufblinkendem Warnlicht kamen noch andere Auffälligkeiten. Er überfuhr zwar keine rote Ampel, raste aber mit hoher Geschwindigkeit, bremste kurz ab, als er durch ein Wohngebiet fuhr, und gab gleich wieder Gas.

Der Ford Capri hatte keine normale geschlossene Kofferraumabdeckung, die Rückscheibe war Teil der Heckklappe und reichte bis fast auf Höhe der Blinkleuchten hinab, was ihm jenes besondere sportliche Aussehen verlieh, das ihn charakterisierte. Und es schien so, als transportiere John Clyde im Kofferraum seines Wagens etwas Großes, Plumpes. Als er außerhalb eines Wohngebiets über eine Unebenheit im Boden fuhr, geriet das, was Clyde im Kofferraum hatte, in Bewegung und war für einige Sekunden durch die Rückscheibe zu sehen. Noah schätzte, dass Johns gehetztes Fahrverhalten in direktem Zusammenhang mit der Ladung in seinem Kofferraum stand. Ein Gepäck, das, obwohl es mit einer Decke oder einer Plane bedeckt war, den trägen Johnny Clyde so sehr belastete, dass er in Aufruhr war.

In dem Moment, als Noah gesehen hatte, wie der Capri über den Bahnübergang raste, hatte er die Eingebung gehabt, dass gerade etwas Außergewöhnliches geschah, auch wenn er nicht in der Lage gewesen wäre, es zu erklären. Doch an allen Stellen seines Körpers, wo man den Puls spüren konnte, pochte das allmächtige Gefühl, die Beute gewittert, das letzte Teil gefunden zu haben, um das Puzzle zu vollenden.

Er versuchte sich zu beruhigen, atmete tief ein und aus, sodass sein Atem an der Autoscheibe kondensierte. Der eiskalte Regen, der aus Nordosten kam, wurde immer stärker, sodass Noah, obwohl die Scheibenwischer auf maximale Schnelligkeit eingestellt waren, zwischendurch gerade mal eine Sekunde lang die Straße sehen konnte. Hin und wieder rieb er mit dem Handrücken innen über die beschlagene Windschutzscheibe, wobei die Kälte von draußen seine Hand kühlte, die vom Fieber zu glühen schien.

Er wusste, wohin es ging. John fuhr nach Hause. Killin war ein beschaulicher Touristenort mit gerade mal 700 Einwohnern in einer bewaldeten Schlucht im Verwaltungsbezirk von Stirling, durchschnitten von den Wasserfällen des Flusses Dochart, bevor dieser in den Trossachs in den Loch Katrine mündete. »Die Trossachs« war die gängige Bezeichnung für die idyllische Tallandschaft mit ihren Wäldern, den vielen Wasserläufen, den einsam gelegenen Seen und den kleinen Inseln.

In diesem Garten Eden führte John Clyde sein bequemes Leben, während seine Mutter und seine Tanten den Lebensunterhalt für ihn verdienten. Das Haus, in dem er lebte und das jemand mit Sinn für Ironie Harmony Cottage getauft hatte, lag einsam und verwahrlost außerhalb des Orts, aber noch im Einzugsbereich.

40 Minuten später erreichte der Capri die Gegend um den Loch Katrine, und obwohl die Straßen hier deutlich kurviger waren, fuhr John Clyde mit gleichbleibend hoher Geschwindigkeit. Dies war sein Terrain, in dem er sich auskannte. Bei seinem Verfolger sah das anders aus.

Noah hatte sich bei der routinemäßigen Überprüfung Clydes ein Jahr zuvor in der Gegend umgesehen, was aber längst nicht bedeutete, dass er sich in der Landschaft mit den vielen kleinen Wegen gut zurechtfand.

Als Clyde etwas langsamer durch die kleinen Orte um den See fuhr, war Noah sicher, dass er dies nur tat, um der örtlichen Polizei nicht aufzufallen.

Harmony Cottage befand sich etwa eine Meile entfernt. Sie ließen den Bereich hinter sich, wo die Stege ins Wasser ragten und die Boote, die an den Seiten festgemacht waren, im schwachen Licht der Uferlaternen im Dunst des prasselnden Regens kaum zu sehen waren.

Für einen Moment überkamen Noah Zweifel: War es möglich, dass Clyde einfach nur auf dem Weg nach Hause war? Dass er es aus irgendeinem Grund nur sehr eilig hatte? Hatte er vielleicht seiner Mutter versprochen, zu einem bestimmten Zeitpunkt zurück zu sein? Denn obwohl Johnny von den Frauen in seiner Familie sehr verwöhnt wurde, gab es in derartigen verwandtschaftlichen Konstellationen oft für andere unerklärlich strenge Regeln.

Zu Noahs Überraschung nahm Johnny die Straße, die bergauf in den Wald führte.

In dieser Gegend gab es keine Häuser. Manche Teile der Straße, die zum See hinunterführten, waren im Frühjahr durch den vielen Regen, der von der Nordsee herüberzog, unbefahrbar. Und in dieser Nacht schien der gesamte Ozean über ihren Köpfen niederzugehen. Laut der Wettervorhersage würde der Höhepunkt des Gewitters, in dem sie sich gerade befanden, in etwa einer halben Stunde Glasgow erreichen.

Noah begann sich Sorgen zu machen. Er war sich bewusst, dass es von der Straße unzählige Abzweigungen gab, die an steilen bewaldeten Abgründen oder in felsigen Höhlen endeten oder, in entgegengesetzter Richtung, an kleinen Buchten am See. Es war äußerst schwierig, jemanden in der Dunkelheit über die kurvenreiche Straße zu verfolgen. Das Licht der Scheinwerfer seines Wagens leuchtete wie Sternschnuppen zwischen den Bäumen auf, und Noah fürchtete, dass es ihn verraten würde.

Das fahle Mondlicht verschwand immer wieder zwischen den großen dunklen Wolken. Es war absolut ausgeschlossen, ohne Licht zu fahren, wenn er nicht im See landen wollte, wo das alte Auto zu seinem Sarg werden würde. Noah machte das Fernlicht aus und konzentrierte sich darauf, den Rücklichtern des Capri zu folgen, die immer wieder hinter einer Kurve verschwanden und danach wieder auftauchten.

Wenn die Kronen der Bäume über der Straße so dicht wurden, dass er das Gefühl hatte, durch einen Tunnel zu fahren, hatte dies den Vorteil, dass der Lärm des niederprasselnden Regens für eine Weile abbrach. So hörte er das Geräusch des frisierten Motors und konnte den Abstand erhöhen.

Zum Glück fiel ihm auf, dass John die Geschwindigkeit verringerte, um dann langsam in einen stark mit Unkraut überwucherten abschüssigen Weg abzubiegen, den jeder, der sich nicht so gut auskannte wie Clyde, übersehen hätte.

Die dichten Bäume des letzten Teils der Strecke lichteten sich, und sie erreichten wieder das Ufer des Sees. Als zwischen den schnell über den Himmel ziehenden Wolken der Mond hervorschaute, erhellte sein Licht die bleierne gekräuselte Oberfläche des Loch Katrine. Das dunkle Wasser erinnerte in dieser Nacht an ein aufgewühltes Meer, das alles zu verschlingen drohte.

Der Capri blieb in einer Entfernung von etwa zehn Metern unter der Krone des letzten großen Baums stehen. Die Straße war zu Ende.

Noah schaltete das Licht seines Wagens aus und fuhr an den Rand des Wegs, wobei er merkte, wie der Boden unter den Rädern durch den intensiven Regen nachgab. Unmöglich, dass die Räder des Capri am matschigen Ufer des Sees nicht versinken, dachte er.

Noah tastete unter seiner Jacke nach seiner Dienstpistole, zog sie aus dem Holster, nahm im Dunkeln das Magazin heraus und fuhr mit dem Daumen über die Spitzen der Munition, um die Patronen zu zählen. Dann rammte er das Magazin wieder ins Griffstück der Pistole und hielt sich die Waffe ans Gesicht, sodass er den kalten Stahl an der Haut spürte, um sich Mut zu machen. Er seufzte. Sein Herz raste. Er versuchte sich zu beruhigen und ging im Kopf alles durch, was er über Bible John wusste, um es auf John Clyde zu übertragen, wobei er für sich die Gründe aufzählte, warum er ihn ein Jahr zuvor von der Liste der Verdächtigen gestrichen hatte.

Clyde war inzwischen 37, war also 1969 23 oder 24 gewesen. Zu der Zeit hatte er in Edinburgh studiert (an der Universität, an der zwei Jahre später zwei junge Frauen verschwunden waren) und hatte kein eigenes Auto gehabt. Es war also nicht so leicht für ihn gewesen, von einem Ort zum anderen zu kommen, und das war einer der Gründe, um ihn als Täter auszuschließen.

Doch Noah hatte das Profil der beiden Mädchen mit dem der möglichen Opfer abgeglichen und dann in Erfahrung gebracht, dass Clyde manchmal mit dem dunklen Morris einer seiner Tanten fuhr. Und einer der Zeugen im Fall Bible John hatte ausgesagt, Patricia Docker am Abend ihres Todes am Eingang des Queens Park an einer Bushaltestelle gesehen zu haben, und dort habe angeblich ein Morris 100 Traveller bei ihr angehalten. Der Zeuge war sich jedoch nicht sicher, ob sie eingestiegen war oder nicht.

Ein Indiz, das für Clyde als Täter sprach, doch jede Menge Dinge sprachen dagegen. Der Hauptgrund, John Clyde von der Liste zu streichen, war sein Charakter gewesen. Er war Noah einfach zu unreif erschienen, um beurteilen zu können, wann er aufhören musste, um zwischen seinen Verbrechen genügend Zeit verstreichen zu lassen, aber vor allem, um sich weiterzuentwickeln, um seine Taten auf ein höheres Niveau zu bringen. Denn das hatte Bible John getan. Er hatte sich nach seiner ersten Tat weiterentwickelt. Sein erstes Opfer hatte er auf der Straße gegenüber einer Parkgarage zurückgelassen. Für sein zweites Opfer hatte er einen dunklen, verlassenen Park gewählt, wo es erst am nächsten Morgen gefunden wurde. Und das dritte hatte er in ein Gebäude gebracht, das abgerissen werden sollte und wo die Leiche erst nach 24 Stunden gefunden worden war. Das erste Opfer hatte er eigenhändig erwürgt, bei den anderen beiden hatte er sich mit einem Stück einer herkömmlichen Wäscheleine bewaffnet. Er lernte schnell bei dem, was er tat.

Drei Frauen, die aus derselben Diskothek verschwanden und mit einem Mann gesehen worden waren, an den sich niemand genau erinnern konnte, nicht einmal die Schwester des letzten Opfers, Helen Puttock, die einen Teil des Abends gemeinsam mit den beiden verbracht und sich für ein Stück des Heimwegs ein Taxi mit ihnen geteilt hatte.

Dennoch war auf ihre Beschreibung hin das erste Phantombild entstanden. Die anderen Zeugen waren sich einig, dass er gesagt habe, er heiße John. Der Beiname »Bible« war wie üblich eine Erfindung der Presse, die darauf beruhte, dass sich einer der Zeugen vage daran zu erinnern glaubte, er habe etwas aus der Heiligen Schrift zitiert (auch wenn sich der Zeuge dahingehend nicht sicher war).

Aber das zusammen mit der Beschreibung eines wohlerzogenen, korrekten Mannes, der damit prahlte, Psalmen zitieren zu können, passte zu dem Namen »Bible John«, und das war der andere wichtige Grund, John Clyde als Verdächtigen auszuschließen. Denn es war für einen Mörder wie Bible John unwahrscheinlich, dass er sich mit seinem richtigen Namen vorstellte.

Die Zeitungen von damals hatten die Taten als »Verbrechen im Affekt« eingeordnet. Alle drei Opfer hatten ihre Periode. Die spontane Schlussfolgerung der polizeilichen Ermittler daraus war, dass dies den Mörder gestört hatte, dass er die Frauen womöglich getötet hatte, weil sie sich aus diesem Grund geweigert hatten, Sexualverkehr mit ihm zu haben.

Noah hatte fast das gesamte Material, das es über Bible John gab, durchgesehen. Hunderte Polizisten hatten an dem Fall gearbeitet. Allerdings war es Ende der Sechzigerjahre bei der Polizei in Schottland und überhaupt überall so, dass die Sammlung und die Aufbewahrung von Beweismitteln nicht besonders sorgfältig erfolgten. Zu einer Zeit, in der eine DNA-Analyse noch weniger wahrscheinlich war als eine Reise zum Mond, war es nicht üblich gewesen, biologische Spuren aufzuheben. Die wenigen sichergestellten Objekte hatten jahrelang vor sich hin modernd im Keller von The Marine gelegen, bis man sie zum CID nach Edinburgh gebracht hatte, wo sie dann weiter vor sich hin schimmelten.

Zum Glück gab es Tatortfotos. Die Qualität war nicht besonders gut, doch Noah hatte sie millimetergenau studiert und war zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich eindeutig nicht um irrational im Affekt begangene Gewaltverbrechen handelte, wie es auf den ersten Blick ausgesehen hatte.

In dem Chaos an den Tatorten, wo der Inhalt der Handtaschen der Opfer scheinbar sinnlos auf dem Boden verstreut war, hatte Noah ein Muster, ein Schema erkannt. Hinter diesem Durcheinander steckte eine Absicht, die Suche nach einer Damenbinde oder einem Tampon. Die waren in alldem Chaos sorgsam unter dem Rücken oder den Achseln der Opfer platziert worden, auf eine so geschickte Art, dass ein ungeschultes Auge es für Zufall hielt. Daher war es erst beim dritten Opfer aufgefallen.

Noah hasste die Legenden, die sich um die Verbrechen rankten, aber es gab etwas, was ihn an Bible John faszinierte, und das hatte damit zu tun, dass hinter dem, was er tat, eine Absicht steckte. Dass alle drei Opfer ihre Periode gehabt hatten, als sie umgebracht worden waren, konnte kein Zufall sein.

Es gab eine Sache, in der Detective Gibson recht hatte: Noah glaubte, dass Bible John noch lebte und weiterhin mordete, aber Noah war sich auch sicher, dass sich Bible John in den vergangenen 14 Jahren weiterentwickelt hatte und sich der Fortschritte in der forensischen Wissenschaft bewusst war. Jeder Verbrecher wusste, dass eine Leiche ein Zeuge ist, und Bible John konnte sich bestimmt denken, dass die Spuren und Indizien, die er 1968 und 1969 bei den drei ermordeten Frauen zurückgelassen hatte, dank der Mittel, über die man im Jahr 1983 verfügte, sehr wahrscheinlich zu seiner Verhaftung geführt hätten.

Noah öffnete die Autotür, stieg aus dem Wagen und ging ein paar Schritte zurück, um das hintere Ende des Escort herum.

Er verließ den Weg und huschte gebückt zwischen den Bäumen zum See hinunter, die hier dichter belaubt waren, aber nicht mehr so eng nebeneinanderstanden. Er verbarg sich dabei immer wieder hinter den Stämmen und achtete auf die wenigen Mondstrahlen, die hin und wieder einen Weg zwischen den dichten Wolken fanden.

Die Bäume machten einen erstaunlichen Lärm. Die Äste schlugen gegeneinander, und Noah hatte den Eindruck, dass überall vom Wind abgerissene Zweige herunterfielen. Er versuchte sich zu konzentrieren, um nicht in die falsche Richtung zu laufen, bis vor ihm die Rücklichter des Capri auftauchten, die in der Dunkelheit leuchteten wie die Augen eines Monsters.

Dort, wo der Wagen stand, war der Boden eben, und das dichte Laub des Baums, unter dem Clyde geparkt hatte, schien dafür zu sorgen, dass der Untergrund fester war. Die Scheinwerfer des Wagens leuchteten bis zum Ufer des Sees und erhellten den dicht fallenden Regen, der wie ein Vorhang vom Wind aufgeweht wurde.

Noah schrak zusammen. Er war zu weit herangegangen. Hastig machte er einen Schritt nach hinten, um sich hinter einem Baumstamm zu verstecken, und verfluchte das laute Knacken der Äste unter seinen Füßen.

Eines der Rücklichter des Capri verschwand hinter John, als dieser sich davorstellte, um den Kofferraum zu öffnen. Er nahm etwas heraus und ging, ohne den Kofferraumdeckel zu schließen, zum Seeufer. Im ersten Moment dachte Noah, dass es sich um eine Waffe handelte, ein Jagdgewehr, von denen es in dieser Gegend viele gab. Doch als Clyde durch das Licht der Autoscheinwerfer ging, konnte er sehen, dass es eine Schaufel war.

John näherte sich bis auf etwa drei Meter dem Ufer. Dort blieb er stehen und hob das Gesicht zum Himmel, als wären die Blitze, das Donnern und die unglaubliche Menge an eiskaltem Wasser, das ihn bereits bis auf die Knochen durchnässt hatte, ein Teil von ihm. In einer typischen Freddie-Mercury-Geste breitete er die Arme aus, und Noah beobachtete ungläubig die Szene im Regen vor ihm. John verharrte einige Sekunden lang in dieser Pose, als höre er im Geiste eine großartige Hymne, dann senkte er die Arme und begann im Schlamm am Ufer zu graben.

Weich, wie der Boden war, kam er schnell voran. Noah duckte sich und näherte sich dem Wagen.

Das Bündel war nicht besonders groß und in eine Decke mit schottischem Tartanmuster gewickelt. Selbst in dem kleinen Kofferraum des Capri nahm es längst nicht den gesamten Raum ein. Noah ging auf die Knie und spürte, dass die Erde unter seinem Gewicht wie weiche Butter nachgab. Vorsichtig wagte er einen Blick am Auto vorbei, um sich zu vergewissern, dass John noch immer grub. Dann schob er die starren Finger unter die Decke und berührte die feste, kalte Haut des Körpers darunter. Instinktiv zog er die Hand wieder zurück.

Er schlug die Decke beiseite.

Es war kein Kind, sondern eine sehr kleine Frau.

Noah tastete am Hals nach ihrem Puls, obwohl er wusste, dass dies unnötig war, und berührte dann den Unterkiefer, der bereits die ersten Anzeichen der Totenstarre aufwies. Am Arm der Frau waren drei Tattoos zu sehen, drei Namen, wahrscheinlich die ihrer Kinder: Sam, Gillian und Andrew, mit Blumen und Schmetterlingen verziert. In der Lücke zwischen ihren Beinen lag in einem Bündel ihre Kleidung, obenauf der Slip in einer undefinierbaren hellen Farbe, auf dem die dunklen Flecken des Menstruationsbluts zu sehen waren. Wie bei allen Opfern von Bible John.

Eines der großen Mysterien für die Ermittler, die sein Profil studiert hatten, war, wie Bible John es angestellt hatte, den Frauen eine derart intime Information zu entlocken. Vielleicht weil sie ihm, wie die Ermittler zur damaligen Zeit vermutet hatten, deshalb den Sexualverkehr verweigert hatten. Doch Noah hatte nie an diese Theorie geglaubt.

Er spürte, dass ihm schwindelig wurde, und er schloss die Augen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dabei fühlte er, wie ein enormer Druck von seinem Magen in seine Brust stieg, und ihn überkam erneut das intensive Gefühl der Übelkeit, das ihn seit dem Nachmittag begleitet hatte. Er dachte, er müsse sich übergeben, was kaum möglich war, da er seit Stunden nichts gegessen hatte. Die Übelkeit schnürte ihm die Kehle zu, und er hielt den Atem an, um nicht zu husten, obwohl er sicher war, dass John ihn bei dem tosenden Wetter nicht mal gehört hätte, wenn er laut seinen Namen gerufen hätte. Noah wartete geduldig, bis der Anfall vorbeiging, und deckte die Leiche respektvoll wieder zu.

Das Gewitter wurde noch stärker, der Himmel war inzwischen komplett von dunklen Wolken bedeckt, und nur die Blitze erhellten hin und wieder die dunkle Nacht.

Noah näherte sich seitlich dem Ufer, damit ihn das Licht der Scheinwerfer nicht verriet. Er ging halb gebückt, war nass bis auf die Knochen, und das Wasser lief ihm übers Gesicht und in die Augen, sodass er blinzeln musste, um überhaupt etwas sehen zu können. Er keuchte. Seine Nerven drohten ihn im Stich zu lassen. Er war sich seiner Lage bewusst, der Gefahr, in der er schwebte, aber da war noch etwas. Es war, als blinkten noch immer die Lichter des Bahnübergangs irgendwo an der Grenze zum peripheren Sehen in seinen Augen. Ein Alarmsignal, das er nicht hatte ausschalten können, seit John Clydes Ford Capri an ihm vorbeigerast war. Oder war es noch vorher gewesen?

Er wischte sich mit dem nassen Ärmel übers Gesicht. All das Wasser, das in den See strömte, drohte, ihm den Boden unter den Füßen wegzureißen, und er sank immer weiter ein.

Noah war noch etwa zehn Meter von dem Loch entfernt, das John zu graben versuchte, als er ihn schreien hörte. Es war ein fast tierisches Brüllen, reine Verzweiflung. Instinktiv warf sich Noah zu Boden. Dann hob er ganz langsam den Kopf und sah, dass Clyde gut 15 Schritte nach links gegangen war, wo das Licht der Autoscheinwerfer ihn nicht erreichte. Nun grub er dort, ging aber gleich darauf ein paar Schritte näher zum Ufer, um an dieser Stelle weiterzugraben. Noah verstand nicht, was der Mann dort trieb, denn er war davon ausgegangen, dass er die arme tote Frau irgendwo verscharren wollte.

John schrie erneut, und das zornige Heulen war selbst im Lärm des Gewitters deutlich zu hören. Dann begann er wie ein Verrückter scheinbar ziellos hin und her zu laufen, um immer wieder irgendwo in der Uferregion die Schaufel in den schlammigen Boden zu rammen. Vom Abhang hinter ihnen lief immer mehr Wasser in die überschwemmte Bucht, das sich mit den Wellen vereinte, die der Wind ans Ufer trieb.

John grub immer noch im fast flüssigen Schlamm, in dem er bis zu den Waden versank und der von der Schaufel rann. Plötzlich fiel er auf die Knie, als hätte ihn einer der Blitze getroffen, die über den Himmel zuckten, warf die Schaufel von sich und versuchte mit den Händen einen Hügel aus Schlamm zu formen. Ein heftiger Blitz erhellte die Nacht, und Noah war sicher, dass John ihn gesehen hätte, hätte er in diesem Moment den Kopf gehoben. Doch der hatte nur Augen für das, was sich aus der Erde erhob.

Es war ein Schädel. Er musste schon eine ganze Weile dort gelegen haben, denn das Licht des Blitzes ließ die vom Regen reingewaschenen Knochen weiß aufleuchten. John stand auf und versuchte mit bloßen Händen das Grauen mit Schlamm zu bedecken, das nun aus einem anderen sich öffnenden Grab erstand.

Noah hörte ihn erneut schreien.

»Nein, nein, nein …!«

John fiel wieder auf die Knie und schleppte sich im Schlamm ein Stück zur Seite, bis er vor einem anderen sich öffnenden Grab kniete. Er schaufelte mit den Händen den flüssigen Schlamm über die Schädel seiner Opfer, ohne dass es ihm gelang, sie wieder zu vergraben. Sein persönlicher Friedhof öffnete sich an mehreren Stellen, um mitleidlos den Inhalt der Gräber preiszugeben.

Noah zählte mindestens drei. Drei schwarze Blumen, die dem Schlamm entwuchsen. Das war der Beweis: John Clyde war Bible John und dies sein persönlicher Friedhof.

Noah erhob sich und griff mit beiden Händen nach seiner Waffe, überprüfte, dass sie auch entsichert war. Dann watete er im Lärm des Unwetters auf John zu und blieb hinter ihm stehen. John schaufelte weiterhin stöhnend mit den Händen Schlamm über die gräulichen Überreste eines toten Körpers, der schon auf dem Wasser schwamm.

Noah schrie: »Polizei! Keine Bewegung!«

John warf weiter Schlamm auf die Leiche, als hätte er ihn nicht gehört.

»John Clyde, Sie sind verhaftet!«, rief Noah und berührte John mit dem Lauf der Waffe am Kopf. »Legen Sie sich auf den Boden! Auf den Boden!«

Doch John legte sich nicht auf den Boden, sondern grub im vergeblichen Versuch, das Gesicht der Leiche zu bedecken, weiter im Schlamm. Er wirkte wie im Delirium, als befände er sich gar nicht mehr in der realen Welt.

Dann aber wirbelte er blitzschnell herum und schlug mit der Schaufel, die er im Schlamm gesucht hatte, während er so tat, als würde er mit den Händen graben, gegen die Beine seines Gegners.

Noah fiel zu Boden und verlor die Pistole. John warf sich auf ihn und drückte den Stiel der Schaufel quer gegen die Brust des Polizisten. Noah war sich seiner Lage sofort bewusst. Zweifellos war er viel stärker als John, da er mindestens 45 Pfund mehr wog, aber der Schlamm machte es ihm schwer, die darin versinkenden Beine zu bewegen.

John ließ die Schaufel nicht los, und das Wasser, das vom Abhang herunterlief, überschwemmte immer wieder für Momente Noahs Gesicht. Er versuchte sich aufzurichten, um Luft zu holen, und kämpfte gegen den Instinkt an, nach den Enden der Schaufel



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