Toskanische Intrigen - Antonello Rossi - E-Book

Toskanische Intrigen E-Book

Antonello Rossi

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Beschreibung

Sommer, Sonne, finstere Machenschaften – der zweite Fall für Sonderermittler Francesco Scotti!

September in der Toskana. In der Nähe von Volterra, eingebettet in die wunderschöne Landschaft aus Zypressen und Pinien, liegt das Teatro del Paradiso, wo in Kürze »Romeo und Julia« aufgeführt werden soll. Der Schock sitzt tief, als Hauptdarstellerin Daria vor der Premiere tot zusammenbricht und Kommissar Scotti vor einem Rätsel steht: Denn in dem Flakon, aus dem Daria getrunken hat, finden sich Spuren von Zyankali, doch an ihr selbst ist das Gift nicht nachweisbar. Als zwei weitere Morde geschehen, ahnt Scotti noch nicht, dass er selbst in großer Gefahr schwebt …

Lesen Sie auch den ersten Kriminalroman um den spleenigen Kommissar Francesco Scotti!

Beide Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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EPUB
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Seitenzahl: 561

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch:

September in der Toskana. In der Nähe von Volterra, eingebettet in die traumhafte Landschaft aus Zypressen und Pinien, liegt das Teatro del Paradiso, in dem ein junges Ensemble »Romeo und Julia« aufführen soll. Der Schock sitzt tief, als Hauptdarstellerin Daria vor der Premiere tot zusammenbricht und Kommissar Scotti vor einem Rätsel steht: Denn in dem Flakon, aus dem Daria getrunken hat, finden sich Spuren von Zyankali, doch in ihrem Körper ist das Gift nicht nachweisbar. Als ein weiterer Mord geschieht, ahnt Scotti nicht, dass dies nicht der letzte Tote im Teatro sein wird und er selbst in großer Gefahr schwebt ...

Autor:

Antonello Rossi ist ein Pseudonym. Wenn der Autor nicht gerade in der Toskana weilt, lebt und arbeitet er in Deutschland. Die Verrücktheit und Herzlichkeit der Italiener, für die ein Caffè mehr Kultur als Heißgetränk ist, lässt Rossi ebenso in seine Romane einfließen wie die Liebe zu Landschaft und »Dolce Vita«. Mit Francesco Scotti hat er einen Ermittler erschaffen, den die Leserschaft nicht nur wegen seiner Eigenwilligkeit und seines untrüglichen Instinkts liebt, sondern auch wegen seiner exklusiven Anzüge, auf die er selbst in der tiefsten toskanischen Provinz niemals verzichten würde.

ANTONELLO ROSSI

Toskanische Intrigen

Ein Fall für Kommissar Scotti

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie tatsächlich existierenden Einrichtungen oder Unternehmen ist rein zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.

Originalausgabe 2025 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2025 by Antonello Rossi

[email protected]

(Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Umschlaggestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von Adobe Stock (Erin Cadigan, Freesurf, I LOVEPNG)

Innengestaltung unter Verwendung der Bilder von: © Adobe Stock

(Zet_san, Alano Design)

KW · Herstellung: DiMo

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-31361-6V002

www.blanvalet.de

Beschriftung des Plakats als Text

Nachwuchsfestival

Teatro del Paradiso Saldano

William Shakespeare

Romeo e Giulietta

In einer Bearbeitung von Valentino Coppola

am 14., 15. und 16. September 2018, 19.00 Uhr

Giulietta: Daria Mancini / Federica LeoneRomeo: Mario Mancini / Raul FerraraParis: Giovanni VinciCapulet: Jacopo PumaGräfin Capulet: Catina NeriBalthasar: Gabriele FerrettiBruder Lorenzo: Mattia GuerraAmme: Elisabetta FabbriErster Diener: Cornelio BruniZweiter Diener: Alfredo BaroniApotheker: Ettore Palumbo1. Musikant: Andrea Rossetti2. Musikant: Daniele Santoro3. Musikant: Emanuele VeroMaske: Clarice MariniRequisite: Lorena GattiLicht: Pasquale DonatoTon: Luciano CaputoRegie: Valentino Coppola

Prolog

Wie oft sollte sie Gabriele noch sagen, der Salbeitee darf maximal zehn Minuten ziehen? Sie nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Der Bitterkeit nach schwammen die frischen Blätter mindestens eine halbe Stunde in der Kanne.

Sie saß in ihrer Garderobe und blickte in den Spiegel. Ihre Wangen waren gerötet. Sie war aufgeregt. Warum eigentlich? Valentino hatte vor der nächsten Szene eine Pause angeordnet. Sie brauchte keine Pause.

Sie liebte die Schauspielerei. Seit dem Tag, an dem ihr Vater sie als Siebenjährige das erste Mal in ein Teatro ausgeführt hatte. Sie liebte die gepolsterten Stühle im Zuschauerraum, die Gerüche, das Knistern und Rascheln der Besucher, die freudige Erwartung kurz vor dem Heben des Vorhangs. Damals. Nun hatte sie die Seiten gewechselt. Stand selbst da oben. Sie liebte die Bühne, den Klang der Schritte auf den Brettern, die staubige Hitze, die Kostüme, die sich an die Haut schmiegten, das Licht der Scheinwerfer, die strahlenden Gesichter beim Schlussapplaus. Liebe. Ja, sie empfand Liebe für ihren Beruf.

Genauigkeit, darauf kam es an. Perfektes Timing. Sie hatte immer hart gearbeitet. Hart und genau. Recherchiert, recherchiert, recherchiert. Rollenstudium betrieben. Als die Schauspielschule einmal den Hamlet aufführte, spielte sie die Gertrude, weil keine andere Schülerin in der Lage war, eine ältere Frau darzustellen. Sie nahm Kontakt mit einem Rechtsmediziner auf, der ihr die Wirkung des Giftes erklärte, das in Shakespeares Drama die Mutter des Prinzen von Dänemark ins Jenseits beförderte. Erst setzte ein leichtes Jucken ein, dann schwollen die Schleimhäute an, Atemnot und schließlich Exitus. Sie spielte die Rolle perfekt.

Inzwischen hatte sie ihren Abschluss. Endlich konnte sie zeigen, was in ihr steckte. Endlich konnte sie an den großen Häusern vorspielen. Endlich hatte sie nicht nur ein Engagement beim Nachwuchsfestival im Teatro del Paradiso, sondern sogar die Hauptrolle bekommen. Federica musste sich mit der Zweitbesetzung begnügen. Ein Gefühl, das sie zu gut kannte. In zwei Wochen war Premiere. Ihre ganze Familie hatte sie eingeladen, die Vorstellungen waren ausverkauft. Sie spielten unter freiem Himmel; keine gepolsterten Stühle im Zuschauerraum, nicht einmal ein Vorhang vor der Bühne. Aber dieses Festival konnte ein Sprungbrett für sie sein.

Aus ihrer Garderobe hörte sie die Stimmen der anderen. Ende des vierten Aktes hatte sie ihren großen Monolog. Vielleicht war sie deshalb aufgeregt. Körperübungen, Stimmübungen, der Techniker kam, schaltete den Funksender ihres Mikrofons ein, sie nahm noch einen Schluck vom Salbeitee.

Valentino Coppola achtete bei den Proben peinlich genau auf Textsicherheit. Er saß mit seinem Regiepult in der dritten Reihe. Aberglaube. Drei war seine Lieblingszahl. Valentino setzte die Abendproben zur selben Zeit an wie die späteren Aufführungen. Wegen der Lichtverhältnisse, sagte er.

Sie trat auf die Bühne, sah das Grün der Natur, in die das Teatro eingebettet war, blickte in das weite Rund, in dem in ein paar Tagen über siebenhundert Zuschauer sitzen würden. Am Anfang der Szene spielte sie zusammen mit der Amme und der Gräfin. Bei jedem Wort schmeckte sie die Bitterkeit des Tees. Sie würde Gabriele die Leviten lesen. Und plötzlich war sie wieder da: diese Liebe, diese Lust am Spiel. Mit einem Mal spürte sie nicht mehr den scheußlichen Geschmack des Tees, verschwand der Groll auf Gabriele. Sie genoss es, hier zu stehen. Im Rampenlicht.

Gräfin und Amme traten ab. Sie stand allein auf der Bühne. Begann ihren Monolog. Sie spürte: Open Air war anders. Man wusste nie, ob irgendwelche Pollen durch die Luft flogen. Schon beim ersten Absatz begann es, in der Nase zu kitzeln, beinahe hätte sie niesen müssen.

Die letzten Zeilen, jetzt kam es darauf an, ja nicht zu pathetisch: »Ich komme, Romeo! Dies trink ich dir!« Sie leerte den Flakon, warf sich auf das Bett und spielte den todesähnlichen Schlaf, den sie zigmal geprobt hatten. Valentino liebte diese Szene, das wusste sie. Er mochte es, wenn sie wie ein Engel schlafend auf dem Bett lag. Ihr schossen Tränen in die Augen. Was war das für ein Zeug, das noch im September durch die Luft flog? Wieder kitzelte es in der Nase. Jetzt nur nicht niesen, Valentino würde ausrasten. Und dann dieser bittere Geschmack, dieser Druck auf der Brust, ein schmerzhaftes Stechen.

Sie hielt es nicht mehr aus, sprang auf, griff sich an die Kehle, röchelte, rannte hinter die Bühne. Sie rang nach Luft. Wie hieß noch mal der Rechtsmediziner, den sie damals aufgesucht hatte? Was hatte er gesagt? Erst ein Kitzeln, dann Schwellungen der Schleimhäute … In der Ferne rief jemand ihren Namen. Sie hielt sich am Hintergrund-Vorhang fest, spürte den Stoff in den Händen, wollte etwas sagen, rufen, schreien, aber ihre Zunge schwoll von einem Augenblick zum anderen an. Sie fasste sich an den Hals.

Im Fallen sah sie verschwommen das Gesicht von Federica, roch ihr Parfüm, hörte sie irgendetwas sagen …

Kapitel 1

Ein schwüler Spätsommerabend neigte sich dem Ende zu. Die blaue Stunde war vorüber, die Luft lag in schweren Schwaden über den Hügeln. Die Nacht war angebrochen, doch die damit einhergehende Abkühlung ließ noch auf sich warten. Hoch über dem Ortskern von Montecatini thronte der Torre dei Belforti in beinahe eleganter Dunkelheit, die von einem so tiefen Blau zu sein schien, wie es selbst Michelangelo nicht reiner auf seiner Palette hätte mischen können. Nur am Fuße des Torre zeichneten ein paar Straßenlaternen einen ausgewaschenen Kranz gelb-braunen Lichtes auf das alte steinerne Gemäuer.

Mit der Dunkelheit legte sich auch die Stille über die Gassen des Ortskerns. Das Leben spielte sich Samstagnacht für gewöhnlich unterhalb der Via XX Settembre im tiefer gelegenen Zentrum auf der Piazza Repubblica ab. Doch auch hier war es an diesem ersten Septemberabend ruhiger als sonst an einem Wochenende. Ein lauer Wind, kaum spürbar, fuhr durch Blusen und Hemden, kühlte erhitzte Haut. Die wenigen Menschen, die auf der Piazza verweilten, vernahmen verschwommene Klänge von Gitarren und Bandoneon und dumpfes Stimmengewirr, gefolgt von Gelächter; eine Geräuschkulisse, die der Wind aus dem Garten von Marta und Valerio Bertini herübertrug. Dort war das halbe Dorf zusammengekommen, um Ferragosto zu feiern. Für die einen der Wendepunkt des Sommers, für die anderen Mariä Himmelfahrt. Der 15. August war zwar seit über zwei Wochen vorüber, doch wie alles in diesem Bergdorf etwas langsamer vonstattenging, dauerte auch das Feiern der Sommerwende länger als anderswo. Hier gehorchte die Zeit nicht dem Diktat von Uhren und Kalendern, sondern dem Rhythmus der Menschen. Man erzählte sich die Geschichte, dass der alte Octavio vor Jahrzehnten einmal am Karfreitag seinen Weihnachtsbaum entsorgt hätte. Außerdem verlangte die Tradition des Ortes, Ferragosto bis Mitte September an jedem Wochenende zu feiern. Und an diesem Abend hatten Marta und Valerio zur Grigliata geladen.

Ihr Garten lag unweit der Piazza Repubblica, ein Stück unterhalb des Zentrums, in einer Senke: ein weitläufiges Gelände, auf dem ein Dutzend Olivenbäume ihr knorriges Dasein fristeten. Heute waren sie mit bunten Girlanden geschmückt. Im Gras steckten Fackeln, die Neuankömmlingen den Weg wiesen und deren Flammen tänzelnde Schatten auf die Gesichter warfen.

Der Aperitif war längst getrunken, das Fest in vollem Gange. Valerio hatte am frühen Abend den Grill angeworfen und den gemauerten Pizzaofen mit Olivenholz beheizt. Schon beim Betreten des Gartens schlug einem der Duft von gegrilltem Lamm und gebackener Pizza entgegen, vermischt mit Rosmarin und Knoblauch. Auf den zu einer Tafel zusammengestellten Tischen standen Schüsseln mit Salaten, Teller mit Tomaten und Oliven, dazu Körbe mit Focaccia.

Auch Commissario Francesco Scotti feierte mit. Er saß am Ende der Tafel neben Nicoletta, einer alten Schulfreundin, die vor ein paar Jahren die ortsansässige Drogerie ihres Vaters übernommen hatte. Scotti goss Nicoletta ein Glas Wein ein, als sich Valerio mit einem Servierteller aufgetürmten Fleisches bemerkbar machte.

»Francesco, Nicoletta, kann ich euch beiden noch ein Stück Lamm auflegen?« Er wartete die Antwort nicht ab und schaufelte den beiden eine Portion auf die Teller, von der eine vierköpfige Familie satt geworden wäre. »Es ist saftig und zergeht auf der Zunge. Ich habe Lisa selbst großgezogen.«

»Lisa?«

»Na, das Lamm.« Valerio lachte und zog weiter.

Nicoletta stocherte lustlos auf ihrem Teller herum, doch Scotti gab sich dem Genuss von Lisa hin. Das Fleisch war köstlich, Valerio hatte nicht übertrieben. Lange konnte er sich nicht an seinen Gaumenfreuden laben, denn Marta, die Frau des Gastgebers, stand plötzlich hinter ihm.

»Francesco, hier hast du dich versteckt, ich habe dich schon gesucht. Buon ferragosto, mein lieber Francesco. Gut siehst du aus. Und deinen teuren Anzug hast du an.«

Scotti hatte vorhin tatsächlich vor seinem Schrank gestanden und einen Augenblick überlegt, wie er sich kleiden sollte. Er hatte nach T-Shirt und Jeans gegriffen, sich dann aber für einen seiner teuersten und besten Caruso entschieden, seine Luminor Marina angelegt und war in ein paar Schuhe von Salvatore Ferragamo geschlüpft. »Voll cringe«, würden die Jugendlichen, die vor der Bar von Angelo und Carlotta abhingen, urteilen und damit noch untertreiben. Wer trug schon seine teuerste und nobelste Garderobe bei einer Grigliata?

»Buon Ferragosto, Marta!« Scotti wischte sich die Finger an einer Papierserviette ab, erhob sich und nahm seine Pflegemutter in den Arm. »Für dich und Valerio nur das Beste.« Es klang wie im Scherz, aber er meinte es tief in seiner Seele genau so, wie er es gesagt hatte. Marta und Valerio waren für ihn das Beste. Das Beste, was ihm in seinem vierundvierzigjährigen Leben widerfahren war.

Er erinnerte sich genau: Er war gerade sechzehn Jahre alt geworden, als seine Mutter gestorben war. Sein Vater hatte sich schon Jahre zuvor aus dem Staub gemacht und galt seitdem als unauffindbar, sodass dem Jugendamt nichts anderes übrig blieb, als den jungen Francesco ins Heim zu stecken. Marta, die beste Freundin seiner Mutter, brauchte ihren Valerio nicht lange zu überzeugen. Sie bestachen das Jugendamt und nahmen Francesco illegal bei sich auf. Das würde er ihnen nie vergessen.

Und nun stand seine Pflegemutter vor ihm in einem hellen Sommerkleid, das auch seiner leiblichen Mutter gut gestanden hätte.

»Jetzt übertreib mal nicht. Komm uns doch die Tage mal besuchen, Valerio hat einen neuen Grappa angesetzt.«

»Lass mich raten: Er hat jetzt eine Genehmigung zum Brennen?«

»Oh, ich vergaß, du arbeitest ja bei der Polizei.« Beide lachten. »Mein Francesco …«, sie nahm seinen Kopf in beide Hände, küsste ihn auf die Stirn und strich ihm über die Wange. Scotti schaute verlegen zu Boden. »So, ich muss mich um die anderen Gäste kümmern. Pass auf, dass du deinen Anzug nicht bekleckerst, du weißt, für einige wäre es ein innerer Festtag.« Sie zwinkerte ihm zu.

Marta kannte Scottis Vorliebe für luxuriöse Kleidung, für die nicht alle im Dorf Verständnis zeigten. Als ehemaliger Eliteagent der Polizia di Stato in Rom hatte er jahrelang als verdeckter Ermittler inmitten der Camorra in Neapel gearbeitet. Teure Autos, Uhren und Ringe, maßgeschneiderte Anzüge, handgefertigte Schuhe und gute Zigarren gehörten dort nicht nur zum guten Ruf, sondern waren eine Art Code, um in der Hierarchie der Mafia anerkannt zu werden. Scotti hatte sich an all diese Annehmlichkeiten gewöhnt, immerhin musste er sie nicht selbst bezahlen. Vater Staat kam dafür auf. Vor einem halben Jahr war er bei einem Anschlag geradeso mit dem Leben davongekommen und hatte sich einer schweren Operation unterziehen müssen. Marcello Firmini, sein Chef aus dem Innenministerium, schickte ihn unter dem Vorwand einer Strafversetzung in die Toskana, wo er genesen sollte. Reine Vorsichtsmaßnahme, um ihn aus der Schusslinie der Mafia zu nehmen, solange nicht feststand, ob seine falsche Identität aufgeflogen war. Seitdem lebte er in seinem Heimatdorf Montecatini und trug wieder seine alte Frisur, musste sich bodenständig geben und mit einem uralten Fiat zu seinen Ermittlungen fahren. Die Anzüge, seine Luxusuhr und die Schuhe von Ferragamo waren nur noch ein Relikt aus alter Zeit. Aber er liebte diesen Chic und hatte bei Firmini durchgesetzt, ihn weiter tragen zu dürfen. Von seinem Leben als verdeckter Ermittler wusste Marta nichts, nur dass er in Rom und Neapel bei der Polizia di Stato gearbeitet und dort seine Vorliebe für teuren Zwirn entdeckt hatte. Auch sein eigenwilliges Hobby hatte er ihr bisher verschwiegen.

Die letzten Töne einer alten toskanischen Volksweise erklangen und bündelten sich zu einem Schlussakkord, der in den wolkenlosen Nachthimmel aufstieg und darin verhallte. Die Musiker legten ihre Instrumente zur Seite.

Vom anderen Ende der Tafel drangen Stimmen herüber.

»Wieso feiern wir nicht Ferragosto am Strand, so wie die meisten? Wir könnten uns doch alle in einer Bucht in Cecina treffen.« Nicoli, der bis zu seiner Rente die Fleischerei des Ortes betrieben hatte, zündete sich eine Zigarette an, nahm einen kräftigen Zug und blies den Rauch in die Luft.

»Was willst du denn in Cecina, gefällt es dir hier nicht?« Martino, der ehemalige Friseur des Ortes, sprach mit vollem Mund, nahm eine weitere Gabel Lammfleisch, kaute und spülte mit einem kräftigen Schluck Weißwein nach. Er hatte sich einen Zopf gebunden. Seit er seinen Laden vor ein paar Jahren dichtgemacht hatte, ließ er sein Haar wachsen, als müsse er allen Leuten zeigen: Seht her, ich bin kein Friseur mehr!

»Es ist keine Frage des Gefallens. Am Strand feiern auch ein paar jüngere Leute. Euch alte Knacker sehe ich doch das ganze Jahr.«

»Ich werde dir eins geben, von wegen alte Knacker, du bist doch selbst nur ein halbes Jahr jünger als ich.«

»Und Feuerwerk haben wir auch keins.«

»Jetzt reicht’s mir«, ging der alte Octavio dazwischen, der bislang mit einer Esportazione im Mundwinkel still auf seinem Stuhl gesessen hatte. Niemand wusste, wie alt Octavio war, es gab nicht wenige, die meinten, er müsse bald die hundert Jahre erreicht haben. »Wenn der Signor Macellaio der Gesellschaft der alten Knacker überdrüssig ist, kann er ja nach Cecina fahren. Dort wimmelt es vor Touristen. Wem es in Montecatini nicht gefällt, dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen.«

»Das sagt der Richtige. Hast du in den letzten fünfzig Jahren den Ort überhaupt einmal verlassen?« Nicoli stippte die Asche seiner Zigarette auf den Boden.

»Was geht dich das an? Und was das Feuerwerk betrifft«, Octavio zündete ein Streichholz an und hielt es in die Höhe, »das hier ist mir Feuerwerk genug.«

Die drei zankten sich noch ein bisschen, was für sie eher Zeitvertreib als wirklicher Streit war. Tagsüber saßen sie in einem der Lokale auf der Piazza und spielten Briscola. Ein Vergnügen, das sie mit dem Bocciaspiel getauscht hatten, seitdem ihre morschen Knochen zu sehr schmerzten, wenn sie sich nach den Kugeln bückten.

In das Stimmengewirr hinein schlug Signora Farina, die Verkäuferin der Panetteria, mit einem Teelöffel an ihr Weinglas: »Hört mal zu! Ich suche noch zwei Eintrittskarten für Romeo e Giulietta im Teatro del Paradiso in Saldano. Meine Cousine hat eine Statistenrolle und ich wollte mir nicht entgehen lassen, sie auf der Bühne zu sehen. Allerdings sind alle Veranstaltungen ausverkauft.«

»Mein Schwager spielt auch mit«, rief Signor Bianco, der Besitzer der Cartoleria, bei dem Octavio seine Esportazione kaufte.

»Mein Cousin auch.« Signora Gori, die Apothekerin, wedelte mit zwei Eintrittskarten in der Luft herum, als würde sie den Siegerpokal des Giro d’Italia in den Himmel recken.

»Meine Nichte wohnt ebenfalls in Saldano und tritt auf. Ich habe aber nur zwei Karten, für meine Tochter und mich«, stimmte der Vater Nicolettas in den Chor ein.

Mit einem Mal hatte jeder einen Freund, Bekannten oder Verwandten in Saldano, der als Statist im Teatro del Paradiso auftrat. Alle hatten sie sich rechtzeitig Karten besorgt, nur die Verkäuferin der Panetteria schien leer ausgegangen zu sein.

»Ich finde, Italien ist das Land der Oper«, warf Avvocato Dottore Morelli ein, »man sollte gar nicht erst anfangen, das Sprechtheater zu kultivieren. Zudem noch mit dem Stück eines Engländers.«

Sein Einwand ging im Stimmengewirr unter. Alle freuten sich auf die Aufführung in zwei Wochen und versprachen Signora Farina, sich bei ihr zu melden, falls irgendjemand krank werden und eine Eintrittskarte übrig bleiben sollte.

»Gehst du auch hin?« Nicoletta brach sich ein Stück vom Laib einer Focaccia ab und wischte damit ihren Teller blank.

»Wohin?« Scotti goss Wein nach.

»Ins Teatro del Paradiso nach Saldano.«

»Nein, ich interessiere mich nicht sonderlich für Schauspielerei.« Noch während er diese Worte sprach, merkte Scotti, dass es gelogen war. Seine Begeisterung für die schönen Künste hatte er nie zur Schau gestellt, er kannte sich auch nicht besonders aus, gehörte eher zu den stillen Genießern. Von Desinteresse konnte jedoch keine Rede sein. In der achten Klasse hatte er sogar an einem Theaterkurs in der Schule teilgenommen, wegen Sofia, der Tochter seiner Pflegeeltern, in die er damals verliebt gewesen war. Doch das wollte er Nicoletta nicht auf die Nase binden. Außerdem war es ihm peinlich, dass er das Teatro del Paradiso nicht kannte. Er hatte schon davon gehört, dass irgendein berühmter Künstler in der Gegend ein Teatro gegründet hatte, wusste aber bis heute nicht einmal, dass es gleich um die Ecke in Saldano stand.

Er setzte die Karaffe mit Wein ab, nahm sein Glas und stieß mit Nicoletta an. Sein Telefon klingelte. Auf dem Display erschien der Name von Tenente Ugobaldo, seinem Chef in Volterra. Scotti drückte auf Ablehnen.

»Musst du nicht rangehen?«

»Heute nicht. Ich habe frei.«

Ugobaldo hatte ihn gleich nach seiner Ankunft in der Toskana wegen eines Asbestfundes in der Polizeistation von Volterra in das Dachgeschoss des Rathauses von Montecatini »ausgelagert«. Anfangs hielt Scotti das für einen schlechten Scherz, inzwischen war er froh darüber. Der Tenente war in weiter Ferne, und er hatte seine Ruhe.

Wieder klingelte das Telefon. Wieder Ugobaldo.

»Nun geh schon ran, Francesco, das Geklingel nervt.« Nicoletta verdrehte die Augen.

»Nein, das hat Zeit bis nächste Woche.«

»Und wenn es ein Notfall ist?«

»Dann ist meine Vertretung dafür zuständig.«

»Du hast eine Vertretung?«

»Das Kommissariat in Cecina.« Scotti drückte erneut auf Ablehnen und schaltete sein Handy aus. Er sah gar nicht ein, warum er dem Tenente um diese Uhrzeit noch seine Aufmerksamkeit schenken sollte. Meist rief Ugobaldo wegen Kleinigkeiten an. Mal monierte er, dass dieser »feine Signor Commissario aus Rom«, wie er ihn nannte, zu viel Kopierpapier verbrauchte, mal fielen ihm die Spesenabrechnungen zu hoch aus. Und diese Anrufe kamen zuverlässig am Wochenende, spätabends oder an einem freien Tag. Nein, von diesem Kleingeist würde er sich den Abend bei Valerio und Marta nicht verderben lassen.

Die Musik begann wieder zu spielen und einige Gäste fingen an, zwischen den Olivenbäumen zu tanzen, umrahmt von bunten Girlanden und Fackeln. Scotti dachte an die Nächte in Neapel, in denen er mit seinen »Freunden« von der Camorra in Nachtclubs unterwegs war, die die Mafia zur Geldwäsche nutzte. Clubs, in denen man eher Tango Argentino als Tarantella tanzte. Er erinnerte sich, wie einmal die Geliebte eines Mafiabosses ihn zu einem solchen Tanz aufforderte. Scotti liebte die Rolle des Gentlemans alter Schule, ganz der Charmeur, der sich auf der Klaviatur der Komplimente zu Hause fühlte. Allerdings musste er aufpassen, zu viel Nähe war ebenso gefährlich wie Abweisung. Im wahrsten Sinne des Wortes war der Tango in der Gesellschaft der Mafiosi ein heißer Tanz, aber auf ganz dünnem Eis. Es galt, den Spagat zwischen Intimität und Distanz zu meistern. Und er meisterte ihn. Jedes Mal.

Für gewöhnlich würde Nicoletta ihn gleich mit schnurrender Stimme fragen, ob er nicht mit ihr tanzen wolle. Jedenfalls war das früher so, als sie mit ihrer Clique durch die einschlägigen Diskotheken der Gegend zogen, lange bevor Scotti nach Rom zur Polizia di Stato ging.

Aber Nicoletta legte nur ihren Kopf auf seine Schulter und fragte mit schwerer Zunge: »Warum seid ihr Männer so?«

»Wie sind wir denn?«

»Na, so, wie ihr halt seid.«

Es war weit nach Mitternacht, als Scotti den Heimweg antrat. Er lief mit Nicoletta die Via Giosuè Carducci entlang, eine schmale Gasse, die steil nach oben zur Viale Roma führte. Scotti bot ihr an, sich einzuhaken, aber sie weigerte sich und schon bald lief sie ein paar Schritte hinter ihm. An der Viale Roma angekommen wartete Scotti, der Abstand hatte sich auf einige Meter ausgedehnt. Die beiden kamen auf die Piazza Repubblica, auf der keine Menschenseele mehr zu sehen war. Angelos Bar war geschlossen und auch im Il Platano bei Antonia und im Sotto la Torre bei Mama Gina waren die Stühle bereits hochgestellt. Im Zentrum war nächtliche Stille eingekehrt, einzig die Absätze von Nicolettas Schuhen hallten auf dem Pflaster der Piazza wider. Gleich neben der Bar lag ihre Drogerie. Sie blieb stehen und meinte, sie wolle im Lagerraum ihres Ladens schlafen.

»Du gehörst ins Bett, komm.« Scotti bot ihr erneut den Arm an.

»Nein, noch einen Berg schaffe ich nicht.«

Die Via XX Settembre nahm zwischen Mama Ginas Pizzeria und der Drogerie ihren Anfang und führte hoch in den von einer meterdicken Burgmauer umgebenen Ortskern, in dem Nicoletta wohnte. Seit sechs Wochen hatte auch Scotti dort eine Bleibe gefunden, gleich bei ihr um die Ecke, im Haus von Signora Leoni. Als er im Mai nach Montecatini kam, hatte Marta ihm ihr Ferienhaus in Ligia zur Verfügung gestellt. Zur Hochsaison musste er umziehen, da Marta auf die Einnahmen angewiesen war und das Haus an Urlauber vermietete.

Nicoletta sah ein, dass es keine gute Idee war, in ihrem Zustand im Lagerraum der Drogerie zu übernachten, und hakte sich bei Scotti unter. Die Via XX Settembre war noch um einiges steiler als die Via Giosuè Carducci. Sie hing an seinem Arm und er zog sie mehr, als dass sie lief. Auf Höhe des Porte Castellane, einem steinernen Torbogen, der einst Zugang zum Castello bot, das sich die Familie Belforti im Mittelalter zum Schutz vor ihren Widersachern hatte errichten lassen, streifte Nicoletta ihre Schuhe ab, weil sie mit den Absätzen zwischen dem Kopfsteinpflaster stecken blieb. Sie lehnte sich dabei mit dem Rücken an den Torbogen, der aufgrund seiner Enge die Abdrücke verschiedenfarbiger Autolackierungen trug, die wie eine abstrakte Höhlenmalerei aus der Steinzeit anmuteten. Sie packte ihre Sandalen an den Riemen und lief barfuß weiter. Wenn Scotti den Ortskern betrat, fühlte er sich jedes Mal wie in einer mittelalterlichen Filmkulisse. Er schaute über die Burgmauer und sah tief unter sich im Garten von Marta und Valerio noch ein paar Fackeln lodern. Die Musik war verstummt, aber einige Gäste saßen noch, tranken und unterhielten sich.

Auch Scotti merkte den Wein in den Beinen und so brauchten sie eine Weile, bis sie oben angekommen waren. Die Uhr der nahe gelegenen Kirche San Biagio schlug drei Mal, als er sich von Nicoletta an deren Haustür verabschiedete.

Keine fünf Minuten später schlich er durch das Treppenhaus in den ersten Stock, um Signora Leoni nicht aufzuwecken. Er drehte den Schlüssel im Schloss seiner Wohnungstür, trat ins Halbdunkel des Flurs und schaltete sein Handy an: zwölf Anrufe in Abwesenheit. Drei Nachrichten auf der Mailbox. Alle drei von Ugobaldo. Alle drei in höchster Aufregung. Alle drei mehr geschrien als gesprochen. In den ersten beiden bat der Tenente, Scotti möge schleunigst zurückrufen, wobei es eher wie ein Befehl als wie eine Bitte klang. In der dritten Nachricht ließ er die Katze aus dem Sack: »Wie oft soll ich den feinen Signor Commissario aus Rom noch anrufen? Wo treiben Sie sich herum? In Saldano hat es im Teatro del Paradiso bei den Abendproben einen Toten gegeben. Die Spurensicherung aus Pisa ist schon hier, nur der Signor Commissario ist wieder einmal unerreichbar. Wenn Sie diese Nachricht abhören, dann bewegen Sie Ihren …« Dann brach der Anruf mit einem Knacken ab.

Kapitel 2

Scotti stand noch im Halbdunkel des Flurs. Hatte er richtig gehört? Es gab einen Toten im Teatro?

Das war keine Nachricht, die ihn sonderlich überraschte. Seine jahrelange Arbeit als Eliteagent hatte ihn gelehrt, das Böse war nicht an Ort oder Zeit gebunden, es konnte überall und zu jeder Stunde zuschlagen. Er wunderte sich nur, dass der Tenente in Saldano sein sollte. Das war nicht üblich für ihn. Ugobaldo begab sich nie an einen Tatort. Scotti hörte den Anruf noch einmal ab. Tatsächlich! Es war alles so, wie er es beim ersten Mal vernommen hatte; am Ende wieder dieses Knacken, das auch eine Windböe hätte sein können, dann brach die Verbindung ab.

Er betrat die Küche und schaltete das Licht an. Nach etlichen Gläsern Pinot Grigio war selbst die 30-Watt-Birne zu grell, er spürte ein Stechen in den Augen, kniff sie zusammen und massierte mit leichtem Druck die Schläfen. Als er die Lider wieder öffnete, sah er helle Punkte, zwinkerte ein paarmal, bis sie nachließen und schließlich ganz verschwunden waren. Er ging zur Spüle, nahm sich ein Glas Wasser, trank es in einem Zug, dass dabei sein Adamsapfel gluckste, und setzte sich an den Küchentisch. Drei tiefe Atemzüge mussten reichen, um sich vor dem Telefonat mit dem Tenente zu entspannen. Er wählte Ugobaldos Nummer. Besetzt.

Er versuchte es bei Igor, seinem Mitarbeiter, den Firmini ihm als Hilfe für das Büro im Dachgeschoss zur Verfügung gestellt hatte. Viel wusste Scotti nicht über ihn, nur dass er aus einem russischen Dorf stammte und vor über zehn Jahren nach Italien ausgewandert war.

Eine gute Minute ließ der Commissario es klingeln, aber Igor nahm nicht ab, was um diese Uhrzeit nicht anders zu erwarten war. Zu erwarten war jedoch, dass er nachts seine Mailbox nicht abstellte. Wie oft sollte er ihm noch sagen, dass es wichtig war, ihm jederzeit eine Nachricht hinterlassen zu können? Aber er hatte jetzt keine Zeit und war nicht nüchtern genug, um sich darüber aufzuregen.

Erneut wählte er die Nummer des Tenente. Abermals besetzt. Er überlegte, ob es nicht besser wäre, das Handy wieder auszuschalten und ins Bett zu gehen. Sollte Ugobaldo doch sehen, wie er zurechtkam. Wenn er tatsächlich Hilfe brauchte, konnte er seine Vertretung in Cecina anfordern. Doch die Neugierde über das Vorgefallene in Saldano siegte über Müdigkeit und Promille im Blut. Vielleicht war es auch eine Art professioneller Ehrgeiz, der immer noch in ihm schlummerte. Er entschloss sich, es bei den beiden Carabinieri in Montecatini zu probieren, zwei aufgeweckte Burschen, die Scotti mochte und über die er verfügen konnte, wenn Not am Mann war. Möglicherweise wusste einer der beiden etwas von einem Toten im Teatro.

Ein Blick auf die Uhr: Kein normaler Mensch klingelte um diese Zeit jemanden aus dem Schlaf. Es sei denn, es wäre wirklich dringend. Aber was bedeutete schon normal? Und was dringend? Er wählte die Nummer von Mariani und hörte das Besetztzeichen. Immerhin – er war noch wach. Gleich danach probierte er es bei Rizzi, dem zweiten Carabiniere von der Polizeiwache des Dorfes. Nach drei Klingelzeichen nahm er ab.

»Pronto!« Rizzis Stimme klang müde.

»Hier Scotti, entschuldigen Sie die späte Störung …«

»Commissario Scotti«, der Carabiniere schien mit einem Mal hellwach zu sein, »da sind Sie ja, der Tenente versucht Sie schon seit ein paar Stunden zu erreichen.«

»Ich habe ihn angerufen, es war besetzt.«

»Wahrscheinlich hatten Sie Ihr Handy abgestellt, weil Sie in Ruhe Ferragosto feiern wollten. Hätte ich an Ihrer Stelle auch getan, immerhin haben Sie extra freigenommen. Meine Frau und ich waren auch bei der Grigliata der Bertinis eingeladen, aber die Schwiegermutter hatte Geburtstag …«

»Rizzi«, unterbrach Scotti, »was ist …«

»Scusi, Signor Commissario, Sie wollten ja den Tenente sprechen. Den hab ich vor ein paar Minuten noch gesehen, da telefonierte er mit Mariani.«

»Rizzi, was ist passiert? Und wieso ist der Tenente am Tatort? Das ist ja das erste Mal …«

»Ich weiß«, Rizzi lachte sein verschmitztes Lachen, das Scotti so sympathisch an ihm fand, »er ist ja auch nicht hier, um zu arbeiten. Er bettelt die Schauspieler um Autogramme an.«

»Hören Sie, Rizzi, ich mache mich kurz frisch und dann komme ich. Schicken Sie mir die Adresse auf mein Handy. Von unterwegs rufe ich Sie noch einmal an und dann erzählen Sie mir genau, was vorgefallen ist. Und sagen Sie dem Tenente, dass ich auf dem Weg bin.«

»Können Sie überhaupt noch fahren? Ich meine, … Sie kommen von der Ferragosto-Feier …«

»Ciao, Rizzi!«

»Ciao, Commissario.«

Sie legten auf.

Scottis alter Fiat stand in der Via Torricelle auf dem Parkplatz vor der Kirche San Biagio, keine fünf Minuten Fußweg von seiner Wohnung entfernt. Er ließ sich auf den Fahrersitz fallen, startete den Wagen, öffnete das Fenster bis zum Anschlag und zwängte sich durch die engen Gassen des Ortskerns. Das Auto rollte die Via XX Settembre hinunter. Er vermied es, Gas zu geben, um die Anwohner nicht aufzuwecken. Dass er ohne eine Schramme das Porte Castellane passierte, wertete er als sicheres Zeichen, noch fahren zu können.

Sein Haar wehte im Wind. Das Thermometer im Display der Armatur zeigte zwanzig Grad. Es war eine dieser Nächte, in der man sich nicht vorstellen konnte, dass es jemals kühler werden würde. Er verließ Montecatini auf der SP 32 Richtung Süden und war stolz, durch die Haarnadelkurven zu kommen, ohne dass die Reifen quietschten. Im Tal bog er links auf die SS 68. Die Zugluft tat gut, von Kilometer zu Kilometer wurde er nüchterner. Er sog die Luft ein – Sommerwende hin, Sommerwende her –, es roch immer noch nach Sommer. Dieser Geruch erinnerte ihn an seine Kindheit. Bilder stiegen in ihm auf, wie er mit seiner Mutter in genau so einer Nacht im Cabrio gefahren war. Er musste neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, seine Mutter hatte sich den Wagen von einem Freund geliehen, weil sie sich selbst kein Auto leisten konnte. Sie kamen von einer Geburtstagsfeier oder aus dem Kino in Florenz, so genau wusste er es nicht mehr. Aber er wusste noch, wie seine Mutter während der Fahrt den Arm um ihn legte und tief die Sommerluft in sich aufsog. Genau, wie er es jetzt tat. »Genieße diesen Augenblick«, sagte sie zu ihm und blickte für einen Moment herüber auf den Beifahrersitz. »Genieße nicht nur diesen, genieße jeden Augenblick, mein kleiner Francesco. Verstehst du? Das Leben ist so kurz, du musst es genießen.« Niemand ahnte damals, dass ihr eigenes Leben keine sieben Jahre mehr dauern sollte. Nach einer Weile stellte sie das Radio an und es lief »Splende La Notte« von Adriano Celentano, sein damaliges Lieblingslied. Sie sangen beide laut mit, sie schrien die Melodie in den Wind. Seit ihr Vater sie hatte sitzen lassen, hatte er seine Mutter nicht mehr so glücklich gesehen. Das Lied war vorbei und sie nahm ihren Arm von seiner Schulter und zeigte in den Sternenhimmel: »Zähl die Sterne, mein lieber Francesco! Vielleicht siehst du eine Sternschnuppe, dann darfst du dir etwas wünschen! Denn man sagt, Sternschnuppen seien Engel, die vor Freude durch den Himmel springen. Und wenn sie dabei jemand entdeckt, bekommt derjenige einen Wunsch erfüllt.« Er wusste, was er sich wünschen würde. Er wünschte sich, dass dieser Augenblick nie mehr enden sollte. Aber nicht in jeder Sommernacht springen Engel durch den Himmel und so wurde es nichts mit der Erfüllung seines Wunsches.

Ein entgegenkommendes Fahrzeug blendete und riss ihn aus seinen Gedanken. Scotti fluchte und merkte, dass er beinahe den Abzweig nach Saldano verpasst hätte. Er bog ab und ihm fiel ein, dass er Rizzi anrufen wollte. Er tippte auf Wahlwiederholung, stellte auf Lautsprecher und legte sein Handy zwischen seine Oberschenkel auf den Fahrersitz.

Rizzi nahm ab: »Das ging aber schnell, Signor Commissario.«

»Moment, Rizzi, ich kann Sie schlecht verstehen.« Scotti schloss das Fenster. »So, jetzt ist es besser. Hören Sie, ich weiß nicht viel. Im Grunde weiß ich gar nichts. Der Tenente hat mir nur auf die Mailbox gesprochen, dass es im Teatro einen Toten gegeben hat.«

»Besser gesagt, eine Tote. Eine Frau. Daria Mancini. Vierundzwanzig Jahre alt. Sie sollte in dem Stück die Giulietta spielen. Der Unfall ereignete sich kurz nach einundzwanzig Uhr.«

»Der Unfall?«

»Na ja, die Forensik sagt, es gäbe auf den ersten Blick keine Spuren äußerer Gewaltanwendung, sodass ein Unfall nicht auszuschließen sei.«

Dottoressa Laura Amato, die Rechtsmedizinerin der Forensik in Pisa, war also auch schon da, was Scotti einen Adrenalinschub gab. Er griff zum Handschuhfach und suchte seine Nikotinkaugummis, es wäre ihm peinlich, wenn er Laura mit einer Fahne begegnen würde.

»Ich habe den Regisseur befragt, ein gewisser Signor Coppola. Der sagt, sie hätten bis spät in den Abend hinein geprobt. Am Ende des vierten Aktes muss die Schauspielerin aus einem Fläschchen trinken und sich dann auf ihr Bett werfen. Sie muss so tun, als wäre sie tot. Gestern Abend ist sie aufgesprungen, hinter die Bühne gerannt und am Vorhang zusammengebrochen. Kurz darauf war sie wirklich tot.«

»Aus einem Fläschchen getrunken, sagen Sie?«

»Ja, und das ist spurlos verschwunden.«

»Rizzi, Sie müssen mich lotsen, ich bin gleich in Saldano und kann nicht gleichzeitig mit Ihnen telefonieren und auf die Karte im Handy sehen.«

»Wenn Sie von der SS 68 kommen, lassen Sie den Ort rechts liegen. Nach ungefähr hundert Metern biegen Sie in der Kurve links ab in die Strada Vicinale di Cerreto.«

Das mochte Scotti an Rizzi, er stellte keine überflüssigen Fragen, war pragmatisch und arbeitete so präzise, dass man hätte meinen können, er käme aus der Schweiz. Er spöttelte nicht, wieso Scotti immer noch kein Navi in seinem Wagen hatte, versuchte auch nicht, ihm zu erklären, wie man gleichzeitig telefonieren und das Handy zur Navigation nutzen konnte. Nein, er lotste ihn einfach dahin, wo er hinfahren wollte.

»Das kann nicht stimmen, ich entferne mich ja wieder von Saldano. Hier steht kein einziges Haus.«

»Welches Haus?«

»Hier muss doch irgendwo das Teatro stehen.«

»Es gibt kein Haus. Es ist ein Freiluft-Teatro. Open Air.«

»Ach ja, stimmt, das hatte ich ganz vergessen.« Scotti konnte vor seinem inneren Auge sehen, wie Rizzi sein verschmitztes Lachen aufsetzte.

»Noch ein paar Hundert Meter, dann sehen Sie schon die Scheinwerfer und die Bühne, Commissario.«

Und genau so war es. Die Straße machte eine leichte Kurve und dann nahm er die Scheinwerfer wahr, die Kulissen und Bühne anstrahlten.

»Ich bin da, Rizzi.«

»Fahren Sie linker Hand auf den Parkplatz. Ich hole Sie dort ab.«

Er legte auf. Scotti fuhr auf einen Acker, der als Parkplatz ausgewiesen war, stellte den Motor ab und stieg aus.

Kapitel 3

Von Weitem sah Scotti im Dunkeln eine Gestalt näher kommen. Das musste Rizzi sein. Er lief ihm entgegen und als sie sich trafen, salutierte der Carabiniere. Das tat er meistens, wenn sie sich nach einiger Zeit wiedersahen.

»Lassen Sie den Quatsch, Rizzi.«

»Entschuldigung, ist einfach so drin. Polizeischule.«

Sie liefen auf das Teatro zu, das, soweit man das in der Finsternis beurteilen konnte, mit zwei handbreiten Kunststoff-Bändern umgeben war, die Schaulustige abhalten sollten. Die Szenerie erschien bizarr: inmitten der Dunkelheit die hell erleuchtete Bühne, auf der die Mitarbeiter der Spurensicherung in ihren weißen Anzügen wie Astronauten auf dem Mond wirkten. Dazu die Geräusche der Nacht. Vor der Bühne erkannte man schemenhaft ungefähr zwanzig Stuhlreihen, entlang der Rampe hing ein rot-weißes Absperrband der Spurensicherung.

»Als ich ankam, sangen noch die Zikaden. Kein Wunder, dass die Schauspieler Mikrofone brauchen, sie hätten sonst keine Chance, gehört zu werden. Deshalb die ganze Technik.« Rizzi zeigte in die Luft rechts und links der Bühne.

Sie waren an der hintersten Stuhlreihe angekommen. Jetzt sah es auch Scotti: Wie ein riesiges Metallmonster ragten Traversen und Balustraden, an denen Boxen und Scheinwerfer hingen, in den Nachthimmel.

»Hier haben dreitausend Zuschauer Platz.«

Scotti blickte ungläubig auf die Stuhlreihen und schaute fragend zu Rizzi.

»Nein, das sind nur siebenhundertfünfzig Stühle. Für das Nachwuchsfestival reicht das aus. Es ist alles einige Nummern kleiner. Auch die Bühne und die Anlage sind nicht so groß. Aber immerhin. Bei drei Veranstaltungen sind das auch über zweitausend Leute. Beim großen Festival Anfang August ist die gesamte Wiese voller Sitzplätze.«

Scotti wunderte sich nicht, dass er davon nichts mitbekommen hatte. In letzter Zeit mied er große Menschenaufläufe und hatte den August meist in einer kleinen Bucht am Strand von Cecina verbracht.

»Ich hab mich ein bisschen damit beschäftigt, weil meine Cousine in dem Stück mitspielt.« Rizzi wies Scotti den Weg zur Treppe, die auf die Bühne führte. »Sie wohnt in Saldano und hat eine Statistenrolle. In den Statuten des Fördervereins steht, dass die Statisten Einwohner des Ortes sein müssen oder so etwas Ähnliches. Ich kann sie ja noch mal fragen.«

»Ich danke Ihnen, Rizzi. Bleiben Sie bitte in der Nähe.«

Der Carabiniere führte seine Hand in Richtung Stirn, als wollte er wieder salutieren, hielt aber mitten in der Bewegung inne.

Scotti begrüßte die Mitarbeiter der Spurensicherung, unter ihnen Edoardo Testa, der Chef des Labors. Zwischen den Schneemännern in den weißen Anzügen stand auch Dottoressa Laura Amato von der Rechtsmedizin. Sie entdeckte Scotti und kam auf ihn zu.

»Ach, der Signor Commissario hat auch schon ausgeschlafen.« Sie gurrte ein Lachen, das Scotti jedes Mal beinahe um den Verstand brachte. Dabei sah man diesen winzigen Spalt zwischen ihren oberen Schneidezähnen. »Ciao, Francesco, wir haben uns lange nicht gesehen.«

Sie gaben sich zur Begrüßung Küsschen auf die Wange, Scotti roch ihren unverwechselbaren Duft. Die Frau sieht nicht nur unverschämt gut aus, sie riecht auch unverschämt gut, dachte er. Ihre Haare waren inzwischen ein ganzes Stück gewachsen und fielen ihr auf die Schulter. Sie erinnerte ihn an diese französische Schauspielerin, deren Namen ihm nicht einfiel.

»Ja, viel zu lange. Was hast du für mich, Laura?« Scotti bemühte sich, professionell zu klingen.

»Daria Mancini, vierundzwanzig Jahre. Sie sollte die Hauptrolle spielen. Die Tote liegt am Vorhang hinter der Bühne. Komm!«

Sie liefen durch eine der Gassen, die die Vorhänge seitlich der Bühne bildeten, nach hinten. Die Leiche war mit einem weißen Tuch abgedeckt.

»Willst du sie sehen?«

Scotti nickte.

Laura Amato zog das Tuch so weit herunter, dass der Kopf der Toten frei lag. Lange dunkle Haare, ebenmäßige Gesichtszüge, eine schmale Nase. Ein Gesicht voller Anmut, Liebreiz und Eleganz, kein Vergleich zu den Mordopfern, die er sonst an Tatorten zu sehen bekam. Sie lag da wie eine schlafende Prinzessin aus einem der Märchen, die seine Mutter ihm als Kind erzählt hatte, wenn er nicht einschlafen konnte. Wer auch immer sie für diese Rolle besetzt hatte, wusste mit ihr alle Klischees der Giulietta zu bedienen.

»Wenn sie so daliegen, sehen sie manchmal einfach nur schön aus.« Dottoressa Laura Amato verschränkte die Arme vor der Brust. »Als hätten sie in ihrem ewigen Schlaf tiefen inneren Frieden gefunden. Und dann komme ich mit meinen Sägen und Keilen, nehme sie auseinander und zerstöre diese Ästhetik. Aber ich garantiere dir, Francesco, ich gebe mir die größte Mühe, sie hinterher wieder so zusammenzuflicken, dass du kaum etwas siehst.« Laura Amato blickte Scotti an, als wollte sie ihn fragen, ob er genug gesehen hatte. Scotti verstand und nickte. Sie bedeckte das Gesicht der Toten wieder mit dem Tuch.

»Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?«

»Keine äußere Gewaltanwendung, sie sieht auf den ersten Blick am ganzen Körper so unversehrt aus wie im Gesicht.« Die Dottoressa konnte sich ein Gähnen nicht verkneifen.

»Sie soll bei der Probe etwas zu sich genommen haben, sagte Rizzi zu mir.«

»›Ich komme, Romeo! Dies trink ich dir!‹ Das Ende des Monologs der Giulietta im vierten Akt.«

»Oh, da kennt sich jemand mit Shakespeare aus.«

»Signor Quattro, unser Dottore in der Schule, war ein Fanatiker für englische Literatur. Vor allem die Renaissance. Shakespeare rauf und runter. Ben Jonson, Christopher Marlow. Aber auch William Blake, der Romantiker. Was hat der Kerl uns gequält. Wir hatten doch in diesem Alter nur Jungs im Kopf. War es nicht so, dass aus deiner Familie auch jemand aus England stammte?« Wieder gähnte sie.

»Schottland. Mein Großvater kam aus Aberdeen.«

»Na, sag ich doch.«

Oh, einen Schotten mit einem Engländer gleichzusetzen, wenn das mein Großvater hören könnte, er würde sich im Grabe umdrehen, dachte Scotti.

»Die Giulietta trinkt am Ende des vierten Aktes einen Kräutertrunk, der sie in einen todesähnlichen Schlaf fallen lässt, damit alle denken, sie sei …« Dottoressa Amato machte mit der Handkante eine Bewegung entlang ihrer Gurgel.

»Hat ja prima geklappt.«

»Ja, nur: Im Stück überlebt sie den Trunk.«

»Meinst du, Signora Mancini wurde vergiftet?«

»Möglich. Genaueres weiß ich erst, wenn ich sie bei mir auf dem Tisch liegen hab. Vielleicht verrät mir ihr Mageninhalt etwas. Der Flakon, aus dem sie getrunken hat, ist spurlos verschwunden, sonst wüssten wir spätestens am Montag, was sie zu sich genommen hat.« Bei ihren Ausführungen fielen der Dottoressa beinahe die Augen zu.

»Spurlos verschwunden? Das klingt sehr danach, als hätte jemand nachgeholfen. So ein Flakon verschwindet doch nicht einfach.«

»Nimm es mir nicht übel, Francesco, ich muss ins Bett.«

Sie verabschiedeten sich und Laura Amato ging Richtung der Stuhlreihen davon. Nach ein paar Metern drehte sie sich noch einmal um: »Und vergiss nicht, du schuldest mir noch ein Essen.«

Er hatte vor ein paar Monaten mit ihr gewettet, wer mit dem Auto schneller in Lucca ist – und verloren. Scotti hörte aus der Ferne ein leises gurrendes Lachen, dann war die Dottoressa in der Dunkelheit verschwunden.

Rizzi stand ein paar Meter abseits der Bühne und unterhielt sich mit Mariani, der inzwischen eingetroffen war und ebenfalls ständig gähnte. Scotti begrüßte ihn und fragte, warum er sich das angetan hätte, mitten in der Nacht hierherzufahren.

»Der Tenente hat darauf bestanden. Ich hatte zwar keinen Bereitschaftsdienst, aber er meinte, er bräuchte jeden Mann.«

»Es hätte ausgereicht, wenn Sie am Vormittag ausgeschlafen zu uns gestoßen wären. Rizzi hatte hier alles im Griff. Wir können jetzt ohnehin nicht viel ausrichten, es ist stockdunkel und die meisten werden nicht vernehmungsfähig sein.«

Scotti wusste, dass das nur die halbe Wahrheit war. Es kam bei Mordermittlungen auf jede Stunde an. Doch was sollte er tun? Im Gelände war es dunkel wie in einem Kohlenkeller bei Stromausfall und er vermutete, dass die Schauspieler um diese Uhrzeit nicht mehr in der Lage waren, seine Fragen zu beantworten. Einige würden gar unter Schock stehen. Trotzdem wollte er sein Glück versuchen, manchmal landete man einen Volltreffer auch mitten in der Nacht.

»Und wenn Tenente Ugobaldo jeden Mann braucht, wie er behauptet«, fuhr Scotti fort und bemerkte, wie er sich in Rage redete, »warum hat er dann nicht seine Vice Brigadieri Ajello und Pepe mitgebracht? Die kleben doch sonst immer an seinen Hacken.«

Er konnte Ajello und Pepe nicht ausstehen. Sie arbeiteten in der Polizeistation Volterra, wo Ugobaldo wie ein kleiner König thronte, und ihre Kernkompetenz bestand darin, dem Tenente in den Allerwertesten zu kriechen. Manchmal fragte er sich, wie die beiden überhaupt die Polizeischule bestanden hatten. Aber der Tenente sah in ihnen so etwas wie seine persönlichen Adjutanten und hielt schützend die Hand über sie.

»Kommen Sie, Rizzi, bringen wir es hinter uns. Und Sie, Mariani, zeigen sich beim Tenente und dann verschwinden Sie wieder in Ihr Bett.«

Eine Art ausgelegter Holzsteg glich die Unebenheiten des Geländes aus und führte zu ein paar Zelten, die ungefähr fünfzig Meter hinter der Bühne standen. Alle paar Meter steckten Solarlampen im Boden, die den Steg beleuchten sollten, aber kaum noch einen Schimmer von sich gaben. Der ausgelegte Weg war gerade einmal einen Meter breit, sie mussten hintereinandergehen, Rizzi vorneweg, hinter ihm Scotti und zum Schluss Mariani. Auf halber Strecke sah Scotti, wie sich links vom Weg der Mond in einer großen Pfütze spiegelte, in deren Mitte etwas stand, das mannshoch, aber wegen der Dunkelheit nicht zu erkennen war.

»Woher kommt das Wasser, Rizzi? Es hat doch wochenlang nicht geregnet.«

»Dahinten stehen die Zelte, in denen Garderoben, Requisiten, Technik und Catering untergebracht sind.« Rizzi blieb stehen und drehte sich zu Scotti. »Von dort müssen die Schauspieler über diesen Holzsteg zur Bühne. Ein langer Weg. Ich habe alle, die während des Vorfalls im Teatro waren, angewiesen, im Catering-Zelt zu warten. Ich dachte, falls Sie doch noch herkommen, Signor Commissario, wollen Sie vielleicht mit dem ein oder anderen sprechen.«

»Gut gemacht, Rizzi. Aber was ist das?« Scotti nickte mit dem Kinn in Richtung des Wassers neben dem Weg.

»Ach das? Das ist ein künstlich angelegter Teich mit einer Skulptur in der Mitte. Aber fragen Sie mich nicht, was es ist. Der Teich ist der Grund, weshalb die Zelte nicht direkt hinter der Bühne aufgebaut werden können.«

»Und was soll das?«

Rizzi zuckte mit den Schultern und ging weiter. Nach ein paar Metern sagte er: »Ist halt Kunst.«

Da Scotti hinter ihm lief, konnte er das Gesicht des Carabiniere nicht sehen, aber er hätte wetten können, dass Rizzi wieder sein schelmisches Grinsen aufgesetzt hatte. Mariani hingegen schwieg, Scotti vernahm lediglich immer mal wieder ein Gähnen hinter sich.

Sie wollten gerade das Catering-Zelt betreten, in dem man vereinzelte Grüppchen herumstehen sah, da kam Ugobaldo aus dem Inneren des Zeltes auf sie zugeschossen. Noch im Gehen rief er: »Da sind Sie ja endlich. Und so etwas nennt sich Commissario. Und wie Sie wieder herumlaufen. Sie sind hier auf dem Lande, an einem Tatort. Und nicht auf dem Laufsteg in Milano.«

Ugobaldo war ein untersetzter Herr mittleren Alters, in seiner Halbglatze spiegelte sich das Licht des Catering-Zeltes. Wirklich etwas zu sagen, hatte der Tenente ihm nicht. Um Scottis Strafversetzung glaubhaft zu machen, hatte Firmini in Rom ihn zum Commissario degradiert, nur um ihn einige Tage später zum Sonderermittler für die gesamte Toskana zu ernennen. Mit diesem Trick stand Scotti weiter unter der Fuchtel Firminis, obwohl der Tenente offiziell sein Vorgesetzter war. Auch wusste Ugobaldo nichts von Scottis Vergangenheit bei der Elite-Einheit des Innenministeriums, weder von seiner Arbeit bei der DIA noch von seinem Einsatz als verdeckter Ermittler bei der Camorra in Neapel. Für ihn war er ein Schreibtischtäter einer Spezialeinheit in Rom, für praktische Ermittlungsarbeit ungeeignet.

Der Tenente stieß zu den dreien und baute sich breitbeinig vor Scotti auf. Der Commissario kannte den schlechten Atem Ugobaldos, wich vorsorglich einen Schritt zurück und trat dabei Mariani auf den Fuß. Der stöhnte kurz auf, wiegelte aber – noch bevor Scotti sich entschuldigen konnte – mit einer Handbewegung ab und murmelte, er könne den Commissario verstehen, der Mundgeruch des Tenente sei unerträglich.

»Haben Sie in Rom auch so dilettantisch gearbeitet? Was heißt arbeiten, wann immer ich Sie anrufe, gehen Sie nicht ans Telefon. Wer weiß, was Sie in Ihrem Dachgeschoss in Montecatini treiben.«

Scotti erinnerte den Tenente daran, dass er seinen freien Tag gehabt hätte und in solchen Fällen seine Vertretung in Cecina, ein gewisser Commissario Mazza, zuständig sei. Aber Ugobaldo hörte schon nicht mehr zu, drehte sich um und lief schnurstracks auf eine Schauspielerin zu, die er aus den Augenwinkeln heraus entdeckt zu haben schien. Wie aus dem Nichts hielt der Tenente auf einmal einen Stapel Autogrammkarten in der Hand und machte einen tiefen Diener: »Signora Leone, Sie fehlen mir noch in meiner Sammlung. Dürfte ich um eine Autogrammkarte bitten?« Abermals ein Diener. »Sie müssen wissen, ich bin ein großer Fan von Ihnen.«

Mariani und Rizzi blickten sich an, der eine zog eine Grimasse, der andere verdrehte die Augen; Scotti dachte sich seinen Teil und enthielt sich eines Kommentars.

Die vom Tenente als Signora Leone angesprochene Schauspielerin bat um einen Augenblick Geduld, verschwand einen Moment und kam mit einer Karte zurück, auf der ihr Porträt abgebildet war. Ugobaldo reichte ihr einen Stift und sie unterschrieb. Er bedankte sich mit einem weiteren Diener und ließ sie stehen.

Der Polizeichef von Volterra trat wieder zu Scotti und den Carabinieri, strahlte sie an und hielt ihnen seinen Stapel Autogrammkarten vor die Nase wie ein Schiedsrichter einem Fußballspieler die Gelbe Karte. »Ich hab sie alle!« Er steckte die Autogramme in die Innentasche seines Sakkos. »Sie können jetzt übernehmen, Commissario, ich habe hier lange genug für Sie die Stellung gehalten. Rizzi klärt Sie über alle Einzelheiten auf und spätestens am Montag erwarte ich Sie zum Rapport in meinem Büro. Buonanotte!«

Kapitel 4

Sie betraten das Zelt. An der hinteren Wand standen Tische zu einer Tafel aneinandergereiht, auf der am Abend das Büfett aufgebaut gewesen sein musste. Jetzt waren nur noch ein paar leere Tabletts, Gläser, Schälchen und Tassen zu sehen. Am äußersten Ende ein Besteckkasten, daneben ein beheizbarer Essenskübel, der ausgeschaltet war und aus dem der Stiel einer Suppenkelle herausragte. Am rechten Zeltrand eine weitere Tafel, kleiner als die hintere. Auf ihr fristete, neben Saft- und Wasserflaschen, eine macchina del caffè ihr Dasein. Das dreckige Geschirr lag in einer Plastikwanne in der Ecke des Zeltes. Überall standen vereinzelt Stühle herum, die man den Tischen entnommen hatte, die – in Reih und Glied geordnet – dem Zelt den Anschein einer Kantine gaben.

Es waren nicht einmal ein Dutzend Menschen, die sich in Zweier- oder Dreiergruppen mit gedämpfter Stimme unterhielten, als wären sie in einem Museum. Zwei trugen einen Blaumann, die anderen gehörten zum Ensemble, vermutete Scotti. Ein Mann saß auf einem Stuhl und trank aus einer Tasse. Er schien tief in sich versunken zu sein.

»Sind das alle, Rizzi?«

»Alle, die unmittelbar an oder auf der Bühne waren, als die Schauspielerin zusammenbrach. Und natürlich die, die sich in den Garderoben oder in der Maske aufhielten, also alle, die zum Tatzeitpunkt im Teatro …«, Rizzi stockte und schaute sich um. Er zählte die Anwesenden, indem er bei jedem, den er anschaute, leicht mit dem Kopf nickte. »Das kann doch gar nicht sein. Vorhin waren es doppelt so viele. Ich hatte doch allen gesagt …«

»Schon gut, Rizzi, die werden schon wieder auftauchen. Mariani, fahren Sie nach Hause. Und Sie, Rizzi, ebenfalls, die paar Mann schaffe ich alleine. Wir treffen uns morgen …«, Scotti schaute auf seine Luminor, »wir treffen uns heute um neun Uhr in meinem Büro im Dachgeschoss des Rathauses.«

Die Carabinieri verabschiedeten sich und verließen das Zelt.

Scotti räusperte sich und rief dann zu den Umstehenden: »Dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!« Mit einem Mal verstummte das Gemurmel, und alle, bis auf den Mann auf dem Stuhl, schauten ihn an. »Mein Name ist Francesco Scotti. Ich bin der Commissario, der die Ermittlungen in diesem Mordfall leitet.«

»Sie wurde ermordet?« Eine Signora hielt sich die Hand vor den offen stehenden Mund und sank auf einen Stuhl.

Ein Raunen ging durch die Gruppe, das Stimmengewirr nahm an Lautstärke zu, sodass Scotti sich gezwungen sah, zur Ruhe zu ermahnen. »Es ist bald vier Uhr in der Früh, wir haben alle einen anstrengenden Tag hinter uns und sind übermüdet. Ich möchte Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen.«

»Werde ich jetzt verhaftet?« Die Frau, die Tenente Ugobaldo als Signora Leone bezeichnet hatte, riss die Augen auf, ihre Stimme nahm einen schrillen Ton an. »Ich werde bestimmt verhaftet. Ich war direkt bei ihr, als sie zusammenbrach. Ich war die Letzte, die ihr in die Augen gesehen hat. Außerdem hat sie mir die Rolle weggenommen … jetzt denken doch alle, … ich hätte … jetzt werde ich verhaftet.« Sie brach in Tränen aus.

Scotti trat einen Schritt auf sie zu: »Signora Leone?«

Sie nickte.

»Waren Sie es?«

»Wie bitte?« Sie hörte abrupt auf zu weinen.

»Ob Sie sie umgebracht haben? Ermordet? Gekillt? Vergiftet? Was weiß ich?«

Signora Leone rang um Fassung. »Wie können Sie …«, stieß sie hervor, »natürlich habe ich sie nicht umgebracht.«

»Dann setzen Sie sich auf einen Stuhl und verhalten Sie sich ruhig. Wenn Sie es nicht waren, warum sollte ich Sie verhaften?« Scotti wandte sich wieder an die Gruppe: »Wenn ich richtig informiert bin, waren Sie alle zum Zeitpunkt des Mordes«, er machte eine Zäsur und fuhr dann etwas leiser fort, als spräche er mehr zu sich selbst, »oder des Unfalls, Genaueres wissen wir erst nach der Obduktion der Leiche«, wieder eine Zäsur, dann wieder in normaler Lautstärke: »Wenn ich richtig informiert bin, waren Sie alle zum Zeitpunkt des Ablebens Ihrer Kollegin im Teatro.«

»Moment!« Der Mann, der bis jetzt versunken auf seinem Stuhl gesessen hatte, stand auf. »Das ist nicht korrekt. Das hier sind nicht alle, die sich zum Zeitpunkt, als unsere geliebte Daria zusammenbrach, im Teatro aufhielten.«

»Und Sie sind?«

»Coppola mein Name. Valentino Coppola, der Regisseur des Stückes.« Er stellte seine Tasse auf einen Tisch, ging auf Scotti zu und reichte ihm die Hand.

Scotti ergriff sie und spürte einen kräftigen Händedruck. Coppola musste Mitte fünfzig sein, hagere Figur, groß und durchaus attraktiv, mit einer markanten Nase, auf die Cäsar stolz gewesen wäre. Unter dem linken Auge zierte eine Narbe sein Gesicht.

»Sie sagen, es sind nicht alle?«, Scotti zückte seinen Notizblock und kramte seinen IKEA-Bleistift aus der Anzugtasche. »Wo sind dann die anderen?«

»Der Signore, der die Autogrammkarten sammelte, hat sie nach Hause geschickt.«

Das war typisch für Ugobaldo, tauchte hier auf und mischte sich ein, ohne Rücksprache zu halten. Scotti spürte, wie sein Blutdruck stieg. »Hat er auch gesagt, warum sie nach Hause gehen durften?«

»Er meinte, er bräuchte nur die Personen, die unmittelbar an der Szene beteiligt waren oder sich in der Nähe der Bühne aufhielten.«

Er bräuchte? Es war nicht zu fassen. Alles, was Ugobaldo gebraucht hatte, waren die Autogramme der Schauspieler. Nein, es hatte keinen Zweck, sich aufzuregen. Außerdem war er zu erschöpft. Er schielte zu der Espressomaschine.

»Der Vorfall ereignete sich in der dritten Szene des vierten Aktes.« Coppola fuhr mit dem Zeigefinger über die Narbe unter dem Auge, als würde er mit der Fingerkuppe einen Strich ziehen. »Auf der Bühne sind in dieser Szene die Giulietta, also Daria, dann Gräfin Capulet und die Amme.« Der Regisseur zeigte bei der Erwähnung der Rollen wie ein Showmaster mit einer ausholenden Handbewegung auf die jeweiligen Darsteller.

»Haben die auch einen echten Namen?«

»Signora Neri spielt die Gräfin und Signora Fabbri die Amme. Die Giulietta wurde von Daria Mancini gegeben, aber das wissen Sie ja bereits.«

Scotti schrieb alles in seinen Notizblock und als er fertig war, forderte er Coppola auf, mit der Vorstellungsrunde fortzufahren. Dabei fiel sein Blick erneut auf die Espressomaschine.

»Capulet und ein Diener, die in der zweiten Szene spielten, warteten in einer Gasse neben der Bühne, da sie in der vierten Szene abermals zum Einsatz kommen. Außerdem stand dort noch ein anderer Diener. Die Akteure der ersten Szene waren bereits im Zelt der Garderobe.« Coppola zeigte wieder in Showmaster-Manier auf die jeweils genannten Personen.

»Namen?«

»Signor Puma gibt den Capulet, Signor Bruni den ersten Diener und Signor Barone den zweiten Diener.«

Dritte Szene, erste Szene, zweite Szene – Scotti schwirrte der Kopf. Nach dem zweiten Namen steckte er Stift und Block in seine Anzugtasche, er würde sich ohnehin eine Auflistung aller Beteiligten geben lassen.

»Dazu kommen unsere beiden …«

»Mi scusi«, unterbrach Scotti den Regisseur, »hätten Sie vielleicht einen Caffè für mich?«

»Um diese Uhrzeit?« Coppola schüttelte den Kopf.

»Verstehe.« Scotti seufzte. »Machen Sie weiter!«

»Dazu kommen unsere beiden Techniker, Signor Caputo, der für den Ton zuständig ist, und Signor Donato für die Beleuchtung.« Er zeigte auf die beiden Herren im Blaumann. »Und natürlich meine Wenigkeit.«

Scotti schaute in die Runde und zählte nach. Sein Blick fiel auf Signora Leone, die in sich zusammengesunken auf einem Stuhl saß. »Und was haben Sie hinter der Bühne gemacht, Signora Leone, wenn Sie nicht mitspielen? Sie sagten doch, Sie seien bei Signora Mancini gewesen, als sie zusammenbrach?«

Signora Leone reagierte nicht auf Scottis Frage, daher schaltete sich Coppola ein: »Federica, also Signora Leone, ist die Zweitbesetzung der Giulietta. Auf meine Anweisung hin stehen die Zweitbesetzungen direkt an der Bühne und schauen von der Seite durch eine Gasse auf das Geschehen. Das ist wichtig, damit sie alle meine Regieanweisungen mitbekommen und im Notfall einspringen können.«

Zweitbesetzung? Scotti ahnte Schlimmes. Wenn es jetzt für jede Rolle eine Zweitbesetzung gab, würden sie mit den Vernehmungen nie fertig werden.

»Sie sagten Zweitbesetzung, wie viele gibt es davon?«

»Nur der Romeo und die Giulietta haben eine. Es ist ja auch alles eine Frage der Kosten.«

Scotti atmete auf. »Signor Coppola, erzählen Sie mir kurz, wie sich der Vorfall aus Ihrer Perspektive zugetragen hat!«

»Wir hatten bereits drei Stunden Probe hinter uns, sehr anstrengende intensive Proben. Am Nachmittag. Ich setzte um neunzehn Uhr eine weitere Probe an, einen Durchlauf. Mein Ensemble war gut, wirklich gut. Aber nach der zweiten Szene im vierten Akt merkte ich, dass die Luft raus war. Wir brauchten eine Pause …«

»Die Kurzform, Signor Coppola! Bitte!« Scotti gähnte. Er spürte, dass es mit seiner Auffassungsgabe nicht mehr zum Besten stand. Die Ausführungen von Coppola machten ihn auch nicht wacher, im Gegenteil. Was er brauchte, war Koffein.

»Daria, also die Giulietta, hat am Ende der dritten Szene einen Monolog. Wenn sie damit fertig ist, geht sie quer über die Bühne zu ihrem Bett und trinkt aus einem Mini-Flakon eine Kräuteressenz, die sie in einen todesähnlichen Schlaf versetzt. Also nicht wirklich, sie spielt das ja nur und in dem Flakon ist auch keine Kräuteressenz, sondern Limonade.«

»Verstehe!« Schließlich war er ja kein Volltrottel, obwohl dieser Coppola ihn für genau das zu halten schien, aber er ersparte sich eine weitere Bemerkung und unterdrückte ein weiteres Gähnen.

»Daria wirft sich, nachdem sie getrunken hat, auf das Bett. Bis dahin alles formidabel, grandios gespielt. Mit einem Mal springt sie auf, greift sich an die Kehle und läuft nach hinten. Und dort muss sie dann zusammengebrochen sein. Aber das konnte ich von meinem Regiepult aus nicht sehen.«

»Eine Frage noch an alle: Ist irgendjemandem etwas aufgefallen an Signora Mancini? Oder im Teatro? Eine Person, die hier nicht hingehört? Oder hat jemand etwas von einem Streit mitbekommen?«

Alle sahen Scotti mit müden Augen an. Einige schüttelten den Kopf, die anderen waren nicht einmal mehr dazu in der Lage.

»Sie sehen doch, dass alle unter Schock stehen. Alle liebten Daria. Wir sind wie eine große Familie. Lassen Sie doch meine Schauspieler in Ruhe, sie müssten längst im Bett liegen.«

Coppola hatte recht. Es hatte überhaupt keinen Sinn, jetzt noch weiter zu ermitteln. Scotti konnte selbst kaum noch die Augen aufhalten.

»Wir sind hier fürs Erste fertig. Gehen Sie und schlafen Sie sich aus. Am Vormittag komme ich mit meinen Kollegen und wir werden jeden Einzelnen von Ihnen befragen. Niemand verlässt den Ort. Die Bühne bleibt abgesperrt.«

»Aber, das geht nicht, wir müssen proben, in zwei Wochen haben wir Premiere.« Coppola stand die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.