Tödliche Kantaten - Sebastian Knauer - E-Book

Tödliche Kantaten E-Book

Sebastian Knauer

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Beschreibung

Ein geheimnisvoller Fund unter Johann Sebastian Bachs Grabplatte in der Leipziger Thomaskirche und der Besuch eines fast schon vergessenen Bekannten bringen den Hamburger Detektiv Pit Koch auf die Spur verschollener Originalwerke des großen Barock-Komponisten. Sie führt ihn ins heutige London und an die Westküste der Vereinigten Staaten – nach Los Angeles – sowie ins Hamburg des frühen 18. Jahrhunderts, wo sich das Orgelgenie aus Thüringen seinerzeit so auffällig oft blicken ließ … Korrupte Kunsthändler, manische Sammler, Musiker in Lebensgefahr: Dieser Krimi über die Macht der Musik schlägt den Leser ab der ersten Seite in den Bann. Sebastian Knauer bietet ein actionreiches Abenteuer, das bis hin zum Superschurken alles bietet, was ein kriminelles Lesevergnügen braucht. Am Schluss stehen die Buchstaben B.A.C.H. und geben ein neues Rätsel auf.

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Seitenzahl: 254

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Ähnliche


Für Julie.

Sebastian Knauer

TödlicheKantaten

Ein Musikkrimi

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Über den Autor

Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.

Friedrich Nietzsche

1

Magdalena machte diese bestimmte, drehende Kopfbewegung. Das pechschwarze Haar der jungen Frau flog kontrolliert nach hinten. An ihrer Wange schuf sie Platz für das polierte Ebenholz der Kinnstütze ihrer Bratsche, die mit einem blütenreinen weißen Tüchlein bedeckt war. Konzentriert verharrte sie mit dem gespannten Bogen, der in wenigen Sekunden die Saite kraftvoll anreißen und zum Schwingen bringen sollte.

Dies war der Moment, in dem sich der Amerikaner in sie verliebte. Er würde sich immer daran erinnern, wie er zum ersten Mal ihr markantes Profil wahrnahm. Bei jeder der vielen Frauen, denen er nahegekommen war, gab es diesen ersten Moment. Bei Magdalena waren es zwei kleine Falten auf der Stirn, die sich mit der ersten Schallwelle aus ihrem Instrument verflüchtigten, die Entspannung des ersten Tons, der den gesamten Raum füllt. Magdalena entsprach genau seinem Typ, er musste sie kennenlernen.

Stumm folgte er dem Konzert, mehr mit den Augen als mit den Ohren. Schubert und das Streichquartett traten zurück hinter Magdalena und ihrem besonderen Kopfschwung, der sich bei jedem neuen Einsatz wiederholte. Der Amerikaner wünschte sich, dass dieses Konzert nie zu Ende ging. Er wusste, dass etwas Großartiges passiert war. Er hatte die Frau gefunden, die sein größtes Geheimnis zum Klingen bringen würde, nur für ihn, auch wenn die Noten der ganzen Menschheit gehörten. Er hatte die richtige Botin für die göttliche Botschaft gefunden. Nach dem Konzert würde er Magdalena in sein Geheimnis einweihen. Er war sich sicher, dass sie nicht Nein sagen würde.

Nach etwas mattem Beifall und einer knappen Zugabe verließen die Musiker die Bühne. Magdalena verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung ihres schlanken Körpers in dem schlichten schwarzen Kostüm vom Publikum. Diesmal fielen ihre Haare in die andere Richtung.

Sie sah den gut aussehenden Mittsechziger in der ersten Reihe genauso freundlich an wie die anderen Konzertbesucher. Gegen das grelle Licht der Scheinwerfer konnte sie keine Einzelheiten erkennen. Im Gesicht dieses Mannes nahm sie jedoch für einen Sekundenbruchteil die kalten und zugleich einladenden Augen wahr. Woher kannte sie diese Augen? Magdalena wendete sich schnell ab und steuerte auf den Raum für die Musiker hinter den Kulissen der Musikhalle zu. Der Cellist hatte die Tür zu dem muffigen Zimmer mit den hellbraunen Resopaltischen für sie offen gehalten. „Wo bleibst du denn?“, rief er ungeduldig.

„Hast du diese Frau bemerkt?“, fragte Napoleon Newman seinen Nachbarn in der ersten Reihe beim Aufstehen. Seine Knie waren vom langen Sitzen etwas steif geworden. In seinem fortgeschrittenen Alter ganz normal. Regelmäßiges Schwimmen in seinem Pool mit Blick über den Pazifik bei Santa Monica und die morgendlichen Ausritte auf seiner Ranch in den Bergen hielten ihn aber ziemlich fit.

„Du warst ja völlig weg.“

„John, du bist ein guter Beobachter, du kennst mich.“

„Mm.“

„Diese Kopfbewegung, dieser Ton, diese Ausstrahlung.“

„Willst du sie haben?“, fragte John.

In John Miles’ Welt war das eine normale Frage. Der hünenhafte Mann im hellgrauen Businessanzug, der nur notdürftig seine 9-Millimeter-Kanone unter der linken Achsel verdeckte, war der langjährige Bodyguard und unsichtbare Begleiter des Medientycoons Napoleon Newman. In seiner Welt war alles käuflich, und zwar wirklich alles. Nicht nur Frauen. Auch das Leben war käuflich, oder besser der Tod. John Miles hatte für seinen Herrn, der ihm ein komfortables Leben an der Westküste der Vereinigten Staaten ermöglichte, schon manche schmutzige Arbeit erledigt.

„Idiot, ich will sie nicht haben, ich will sie davon überzeugen, für uns tätig zu werden.“

„Verstehe. Tätig zu werden als Geliebte oder als Geschäftspartnerin?“

„Ich erkläre dir das später, sorge dafür, dass ich sie gleich treffen kann.“

Miles wusste mit solchen Aufträgen umzugehen. Sein Deutsch war zwar äußerst rudimentär, aber wer als Gesandter eines der mächtigsten Medienmanager der westlichen Welt kommt, findet auch in seiner Muttersprache schnell offene Ohren und Türen. Draußen in der Lobby wartete schon der Geschäftsführer des Musikverlags, der den heutigen Konzertbesuch arrangiert hatte. Für ihn ging es um ein millionenschweres Lizenzgeschäft mit den Amis. Wichtigtuerisch wedelte er mit dem Programmheft, während er sich aus einem weinroten Polstersessel emporschraubte.

„Mr. Newman, wir sind hier!“

„Mr. Newman hat einen Wunsch“, sagte John Miles.

„Schon erfüllt“, flötete der Verlagsmann.

„Mr. Newman möchte die Musikerin an der größeren Violine jetzt gleich treffen.“

„Größeren Violine?“

„Wie heißt das verdammte Ding? Die Lady im schwarzen Kostüm mit den langen Haaren.“

„Aha, die Bratschistin. Eine Bratsche, eine Viola.“

„Egal, können Sie das arrangieren?“

„Sicher, wir haben einen Tisch im Restaurant River, einem der schönsten Restaurants unten am Hafen mit Blick auf die Elbe, reserviert, für unsere Gesellschaft, wenn Sie erlauben. Die Musiker sind dazugeladen.“

„Keine Gesellschaft. Mr. Newman wünscht die Lady alleine zu treffen.“

Der Geschäftsführer wand sich. Die Sache kam auf die schiefe Bahn: Er wusste, wie selbstbewusst und eigensinnig Magdalena war. Sie würde sich nicht auf irgendwelche nächtlichen Treffen einlassen. Fieberhaft suchte er nach einer diplomatischen Lösung für den heiklen Auftrag.

„Lassen Sie mich nachdenken.“

„Das sollten Sie aber schnell tun“, sagte John Miles, „wir wollen doch nicht, dass Mr. Newman ungeduldig wird.“

„Nein, natürlich nicht, ich gehe gleich mal zu den Musikern, um die Sache zu klären.“

„Gut“, sagte Miles mit seiner Baritonstimme, die noch eine Oktave tiefer zu rutschen schien. Er wäre eine Idealbesetzung in Webers Freischütz gewesen. „Mr. Newmans Limousine wartet vor dem Haupteingang.“

„Sicher, Geduld, ich fliege!“

Inzwischen hatte Napoleon Newman die Lobby betreten. Er nickte dem davoneilenden Verlagsmann knapp zu und setzte sich in einen Polstersessel.

„Okay, John, wie sieht es aus? Wann kommt sie?“

„Wir arbeiten dran, die Deutschen haben vor, uns ins Restaurant zu schleppen. Irgend so ein Ding am Hafen.“

„Oh, am Hafen, klingt interessant. Wir haben allerdings keine Gummistiefel dabei.“

„Da werden wir aber in Gesellschaft sein. Du wolltest doch die Lady alleine sprechen.“

„John, du bist kulturell so ungehobelt. Liebe geht durch den Magen. Lass uns mit der Truppe was Kleines essen gehen, ein paar Austern oder was immer dieser Hafen so bietet. Sorge nur dafür, dass ich neben der Violinistin sitze.“

„Das ist eine Bratsche.“

„John, ich bin beeindruckt. Du lernst immer noch schnell. Sorge dafür, dass ich neben der Bratschen-Violine sitze. Der Abend ist noch lang. Ich will sie kennenlernen und nicht verführen. Jedenfalls heute Abend nicht.“

„Verstanden, Chef“, sagte Miles regungslos.

In diesem Moment kam der Geschäftsführer zurückgewedelt. Auf seiner hohen Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet. Natürlich hatte Magdalena es brüsk abgelehnt, mit dem scheinbar wichtigen Geschäftspartner des Musikverlags zu entschwinden. Sie sei eine hoch gebildete Musikerin und kein Callgirl, das hatte sie ihm in aller Deutlichkeit ins Gesicht gesagt. Der Cellist hatte vor Schreck fast sein wertvolles Instrument fallen lassen, als er den lauten Dialog mit anhören musste. Was dieser Ami sich denn einbilde, er musste ja ein besonders übles Exemplar von Westküsten-Chauvi sein. Kein Bitten und Flehen konnte sie umstimmen. Magdalena würde wie die anderen Musiker gerne noch mit ins Restaurant kommen. Mehr nicht. Punkt. Fermate. Fine. Basta.

„Also“, wand sich der Geschäftsführer, „es gibt da ein kleines Problem …“

„No problem“, sagte John Miles. „Mr. Newman ist sehr neugierig auf den Hafen. Sorgen Sie nur dafür, dass die Dame neben ihm sitzt.“

Die gequälte Miene des Geschäftsführers hellte sich schlagartig auf. „Das ist ja wunderbar, Mr. Newman wird sehr zufrieden sein. Ich schlage vor, ich begleite Sie jetzt zum Restaurant, die anderen folgen unverzüglich.“

„Okay, let’s go“, sagte Miles.

Newman schaute ihn aus seinem Sessel gelangweilt an. „Können wir?“

„Wir können, die Bratsche freut sich auf ihren Einsatz.“

Newman schmunzelte. Er würde Austern nehmen, das wusste er schon jetzt, die waren jedenfalls schon geöffnet. Der Rest war das Abenteuer eines Abends, der sein Leben verändern sollte.

Die Gesellschaft hatte offensichtlich den besten Tisch bekommen, ganz vorne an der Glasfront, die einen grandiosen Panoramablick freigab. Auf dem bleigrauen Wasser spiegelten sich die Neonleuchten der Hafenanlagen. In der Strommitte lief gerade ein riesiges Containerschiff Richtung Nordsee aus. Winzig wie Ameisen waren einige Besatzungsmitglieder an der Reling zu erkennen. Am linken Ufer standen glitzernde Büroneubauten, die sich in der Nacht vor der Kulisse der Stadt abhoben.

„Very nice“, sagte Newman. Bevor die ganze Gesellschaft eintraf, schlug der Geschäftsführer vor, doch einen Aperitif an der Theke zu nehmen. Newman nickte zustimmend, er war guter Laune heute Abend. Normalerweise hasste er Aperitife. Er war einer der Menschen, die nicht warteten, sondern erwartet wurden. Zuspätkommen war eine Kategorie, die er für sich nicht kannte. Für klebrige Getränke war er außerdem überhaupt nicht zu haben, und so bestellte er sich ein Wasser. Der Geschäftsführer entschied sich ebenso wie John für Champagner. Um die Zeit zu überbrücken, referierte er ein paar Stationen aus der Hafenentwicklung und wie ein so elegantes Restaurant direkt am Wasser hinter den einst heruntergekommenen Hallen für den Handel von Fisch und Krustentieren entstehen konnte. Die Amerikaner hörten freundlich zu.

In Gedanken jedoch war Napoleon Newman bei der Bratsche. Er musterte von seinem Barhocker aus unauffällig die Tür. Seine Knie waren wieder ganz elastisch. Sie musste jeden Moment kommen.

„Hat Ihnen das Konzert gefallen?“, lenkte der Geschäftsführer das Thema auf den Abend in der Musikhalle.

„Ja, sehr gut“, sagte John.

„Verkaufen Sie solche Musik eigentlich gut in Europa?“, fragte Newman unvermittelt zurück.

„Nun ja, es ist ein spezielles Publikum, aber wir haben in diesem Segment stabile Zuwächse.“

„Freut mich zu hören“, sagte Newman. „Wie heißt sie eigentlich?“

Der Geschäftsführer blickte verwirrt. John wusste sofort, was gemeint war.

„Ah, da sind sie ja“, sagte Newman in diesem Moment.

Magdalena sah noch hinreißender aus, als er sie von dem Konzert in Erinnerung hatte. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt und die Lippen mit einem burgunderroten Lippenstift dezent nachgezogen. Auch ohne ihr Instrument wirkte sie ganz wie eine Dame. War sie vielleicht mit dem Cellisten privat verbunden? Über den Beruf fanden sich schließlich die meisten Menschen für das Leben zu zweit oder für eine leidenschaftliche Affäre. Newman schob den Gedanken gleich wieder beiseite und straffte sich, während er einen Schritt von der Theke wegtrat.

Magdalena musterte die Gesichter der beiden ihr unbekannten Männer. Welcher war Mr. Newman, der ihr vorhin diese unmissverständliche Bitte übermitteln ließ? Sie tippte auf den Linken der beiden, er hatte die Ausstrahlung eines „Big Boss“. Zudem changierte sein hellgrauer Anzugstoff in einem Glanz, wie ihn nur eingewebte Seide erzeugen konnte. Dafür, dass er offenbar ein chauvinistisches Arschloch war, sah er ziemlich gut aus, dachte sie und lächelte wieder.

„Mr. Newman“, sagte der Geschäftsführer, „darf ich Ihnen unsere Musiker vorstellen?“

„Gerne“, sagte Newman. Höflich hörte er sich die Namen der beiden Violinistinnen und des Cellisten an, während er nur auf die Bratsche wartete.

„Magdalena Lafayette.“

„Welch ein schöner Name. Könnte aus einem barocken Liebesroman sein“, sagte Newman.

Seine kalten Augen vertieften sich in Magdalenas Gesicht. Sie hielt dem Blick lächelnd stand – und spürte plötzlich eine Hitzewelle bis zu ihrer Kopfhaut hochsteigen. Dieser Mann war gefährlich für sie, sehr gefährlich.

„Und Sie sind also dieser berühmte Medienmann, der mich vorhin abschleppen wollte?“, zwang sie sich zu ihrer gewohnten Direktheit.

Newman lächelte. Es gefiel ihm, wenn man ihm Widerspruch oder Kritik bot, denn dank seines Geldes, seiner Macht und seines Einflusses hatte er viel zu viele Speichellecker um sich.

„Abschleppen“, sagte er gekünstelt, „dieses Wort verstehe ich nicht. Wenn Sie damit meinen, dass ich Sie jetzt zu unserem Tisch begleiten darf, dann haben Sie recht.“ Er machte eine halbe Wendung in Richtung des Lokals.

„Ich habe einen Sauhunger“, sagte Magdalena auf Deutsch und ziemlich laut. Der immer diskrete Oberkellner konnte sich ein Zucken seiner Unterlippe nicht ganz verkneifen.

„Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“ Newman hatte Magdalenas rechten Arm untergehakt und zog sie sanft die drei Stufen hinab zu den Tischen. Der geht ja ganz schön ran, dachte sie, während er dem Kellner mit einem Wink bedeutete, die Stühle zurechtzurücken.

„Wenn Sie erlauben, sitze ich neben Ihnen, um Sie besser abschleppen zu können“, sagte Newman.

Magdalena nahm stumm ihren Platz ein. Das konnte ja ein lustiger Abend werden. Sie machte dem Cellisten ein Zeichen, an ihre andere Seite zu kommen. Im Setzen flüsterte sie ihm zu: „Pass auf, dass ich hier lebend rauskomme, nicht zu viel trinke und mich ordentlich benehme.“ Sie wusste, sie würde nur zwei der drei Vorsätze halten können.

Als endlich alle saßen, teilte der Oberkellner die großen Menükarten aus. Newman reichte sie ungeöffnet weiter an John mit der Bemerkung: „Du weißt, was ich nehme.“ Er widmete sich sofort ganz und gar Magdalena, die unter dem weißen, gestärkten Tischtuch ihre teuren, vorne spitz zulaufenden italienischen Schuhe ausgezogen hatte. Jetzt konnte sie endlich ihre Zehen bewegen, während sie auf der Karte nach ihrem Lieblingsgericht suchte.

„Grüner Hering?“, fragte Newman, als sie ihre Präferenz für den gebratenen frischen Fisch erklärte. „Und das schmeckt?“

„Und wie, Sie sollten es probieren.“

„Oh danke, ich bleibe bei den Austern.“

„Wie öde, da fliegen Sie zehntausend Kilometer von Los Angeles in unsere schöne Stadt mit dem besten grünen Hering und essen das, was Sie immer essen.“

„Sie sagten, da sind Zwiebeln dran?“

„Genau, schön viel rohe Zwiebeln und jede Menge feine Gräten, an denen Sie sich zu Tode verschlucken können.“

„Das macht Mundgeruch und tot“, sagte Newman.

„Das ist ja das Schöne, Sie wollten mich doch abschleppen, jetzt sollten Sie sich das noch mal überlegen.“

Newman schaute sie ernst an. „Wissen Sie, wie viele Kantaten Johann Sebastian Bach geschrieben hat?“

„Bitte“, sagte Magdalena überrascht, „Sie scheinen sich ja wirklich für Musik zu interessieren. Wenn ich mich richtig an mein Studium erinnere, waren es so an die fünfhundert, von denen die Forschung heute ausgeht.“

„Die Forschung, ja die Forschung“, sagte Newman spöttisch.

„Aber von diesen fünfhundert sind gute zweihundert – so sagt die Forschung – nicht mehr vorhanden.“

„Nicht mehr vorhanden? Was heißt das?“, fragte Newman.

„Verloren, vermisst, verschüttgegangen“, sagte Magdalena, „im Laufe der Zeiten verschwunden.“

„Donnerwetter, ich scheine es mit einer Bach-Expertin zu tun zu haben.“

„Ach was, das ist gesundes Halbwissen. Außerdem gibt es so viele Bach-Experten auf der Welt, dass jeder Pups des großen Meisters erforscht ist.“

„Spricht so eine Dame?“

„Und Sie“, fragte Magdalena, „wieso interessieren Sie sich dafür? Sie sind doch nicht einer dieser verschrobenen Bach-Liebhaber, die für eine selten gespielte Toccata über Leichen gehen würden. Oder?“

Newman schaute sie irritiert an, als wollte er fragen: Woher wissen Sie das denn?

„Doch, genau so einer bin ich“, sagte er dann nachdenklich, jedes Wort betonend. Lächelnd fuhr er fort: „Nein, ich komme auf das Thema, da ich Ihr Spiel heute Abend bewundert habe und mich frage, ob Sie auch barocke Musik interessiert.“

„Wieso?“

„Nun, ich hätte unter Umständen ein interessantes Angebot für Sie, es geht um die Aufführung neuer Musik, oder besser gesagt alter Musik im neuen Gewande in einem exklusiven Kreis.“

„Kammermusik?“

„Ja, im weitesten Sinne. Es ist ein sehr kleines Ensemble, das sich für besondere Aufführungen zusammenfindet. Keine Öffentlichkeit, nur geladene Gäste, strikte Diskretion.“

„Das besprechen Sie am besten mit meiner Agentin.“

„Nein“, sagte Newman, „das bespreche ich nur mit Ihnen. Aber jetzt lassen Sie uns erst einmal essen, Ihr Hering sieht ja köstlich aus.“

Wie kann sich eine so attraktive Frau nur so einen verschrumpelten toten Fisch in ihren schönen Mund stecken, dachte er.

2

Die Strömung in der Bay vor San Francisco hatte den toten menschlichen Körper erfasst. Gemächlich im Rhythmus der Dünung schaukelnd, trieb die Leiche der jungen Frau mit dem bunten Sommerkleid hinaus aufs offene Meer. Ihre Augen starrten in die blaue Tiefe des Pazifiks, der ihr Grab geworden war. Ihre Hände hielten noch ein Büschel der Haare ihres Mörders, der sie vor ein paar Minuten aus der Seitentür eines Hubschraubers in fünftausend Fuß Höhe gestoßen hatte. Die Todesangst hatte sie nur für wenige Sekunden des freien Falls begleitet, denn der Schock hatte sie in eine erlösende Ohnmacht geführt, bevor ihr zarter Körper mit Tempo zweihundert auf der betonharten Wasseroberfläche aufprallte.

Am späten Nachmittag hatte die junge Flötistin in L.A. den Hubschrauber ihres Arbeitgebers bestiegen, um für „gute Geschäftsfreunde“ auf der Ranch in den Bergen ein Abendkonzert zu geben. Das war nichts Ungewöhnliches, wenn es um Musik ging, scheute der Boss keinen Aufwand. Doch statt ins Landesinnere zu fliegen, schwenkte die Maschine auf halbem Weg Richtung Norden ab, die junge Frau erkannte die zerklüftete Küstenlinie mit dem Highway 1 und den mächtigen Redwood-Wäldern.

„Wo fliegen wir denn hin?“, fragte sie beunruhigt ihren Begleiter, der im Personenschutz des Chefs tätig war.

„Sperrung des Flugkorridors“, brüllte der gegen das Rotorengeräusch.

Na gut, dachte sie, es würde schon alles in Ordnung sein.

Plötzlich erfasste ihr Sitznachbar den Griff der Außentür und entriegelte ihn. Genauso blitzschnell löste er ihren Sicherheitsgurt. Der Pilot steuerte die Maschine in eine steile Rechtskurve, und die Flötistin schrie vor blanker Angst. Während sie der offenen Tür entgegenrutschte, klammerte sie sich an den Leibwächter, doch der schob sie auf der glatten Ledersitzbank weiter zum Abgrund, statt sie festzuhalten. Ihre in seinen dichten Haarschopf gekrallte Hand schlug er mit einem gezielten Hieb weg. Es war der letzte irdische Schmerz, den die junge Frau erlitt, bevor ihr Körper aus dem Hubschrauber glitt, der sofort wieder in eine stabile Lage zurückkehrte und seine Geschwindigkeit reduzierte. Sie stürzte kopfüber ihrem Tod entgegen.

„Du Biest“, fluchte der Leibwächter, der sich die blutende Kopfhaut massierte, während er die Gleittür wieder zu schließen versuchte. Das Geheimnis der Kantaten sollte die Musikerin mit auf den Grund des großen Ozeans nehmen. Sie hatte den Fehler gemacht, mit einem Dritten über ihren Job hinter den verschlossenen Mauern der Luxusvilla von Santa Monica zu sprechen. Es war nur eine flüchtige Bekanntschaft gewesen, die sie tagsüber am Strand gemacht hatte. Sie hatten einige laue, aber leidenschaftliche Nächte in einem Strandhotel in Mexiko verbracht. Damit hatte sie gegen die Spielregeln verstoßen, und jetzt wurde sie verstoßen. Das Band war gekappt, sie hatte sich für den Tod entschieden. Newman würde sich eine neue Flötistin suchen müssen.

3

Der Platz vor der Thomaskirche lag an diesem Hochsommermorgen gegen sechs Uhr bereits in einem hellen milden Licht, das die Konturen der prächtigen, wenn auch teils maroden Altbauten besonders edel erscheinen ließ. Dietrich Heinzmann, von seinen Freunden Didi genannt, war in blauer Arbeitsjacke und grauer Hose unterwegs zu seinem Arbeitsplatz. Über seiner Schulter hing eine abgewetzte Ledertasche, in der sich seine Thermosflasche und ein altmodischer Henkelmann mit einem gut belegten Salat-Schinkenbrot befanden. Seine Frau, mit der er in einer der Plattenbauten vor der Stadt wohnte, wusste ihren Didi immer wieder zu verwöhnen.

Als Hausmeister der Thomaskirche hatte er ein volles Programm. An solchen mittelalterlichen Bauwerken gab es immer etwas zu reparieren. Didi kannte wie kaum ein Zweiter das Innenleben der Kirche und der dazugehörigen Gebäude. Jeder Stein, jedes Fallrohr, jeder Wasserhahn war ihm nach fast zweieinhalb Jahrzehnten Hausmeisterei vertraut. Seine sachkundigen Dienste waren für dieses Bauwerk nahezu unersetzbar. Er war das Herz der alten Kirche mit der großen Geschichte.

„Guten Morgen, alle zusammen“, sagte Didi in seinem nuscheligen Sächsisch, nachdem er die eichene Pforte des Nebeneingangs aufgeschlossen und den Vorraum zum Kirchenschiff betreten hatte. Zu dieser frühen Stunde war niemand da, der seinen Gruß erwidern konnte. Vielleicht meinte Didi die vielen Seelen, die in dem Kirchenbau wohnten, vielleicht wollte er auch nur die guten und schlechten Geister beruhigen, die möglicherweise hier eine Nacht verbracht hatten. Im Untergrund um die Kirche lagen schließlich die Gräber mehrerer Hundert Leipziger der vergangenen Jahrhunderte. Didi war ein zutiefst gläubiger Mensch. Er hatte sich einfach angewöhnt, mit diesem Gruß seinen Tag zu beginnen. Der Mann, der unter einer dunkel glänzenden Bronzeplatte in der Mitte des Altarraums lag, konnte solche freundlichen Begrüßungen seit gut zweihundertfünfzig Jahren nicht mehr hören. So lange war der alte Bach schon tot.

Didi hatte sich vorgenommen, heute endlich die Bodenplatten neben dem Grabmal in Ordnung zu bringen. Aus ungeklärten Gründen hatten sich mehrere der terrakottaroten Fliesen abgesenkt und einen störenden Absatz gebildet. Es hatte bei der Kirchenleitung Beschwerden gegeben, nachdem ein amerikanischer Tourist gestolpert war und sich eine Prellung zugezogen hatte. Didi hatte schon immer gesagt, dass der gesamte Bereich auch aus Respekt vor dem Toten abgesperrt werden sollte. Der Verwaltungsmann hatte aber anders entschieden. Er fürchtete wohl, eine seiner besten Einnahmequellen zu verstopfen, wenn er nicht weiterhin Besucher aus aller Welt so nahe an die historische Grabstätte heranließ. Am Ausgang standen schließlich unübersehbar die großen Sammelbehälter aus massivem Messing. „Wir danken für Ihre Spende, die dem Erhalt der Kirche mit dem Grabmal des berühmten Komponisten JSB zugutekommt.“ JSB, Johann Sebastian Bach – jeder wusste hier, was das Kürzel bedeutete.

Didi hatte jetzt drei Stunden Zeit, bis um neun Uhr dreißig die ersten Kirchenbesucher kamen. Die Platten waren so lang und so breit wie ein alter Ziegel und mindestens zwei Komma sechs Zentimeter dick. Das wusste Didi von früheren Reparaturarbeiten. Er setzte die Spitze eines armlangen Stemmeisens in die Spalte. Der Stein rührte sich keinen Millimeter, als er den Hebel bewegte. „Verfluchte Scheiße“, sagte Didi, um sich gleich mit einem bittenden Blick auf das Kruzifix zu entschuldigen. Er würde zunächst alle Fugen freikratzen müssen.

Eine halbe Stunde später hatte er es endlich geschafft, der Stein ließ sich anheben. Didi schwitzte. Noch einmal setzte er das Stemmeisen an, als es passierte: Das Eisen rutschte von dem glatten Stein ab, stieß auf den sandigen Untergrund, durchbohrte etwas Metallenes und verschwand eine halbe Armlänge in dem darunterliegenden Hohlraum. Didi staunte. Was ist das denn, haben wir hier Maulwürfe? Er stocherte mit dem Eisen in dem Loch, aus dem ein modriger Geruch aufstieg. Nachdem er die oberste Sand- und Mörtelschicht freigelegt hatte, stieß er auf eine angerostete Metallkassette, etwa von der Größe einer Aktentasche.

Didi hätte jetzt seine Arbeiten einstellen und den Pastor über seine Entdeckung informieren müssen. Aber dazu war er zu neugierig, was sich hier verbarg, außerdem hatte er den Auftrag, die Reparatur zügig durchzuführen, und er hatte noch zweieinhalb Stunden Zeit. Didi schwitzte noch mehr, diesmal aus anderen Gründen. Es hatte Gerüchte gegeben, dass unter der Grabplatte nicht nur die Gebeine des alten Meisters lagen, die 1949 aus seiner Begräbnisstätte in der damals gesprengten Johanniskirche hierher verlegt worden waren. Es war die Rede von wertvollen Schriftstücken und Partituren aus dem Nachlass, die irgendwo versteckt worden seien. Didi hatte diese Geschichten nie geglaubt, da er sich sicher war, seine Kirche zu kennen. Da würde ihm keiner dieser schlauen Doktoren etwas vormachen können.

Didi grub mit ruhigen Bewegungen weiter. Dann legte er die ganze Kassette frei, indem er eine weitere Bodenfliese rüttelnd aus der Verankerung löste. Vorsichtig hob er nun das verrostete Behältnis aus seinem Versteck und setzte es auf die Fläche neben Bachs Grabplatte. In diesem Augenblick hörte er, wie die Tür zum Kirchenschiff geöffnet wurde. Er erstarrte und schob seinen blauen Werkzeugkasten vor die gerade geborgene Eisenkassette.

„Morgen, Didi, immer fleißig?“, rief eine bekannte Stimme. Es war nur der neue Organist, Nachfolger Bachs in der x-ten Generation. Didi atmete erleichtert aus. Der junge Musiker kam in letzter Zeit häufig am frühen Vormittag, um ungestört einige Stücke zu spielen.

„Morgen, muss ja“, rief Didi und drehte sich zur Orgelempore, auf deren hölzerner Zugangstreppe der unerwünschte Besucher bald verschwunden war. Glücklicherweise interessierte sich der Organist nicht für die handwerklichen Arbeiten in der Kirche. Nur die Register mit den Pfeifen, Klappen und Zügen seines Instruments kontrollierte er penibel. Er konnte Stunden im Innenleben der mächtigen Orgel verbringen. Von da oben würde er nicht mitkriegen, was Didi hier unten ausgebuddelt hatte. Jetzt erschien sein lachendes Gesicht über der Brüstung.

„Ich bring nur eben die Platte in Ordnung“, rief Didi.

„Mich stört es nicht, pass aber auf, dass du nicht den großen Meister weckst.“ Der Organist war schon dabei, die Abdeckung des Spieltischs aufzuklappen. Einen Moment stellte er sich vor, wie es wäre, wenn JSB jetzt lebend da unten säße und seinem Spiel zuhören würde. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Eine solche Prüfung würde er kaum bestehen, seine langgliedrigen Finger verkrampften sich unwillkürlich. Es war schon gut, dass der Alte da in seiner Gruft lag. Ein mächtiger Akkord erfüllte die Thomaskirche, wummernde Bässe schienen die Mauern vibrieren zu lassen.

Didi wandte sich wieder seinem Fund zu. Der Organist war jetzt erst mal beschäftigt. Er breitete einen alten Schmierlappen über die verrostete Kassette und hob sie mit einem leichten Stöhnen an. Obwohl er mit vierundsechzig Jahren kurz vor der Pensionierung stand, hatte er sich durch die viele körperliche Arbeit eine gute Konstitution erhalten. Auch wenn er in letzter Zeit ab und zu sein Kreuz spürte. Er trug den gut zehn Kilogramm schweren Behälter quer durch das Kirchenschiff in Richtung seiner Werkstatt. Sicher ist sicher. Dort legte er die Kassette auf dem untersten Brett eines verstaubten Regals ab. Er würde sie später ungestört auseinandernehmen, auch wenn jetzt schon seine Ungeduld groß war, den Inhalt kennenzulernen. Vielleicht hatte er ein ganz großes Ding entdeckt.

Auf dem Rückweg lud er im angrenzenden Vorraum zum Innenhof mehrere Schaufeln Bausand in seine Schubkarre. Bis die ersten Besucher kamen, hatte er die Bodenfliesen wieder so eingesetzt, als hätten sie seit Jahrhunderten an dieser Stelle gelegen. Mit einem Handbesen verteilte er die letzten Sandkörner in den Ritzen und fegte die angrenzende Grabplatte sauber. Der Alte würde ihm diese morgendliche Störung seiner Totenruhe bestimmt verzeihen. Didi klopfte mit dem Knöchel seines rechten Mittelfingers auf die schimmernde Bronzeplatte. „Alles klar, Chef, ich mach jetzt Schluss hier.“

Auf dem Rückweg in seine Werkstatt öffnete er mit dem altmodischen Eisenschlüssel die große Haupttür. Draußen warteten schon die ersten Besucher, natürlich eine japanische Gruppe mit bunten Hütchen und zu kurzen Hosen für den sakralen Ort. Didi sagte heute zum dritten Mal „Morgen“ und ließ die ungeduldigen Besucher in die Kirche. Die Japaner lächelten freundlich. Didi lächelte so freundlich zurück, wie es ein Hausmeister eben konnte. Jetzt war Zeit für seinen zweiten Kaffee, der in der Thermosflasche in der Werkstatt auf ihn wartete. Und vor allem wartete dort die Kassette. Didi wusste, dass er etwas tat, was nicht in Ordnung war. Egal.

In der Mittagspause hoffte Didi endlich seine Ruhe zu haben. Vorhin, als er sich gerade seinem Fund widmen wollte, hatte der Verwaltungschef ihn kurzfristig zu sich gerufen, um den Ablauf einer demnächst in der Kirche stattfindenden Veranstaltung zu besprechen. Er tat das in seiner üblichen herablassenden Art, da er Didi Heinzmann am liebsten schon längst entlassen hätte. Ihm war der erfahrene Hausmeister zu alt, einer aus der „früheren Zeit“, wie er ihm einmal sagte. Ob er denn nicht Angst hätte, dass er seine Stasi-Akte anfordern könnte. Sogar einen gehaltsmindernden Vorruhestand hatte er Didi schon angeboten, da es keinen Kündigungsgrund gab. Seit diesem Gespräch war ihr Verhältnis mehr als angespannt. So musste es ab 1723 zwischen dem Thomaskantor Bach und seinem Verwaltungschef gewesen sein. Didi hielt den Manager aus dem Westen für einen aalglatten Wichtigtuer, der ihn um seine Rente bringen wollte. Von der Kassette würde er dem schon gar nichts erzählen.

Regungslos hörte er im Stehen zu. Einen Platz hatte er von dem Schnösel bisher noch nie angeboten bekommen. Der Verwaltungstyp plusterte sich in seinem grauen Dreiteiler vor Didi auf. Es werde eine wichtige Delegation aus Berlin zu einer geschlossenen Abendveranstaltung erwartet. Jetzt verstand Didi auch, warum es mit der abgesenkten Bodenplatte so geeilt hatte. Er nahm ein paar bellend vorgetragene Anweisungen für den großen Tag entgegen. Warum die nur so ein Geschiss für die Politiker machen. „Ist ja wie damals“, sagte er. Der Verwaltungsmann zuckte mit den Achseln. „Anweisung von oben.“ Didi hatte verstanden. So etwas verstanden Hausmeister sofort, ob Ost oder West. Mit einer Liste des geplanten Programmablaufs zog er ab. Vor allem musste er für diesen Tag, notfalls mithilfe der Polizei, dafür sorgen, dass auf dem Vorplatz der Kirche keine fremden Wagen abgestellt wurden. Das gefiel ihm schon besser. Der Verwaltungschef konnte sich in diesem Punkt auf Didi verlassen, da würde er erbarmungslos durchgreifen.

Endlich war er allein. Das Glockengeläut hatte zur zwölften Stunde geschlagen. Didi packte sein Schinkenbrot aus, setzte sich auf einen abgeschabten Hocker und starrte, während er vor sich hin kaute, auf die unterste Ablage des Regals, wo eine rostige Ecke der Eisenkassette herausragte. Seine Eisenkassette.

Nachdem er sich gestärkt hatte, holte er seinen Fund aus dem Regal. Er entfernte Rost und Dreck vom Deckel und versuchte ihn anzuheben. Das robuste Stahlschloss hielt aber die Kiste noch gut zusammen. Didi nahm einen Hammer von der Werkzeugwand. Mit zwei gezielten Schlägen eines Spitzdorns löste sich das ganze Schloss aus der maroden Eisenplatte. Der zerlöcherte Deckel ließ sich langsam aufklappen. Didi achtete darauf, dass kein weiterer Dreck in die Kassette geriet.

Sein Blick fiel auf ein in Ölpapier gehülltes, mit einer Kordel verschnürtes Paket. Als er es vorsichtig aus der Kassette hob, fühlte es sich klamm, aber nicht nass an. Was auch immer darin war, musste in einem guten Zustand sein, da sich keine Würmer, Asseln oder andere Kleintiere hierher verirrt hatten. Darunter lagen eichene Holzklötzchen auf einem Stück Dachpappe. Da hatte sich jemand beim Einpacken große Mühe gegeben, den Inhalt vor Nässe zu schützen. Unter der Dachpappe wurde der rostige Kassettenboden sichtbar. Offenbar hatte Didi nun den ganzen Inhalt geborgen.

Vorsichtig wickelte er das etwa handdicke Paket aus. Zum Vorschein kam eine in blaues Leder gebundene Mappe. Ganz zuoberst lag darin ein handgeschriebenes Notenblatt. Es war sehr alt, wie die gelbbraune Färbung des an mehreren Stellen beschädigten Papiers vermuten ließ. Und Didi erkannte noch mehr: Es war die Notenhandschrift von JSB, genauso wie sie in der Ausstellung auf der anderen Straßenseite im Museum hinter Glas zu studieren war. Die charakteristische enge Schrift eines mittelbreiten Federkiels hatte auf den oberen Teil des Notenblatts den Titel platziert: Kantate zum fünften Sonntag nach Trinitatis. Ansonsten war die Mappe gefüllt mit mehreren Dutzend Pergamenthüllen, in denen Fotonegativstreifen steckten. Als Didi sie gegen das Licht hielt, sah er: Es waren Ablichtungen von Musiknoten, offenbar vom selben Komponisten.