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Der junge Chemiker Daniel ist traumatisiert vom Selbstmord seiner Frau. Er zieht für eine Übergangszeit in das väterliche Weingut in Neustadt und trifft dort zwei Personen, die sein weiteres Leben verändern: den kleinwüchsigen Küfer Perkeo, der ihn in die Feinheiten der Weinherstellung einweiht und die IT-affine, flippige Mediendesignerin Essie. Und immer wieder hört er von Selbstmorden in dem Germanistinnen-Milieu, in dem auch seine Frau gelebt hat. Er und Essie kommen schließlich hinter ein schreckliches Geheimnis, das sie in tödliche Gefahr bringt.
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Seitenzahl: 416
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Epilog
Nachwort
Personae dramatis
Es war ein trister Novembertag, einer dieser Tage mit tiefhängenden Wolken, aus denen immer wieder kalter Regen nieselt, ein Tag, der die Welt in eine Waschküche verwandelt und Menschen in wasserdichte unförmige Hüllen zwängt. Ein Tag, der Teil ist des trostlosen Übergangs vom freundlichen Spätherbst zu den vermeintlichen Freuden von Weihnachten. Das eine noch fern, der andere verflüchtigt, einer, bei denen Optimisten zu Melancholikern werden und Melancholiker depressiv. Es sollte der letzte Tag in Kristinas Leben sein.
Kristina bewegt sich mit langsamen, unsicheren Schritten zur Schiebetür an der Stirnseite des Wohnzimmers. Durch die Glasscheibe sieht sie im Halbdämmer des verblassenden Tages auf der Terrasse die beiden armseligen Buchsbäume und den kleinen Gartengrill. Der Grill, den Danni so meisterlich beherrscht und ihr so viel Küchenarbeit abnimmt. Er ist ein Relikt schöner Stunden und bisher nicht im Keller verstaut in der Hoffnung, er könnte doch noch einmal gebraucht werden. Langsam schiebt sie die Tür bis zum Anschlag auf, die feuchte Kühle lässt sie unmittelbar frösteln. Diese Kühle sucht sie bewusst, um ihre heiß gelaufenen Emotionen und den kalten Schweiß auf der Stirne zu bekämpfen. Dann wickelt sie sich in ihre Strickweste, die sie in der Wohnung offen getragen hat. Ihr Blick geht starr und leblos in die Ferne, über die Brüstung hinweg, Gedankenfetzen wabern wie Nebelschwaden richtungslos im Kopf. Ihre Bewegungen wirken unrund wie die eines Roboters, den man auf zwei Beinen zu laufen programmiert hat. Als ob eine gebrechliche Frau versucht, ohne ihren Rollator auszukommen. Schritt für Schritt bewusst setzend erreicht sie die schmale Backsteinmauer, die die Terrasse brusthoch begrenzt, froh, sich dort festhalten zu können.
Ihre Stimmung, ihr körperlicher Zustand befinden heute an einem Tiefpunkt, wieder einmal, Wetter und Jahreszeit gemäß. An solchen Tagen fehlt ihr jegliche Kraft, Danni, Freunde, die sie sonst stützen und auf andere Gedanken bringen, weg von den Qualen der Vergangenheit, alle scheinen im Nieselregen verschwunden. Ihr Verstand weiß, dass solche grauen Tage sehr selten geworden sind, die hellen dazwischen immer mehr, aber heute ist wieder einer, an dem ihr Hirn keine Chance gegen den Bauch hat. Danni vergleicht ihr Schwanken zwischen Himmel hoch jauchzen und zu Tode betrübt sein mit einer Welle, die zwischen Höhen und Tiefen hin und her schwingt. Heute befindet sie sich in einem Wellental, so tief, dass sie nicht mehr darüber hinausschauen kann. Und wie immer ist ihr Mann im falschen Moment auf Dienstreise, quälende 24 Stunden noch. Allein in dieser riesigen Wohnung war es dem Dämon wieder gelungen, sich in ihren Kopf zu schleichen und sie zu foltern.
Sein Folterwerkzeug ist dieses uralte, braune Zigarrenkistchen, in dem ihre Mutter schon kleine Andenken aufbewahrt hat. An guten Tagen gelingt es ihr, Dämon und Kiste zu ignorieren. An einem wie heute, wenn sie schwach ist, ist der Quälgeist stärker als sie. Dann zwingt er sie, die Kiste zu umrunden wie eine Süchtige die Schnapsflasche. Und er weiß, dass sie bald den Deckel öffnen wird und die Fotos in die Hand nehmen. Danni wollte die elende Kiste verbrennen, sie solle alles, was sie an diese traumatische Phase in ihrer Vergangenheit erinnere, vergessen. Ihre Therapeutin hielt dagegen. Sie müsse sich der Vergangenheit stellen, auch wenn es manches Mal schmerzen würde. Nur so könne sie wieder Herrin ihrer Geschichte werden. Schon hält sie das oberste Foto zwischen ihren Daumen und Zeigefinger, vorsichtig, als ob sie Angst hätte, es zu beschmutzen. Ihr Verstand ruft: „mach den Deckel wieder zu“, der Dämon kontert: „schau es an, es ist ein Teil von Deiner Geschichte“. Je länger sie draufblickt, je mehr dessen Inhalt in ihr Bewusstsein dringt, desto unruhiger wird sie. Sie spürt den Herzschlag immer schneller werden, schafft aber wieder nicht, den Blick abzuwenden. Die Luftaufnahme aus gefühlt unendlich ferner Zeit zeigt ihre heile Welt vor ihrem unendlich tiefen Absturz. Sie zeigt ihr elterliches Weingut mit dem großen Wohnhaus, in dem sie aufgewachsen war und dann mit Danni einige Monate lebte, daneben das Kellergebäude mit dem Flachdach, in dem ihr Vater erschlagen wurde, der umzäunte Hof mit dem großen Tor. Sie und Danni mussten ins Weingut zurückkommen, nachdem Bruder und Mutter bei einem verheerenden Unfall umgekommen waren, ihr Vater schwerverletzt überlebte, aber monatelang ausfiel. Einen ganzen Herbst waren sie fast allein, beide ohne anfangs zu wissen, wie man ein Weingut führt und noch weniger, wie man eine große Traubenernte übersteht. Psychisch und physisch immer am Anschlag, dazu unzählige Querschüsse von der eigenen Verwandtschaft. Sie haben das alles geschafft. Der Stolz auf die Leistung, das Weingut am Leben gehalten zu haben, verflog in der Stunde, als ihr Vater zurückkehrte und die Macht zurückverlangte. Ein Krüppel, voller Hass auf sich und die Welt, allen Intrigen glaubend.
Seine Tochter endete als Kollateralschaden dieser Machtdemonstration in der Psychiatrie. Seit zwei Jahren versuchen die Ärzte, die Trümmer im Kopf beiseite zu räumen. Ihre traumatische Störung, sagen sie, würde viel Zeit benötigen, um sie völlig zu verarbeiten. Sie sei auf dem richtigen Weg, müsse aber geduldig sein. Schwere Beruhigungsmittel hatten zunächst die Grübelschleife abzufangen, in der sie sich unablässig drehte, dämpften aber gleichzeitig jeglichen Antrieb in ihrem Körper und machten sie zu einem Zombie, der träge und willenlos durch die Gegend schleicht. Früher viel schlimmer als heute. Die Medikamente halfen ihr, nachts zu schlafen, hinderten sie aber daran, ihr Problem zu verarbeiten. Erst nach mehr als einem halben Jahr war das Schlimmste überstanden. Und Daniel hatte die ganze Zeit zu ihr gehalten, sie geheiratet, als es ihr schließlich besser ging. Sie unterstützt beim Studienabschluss und der Referendarzeit, die große Wohnung in Stuttgart eingerichtet. Er war unglaublich lieb gewesen, in guten Tagen kann sie viel zurückgeben. Aber nicht an einem Tag wie heute, an dem das Glas nicht halb voll, sondern gefühlt ganz leer ist.
So steht sie jetzt an der Mauer und ist wieder von ihrer Krankheit beherrscht. Mit ihren 28 Jahren meint sie an solchen Tagen wie 50 auszusehen. Unter der langen Strickweste spannt ihre Jeans über Hüfte und Oberschenkel, mit ihrem Gewicht kämpft sie seit der Entlassung aus der Klinik. Auch ihr Gesicht empfindet sie als aufgedunsen, die Backen so voll, als ob sie gerade eine Ladung Kerzen ausblasen wollte. Dafür ist ihre Haut faltenfrei, der Vorteil von etwas Fett. Die Proportionen ihres Gesichts empfindet sie als verschoben, die Nase zu klein, Mund und Lippen zu groß. Für Lippenstift oder Lidschatten, alles, was ihr Gesicht aufwerten oder wenigstens die fahle Haut tönen könnte, hatte sie heute keine Kraft gehabt. Voller Selbstzweifel fragt sie sich in solchen Stunden, ob sie jemals wieder die beneidete Schönheit alter Tage werden würde und wie lange Danni es so noch mit diesem Wrack aushalten kann. Hilfe gegen Einsamkeit und Niedergeschlagenheit bringt zum Glück ein Glas Rotwein, aus dem auch mal zwei oder drei werden können. Sorgen sind alkohollöslich, das weiß sie, und sie kommen am anderen Morgen auskristallisiert zurück. Wenn sie mit Danni zusammen eine Flasche trinkt, ist für sie nach einem Glas Schluss, er passt auf ihren Weinkonsum auf und sie akzeptiert es klaglos. Ohne ihn versagt die Bremse, das Belohnungssystem verlangt nach dem ersten Glas ein zweites, ein drittes. Niemand, vor allem nicht ihr Mann, soll merken, dass sie heimlich trinkt. Und sie hatte schnell die üblichen Tricks und Schliche gefunden, das Trinken vor ihm zu verbergen. Wein kaufen wenn er bei der Arbeit war, vor seiner Rückkehr Pfefferminzpastillen und Zähneputzen gegen den Mundgeruch, einen Vorrat und die leeren Flaschen in ihrem Schreibtisch deponieren und bei Gelegenheit im Glascontainer entsorgen. Sie hasste sich dafür, für ihre Schwäche und dass sie ihren Mann hinterging.
Der Blick wandert vom Balkon auf die andere Talseite, in den ersten Häusern ist bereits die Beleuchtung eingeschaltet, sie erscheinen aus der Ferne wie Glühwürmchen. In wenigen Minuten müssten die Straßenlaternen angehen und ihr den Verlauf der Straßen und Wege anzeigen. Dann bekommt der Hang eine Struktur, die er tagsüber so nicht erkennen lässt. Tief unter ihr brodelt der unendliche Stuttgarter Abendverkehr auf dem Weg durch den Kessel. Sie hört die Geräusche der vielen Fahrzeuge wie eine Lärmglocke, ihre Frequenzen überlagern sich auf dem Weg nach oben und verdichten sich, bis kein einzelnes Geräusch aus der Masse herausragt. Lediglich vereinzelte Hupgeräusche durchdringen den Brei aus Lärm wie ein Blitz, der aus dunklen Wolken zuckt. Kristina kennt dieses Bild und sie kennt den Lärm, abends steht sie oft mit Danni hier. Wie immer krallt sich ihr Blick am Wahrzeichen Stuttgarts fest, das auf der anderen Talseite so markant aufragt. Der Fernsehturm, die schnörkellose, moderne Betonnadel, bei seiner Erbauung in den frühen Sechzigerjahren ein Symbol der jungen Republik, ist gerade noch als dünner Stift mit einem Korb oben im Turm zu erkennen. Besucher vergleichen Turm und Korb gerne mit den Masten historischer Segelschiffe, wo im Ausguck ganz oben ein Seemann den Horizont absucht. In wenigen Minuten, wenn sich die Nacht völlig über Stuttgart gelegt hat, wird sie nur noch den beleuchteten Korb sehen können und die roten Warnlichter an der Spitze des Turmes. Dort oben, im kleinen Restaurant, hat sie in ihrem früheren Leben gerne gesessen und sich am höchsten Punkt Stuttgarts von den allerletzten Sonnenstrahlen blenden lassen. Die Stadt liegt dann schon längst im Schatten. In der Höhe, entrückt den Niederungen Stuttgarter Kleingeistigkeit, schwebte sie selber über allen irdischen Dingen, oft blickte sie von dort auch in Richtung der Terrasse, auf der sie eben stand. Dass sie einmal hier auf der anderen Hangseite wohnen würde lag damals außerhalb jeglicher Vorstellung.
„Tut mir aufrichtig leid, Herr Doktor, alle Untersuchungsergebnisse liegen vor. Der Sachverhalt ist eindeutig. Uns bleibt nichts anderes übrig, als den Fall abzuschließen.“ Der Kripobeamte war wie immer sachlich und empathielos, wie jemand, der schon Tausende Mal einen solchen Fall untersucht hat und mit professioneller Distanz vorgeht.
„Depressionen werden oft unterschätzt. Sie zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen - die schlimmstenfalls durch Suizid tödlich enden. Hier gibt es keinen Zweifel, Ihre Frau hat selber Hand an sich gelegt. Die Tatumstände, die gerichtsmedizinische Untersuchung, nichts, was auch nur im Entferntesten auf ein Fremdverschulden hinweist. Sie hatte einen Blutalkoholspiegel von 1,2 Promille, so etwas überbrückt jede Hemmung. Und ihre Tabletten gegen Depressionen hat sie offensichtlich auch nicht genommen. Keine Fremd-DNA an der Leiche oder im Raum, keine Kampfspuren, kein Nachbar hat etwas gesehen. Die Leiche ist freigegeben, Sie kann beerdigt werden.“
Der Krampf im Magen, mit dem ich kämpfe, seit ich Kristina tot in der Badewanne gefunden habe, verstärkte sich wieder. Objektiv hatte ich der Kripo nichts entgegenzuhalten. Der Naturwissenschaftler in mir ist auf Fakten gepolt. Kristinas psychischer Zustand war ein starkes Argument der Polizei, ein dicker Sargnagel, und solche Jammertage im November ein bösartiger Katalysator für jede Art von Affekthandlung. Die Badezimmertür war am Boden von innen mit einem Handtuch abgedichtet, auch daran gab es keinen Zweifel. Und ein glimmender Grill in einem kleinen hermetisch geschlossenen Raum ist ein perfektes Selbstmordgerät. Schon wenige Minuten nach dem Anzünden ist der Luftsauerstoff im Raum weitgehend verbraucht und viel Kohlenmonoxid entstanden. Das Kohlenmonoxid gewinnt den Kampf gegen den Sauerstoff um die roten Blutkörperchen, das Körpergewebe wird nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Der Tod tritt innerhalb von wenigen Minuten ein und ist schmerzlos. Ein Selbstmordklassiker laut Polizei, nicht selten mit Hilfe eines billigen Einweg-Grills aus dem Supermarkt, im Auto, im Zelt oder eben auch im Badezimmer. Häufiger allerdings würden Autoabgase benutzt. Dass ich als Chemiker die Situation sofort durchschaut hätte, habe mir möglichweise selber das Leben gerettet. Luft anhalten, Fenster und Tür weit aufreißen waren meine ersten Reflexe gewesen, soweit hatte ich noch funktionierte Der Schock kam direkt danach. Kristinas Körper war bereits kalt, keinerlei Chance auf Rettung.
Meine Frau soll also Suizid begangen und mich bewusst verlassen haben. Und soll sogar bereit gewesen sein, mich damit auch noch in Gefahr zu bringen. Das wollte ich nicht glauben, so sehr kann man sich an dem Menschen an seiner Seite nicht täuschen. Mein Bauch legte sich mit dem Hirn an und flüsterte mir ständig Zweifel an ihrem Selbstmord ein. Der Notfallseelsorger zeigte wie der Kripobeamte zunächst viel Verständnis für mich, irgendwann wurde er doch nach meinem Verständnis etwas unwirsch. Verlassen zu werden würde ich als eine narzisstische Kränkung, eine Beleidigung meines Egos sehen und deshalb nach einem erträglicheren Grund für den Tod suchen. Ich müsse mich leider damit abfinden, meine Frau wollte nicht mehr leben, niemand habe sie retten können. Ich solle unbedingt vermeiden, mir Vorwürfe zu machen. Nicht einmal Fachleute könnten in den Kopf depressiver Menschen blicken und Kurzschlussreaktionen vorausschauen.
Auch der sonst so verständnisvolle und geduldige Kripobeamte hatte irgendwann genug von meinen Zweifeln an den Ermittlungen. Natürlich wurde in alle Richtungen ermittelt, der Standardsatz bei jedem Fall. Ich hatte ihn immer stärker provoziert, um seine Untersuchung in Richtung Mordfall zu bringen, irgendwann sicher zu aggressiv. Ob die Polizei in dem Fall nicht mit einem Wahrnehmungsfilter gearbeitet habe, das verhindere, in die richtige Richtung zu schauen? Das kenne ich aus der Wissenschaft nur zu gut. Auch Wissenschaftler würden alles durch die Brille dessen analysieren, was sie wissen. Und gibt es nicht ausreichend Belege, dass Forensiker häufig Beweise allein für die Bestätigung ihre eigenen Annahmen suchen? Und dass aufgrund von Fehlern Urteile später regelmäßig revidiert werden mussten?
„Selbstverständlich haben wir auch das Untersuchungsergebnis der Gerichtsmedizin unter die Lupe genommen. Dass eine gewisse Voreingenommenheit zu falschen Ergebnissen führen kann, wissen wir gut genug.“
„Wir Chemiker verwenden den Fachbegriff für die Voreingenommenheit. Der heißt Bias, den sollten Sie sich merken.“ Echte Argumente hatte ich keine mehr. Natürlich war es ein Novembertag zum Heulen. Aber nicht jeder Durchhänger ist gleich ein Trigger, der zum Selbstmord drängt.
„Nochmals, der Fall ist eindeutig. Die rosafarbenen Flecken auf der Haut, der entleerte Darm, über 65 Prozent Kohlenmonoxid im Herzblut, Ihre Frau ist an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung gestorben. Die Holzkohle auf dem Grill, das haben Sie selber sehen können, war nicht mal vollständig abgebrannt, weil kein Sauerstoff mehr im Raum vorhanden war.“
Ich nervte, der Beamte war schließlich froh, den Fall offiziell abschließen zu können. Der einzige mit Mordmotiv sei letztlich ich selber gewesen, eine Lebensversicherung zu meinen Gunsten hätte ein Grund gewesen sein können oder der Wunsch, loszukommen von einer schwierigen Beziehung. Ich hätte aber über ein wasserdichtes Alibi gehabt. Das habe er natürlich überprüft. Ebenso habe er meine Handydaten gecheckt und mehrere vergebliche Anrufe bei Kristina am Abend ihres Todes und am Folgetag festgestellt. Derartige Motive aus dem Hut zu zaubern hatte mich maßlos verärgert. Natürlich hätte ich Täter sein können, das war aber völliger Unsinn. Sorgen hatte ich mir keine gemacht, Kristina hat regelmäßig vergessen, ihr Handy aufzuladen.
Irgendwann hatte ich alles von der Staatsanwaltschaft schriftlich, die Ermittlungen waren eingestellt. Mir blieb nichts mehr übrig als mich mit ihrem Selbstmord abzufinden. Stütze wurde erneut mein Vater, der mich immer mehr in einer Abwärtsspirale wegdriften sah und den meine unangenehme Mischung aus Weinerlichkeit und Aggressivität zunehmend nervte. Ich war ohne ihn nicht in der Lage, die elenden Behörden abzuklappern oder Dinge mit der Bank zu regeln. Selbst um die Traueranzeige musste er sich kümmern und einen großen Schwung Karten verschicken. Was schreibt man in einem derartigen Fall? ‚wollte nicht mehr leben? viel zu jung verstorben? Opfer eines Unfalles oder Mordes? ein tragischer Tod?‘ Ich ließ Papa machen, zu der Zeit funktionierte ich überhaupt nicht. Bis er mir irgendwann in den Hintern trat. „Kristina wird nicht mehr lebendig. Und Du bist über dreißig, also alt genug, endlich erwachsen zu werden. Genug gejammert. Mach etwas völlig anderes, das Leben geht weiter, ordne es neu und zieh‘ Dich selber aus dem Sumpf. So wie Münchhausen. Trauer, ja, ein zeitweiliger emotionaler Absturz, ja, sich einmal betrinken, ja. Harte Arbeit kann Schmerz verdrängen. Mach irgendetwas bis zur Erschöpfung und höre auf, Dich im eigenen Schmerz einzurollen. Ich hätte da ein Angebot für Dich.“
Als seine Frau, meine Mutter, vor mehreren Jahren starb, hatte er sich schnell umgestellt, für mich und meinen Bruder viel zu schnell. Bald schon präsentierte er seine neue Liebe, die ich bis heute nicht richtig akzeptieren kann. Sein Leben ging übergangslos weiter, ohne lange Trauerzeit, so erfolgreich wie zuvor. Bis er vor zwei Jahren ohne jede Vorwarnung seine Drogeriekette an eine größere Firma verkaufte, ordentlich Kasse machte und Aussteiger wurde. Er wolle jetzt Hedonist sein nach 40 harten Jahren. Verstanden hat diese einsame Entscheidung damals niemand. Einen Teil des Geldes steckte er in ein uraltes, ziemlich heruntergekommenes Schlossweingut in Neustadt unterhalb des Hambacher Schlosses. Eine ‚Ruine‘ zu kaufen, das war noch unverständlicher. Ein Neustart als Schlossherr, damit wollte er angeblich einen Traum verwirklichen, den er schon Jahre mit sich herumtrug, von dem er aber niemandem auch nur ein Wort verraten hatte. Nicht einmal seiner Frau.
„Dass ich hier ins Weingeschäft eingestiegen bin und nicht in einem Chateau in Bordeaux oder einer Bodega in Spanien, habe ich Dir zu verdanken. Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Was Kristina und Du im elterlichen Betrieb erlebt habt, das hat meine Lust an deutschem Wein geweckt. Statt Midlife-Crisis jetzt Restaurator und Wine Maker in der Pfalz, statt sanftem, langweiligem Wellenschlag gerne ein richtiger Sturm, das hält jung. Du musst nur loslassen können, auch wenn Du zunächst an Bedeutung verlierst.“ Ab dem Tag an, an dem der Verkaufsvertrag notariell besiegelt war, hat er nie mehr über seine Drogerien geredet. Er lebte schon immer in der Gegenwart, noch mehr in der Zukunft. In der Vergangenheit zu leben sei nur etwas für die alten Leute.
Zugegeben, ich brauchte noch mehrere Tritte von ihm, bis ich endlich aufgewacht und zu irgendwelchen Entscheidungen fähig war. Ochsenhafte Sturheit war zum Glück eine seiner Kernkompetenzen. Mein Hirn gab ihm von Anfang an recht, der Bauch hatte mich doch noch einige Zeit ausgebremst. Nach vier Monaten hatte ich alles hinter mir. Kristina in Neustadt beerdigt, den Vertrag mit Mercedes gekündigt, natürlich mit sofortiger Freistellung und Beschäftigungsverbot bis zum Ablauf meines Vertrages in mehr als einem Jahr. Man war nicht unglücklich über meinen Abgang, richtig angekommen war ich in dem Konzern nie. Die Brennstoffzelle, die ich mit entwickeln sollte, war bei den meisten Mitarbeitern ein ungeliebtes Kind, meine Stelle wurde nicht wiederbesetzt. Die Wohnung in Stuttgart konnte ich traumhaft gut verkaufen und bald einen neuen Arbeitsvertrag in Ludwigshafen unterschreiben. Zurück in die echte Chemie, Entwicklung von biologisch abbaubaren Kunstsoffen. Für über ein Jahr war ich ein freier Mann mit vollem Gehalt, hoffentlich genug Zeit, mit mir selber klarzukommen. Und meinem alten Herrn doch etwas unter die Arme zu greifen.
Der hatte mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte. Eine völlig renovierte große Wohnung im zweiten Stock seines Schlosses mit einem schmuck angeflanschten sechseckigen Türmchen an der Ecke. Als Büro oder für lauschige Stunden, wie er sagte. Also war ich für den Übergang zu Papa ins Weingut gezogen und residierte in einer Wohnung, in dem es nach altem Adel roch und sich aristokratische Gefühle unweigerlich einstellten. Eine Wohnung mit Parkettboden und uralten Holzbalken an der hohen Decke, weiß getünchten Wänden und schweren Holztüren. Alt und modern geschmackvoll kombiniert, der Architekt verstand sein Fach, Papa besaß das nötige Kleingeld. Möbel hatte ich nur wenige, ein neues Bett, Tisch und Stühle. Der Wohnungskäufer in Stuttgart hatte den größten Teil unserer Einrichtung übernommen. So wie ich nach Kristinas Tod nie mehr im Badezimmer war, wollte ich auch mit den Möbelstücken nichts mehr zu tun haben. In jedem Stück war Kristina präsent, ihr Geruch, Erinnerungen, alles unerträglich. Und anstatt sinnlos durch die Gegend zu joggen hatte ich wieder begonnen, in dem kleinen Dorfverein nicht weit von Papas Schloss Fußball zu spielen. Dem Ball nachzurennen hatte ich aufgegeben, als Kristina in mein Leben gerauscht war und Sport von da an bevorzugt in der Horizontalen stattfand. Mein Neustart war so Stück weit ein Schritt zurück in die Zukunft. Mehr Änderung in so kurzer Zeit ist kaum möglich. Alle bisherigen Konstanten in meinem Leben waren zu Variablen geworden, die kräftig gemixt einen völlig neuen Lebensentwurf ausschütteten. Papa nannte mich ironisch, aber doch irgendwie stolz ‚Change Manager meiner selbst‘. Dazu seine obligatorischen Sprüche. „Wer sich nicht verändert, fällt zurück“, angeblich von Tolstoi, oder „Nur wer sich so schnell anpasst wie sich die Welt verändert, wird auf Dauer überleben.“ Auch wenn er Recht haben sollte, er hätte sie sich sparen können bis ich dazu aufnahmebereit gewesen wäre.
Natürlich hatte Papa bei seinem Samaritertum Hintergedanken, wie immer in seinem Leben, das wusste ich von Anfang an. Geredet wurde darüber natürlich nicht. Unter seinen Fittichen könnte er mich vielleicht auf eine Rolle als Hoferbe vorbereiten, um den Betrieb auf Dauer in der Familie zu behalten. Die Freuden eines freien Unternehmertums anstelle Knechtschaft im Konzern, ich kannte seine Denke. Zumal ich mich in seinen Augen bereits bestens in der Weinszene bewährt hätte und was an Praxis noch fehlen mag, ließe sich ‚on the job‘ lernen. Schlossherr zu sein lag mir zu der Zeit völlig fern, manipulieren lassen wollte ich mich schon gar nicht. Zumal ich noch keine Ahnung hatte, wie der alte Wolf mit dem jungen unter einem Dach klarkommen würde. Aber wie schnell sich die Welt drehen kann, hatte ich ja im letzten halben Jahr leidvoll erleben müssen.
Tagsüber ging es mir relativ gut. Arbeit verdrängt unrunde Gedanken, auch wenn sie nicht selten eher operative Hektik und Beschäftigungstherapie ist. Nachts schlugen die Emotionen umso brutaler zu. Die Stille im Bett machte Kristina wieder lebendig, sie forderte einen Teil der Nacht. Dann hielten wir Zwiesprache, wie früher. Blass und ganz ruhig saß sie auf dem Rand meines Bettes, so jung und schön, wie ich sie in Erinnerung behalten wollte. Schlaftabletten mussten mich nicht selten für den nächsten Tag halbwegs fit machen. Zum Glück heilte die Zeit auch meine Wunden, inzwischen besucht mich Kristina kaum noch. Irgendwann konnte ich mit dem Selbstschutz beginnen, um mich im Leben nicht zu sehr einzuschränken. Ein Vergessen war es nicht, eher ein Verdrängen. Von einem Tag auf den anderen nahmen ganz andere Gedanken von mir Besitz. Gedanken, die mich anfangs entsetzten: ich begann Kristina zu hassen. Ihr voller Mund, der immer so kraftvoll lachen konnte, ihre großen Augen, die dicken Haare, alles hatte sich übergangslos in eine hässliche Fratze verwandelt. Sie hatte mich mit voller Absicht verlassen, ohne Rücksicht auf Verluste, mir damit unendliche Schmerzen zugefügt und mein Leben aus der Bahn geworfen. Warum hat sie mir das angetan? Ich habe immer zu ihr gestanden, selbst in den schlimmsten Stunden nach ihrem Zusammenbruch. Ihren Flaschenvorrat im Schreibtisch hatte ich beim Auszug gefunden. Zunächst darüber amüsiert, hatte ich auch das verständnisvoll aufgenommen. Inzwischen empfinde ich ihren heimlichen Weinkonsum als Vertrauensbruch, noch schlimmer, als Verrat. Warum hat sie nie mit mir darüber geredet, gemeinsam hätten wir ihr Alkoholproblem, ihren offensichtlichen Weg in die Sucht stoppen können. Und ich ärgerte mich über mich, der ich weder in der Lage gewesen war, ihren Drang zum Wein zu erkennen noch das Suizid-Risiko wegen ihrer Depression. Ich fühlte mich als Versager, und das ärgerte mich noch mehr.
Natürlich zerfloss ich in den Momenten vor Selbstmitleid, doch es gelang mir, mich langsam aber sicher von ihr zu lösen. Die Trauerzeit soll ein Jahr währen, sagt man. Mehr als die Hälfte hatte ich geschafft, meine Lebensgeister kehrten zurück, die Kurve ging wieder nach oben. Dass es Selbstmord war musste ich mir allmählich eingestehen. Es würde eine Frage der Zeit sein, bis Kristina nur noch Geschichte ist und sie wie Papas verstorbene Frau bei ihm nur noch ab und zu als Sternschnuppe kurz aufleuchtet. Das Wichtigste für mich aber war, dass sich die unseligen Schuldgefühle der ersten Monate allmählich in Rauch auflösten. Wegen der häufigen Dienstreisen, bei denen sie allein mit sich in einer großen Wohnung war, die Unfähigkeit, ihre Depression nicht nur zu erkennen, sondern sie auch zu verstehen, ihre häufige Einsamkeit. Es war vorbei, mein Leben konnte unter neuen Vorzeichen durchstarten. Einige Narben würden bleiben, aber bald kaum mehr sichtbar.
Papa startete sofort nach meinem Umzug ins Weingut mit der Manipulation. „Morgen kommt eine Spedition und holt 5000 Liter Wein ab. Kannst Du das beaufsichtigen und den Fahrer einweisen? Den Tank zeig ich Dir gleich. Ich muss aufs Amt. Und Rolf ist mal wieder beim Arzt.“
Rolf ist sein uralter Kellermeister, der seit gefühlt hundert Jahren zum Inventar des Betriebes gehört. Irgendwo zwischen Mumifizierung und Fossilierung, körperlich nur noch wenig belastbar, immer wieder krank, aber ein fleischgewordenes Lexikon, das zu jedem Wein, zu jedem Kunden oder Lieferanten eine Geschichte hatte. Er wusste schlicht alles über den Betrieb, kannte jede Fassdaube und jeden Sandsteinblock an der Hauswand, alle Jahrgänge mit ihren Problemen und konnte nach 20 Jahren noch genau beschreiben, wie er sie alle gemeistert hatte. Schenk ihm Wein ins Glas und er breitet seinen Fundus an Geschichten mit Humor, voller Emotionen, aber in nur schwer verständlichem Pfälzer Dialekt aus. Mit jedem Glas wurde er für mich unverständlicher. Papa brauchte ihn noch, zumal er als Mensch ehrlich, aufrichtig und herzlich war, den niemand verletzen wollte. Leider begriff ich schnell, dass Rolf rhetorisch besser war als praktisch. Mit der Arbeit aufhören war für ihn aber keine Option, nachdem seine Frau früh gestorben war lebte er ziemlich einsam und hauptsächlich für und durch seine Arbeit. Rolf selber sprach über Papas Schloss von seinem Gnadenhof.
„Wieso verkaufst Du Wein im Fass? Das bringt doch nichts! Du verschenkst nur Geld.“ In Württemberg hatte ich diese Art von Weinverkauf nicht kennengelernt.
„Ist auch nicht das, was ich will. Aber solange ich noch keinen Kundenstamm aufgebaut habe, müssen die Weinüberschüsse eben auf die Art zu Geld gemacht werden. Geht an eine Großkellerei, die packen meine Charge mit vielen anderen in einen Riesentank, schütteln ihn kräftig durch und in vier Wochen kannst Du die Mischpoke bei Aldi oder Lidl für sehr kleines Geld kaufen. Aber ich bekomme ja auch nicht viel. Kommissionsgeschäft heißt das. Den Kommissionär lernst Du am Samstag kennen, er ist bei der Party dabei. Er kann Dir mehr über sein Geschäft erzählen, in der Pfalz ist so etwas weit verbreitet.“
„Erwartest Du, dass ich zu Deiner Party dazukomme? Bin ich als VUP nicht fehl am Platze? Die Lust auf Feiern ist noch nicht wieder ganz zurück.“ Ich ahnte den nächsten Schritt der Vereinnahmung, Papa wusste, wie man Schrauben sanft aber beständig anzieht. Aber ewig trauernder Witwer zu spielen war keine Perspektive.
„Red‘ kein dummes Zeug. Mein Sohn ist nie eine ‚Very unimportant person‘, die sind alle neugierig, Dich kennenzulernen. Jedenfalls triffst Du einige interessante Leute. Kannst Du gleich im Labor noch die Werte für Alkohol, Säure und vor allem flüchtige Säure bestimmen und mit denen des Labors der Weinbauschule vergleichen? Für einen ausgewachsenen Chemie-Doktor müsste das doch mit Lustgewinn verbunden sein, so an die handwerkliche Basis zurückzukehren. Oder fängt Chemie bei Dir erst beim Massenspektrometer und Gaschromatographen an, oder wie die teuren Maschinen heißen?“
Papa war immer noch der alte Ironiker, Zyniker und Rabulist, immer gewöhnungsbedürftig und für sensible Typen nur schwer verdaulich. Ich musste 28 Jahre alt werden und seine Hilfe bei dem Drama in Kristinas Weingut erfahren, um ihn endlich zu verstehen und vor allem zu respektieren. Er hat sich in der Pfalz nicht geändert, ich fürchte sogar, dass die kernige Mentalität der Eingeborenen perfekt zu ihm passt. Ihr spezieller Humor, ihre Deutlichkeit bei der Wortwahl ohne bürgerliche Goldwaage, da lebt er auf. Sogar ihren Dialekt hat dieses Sprachengenie inzwischen verinnerlicht. Etwas, was ich wohl nie schaffen werde.
„Papa, was Du als Dein Weinlabor bezeichnest, ist Labortechnik aus der Altsteinzeit. Damit könntest Du allenfalls den ollen Justus Liebig begeistern. Das war im Studium ein halbes Semester lang unser Warming up, so zum Eingewöhnen mit Pipetten und Erlenmeyerkolben, danach haben wir richtige Chemie gemacht. Wenn Du autark werden willst von externen Laboren, dann gib mir einen Eimer Geld und ich mache etwas Vernünftiges draus. Oder rede mit Deiner Frau, Apothekerinnen können so etwas auch ganz gut.“ Die nächste Umdrehung der Schraube. Aber seine Frau würde frühestens in drei oder vier Jahren und dann als Rentnerin nach Neustadt kommen.
Der Vorbesitzer des „Schlosses“ hat 30 Jahre nichts investiert und alles verkommen lassen, seine Kinder wollten sich gänzlich anders verwirklichen und schauten emotionslos zu, wie der Betrieb ohne Zukunftsperspektive in den Abgrund driftete. Nach dem Tod des Vaters sofort der Verkauf, fort mit Schaden. Alles lief über einen Makler, Papa hat die Erben nur beim Notar kurz gesehen. Entsprechend hatte er leichtes Spiel und musste nur wenig Geld für ein altes Gemäuer und einige renommierte Weinberglagen in die Hand nehmen. Dafür umso mehr für die Renovierung und den Neuaufbau des gesamten Weinguts. Das war nach und nach in die Todeszone gerutscht, entsprechend sind die Kunden davongelaufen und immer mehr Flächen mussten mangels Absatzes verpachtet werden. Natürlich die besten zuerst. Papa hatte praktisch ein völlig neues Weingut aus dem Boden zu stampfen, mit wenig Ahnung von Wein aber mit viel Erfahrung als Manager. Und der Rest ließe sich delegieren, meinte er. Einheimische Spötter sahen es anders: Er würde mit dem Weingut sicher ein kleines Vermögen machen. Nachdem er mit einem großen gestartet sei.
Verstehen konnte ich Papa gut: Wenn ein reicher Quereinsteiger wie er mit einer blühenden Fantasie und überbordendem Temperament sich zu einem solchen Schritt entscheidet, geht es um Selbstverwirklichung und Anerkennung, darum, es sich noch einmal zu beweisen, und nicht zuerst um wirtschaftlichen Erfolg. Der kann ruhig später kommen, er ist nicht darauf angewiesen. Wer hat nicht den Wunsch, sich irgendwann neu zu erfinden und seinem Leben einen neuen Sinn zu geben, koste es, was es wolle? Dazu gehörte, dass er nach inzwischen zwei Jahren noch tiefrot wirtschaftete. Der Umbau der Schlossanlage wurde wesentlich teurer als geplant, der Weinverkauf lief weit hinter den Plänen her. Investorenschicksal bei altem Gemäuer. Zum Glück musste der Vorbesitzer wenigstens zu Lebzeiten noch das marode Dach selber sanieren. „Dächer und Frauen können den stärksten Betrieb umbringen,“ hörte ich Papa halb belustigt reden. Offensichtlich hatte er dabei ein u.a. nach einer teuren Scheidung insolvent gegangenes Schlossgut im Rheingau im Auge. Jedenfalls musste er den Fünfjahresplan nach dem ersten Hammerschlag der Handwerker beerdigen und einen ersten Gewinn aus dem Betrieb auf mindestens sieben Jahre verschieben. Und konnte damit noch fünf Jahre ein teures Hobby pflegen.
Der Weinkeller war kein Vergleich mit dem modernen von Kristinas elterlichem Betrieb. Ein über 300 Jahre altes Kellergewölbe unterhalb des Hauptgebäudes mit großen Sandsteinen und tief in die Haardt hineingegraben. Eine beeindruckend breite Steintreppe rechts neben dem Haupteingang ins Schloss führte zehn Meter in die Tiefe. Im Keller fand sich eine Art Museum mit unterschiedlichsten Behältern. Altehrwürdige Holzfässer in allen Größen neben unsäglichen Kunststofftanks, eine dünne Wasserleitung an der Decke, mehrere Funseln, die mehr Schatten warfen als dass sie Licht spendeten, an zwei Stellen Bodenschächte, die bei jedem Tankreinigen überliefen. Gleich am Eingang stand als Bestätigung des musealen Charakters eine mit der Hand zu bedienende Weinpumpe aus der vorelektrischen Zeit, ein Traum für den Kraftraum jeder Muckibude. Der Boden aus Sandsteinplatten war uneben, eckig und kantig. Von den Wänden grüßte dick der grau-schwarze Kellerschimmel und verbreitete einen modrigen Geruch, den man zum Glück schon nach ein paar Minuten nicht mehr wahrnahm. Ein Geruch, der trotzdem auf der Festplatte im Gehirn gespeichert wird und den man in jedem Wein aus dem Betrieb wiederzufinden meint. Ein Betriebston abhängig von Art und Menge des Schimmels. Insgesamt eine arbeitswirtschaftliche und hygienische Katastrophe. Unter solchen Bedingungen technisch saubere, vielleicht sogar gute Weine herzustellen, konnte ich mir kaum vorstellen. Papa sah das Elend genauso, er hatte den Schwerpunkt der Sanierung aber anders gesetzt. Der Keller musste noch warten, ich könne ihn ja mitgestalten. Es ging ihm zuerst um das schlossähnliche Gebäudeensemble und dessen Restaurierung und nicht darum, sich mit einem Weingut auf den Markt und in den Kampf zu stürzen.
„Solange die meisten Rebflächen noch verpachtet sind und ich nur wenig Wein produziere, gehen Repräsentation und privates Umfeld vor. Du freust Dich hoffentlich, dass Du in eine hübsch hergerichtete Wohnung einziehen kannst. Ich wusste von Anfang an, dass ich mindestens das Zehnfache des Kaufpreises für die Renovierung brauche. Und das Verhinderungs-, neudeutsch, Denkmalamt sucht weiter nach Haaren in der Suppe.“
Immerhin hatte er im Bereich vor der Kellertreppe bereits einige gebrauchte Edelstahltanks aufgestellt und mehrere undichte Holzfässer zerlegen lassen. Die restlichen sollen bis auf einige Schaufässer auch ersetzt werden. Aus den Holzdauben will er Sitzmöbel schreinern lassen sowie Wände und Decken der repräsentativen Räume im Erdgeschoss verkleiden. Ein Schreiner wäre damit schon zugange. Den alten Geräteschuppen neben dem Kellereingang hat er begonnen, als Kelterhaus auszubauen und auch dort moderne Tanks unterzubringen. Mit Beginn der Lese in wenigen Monaten sollte alles fertig sein. Ja, Wein wäre bisher Nebenkriegsschauplatz gewesen, sollte aber ab der kommenden Ernte in den Fokus rücken.
Das beeindruckendste Stück des ganzen Gebäudeensembles stand links vor dem Haus an der Außenmauer. Eine riesige Baumkelter, vielleicht zehn Meter lang und vier Meter hoch mit über dreihundert Jahren auf dem Buckel. Alles war groß an der Presse. Der gigantische Pressbalken, mit dem der Druck erzeugt wurde, die große Spindel für seine vertikale Bewegung, der gewaltige zylinderförmige Sandstein mit den Hölzern zum Drehen der Spindel, alles unter einem Schrägdach mit Schieferschindeln aufgebaut. Papa hatte das gute Stück in Burgund gefunden, wo ein Weinbaumuseum schließen musste und die Presse zum Verkauf stand. Es soll ihn drei Abende mit den Verantwortlichen und große Mengen Pinot Noir gekostet haben, um den Vertrag zu besiegeln. Ein französisches Weinkulturgut gibt man nicht so einfach an die Hunnen ab. Aber kein anderer Bieter hatte ein vergleichbares Konzept für die Aufstellung und vor allem nicht das nötige Kleingeld für Kauf, Zerlegung, Transport und Neuaufbau unter einem Schutzdach. „Stell Dir vor, solche Pressen kommen noch heute vereinzelt zum Einsatz. Mit dem nötigen Quantum Esoterik im Kopf und viel Personal an der Hand mag das sogar gehen. Mir war die Presse wichtig, weil sie etwa so alt ist wie das Schloss. Lass Dir von Rolf bei Gelegenheit erklären, wie das Ding funktioniert. Falls er das kann.“ Papas rationale Art zu wirtschaften fand offensichtlich ihre Grenzen, wenn Ästhetik, Kultur und Größe zusammenkommen. Er ist im Alter romantisch geworden.
Das eigentliche Schlossgebäude war inzwischen außen und innen vollständig renoviert. Der Name Schloss für das Anwesen war natürlich Etikettenschwindel, eine gewaltige Anmaßung am Fuße des Hambacher Schlosses. Kein Vergleich mit den alten Adelsschlössern oder den Burgen der Pfälzer, Bayern oder Welfen, allenfalls Typ ganz kleiner Landadel. Wie die Anlage zu dem herrschaftlichen Namen gekommen war, wusste nicht einmal Rolf. Man munkelt, der Besitzer zur Zeit der Französischen Revolution und der Napoleonischen Befreiungskriege sei besonders frankophil gewesen und hätte das Weingut Chateau genannt. Die Nachfolger hätten gerne darauf aufgebaut, ein Schloss verkauft besser. Aber warum soll es in der Pfalz nicht so sein wie in Bordeaux: Dort darf sich jedes Weingut Chateau nennen, sofern in dem dazugehörigen Gebäude jemand dauerhaft wohnt. Egal wie herrschaftlich es tatsächlich ist. Wahrscheinlich war Papas Schloss in ferner Zeit landwirtschaftlicher Außenbetrieb weltlicher oder kirchlicher Herrschaften, aber alle Unterlagen sind im Zweiten Weltkrieg verbrannt. Was Papa in den letzten zwei Jahren aus dem alten Gemäuer gemacht hat, verdiente meinen klammheimlichen Respekt. Rund 300 Jahre stehen vor uns, solide aus dem hiesigen braunen Sandstein errichtet, der mühsam ausgebessert und vom Schmutz der Jahre befreit worden war. Dicke Wände mit kleinen Fenstern halten im Sommer die Hitze draußen, im Winter die Wärme drin. Natürlich ist das dreistöckige Gemäuer groß genug für mehrere Familien und verfügt über diverse Repräsentationsräume sowie den obligatorischen Kammern für das Gesinde, das früher zum lebenden Inventar gehörte. Innen wurde es so modern eingerichtet, wie es die fast immer nur bremsende Denkmalbehörde gerade noch akzeptieren konnte. Die hat bei den Bädern, den Fenstern, der Heizung, eigentlich überall mitgeredet und Papas Geduld und seine Geldbörse massiv strapaziert.
Er selber belegte den gesamten ersten Stock, mich hat er nach oben in den rechten Schlossflügel verfrachtet, in eine Wohnung mit Dachschräge und mehreren Fenstern, die viel Licht herein- und die Räume dadurch freundlich wirken lassen. Das Wohnzimmer war eher ein Tanzsaal, neben dem Schlafzimmer ein Ankleideraum, zwei Kinder- bzw. Gästezimmer, zwei Bäder, große, offene Küche. Für eine Person kaum wohnlich zu bekommen, zu viel Raum für Möbel und Accessoires, was ich alles nicht hatte. Zum Glück gab es den in Höhe des zweiten Stockes angeflanschten sechseckigen Turm, der von der Küche aus betreten werden konnte. Er war wohl irgendwann nachträglich angebaut worden, damit das Personal, eine Köchin oder Pflegekraft, sofort zur Stelle sein konnte. Der Zugang war schmal und niedrig, eher ein Schlupfloch, ich musste den Kopf einziehen, wenn ich durchwollte. Der Turm besaß nur ein Zimmer mit lediglich Platz für ein ordentliches Bett und einen kleinen Tisch mit Stuhl. Dort fand ich die Gemütlichkeit, die den großen Räumen völlig abging. Vom Bett über die Rheinebene zu blicken, die Weite aufzunehmen und den Reben beim Wachsen zuzusehen besitzt etwas Erhabenes und Mystisches. In das Zimmer hatte ich mich spontan verliebt und hielt mich bevorzugt dort auf. Wenn die großen Bäume im Winter kahl seien, könne ich vom Badzimmer das Hambacher Schloss sehen und Demokratiegeschichte direkt aufnehmen, hatte Papa mir noch erklärt. Er war sehr trickreich gewesen, mir den Einzug schmackhaft zu machen. Ich muss gestehen, ich hatte schon schlechter gewohnt. Nach zwei Wochen fühlte ich mich bereits richtig wohl, zumal wir von einer Teilzeit-Köchin bemuttert wurden. Die Schraube drehte sich immer weiter, irgendwie fühlte ich mich schon wieder korrumpiert.
Die doppelflügelige Eingangstür zum Hauptgebäude wurde über eine große Terrasse erreicht, auf die man über vier Treppenstufen gelangte. Herrenhäuser und Schlösser scheinen einen solchen Aufstieg vor dem Eintritt ins Heiligtum zu benötigen. Die Terrasse bot Platz für feierliche Begrüßungen unter ausladenden Sonnenschirmen und für das erste Glas Wein im Stehen. Das Erdgeschoss beherbergte auf der linken Seite die Vinothek, daneben zwei Büroräume, Toilette, eine kleine Küche, und nicht zuletzt das bereits erwähnte Justus Liebig Gedächtnislabor. Auch da war Papa bereit zu investieren, ich solle Vorschläge machen.
Gleich rechts nach dem Eingang ins Haus, vor der breiten Steintreppe, die in die oberen Geschosse führt, befindet sich Papas Lieblingsraum. Den hat er besonders schnell und besonders liebevoll herrichten lassen. Ein riesiges, helles Zimmer mit nahezu vier Meter Deckenhöhe, rundum mit Holz verkleideten Wänden und Parkett mit eingelegten Mustern. Einige Porträts, wohl von früheren Besitzern, sollten durch moderne Gemälde ersetzt werden. Seine Frau sei bereits auf der Suche. Alles in Allem ein Raum für Besprechungen oder Weinproben, selbst für kleine Tagungen. Besprechungen hat es noch keine gegeben. Stattdessen wurde der Raum intensiv genutzt für standesgemäße Gelage mit Honoratioren, deren Gunst zu besitzen als nicht nachteilig angesehen wurde. Zentrales Möbelstück ist ein wuchtiger, massiver ovaler Eichentisch, groß genug für bis zu 15 Zecher, die auf soliden, auf Dauer ungemütlichen Eichenstühlen sitzen. Der Tisch war das einzige, das Papa bereit war, aus der Einrichtung des Vorbesitzers zu übernehmen. Seine Phantasie muss sofort angesprungen sein, Gäste und Wein und viel „gelahrte“ Sprüche in diesem Raum, alles durch Decken- und Wandstrahler angenehm ausgeleuchtet. An der Innenseite des Raumes stehen zwei Weinkühlschränke rechts und links neben einem Arbeitstisch. „Hier lagern über 250 Weine, damit kann ich schwere Zeiten lange überstehen.“ Papa hatte zufrieden gegrinst, als er mir den Raum nach Abschluss der Renovierung voller Stolz zeigte.
Übermorgen soll also wieder einer seiner berühmten Herrenabende mit Leuten aus der gehobenen Neustadter Schicht stattfinden, alles Alfa-Tiere, jeder wichtiger als der andere. Warum sollte es privat anders zugehen als in der Industrie? Die VIPs zu kennen, mit ihnen viel, auch über den Durst getrunken zu haben, ist das ultimative Schmiermittel gegen zu große Reibung bei irdischen Dingen. Vor allem im Umgang mit Behörden. Man munkelt, sogar das fast gottgleich über allem Irdischen schwebende Denkmalamt hätte sich an einigen Stellen kompromissbereit gezeigt und sei Papa etwas entgegengekommen. Er wolle mich vor Beginn natürlich ordentlich briefen, Vorbereitung sei alles. Der Abend sei sehr wichtig für ihn und die Entwicklung des Betriebes.
Networking war Papas unübertreffliche Kernkompetenz. Jovial, großzügig, hilfsbereit, den anderen reden lassen und ihn charmant und humorvoll aufwerten, so schaffte er es immer in kurzer Zeit in die interessanten Kreise. Egal ob im Urlaub oder hier in Neustadt. Sein Gedächtnis für Namen, Menschen und Situationen war sprichwörtlich, sein Hirn speicherte alles und scheinbar für alle Zeiten. Inselbegabung oder hohe Intelligenz, da war sich sogar seine Frau Katharina nicht sicher. Wer ihn anlügen wollte, musste über ein Supergedächtnis verfügen und sich die eigenen Lügen gut merken können. Papas Ohren arbeiteten wie Richtmikrofone. Er konnte sich völlig auf die Unterhaltung am anderen Ende eines Tisches konzentrieren und zwanzig laute Redner rechts und links ausblenden. In meinen Monaten als Konzernknecht in Stuttgart hatte ich festgestellt, dass solche Eigenschaften der Stoff sind, aus dem Karrieren geschnitzt werden. Nach einem halben Jahr kannte er alle maßgeblichen Leute in und um Neustadt, sogar einige im Weinbauministerium in Mainz. Immerhin ein Staatssekretär sollte übermorgen mitzechen.
„Die Spielregel ist ganz einfach. Jeder bringt eine Flasche Wein seiner Wahl mit, schenkt uns allen großzügig ein und bespricht die Probe. Dieses Mal ausschließlich trockene Burgunder, vor allem Grau-, Weiß- oder Spätburgunder. Vielleicht schafft es einer aus Württemberg eine Flasche Samtrot oder Schwarzriesling zu besorgen, aber gegen Chardonnay habe ich eine Aversion und die Sorte ausgeschlossen. ‚Every thing but Chardonnay‘, mir gehen die fetten Dinger auf den Wecker. Das Essen zuvor und die Zechweine stellen wir. Die Handys bleiben aus. Schaffst Du das mit dem Ding oder ist es bereits an Deiner Hand angewachsenen? Ich stelle Dir die Großkopfeten alle vor, verrate natürlich auch was für ein talentierter Chemiker Du bist und dass Du in einigen Monaten die Ludwigshafener zu neuen Höhen führen wirst. Dann essen wir, anschließend geht die Weinprobe los. Wir beide reden nur das Nötigste selber, wir lassen die anderen erklären, wie toll sie sind und sich im Geschwätz verbreiten. Stockt es, moderiere ich, damit es weitergeht. Nichts ist schlimmer als eine Gesprächspause. Ich will hinterher mehr über die anderen wissen als die über mich. Unser Treffen trägt natürlich einen Namen: ich nenne es Eichen-Kollegium. Wegen dem Holztisch.“
„Wie Du die Orgie beschreibst, sehe ich den Kurfürsten Friedrich August von Sachsen vor mir.“ Von Zeit zu Zeit musste ich Papa zeigen, dass der tumbe Chemiker auch in Kultur und Geschichte zu wildern weiß. „Politik wurde von nüchternen Räten erledigt, August der Starke widmete sich der Zeugung von Nachwuchs und herrschaftlichem Trinken im exklusiven ‚Klub zur Bekämpfung der Nüchternheit‘. So etwas würde heute unter Sprachkriminalität fallen, gegen jede politische oder semantische Korrektnis. Bei den Gelagen sollten sächsisch-polnische und brandenburgisch-preußische Adlige bei immer mehr Wein vergessen, Krieg gegeneinander zu führen. Trinken war wohl die einzige Gemeinsamkeit mit Friedrich Wilhelm I. von Preußen. Immerhin einigten sie sich dabei unter anderem auf den Tausch von „Langen Kerls“ gegen edle Vasen. Die Vasen kannst Du heute noch bewundern, die Kerls natürlich nicht mehr. Dann beerbte Sohn Friedrich, schon bald der Große genannt, den Soldatenkönig. Er beendete das gemeinsame Trinken und marschierte nüchtern und humorlos in Sachsen ein. Was folgt, ist Geschichte.“
„Dein Alter Fritz hatte für seine Männerrunden etwas Intellektuelleres ins Leben gerufen. Er nannte es Tabakskollegium, ein Forum für die Geistesgrößen seiner Zeit mit viel Gelegenheit, intelligent zu diskutieren. Aber nur philosophisch daherreden muss auf Dauer fürchterlich langweilig sein. Das machen wir besser. Gegen 22 Uhr wirst Du feststellen, dass der kleine Teufel Alkohol gewonnen hat und hauptsächlich dummes Zeugs gesabbelt wird. Bei immer höherer Lautstärke.“
„Willst Du Deine Gäste betrunken machen? In bestimmten Kreisen wird unwürdiges Verhalten bei Gelagen gerne später als Druckmittel eingesetzt. Und glaube mir, auch in der Großindustrie ist das Verhalten bei Tische und beim Trinken ein Kriterium für die Personalauswahl. Ich dachte immer das sei schlechter Stil, bis ich es am eigenen Leib erlebt habe. Offensichtlich habe ich meine Prüfungen bestanden.“
„Nein, betrinken müssen sie sich schon selber. Ich gebe ihnen nur die Gelegenheit dazu. In dem Zustand erfährst Du alle Geheimnisse, Betrunkene und Narren sagen die Wahrheit. Natürlich lege ich kein Dossier darüber an, ich bin ja nicht so ein Machtpolitiker wie der verstorbene Dicke hier aus der Gegend. Aber halt Du Dich beim Trinken selber zurück. Nach jedem Schluck Wein einen Schluck Wasser nachschieben, möglichst wenig Wein ins Glas füllen lassen, eventuell ausgießen. Wir sind nicht zum Vergnügen hier! Spucknäpfe stehen auf dem Tisch. Für den Gastgeber im Allgemeinen und in unserem Fall besonders wäre ein Kontrollverlust äußerst blamabel. Damit die Helden endgültig genug haben, gibt es am Ende schwere Rotweine, so mit 15 Volumenprozent Alkohol. Die wirken immer, nach einer Stunde ist Schicht. Im Rheinland gäbe es zu dem Zeitpunkt Klare, das ginge noch schneller. Dann können sie heimgeschafft werden. Einen Taxidienst habe ich als Service für die potenziellen Weinleichen organisiert.“
Der Wein lockte, die Gäste waren früh da und wurden auf der Terrasse mit Sekt und Fingerfood begrüßt. Vor dem Eintritt ins Paradies bot der Stehempfang Zeit zum rhetorischen Warmlaufen und zum „Weingrün machen“ der Sinne. Man kannte sich, der einzige Neuling war ich, der mit wenigen Worten als ‚Junger vom Alten‘ vorgestellt wurde. Immer wieder flüsterte Papa mir Informationen zu den Gästen zu. Der Polizeipräsident kurz vor der Pensionierung und ständig beschäftigt, seinen Namen in den Medien zu finden, ohne bei der Politik in Mainz anzuecken. Die nicht seltene Mischung aus einem Opportunisten und einem Narziss, aber mit festem Händedruck und offenem Gesicht. Oder der Chefredakteur, um den die anderen herumschwänzelten und für eine gute Presse und um Informationen zu aktuellen Aufregern antichambrierten. Dann der Autor von heimatbezogenen Krimis, dessen Plots sich immer um real existierende Personen, meist VIPs natürlich, drehten.
„Hüte Dich vor ihm, sonst landest Du auch in einem seiner Krimis. Er ist ununterbrochen auf Plot- und Charakterschau. Dein Wert bemisst sich nach Deiner Crimeability.“ Papa spuckte das Wort so ironisch aus, als sagte er das hässliche Wort Fuckability. „Aber er ist mit seinen Krimis recht erfolgreich. Kann sogar davon leben!“
Der Weinkommissionär, einige Jahre jünger als die anderen, nicht unsympathisch. „Mit dem bin ich inzwischen gut befreundet. Er kennt in der Szene jeden und alles, Gott und die Welt. Ja, Wissen ist Macht. Wer ist als Geschäftspartner vertrauenswürdig, mit wem kannst auch kritische Dinge besprechen, wem ist die Weinkontrolle auf den Fersen und wer wird bald Insolvenz anmelden? Außer Auto, PC und Telefon braucht er praktisch nichts. Fixkosten auf Höhe Nullniveau, ist deshalb zum Erfolg verdammt.“
Ein Freund, der zudem nützlich ist, typisch Papa. „Und was macht so ein Kommissionär ohne etwas Eigenes? Jedenfalls hört er konzentriert zu, nimmt sich nicht so wichtig zu und redet selber wenig.“ Ich hatte ihn aus den Augenwinkeln unauffällig beobachtet.
„Sein Beruf ist mehr als 700 Jahre alt, Hochachtung bitte. Das älteste Dokument mit dem Namen „Weinsticher“ wurde 1322 geschrieben. Er vermittelt Trauben, Weine und Moste von denen, die etwas loswerden wollen an Kellereien, die es brauchen, weil sie in großen Chargen denken. Er holt Proben in den Betrieben, wickelt den Papierkram ab, organisiert den Transport und bekommt dafür von beiden Parteien kleines Geld als Provision. So bin ich meine 5000 Liter Müller-Thurgau gestern an die Mosel losgeworden. Die meisten Weine im Supermarkt haben eine solche Wander- und Sammelgeschichte.“
„Sag mir was zu dem Dicken links von Dir. Der wirkt ziemlich nervös, als wenn er in seinem monströsen Bauch ein Riesenproblem herumtragen würde. Und er kriecht fast in seinen Gesprächspartner hinein.“
„Das ist der Vorstandsvorsitzende der Genossenschaft, seit vielen Jahren schon. Die Geschäfte dort laufen seit einiger Zeit suboptimal, ob er sich noch lange halten kann, keine Ahnung. Die Zeiten haben sich geändert, inzwischen ist die Halbwertszeit von Managern in der Weinszene nicht unbedingt größer als die von Fußballtrainern. Da kennst Du Dich als wiedergeborener Amateurkicker ja aus. Dass er so intensiv mit dem Rechtsanwalt spricht, mag etwas zu bedeuten haben.“
„Der Glatzkopf ist also Rechtsanwalt. Aber wie ich Dich kenne keiner aus der Fakultät Wald und Wiese.“
„Natürlich nicht, er ist Partner und Regionalfürst einer internationalen Kanzlei. Wenn die Mainzer Juristen im Ministerium nicht mehr weiterwissen, holen sie dort Hilfe. Oder wenn Dein DFB in Frankfurt mal wieder gezwungen ist, einen Skandal aufzuklären. Der Mann ist für mich unendlich wichtig. Rechtliche Info, vor allem Tricks, eingetauscht gegen Wein und Essen. Naturalwirtschaft auf hohem Niveau.“
Die anderen Gäste waren ein Notar, den er bei seinen zahlreichen Transaktionen benötige, ein Bäckermeister und Bruder im Geiste mit über 30 Verkaufsfilialen und denselben Herausforderungen wie sie Papa als Drogeriefilialist hatte, der Inhaber einer großen Privatklinik und der Geschäftsführer einer Druckerei. Zehn Gäste, alles Häuptlinge, alle in hohen gesellschaftlichen Positionen und jeder irgendwie nützlich für Papas Interessen. „Das ist der Unterschied zwischen uns beiden: Ich kenne hauptsächlich Indianer wie den kleinen Kommissar aus meinem Fußballverein. Für Dich wird eine Person erst ab Niveau Polizeipräsident interessant.“
Zuletzt und mit einer für hochrangige Politiker standesgemäßen Verspätung traf der Staatssekretär ein. Schlank, mittelgroß und für einen Politiker unüblich in Freizeitklamotten. Gebracht wurde er von einer jungen Frau in einem klapprigen, alten Golf, den sie mit viel Schwung bis vor den Eingang des Herrenhauses fuhr. Sportlich schwang sich unser Gast aus dem Auto und genoss die Aufmerksamkeit. Die Kontraste wirkten inszeniert: kleines Auto, großer Titel, junges Kind, alter Mann. Papa lief ihm sofort entgegen und schüttelte seine Hände kräftig durch. VIPs brauchen das. Dann stellte der Staatssekretär seine Tochter vor. „Essie ist für den Fahrer eingesprungen, dem habe ich heute frei gegeben. Studiert hat sie irgendetwas mit Medien, genauer habe ich es noch nicht herausgefunden. Auf jeden Fall lässt sie am Medien-Auftritt meines Ministeriums kein gutes Haar.“